Ein ungewöhnlicher Roman über einen gewöhnlichen Mann - Mike McCormack - E-Book

Ein ungewöhnlicher Roman über einen gewöhnlichen Mann E-Book

Mike McCormack

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Beschreibung

Marcus Conway hat sich bemüht, ein guter Mensch zu sein und doch vieles falsch gemacht, hat Erwartungen geweckt und enttäuscht, Träume gehegt und aufgegeben, fühlte sich zum Priester berufen und ist doch Ingenieur geworden. Er hat seine Frau betrogen und wiedergewonnen, er liebt seine erwachsenen Kinder, tut sich aber schwer damit zu akzeptieren, was sie so treiben. Nun steht er an einem grauen Novembertag in seiner Küche, und alles ist auf seltsame Weise anders. Er hört Radio, liest Zeitung, genau wie sonst, nur wird er das Gefühl nicht los, dass die Welt kurz vor dem Kollaps steht, und dass das irgendwie auch mit ihm zu tun hat. Marcus Conway erinnert sich an sein Leben mit der Präzision eines Ingenieurs und dem feinen Gespür eines Dichters. Mike McCormacks ungewöhnlicher Roman über einen gewöhnlichen Mann entfaltet einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Er schärft den Blick für das scheinbar Alltägliche und zeigt, dass die vielleicht einzig angemessene Reaktion auf unser Dasein das Staunen ist.

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Mike McCormack

EIN UNGEWÖHNLICHER ROMAN ÜBER EINEN GEWÖHNLICHEN MANN

Aus dem Englischen von Bernhard Robben

Steidl

Für Maeve

die Glocke

die Glocke und

die Glocke hören und

die Glocke hören und hier stehen

hier stehen und die Glocke hören

die Glocke im grauen Licht dieses

Morgen, Mittag oder Abend

was weiß ich

an diesem grauen Tag hier stehen und

diese Glocke hören mitten am Tag, die Mittagsglocke, die Angelusglocke mitten am Tag, wie sie durchs graue Licht schallt bis

hier,

in der Küche stehen

und hören wie diese Glocke

mein Herz krallt und

die ganze Welt beschwört,

hier zu sein

blass und atemlos nach dem langen Weg, um nun in der Küche zu stehen,

verwirrt,

keine Frage,

doch aus über einer Meile Entfernung, Luftlinie, die Glocke der Dorfkirche schallen hören, gegenüber vom Polizeirevier, unter den riesigen Ahornbäumen, die darüber aufragen und in denen ein Schwarm Saatkrähen Nester gebaut hat, so viele Vögel und so laut, dass zur Nistzeit im Frühling ihr Lärm manchmal die Kirche füllt und

erschöpft jetzt, so schnell

dieser Spurt zur Kirche und zur Glocke,

ja, die sind echt,

echte Glocken,

keine Übertragung, keine Bandaufnahme, denn

man kann sie nicht verkennen, die sattere Tiefe und der volle Klang, der schon den ganzen Tag zu mir drang und selbst auf diese Entfernung hin in meiner Brust widerhallt,

ein systolisches Wummern von der anderen Seite dieser Gemeinde, die am Rande der bekannten Welt liegt, Sheeffry und Mweelrea im Süden und das offene Meer der Clew Bay im Norden,

die Angelusglocke,

schallt hinweg über die Dörfer und Ländereien, über die Felder und Hügel und Moore, dreimal sechs Schläge in anderthalb Minuten, ein Ruf am Rande des Nichts, der diese Gemeinde auf ihren Landes- und Nebenstraßen zusammenführt mit

all den Schulen und Fußballfeldern,

all den Brücken und Friedhöfen,

all den Läden und Pubs,

der Bootswerft und dem Krankenhaus,

dem Gemeinschaftszentrum,

der Wasseraufbereitungsanlage und

dem Spielfeld für Gaelic Handball,

die von Menschenhand gemachte Welt mit

all ihren Kristallisationspunkten, um die sich ein Gemeindeleben wie dieses so gewiss anordnet wie

die Welt selbst zum Anbeginn aller Zeit, durch

Berge, Flüsse und Seen,

als sie sich in dieser Gegend um den River Bunowen scharte, der aus den Lachta-Hügeln nach Norden hinab ins Meer fließt und dabei jene Flussniederung auswäscht, zu der, den Konturen des Landes angepasst, sämtliche Straßen führen, Landes- wie Nebenstraßen, und in deren Mitte

das Dorf Louisburgh liegt,

in dem die Angelusglocke ertönt, um erneut die Welt um sich zu scharen,

Berge, Flüsse und Seen,

Morgen, Ruten und Scheffel,

Tier, Stein, Pflanze,

Kontrakt, Kreuz und Krone,

die uns gegebene Welt mit

all ihrer Geschichte mir zur Stärkung,

während ich hier in dieser Küche stehe,

in diesem Haus,

in dem ich fast fünfundzwanzig Jahre gewohnt und meine Kinder großgezogen habe, dieses Haus außerhalb von Louisburgh in der Grafschaft Mayo an der Westküste Irlands, das Dorf, in dem sich meine Sippschaft bis zu einer Zeit zurückverfolgen lässt, da es kaum mehr als ein baufälliges Furtdorf aus wenigen verräucherten Gehöften rund um eine Schmiede und eine Bohlenbrücke gewesen war, ein Soden-und-Stein-Weiler ohne ordentlichen Plan und noch ohne Marktrecht, mein Stammbaum, der zurück bis in finstere Vorgeschichte reicht zu einem sturköpfigen Clan von Bauern und Fischern, der diesen kleinen Flecken Land beackerte,

bei Hagel und Sturm,

auf Biegen und Brechen,

Männer mit Bäuchen, Männer mit kurzem Geduldsfaden, von denen die Hälfte vor ihrem sechzigsten Jahr mit Schmerzen in der Brust in die Grube fuhr, gute Sänger die meisten, alle

prägten über Generationen ihr Dorf, das auf zwanzig Morgen anwuchs, Weideland und Ackerbau mit Zugang zur Allmende auf dem Berg Carramore hoch über der Bucht, und

dieser Schmerz, dieser verdammte Schmerz sagt mir, dass nach bestem Wissen und –

Wissen ist das Beste an mir –, dass

dass

irgendwas seltsam an alldem hier ist, im Äther eine nervöse Energie, die ich von jenem Moment an spürte, da die Glocke zu läuten begann, irgendwas durchzuckte mich, ein Schwindelgefühl zog mich

durchs Haus,

Tür um Tür,

Zimmer um Zimmer,

den Flur rauf und runter,

wie verrückt,

Schlafzimmer, Bad, Wohnzimmer und

wieder zur Küche, wo,

Himmel,

was für ein wilder Wirbel,

Himmel,

nicht so sehr Wirbel, eher eine schlingernde Falte im Licht, die von Zimmer zu Zimmer wogt, nur um zu begreifen, dass

dieses Haus leer ist,

keine Seele weit und breit,

weil Wochentag ist und meine Familie fort,

alle weg,

die Kinder aus dem Haus, Mairead natürlich bei der Arbeit, kommt erst nach vier zurück, also habe ich das Haus bis dahin für mich, was mich freuen sollte, wurstle ich normalerweise doch nur zu gern allein hier rum, tue nichts, höre Radio oder lese Zeitung, aber jetzt beunruhigt mich der Gedanke an die vier langen Stunden, die vor mir liegen, bis sie zurückkommt,

vier Stunden hier allein,

vier Stunden bis sie zurückkommt, doch

muss es etwas geben, das die Zeitspanne füllt, die sich nun vor mir erstreckt, etwas gegen das nagende Unbehagen weil

die Zeitung,

ja,

das mache ich,

die Tageszeitung,

nehme den Autoschlüssel und fahre ins Dorf, um die Zeitung zu holen, parke auf dem Platz vor der Drogerie und bleibe auf der Straße stehen,

genau das mache ich,

bleibe stehen so lange wie nötig, bis jemand kommt und mich anspricht, jemand, der sagt

hallo

hallo

oder bis mich jemand auf die eine oder andere Weise grüßt, mir zuwinkt oder mich beim Namen nennt, denn auch wenn diese Straße wie jede andere Straße ist, bleibt sie in einer entscheidenden Hinsicht doch anders – schließlich gehört genau diese Straße mir, gehört mir, weil ich sie tausende Male gegangen bin, als

Mann und Junge,

winters wie sommers,

bei Hagel, Regen, Sonnenschein, weshalb

mir all ihre Türen und Schaufenster vertraut sind, und ich jede Fahnenstange und jeden Rinnstein wiedererkenne,

eine Selbstverständlichkeit, diese Straße,

auf diese Straße kann ich mich verlassen,

Born und Boden,

einer der Orte, an denen jemand vorbeikommt, der von mir sagen kann,

klar, den Mann kenne ich,

oder genauer noch,

ja, ich kenne diesen Mann, und ich kenne seine Schwester Eithne, und vor ihm kannte ich seine Mutter, seinen Vater und alle, die zu ihm gehören,

oder vertrauter,

natürlich kenne ich ihn – Marcus Conway –, der wohnt auf der anderen Seite vom Feld, vom Hintereingang kann ich sein Haus sehen,

oder, mit größerem Nachdruck,

wieso sollte ich den nicht kennen, Marcus Conway, der Ingenieur, bin mit ihm zur Schule gegangen und hab Fußball mit ihm gespielt – trugen beide Schwarzgold,

oder ungeduldiger,

den sollte ich ja wohl kennen, immerhin gingen sein Sohn und seine Tochter mit meinen zur Schule – wir saßen zusammen im Elternrat,

oder gereizter,

klar kenne ich den – hab ihm die Kettensäge geliehen, damit er die Weißdornhecke am Ende seiner Straße stutzen kann, und

so weiter und so weiter,

bis in alle Ewigkeit,

Amen,

das Credo in all seinen Stimmungen und Abwandlungen, Glaubensartikel, die mein Dasein bestätigen und auf die ich mein Leben in dieser Gemeinde über beinahe fünf Jahrzehnte aufgebaut habe, dank all der Arbeit, der Rituale und

diese kurze Geschichte der Welt, mit der ich mich wappne, denn

ich stehe in dieser Küche, in diesem grauen Licht und frage mich,

warum mir gerade heute dieser so plötzliche Drang zusetzt, Offensichtliches durchzugehen, warum dieses Gefühl, dass da

Schwellen zu überschreiten,

Sachen zu erledigen,

Dinge zu prüfen sind,

als wäre ich auf enge, vom Vergessen umgrenzte Umstände gestoßen, wobei

ich jetzt nach dem Autoschlüssel suche,

die Taschen abklopfe und mich umblicke, nur um festzustellen,

dass Mairead schneller und schon früh auf gewesen war, um die Zeitungen zu holen – nicht eine, sondern zwei, die lokale und die überregionale, beide liegen mitten auf dem Tisch, ordentlich ineinandergesteckt, ungebrochen schimmert das Licht darüber hinweg und lässt erkennen, dass Mairead sie noch nicht gelesen hat, womit sie mir das kleine Vergnügen gönnt, eine frische Zeitung aufzuschlagen, sie beim Öffnen knistern und rascheln zu hören, eine jener Erfahrungen, mit denen ein Tag erst wahrhaft beginnt oder wie in diesem Fall ein Nachmittag, und ich drehe sie um und blättere,

fange hinten an, die Sportseiten, lese die Schlagzeile

Jüngste Niederlage eine harte Lehre

als wäre dies der rechte Ort und rechte Moment für eine Predigt,

was mich veranlasst, sie schnell wieder zuzuschlagen, denn wer will schon so einen Sermon lesen um diese Stunde des Tages, dessen Datum die Zeitung mit

zweiter November angibt, der Monat aller heiligen Seelen hat also bereits begonnen, das Jahr fast vorüber, nur

wo ist der Oktober geblieben,

in null Komma nichts vorbei, die Uhren erst letzte Woche wieder auf Winterzeit gestellt, und

die Titelseite voll mit Geschichten, laut denen die Welt sich weiterhin gnadenlos darum bemüht, in ganzer Pracht aufzuerstehen und in Ruinen zu zerfallen, Kriege in fremden Ländern – in Afghanistan und Irak –, während anderswo Friedensbemühungen laufen – Israel und Palästina –, die Dramen daheim verhaltener, aber nicht minder real – Bettenknappheit in Krankenhäusern und die Lohnabkommen für den öffentlichen Dienst unter Druck –, alles gute Geschichten, wie immer sie auch ausgehen, man fühlt das, dieses Fleisch und Blut, das in ihnen zuckt, während zugleich

im Überbau der internationalen Finanzen andere, abstraktere Indizes in eigener Chaotik steigen und fallen – Aktienkurse, Zinssätze, Gewinnmargen, Solvenzquotienten –, Geld, das nötiges Ungleichgewicht aufrechterhält, auf dass alles stetig vorangehe, wohingegen auf einer der Innenseiten,

ein Jahr danach,

ein langer Artikel mit Zitaten und anschaulichem Diagramm Ursachen und Folgen unseres jüngsten Wirtschaftszusammenbruchs verdeutlicht, ein kurzes Resümee jener Ereignisse, die am Abend des 29. Septembers ihren Höhepunkt fanden, Namenstag des Erzengel Michael, aber auch jener Abend, an dem beinahe das ganze Bankensystem zusammengebrochen wäre und es dem Land bloß um Haaresbreite erspart blieb, am folgenden Morgen mit leeren Konten aufzuwachen, und

um der Klarheit willen

hat man diesen Artikel mit einer Seitenleiste versehen, die zeigt, wie monströs der finanzielle Wahn in jenen Jahren war, die zum Zusammenbruch führten, Schulden zu zig Milliarden aufgetürmt, unfassbare Zahlen für die Wirtschaft eines so kleinen Landes, ehrfurchtgebietende Ausmaße, Schulden, die auf immer den Horizont dessen änderten, wofür wir haftbar zu sein glaubten, und die nun, derart angehäuft – Nullen, fett und fest, so anfällig für epidemisches Wachstum – uns vorkommen wie

die Indizes und Größen einer neuen Kosmologie, die Kräfte und Geschwindigkeiten einer öden, inversen Welt – eines Negativreiches, das im Laufe der Zeit das Leben aus uns saugen wird, dieser Kollaps, zu dem es ohne Vorwarnung kam, jedenfalls keiner, die unsere Propheten bemerkt hätten,

alle offenkundig taub und blind, jeglicher Weitsicht beraubt, dabei handelte es sich zweifellos um jene Art Katastrophe, für die Propheten ein Auge haben sollten, ein Vorherwissen, was aber nicht zutraf, vermag man im Rückblick doch kaum zu übersehen, dass die prophetischen Gaben unserer Seher nur von minderer Qualität waren, ihre Warnungen zu zittrigem Blöken gedämpft, Stimmen von Männern, die auf Nummer sicher gingen und die ihr Wort ohne die nötige Wucht hysterischer Anklage erhoben, um sich auf Fehlersuche und Analyse zu beschränken, nur ein leise warnender Ton, der sich für das nahende Desaster am Ende als gänzlich unangemessen erwies, denn auf Fehler zu deuten, auf Zahlen und Prognosen, konnte nie genügen, wie düster sie auch ausfielen, konnte nie das wahre Ausmaß der Katastrophe ermessen oder ein wirksamer Bannfluch sein, denn ohne den schrillen Ton der Anklage musste ihr Lied unbeachtet bleiben, und da es völlig sinnlos war, sich der Katastrophe mit Verstand zu nähern, hätten

unsere Propheten völlig außer sich sein müssen,

hätten zu uns kommen müssen mit wild aufgerissenen Augen, kotbeschmiert, Glocken läutend, Seher und Sünder zugleich, geifernd in einer Sprache aus den Randgebieten der Vernunft, deren Botschaft in simple Worte übersetzt lautete

wir sind am Arsch,

wir sind echt voll am Arsch, denn

häufen sich derart die Anzeichen, kann es nur ein Ende geben, und

hier noch mehr davon,

was die Frau für Augen hat,

eine Lokalgeschichte in der überregionalen wie auch in der lokalen Zeitung, die Geschichte von

einer Umweltaktivistin, die einen Hungerstreik gegen einen Energiekonzern angefangen hat, weil der eine Gasdruckleitung durch ihre Gegend im Norden Mayos geplant und in der Broadhaven Bay bereits mit der Arbeit auf dem Meeresgrund begonnen hat, die Artikel in beiden Zeitungen begleitet vom selben Bild einer verhärmt aussehenden Frau Ende fünfzig, in eine Decke gewickelt, großäugig und mit starrem Blick, auf dem Rücksitz eines Autos, ihr Hungerstreik jetzt in der zweiten Woche, und den Berichten zufolge hat sie schon zehn Pfund abgenommen, dabei wird sie vor Fastenbeginn kaum mehr als fünfundvierzig Kilo gewogen haben, weshalb sie sich nun mit jedem weiteren Tag jenem kritischen Verlust an Körpermasse nähert, der gefährlichen Gewichtsschwelle, die zu überschreiten ihr irreparablen Schaden zufügen könnte und wonach sie gänzlich aus der Welt zu schwinden begänne, als Erstes verlieren die Augen den Blick, gefolgt von Muskelschwund und Knochenschwund, weshalb nun – wie beide Artikel betonen – den ihretwegen an die relevanten öffentlichen wie privaten Organe gerichteten Bitten, Petitionen und Anschreiben eine gewisse Dringlichkeit zukommt, die bislang – acht Tage nach Beginn ihres Fastens – dennoch weder seitens der Regierung noch des Energiekonzerns zu einer offiziellen Verlautbarung geführt haben, während

diese Frau von Tag zu Tag schwächer wird,

und sie schwört ihren Streik fortzusetzen bis das größte Rohrlegeschiff der Welt, registriert in der Schweiz, die Solitaire – mit seinen dreihundert Metern Länge, sechsundneunzigtausend Tonnen und den vierhundert Mann Besatzung – Broadhaven Bay und die irischen Hoheitsgewässer verlässt, damit

zwei Bilder kommen zusammen,

diese kleine Frau gegen das Schiff

erinnert an jenes Foto von dem einsamen Demonstranten, der auf dem Platz des Himmlischen Friedens einen Panzerkonvoi aufhielt, damals, im Jahr 1989, vergleichbar, weil es ähnlich unwahrscheinlich ist, dass die Solitaire an dem leichten Körper dieser Frau scheitert, die in eine Decke gewickelt vom Rücksitz des Autos in die Kamera starrt, noch ein Drama, dem der schwere, unbestreitbare Ruch des Realen anhaftet, dieses gefährliche Gemisch aus Privatem und Politischem, vereint auf dem zerbrechlichen Leib dieser Frau, wodurch er zur Arena dieser Auseinandersetzung wird, und nicht zum ersten Mal finde ich solche Geschichten

typisch für Mayo,

Mayo Gott hilf uns,

Mayo abú,

eine Grafschaft mit einer einzigartigen Geschichte von Menschen, die für Höheres und ihre Prinzipien hungern oder leiden, ein politischer Reflex, der über die Jahre immer wieder zuckt und in einem ausgeprägten Gefühl der Sündhaftigkeit zu wurzeln scheint, denn keine andere Grafschaft ist mit Schreinen, Grotten, Gebetshäusern und Einsiedeleien wie mit lauter Pusteln übersät und zudem von Pilgerpfaden und Büßerwegen durchzogen, die ganze Grafschaft eine umgrenzte Region der Buße, der Reue, dass es niemanden überraschen sollte, wenn Verhungern zur politischen Waffe wird, und meines Wissens hat auch keine andere Grafschaft der Republik noch so spät im zwanzigsten Jahrhundert drei ihrer Söhne aufgerufen, sich für Flagge und Land zu Tode zu hungern,

McNeela, Gaughan, Stagg,

Arbour Hill, Parkhust, Wakefield,

tapfere, von unserem gepeinigten Land inspirierte Seelen, die eine Welt jenseits des Gegebenen sahen, genau wie

meine Lieblingsmärtyrerin,

eine junge Einsiedlerin gegen Ende des letzten Jahrtausends, die keine zehn Meilen von hier in eine verfallene bothán zog, eine junge Frau, dank irgendeines uralten Ritus vom Vatikan zur Eremitin erklärt, mit einer Lizenz in diesen verregneten Hügeln zu betteln und zu predigen, und sie behauptete, Gott habe ihr aufgetragen, tiefer in die Wildnis zu ziehen, damit sie sich in größerer Stille und Einsamkeit seiner Gegenwart bewusst werden könne, um sich, nach einigen Jahren sakramentalen Lebens in den Bergen von West Mayo, wo außer nassen Schafen und Steinmauern nichts Auge oder Hand ablenkt, mit ihrer Botschaft an die Welt zu wenden, laut der

die Hölle wahrhaftig und nicht leer ist,

so schlicht, so unverblümt,

die Hölle ist wahrhaftig und nicht leer,

sagte sie, die Summe all dessen, was sie in Jahren des Betens und Büßens zusammengetragen hatte, ihre wilde Epistel, die nirgendwo erwähnt, dass der Erlöser auf seiner Mission zur Verkündigung von Gnade und Vergebung auch hier entlanggekommen wäre, und

so verliert man sich,

sitzt man hier in dieser Küche,

verliert sich in alten Geschichten, mitgerissen von einem Ansturm von Worten und kreuz und quer über dieses Land verteilten Assoziationen, einem Hagel an Bildern, die auf mich einprasseln, doch unten auf der Seite eine weitere Geschichte, eine darüber,

dass eine große, aufgegebene Industrieanlage im Norden der Grafschaft als möglicher Bauplatz für eine Asbestverwertungsanlage geprüft wird, Teil einer riesigen Giftmüllhalde, auf der in einem hochmodernen Verbrennungsprozess industrieller und medizinischer Abfall aus dem Rest des Landes verarbeitet werden soll, eine Anlage, die, falls die Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Umweltgutachten günstig ausfallen, schon in wenigen Jahren in Betrieb genommen werden könnte, Jobs, dazu die Aussicht auf Tochterfirmen überall in der Grafschaft, und

irgendwas aus der Vergangenheit,

ein seelischer Link zu meiner Kindheit,

als mein Vater an ihrem Bau mitarbeitete,

verdammt, das hat er,

hat zu einer Zeit daran gearbeitet, als man ähnliche Wohlstandsversprechen gab und davon redete, als baute man eine Kathedrale oder einen Tempel auf der Hochfläche oberhalb der kleinen Stadt Killala, ein solches Wahrzeichen industriellen Fortschritts, dass ich während der zwei Jahre Bauzeit jeden Sonntagabend zusah, wie mein Vater seine Tasche für die kommende Woche packte, um Schlag sieben meine Mutter und meine Schwester zum Abschied zu küssen und zum oberen Ende der Straße zu gehen, wo er von einem Minibus mit lauter anderen Männern aus der Gemeinde abgeholt wurde, Handwerkern und Arbeitern, die ganze zwei Jahre lang Beton gießend, Ziegel mauernd, Betonstahl flechtend diese massive Anlage aufzogen, in der, wenn sie voll in Betrieb ist, dreihundertfünfzig Männer und Frauen mit der Herstellung von Acrylfaser und -garn beschäftigt sein würden, ein Endprodukt, das mich anfangs enttäuschte, schien es doch in Anbetracht der vielen Hoffnungen und Mühen, die damit verbunden waren, zu mickrig, in jeder Hinsicht unwürdig, bis ich erfuhr, dass man für die Herstellung ein hochgiftiges Präparat namens Acrylnitril einsetzte, eine Chemikalie, die man nur mitten in der Nacht und unter Wachschutzbegleitung durchs Land transportieren konnte, in doppelwandigen, unfallsicheren Containern, ein derart fesselnder und mit genügend Gefahr gesättigter Umstand, der das ganze Projekt in einem glaubhafteren apokalyptischen Licht erscheinen ließ, sodass es in meiner frisch entfachten Phantasie zu einem bahnbrechenden Unterfangen wurde, für das man solch furchtlose heroische Männer wie meinen Vater brauchte, den

ich sonntagabends bis zum Ende der Straße begleitete und im Minibus davonfahren sah, was jedes Mal das deutliche Gefühl in mir weckte, ein Teil von mir würde zur Arbeit auf dieser fernen Baustelle fahren, und so, weil mein Vater an dieser Anlage arbeitete, setzte sich in meinem jungen Hirn die Idee fest, ich sei meinerseits gleichfalls heroisch und mutig und womöglich für etwas Besonders ausersehen, all dies zwanzig Jahre, ehe die Anlage ihre Produktion gänzlich einstellte und der letzte schmutzige Industriebetrieb in diesem Teil der Welt Opfer einer Häufung ungünstiger Faktoren wurde – darunter insbesondere ein auf über fünfzig Dollar pro Barrel gestiegener Ölpreis sowie der weltweite Trend zu Naturfasern –, bis dann zu guter Letzt der Tag kam, ab dem die Fabrik einsam und verfallen auf dem flachen Plateau oberhalb der Stadt Killala stand – die letzte Garnlieferung durch die Tore gerollt, die Arbeiter bezahlt, die Lichter gelöscht –, ein monumentales Exemplar eines industriellen Gespensterbaus, rostend im vom Atlantik herüberwehenden Wind, eine leere Fabrikanlage mit modernster Erschließung – Straße, Bahn, Wasser, Strom –, nur wollte niemand mehr was damit zu tun haben, weil das ganze Ding mit Asbest verkleidet war, Wände, Dächer, Decken, riesige Flächen, deren Beseitigung in Übereinstimmung mit den Umweltauflagen der EU geschätzte zehn Millionen Euro kosten sollte, weshalb der Eigner, die Kreisverwaltung, beschloss, die Fabrikgebäude verrotten zu lassen und nicht mehr daran zu rühren, damit sich die lungenzersetzende Faser nicht über ganz Mayo verteilte,

Crossmolina, Ballina, Attymass und

nach Westen ins Ödland von Ballycroy und Mulranny

die terra damnata von Shanamanragh

das vergessene Land, aber

uns wohlbekannt, da es

unweit von Maireads Geburtsort liegt und wir viele Male hingefahren sind, vor allem in den ersten Jahren unserer Ehe, als Agnes und Darragh noch klein waren und wir sie für die Sommerferien mit zu den Großeltern nahmen, sie ins Auto packten und nach Norden fuhren, nur sechzig Meilen, aber die Fahrt führte in eine Gegend ganz verschieden von diesem Teil der Welt, zumindest ab einer Stelle einige Meilen nördlich des kleinen Dorfs Mulranny, wo sich die N59 unter einer von flammendem Rhododendron überwucherten, steinernen Einbogenbrücke durchschlängelt, jene Brücke, die für mich stets einen völligen Wechsel der Landschaft ankündigte, von den Hügeln und Höhenrücken im Süden Mayos zu den offenen, trostloseren Weiten des Nordens, diese Brücke, die tief in mir stets etwas auslöste, denn jedes Mal, wenn ich darunter hindurchfuhr, Mairead an meiner Seite, die Kinder auf dem Rücksitz, fand in mir jene kaum merkliche Veränderung statt, ein Zusammenzucken der Seele, wie ich immer denke, angesichts dieser Landschaft, die sich hinter der Brücke auftat und in der sich schon nach wenigen Meilen, mit einem plötzlichen Ausdünnen des Lichts, die Berge in wolkige Ferne verzogen und die Welt sich zu offenem Sumpfland verflachte, durch das sich die Straße auf dem Weg nach Ballycroy und Bangor hin zur Halbinsel Doohoma wand, wo Maireads Eltern auf einem kleinen Hof wohnten, den Mairead mütterlicherseits geerbt hatte, und wo Darragh und Agnes jeden Sommer für einige Wochen über die Äcker und Wiesen tobten, die sich in einem geraden Streifen vom Hausgiebel bis hinab ans Ufer erstreckten, und

so verliere ich mich, wieder einmal

in Erinnerungen,

fortgeschwemmt von jener Art Träumerei, die schließlich nur noch eine marginale Verbindung zu dem aufweist, woran man zu Anfang dachte, in diesem Fall an den Zusammenbruch unserer Wirtschaft und unseres Bankensystems, ein Zusammenbruch, der so plötzlich und umfassend war, dass noch ein Jahr danach ein Dominoeffekt für einige eng verbundene Volkswirtschaften drohte, was das Bankensystem Deutschlands und Frankreichs durchaus ins Wanken bringen könnte, um gar nicht erst davon zu reden, dass er vielleicht sogar den Außenhandel unseres Nachbarn mit diesem Land lahmlegte, der Bankrott einer kleinen Bank in einer Inselökonomie, der zur Bruchlinie wird, durch die das gesamte Universum sickert, das alles so lachhaft unwahrscheinlich, so unglaubwürdig in Ausmaß und Konsequenz, dass es war, als wäre

irgendwas, das es nie wirklich gab, endlich eingestürzt

oder als Luftschloss enttarnt worden, ehe es dann

auf jene besondere Weise in sich zusammenbrach, die bewies, dass es nie existiert hatte, auch wenn sich jetzt überall um uns herum das Gefühl breitmacht, etwas Massives und Folgenreiches wäre auseinandergefallen, fast, als hätte ein bestimmter Druck eine kritische Schwelle überschritten und jenes winzige bisschen Chaos zugelassen, das alles zum Einsturz brachte, weshalb wir, auch wenn wir glaubten, dieser Kollaps finde nur in einer benachbarten Sphäre statt, jene Anziehungskraft nicht leugnen konnten, die wir jetzt um uns herum verspüren, jene Instabilität, die alles wie im Fieber erschauern lässt und mit den Händen so greifbar zu sein scheint, dass wir uns fragen,

wie es sein konnte, dass wir vorher nichts von dieser wachsenden Spannung gemerkt hatten,

und wieso wir so blind gegenüber der am Abgrund taumelnden Welt waren, dass wir nie von dem aufblickten, was wir gerade taten, um die Dinge mal genauer in Augenschein zu nehmen, oder

hatten wir völlig jenen animalischen Instinkt für Katastrophen verloren, jene heute zu tief unter Anstand und Vernunft begrabene Sensibilität, die uns vor langer Zeit bei den ersten, winselnden, strahlenförmig von jenen Druckpunkten ausgehenden Vibrationen hatte aufmerken lassen, die als Erste nachgeben würden, eine Unfähigkeit im unterentwickelten, reptilienhaften Teil unseres Hirns, die wir von

Hunden und Ungeziefer und Vögeln als

jene stets vorhandene Bereitschaft zur Flucht, zum massenhaften Aufbruch kennen, kurz bevor der Boden oder der Baum oder das Gebäude unter ihnen zu wanken beginnt, ihre Ur-Anpassung an die Gefahr, die sie in Scharen aus Gebäuden und Bauten stürmen lässt, kurz bevor sie zusammenstürzen, eine Sensibilität, die wir ganz offensichtlich verloren haben, eine Fähigkeit, verkümmert in den verweichlichenden Umständen unsers Aufstiegs, auch wenn natürlich

jeder Ingenieur die Angst vor einem Kollaps kennt,

und

wie immer,

und immer wieder,

beschwört jedes Bild von einem Kollaps oder von zerlegten Dingen Erinnerungen an meinen Vater herauf – nicht an das verlotterte Wrack, das er zum Ende seines Lebens war, sondern an jenen aufgeweckten Mann mit großen Händen und stets bereitem Lachen, den ich als Kind gekannt hatte, an den Mann, der mit so sicherer Hand etwas auseinandernahm und wieder zusammensetzte – Hackstriegel, Bodenfräse oder Drillmaschine –, nicht, weil sie fehlerhaft oder kaputt gewesen wären, sondern weil ihn das Bedürfnis trieb, genau zu verstehen, was die Dinge im Innersten zusammenhielt, um sich auf diese Weise zu vergewissern, dass sein Vertrauen in sie berechtigt war,

eine meiner frühesten Erinnerungen reicht zurück zu jenem Tag in der Kindheit, an dem ich neben ihm im Heuschober stand und er eine dieser Maschinen auseinandergenommen und auf dem Betonboden ausgebreitet hatte,

Hackstriegel, Bodenfräse oder Drillmaschine,

eines dieser robusten Geräte, die wie schlafend am hinteren Ende des Heuschobers standen und in den Wintermonaten ihre Eisenträume träumten – Maschinen die, obwohl sie sich im Grunde seit dem Mittelalter, in dem sie vervollkommnet worden waren, nie weiterentwickelt hatten, auf unserem Hof und auch auf vielen anderen Höfen aber noch bis in die 1980er in Gebrauch waren,

Hackstriegel, Bodenfräse und Drillmaschine,

Apparaturen aus einer solideren Zeit, als die Welt noch in so unhandlichen Einheiten wie Pfund und Unze, Shilling und Pence vermessen wurde,

standen da in den brachen Herbst- und Wintermonaten am hinteren Ende des Heuschobers, nichts als geschmiedete Zinken und gehärtete Schneiden, gehalten von eisenverstärktem Holz, so warteten sie ihre Zeit ab, als wären sie die ureigene Verkörperung ihres Namens und in Wahrheit Folterinstrumente,

Hackstriegel, Bodenfräse, Drillmaschine,

Namen, die so beiläufig an Folter denken ließen, dass ich Jahre später, als ich eine Konferenz über Brückenbau in Prag besuchte, oder, wie Mairead Monate später in einem halberstickten Aufschrei fluchte, über

scheißverdammten Brückenbau, und

mir das Foltermuseum nahe der Karlsbrücke ansah und bei den im schummrigen Licht der kläglichen Ausstellung aufgebauten Folterinstrumenten voller Entsetzen in Maßstab und Material die exakt selben Konstruktionsprinzipien wiedererkannte, diesen finsteren Geräten, die einst die überzeugungskräftigen Instrumente diverser gerichtlicher und kirchlicher Autoritäten gewesen waren und allesamt aus einer Zeit stammten, in der die Welt sich ihrer Sündhaftigkeit stets bewusst, ihres Urteils aber auch immer sicher gewesen war und daher einiges an Ingenieurskunst aufgeboten hatte, die Wahrheit ans Licht zu stemmen, zu schrauben und zu pressen, weshalb sie nun hier in diesem schattigen Zwielicht standen

die eiserne Jungfrau, das Streckbett, das Rad,

auch sie ganz Zinken und eisenverstärktes Holz, schonungslose, von Schrauben und Halbrundnieten zusammengehaltene Gerätschaften, die beim Schmieden im entscheidenden Moment weißglühend gewesen waren, Apparaturen, die im Halbdunkel des Museums so sehr Schmerz und Folter heraufbeschworen, dass meine Stimmung zu beklommener Scham sank, machten Handwerkskunst und Komplexität dieser Maschinen mit all ihren Schrauben und Getriebemechanismen doch deutlich, dass sie zu einer Zeit, da sich der Maschinenbau in der westlichen Welt auf dem niedrigsten Niveau seit dem Altertum befand, die höchsten technischen Errungenschaften ihrer Epoche verkörperten, den Zweck, für den fähige Köpfe all ihr Talent eingesetzt hatten, ein verachtenswerter Zweck und ein so schändliches Beispiel der Ingenieurskunst, dass mich Kummer überkam, denn auch wenn ich damals noch jung gewesen war, besaß ich bereits ein ausgeprägtes Gefühl dafür, dass das Ingenieurswesen eine hohe, gar edle Berufung war, die eindeutig auf Seiten menschlicher Läuterung zu stehen hatte, gemeinsam mit einer Reihe anderer, lose am sozialdemokratischen Ende des politischen Spektrums versammelter Werte, sodass

ich gedankenverloren an den Exponaten zwischen Schatten und Brokat vorbeischlenderte, bis ich begriff oder mir eingestehen musste, dass ich einer Frau mit kastanienbraunem Haar und gestepptem Anorak folgte, ihr Gesicht rot geschrubbt von den Minusgraden, unter denen Prag im Februar jenes Jahres litt, weshalb sie in ein Taschentuch schniefte, während sie sich zwischen den Ausstellungsstücken bewegte, bei jedem kurz verharrte, ehe sie es in einem zerfledderten Katalog abhakte, doch was sie so attraktiv machte, war nicht allein ihr Aussehen, auch nicht ihre methodische Art, sich das Museum anzuschauen, sondern die Tatsache, dass wir an diesem winterlichen Nachmittag die einzigen anwesenden Besucher waren und in unserer je eigenen Einsamkeit zu einer Art kompliziertem Balztanz mit und gegeneinander zusammengefunden hatten, einer delikaten Gavotte um die Exponate und durchs goldene Zeitalter mechanisierter Qual, bis wir schließlich zusammenfanden und Schulter an Schulter vor einem Richtrad standen, einem dieser komplexen Mechanismen, die mit

Schellen, Klingen, Zinken

jenen Druck oder jene Spannkraft aufbrachten, die Fleisch und Knochen zerrissen, die vielen Arten mechanisch erzeugter Qual, angesichts derer ich bald den Versuch aufgab, ergründen zu wollen, was für ein Verstand hinter solch einer Maschine mit all ihrer sichtlichen Raffinesse gesteckt haben mochte, insbesondere hinter jener grässlichen Anordnung, dank derer das Gewicht des eigenen Leibs langsam aber unvermeidlich jene Kraft überwand, die nötig war, den Angeklagten aufrecht zu halten, bis der allmähliche Abwärtsdruck den Körper zusammenbrechen ließ, ihn langsam aufspießte, diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich die Frau neben mir mit amerikanischem Akzent sagen hörte

dreht sich doch alles um Sex, davon waren sie wie besessen

etwas, das mir nicht aufgefallen war, aber das jetzt, als es im Raum stand, so offenkundig schien, die wahre Ursache, das Eigentliche all des mechanischen Penetrierens und des Zerreißens, und jetzt, mit diesen Bildern klar im Kopf und angesichts dieser Frau, die mich über ihr Taschentuch hinweg ansah, war mir, als hätte ich zu mehr zugestimmt als nur zur Wahrheit ihrer Beobachtung,

verdammter Brückenbau, heulte Mairead, als sie dahinterkam, auch wenn

die Begegnung nie so recht zu jenem schamlosen Gevögel führte, das sie in jenen ersten, wie aufgeladenen Momenten zwischen den Exponaten versprach, und auch wenn im Laufe der nächsten Tage in einem kleinen Hotel in der Arbeitervorstadt wahrhaft Zärtliches aufkam, ein erotisches Intermezzo, das mir damals viel bedeutete, dessen ich mich in ein und demselben Moment aber auch schämte, auf vielerlei Weise dankbar und doch auch erleichtert, als wir uns ohne die geringste Absicht, uns je wiedersehen oder in Verbindung bleiben zu wollen, verabschiedeten, weshalb dies,

Brückenbau, keuchte Mairead,

die Geschichte eines anderen Mannes aus einer anderen Zeit war, etwas, was mir nur in den Sinn kam,

hier in unserer Küche,

weil es in jenen Erinnerungsbogen eingewebt ist, der sich von der Kindheit bis zum jetzigen Moment spannt, darin Erinnerungen an jene Zeit mit meinem Vater auf unserem Hof, ein Strang von Verbindungen, die ich jetzt und hier wohl kaum entwirren werde, da ich fürchte, sie könnten für immer das Bild all jener landwirtschaftlichen Geräte und Maschinen ausmerzen, die während meiner Kindheit in der Scheune gestanden und die mein Vater auf dem Boden im Heuschober auseinandergenommen hatte, simple Apparate aus einer Zeit, in der die Welt sich anders verstand,

Hackstriegel, Bodenfräse und Drillmaschine,

Pfund, Shilling und Pence,

grobe, traditionelle Werkzeuge, primitiv und plump verglichen mit der metallenen Eleganz jener einen Maschine, die auf unserem Hof im Mittelpunkt der Arbeit und Aufmerksamkeit stand – in mancher Hinsicht die Seele des Hofs –, der graue Massey Ferguson 35, den mein Vater Ende der Sechziger auf einer Landwirtschaftsschau in Westport gekauft hatte, vierhundertachtzig Pfund für eine Maschine, an der er immerzu werkelte, ständig einzelne Teile prüfte, in den Motor starrte, einen Schritt zurücktrat und die Hände an einem alten Lappen abwischte, nachdem er am Innenleben da oder dort etwas gerichtet hatte, die Erinnerung so deutlich, dass ich,

hier in dieser Küche,

meinte, die Hand ausstrecken und sie berühren zu können,

Mensch und Maschine,

so wie sie waren,

an dem Tag, als ich von der Schule nach Hause kam, in den Heuschober ging und ihn da stehen sah vor dem komplett zerlegten Motor, ausgebreitet auf dem mit Spreu eingestaubten Betonboden, Stück neben Stück, der Reihe nach,

Zylinderkopf, Kolben, Kurbelwelle,

bis hin zum Tor, wo ich stand, in Schulhose und -pullover, verstört von diesem Anblick, denn auf der einen Seite lag wie ein Leichnam die Karosserie des Massey Ferguson 35, irgendwie verloren, die wesentlichen Innereien ausgeschlachtet und die Einzelteile auf dem Boden auf eine Weise angeordnet, die nicht nur die Abfolge ihres Ausbaus deutlich machte, sondern auch die umgekehrte Ordnung zeigte, in der sie wieder zu voll funktionierender Harmonie zusammengebaut werden sollte, und mein Vater stand vor dem Ganzen und linste durch ein dünnes Stück Benzinleitung, blies durch, bis er sich davon überzeugt hatte, dass es auf voller Länge sauber war, ehe er es auf den Boden legte, ihm den richtigen Platz in der Reihenfolge zuwies und mir das Ganze erklärte, indem er schlicht sagte, es sei ein

Ölschlucker,

als wäre dies eine virusbedingte Fehlfunktion, die sich von der Maschine ausbreiten und den größeren Mechanismus der Welt infizieren, das Universum selbst aus der Bahn werfen könnte, auf dass es durch die Himmel niederkrachte, denn ich wusste sehr wohl, dieses Zerlegen war mehr als das, was ein Monteur tat, der einen Dieselmotor durchsah, weit mehr als etwa den Vergaser auszubauen, um die Ventile zu reinigen – mein Vater hatte also erneut der Versuchung nachgegeben, etwas zu zerlegen, weil er sehen wollte, wie es sich wieder zusammensetzen ließ, um so bis ins Kleinste zu verstehen, worauf er sein Vertrauen setzte, und

wie er da über diesem Altar der Demontage stand, in der Hand nichts als einen Maulschlüssel, den er wie in einer Geste der Vergebung über die Ansammlung schwenkte, und als er sagte, dieses Werkzeug genüge, um den gesamten Traktor auseinanderzunehmen, das ganze Ding in seine kleinsten Einzelteile zu zerlegen und dass es auch genüge, alles wieder zusammenzubauen, kein weiteres Werkzeug benötige man dafür, schürte dies nur meine Angst, schreckte ich doch vor dem Gedanken zurück, etwas so komplexes und hochmodernes wie ein Treckermotor könne sich als derart anfällig erweisen, könne so leicht kollabieren und allein von diesem Werkzeug auseinandergenommen werden, ja, ich war davon so verängstigt, dass es Jahre dauerte, ehe ich die ingenieurstechnische Eleganz des Ganzen verstand und sie wie mein Vater schätzen lernte – etwas, das schön und anmutig war und beileibe nicht das Werkzeug des Chaos, für das ich es in meiner kindlichen Phantasie gehalten hatte, und

dies könnte durchaus mein erster Augenblick beklommener Sorge um die Welt gewesen sein, der erste Moment, in dem sich mein Geist erhob über das unmittelbare Umfeld

von Herd, Heim und Gemeinde hin zur

jenseitigen, größeren Welt

und darüber hinaus,

denn der Anblick dieser auf dem Boden ausgebreiteten Motorenteile lehrte meiner Phantasie das Fürchten und ließ sie sich zu einer umspannenden, katastrophischen Schlussfolgerung versteigen, der zufolge das Universum selbst verschraubt und zusammengenietet war, meinte ich hier doch zu sehen, wie Himmel und Erde aus den Angeln gehoben werden konnten, wenn nur irgendein entscheidender Splint ausgehämmert wurde, der das riesige Konvolut von Sternen und Galaxien aus ihrer kreisenden Rotation lösen und durch die Leere des Alls zur letzten Vernichtung an der fernsten Grenze des Universums stürzen lassen würde, und auch wenn meine Furcht in jenem Augenblick noch nicht in allen Einzelheiten Gestalt gewonnen hatte, konnte ich mir doch nur durch eine solch kosmische Bewusstheit die Wogen der Angst erklären, die über mir zusammenschlugen, als ich auf dem Boden des Heuschobers stand, über die Motorenteile gebeugt,

seelenkrank vor Angst, die

kein bisschen dadurch besänftigt wurde, dass mein Vater am nächsten Tag mit dem Traktor aus dem Heuschober fuhr und eine klare Rauchwolke aus dem Auspuff blubberte, als er über den schmalen Schlammweg aufs Feld rumpelte, um dann langsam in der Ferne zu verschwinden, mein auf dem Sitz hockender Vater kleiner und kleiner im trüben Licht, bis Mann und Maschine hinter einer Bodenwelle verschwanden, während wir ihnen vom Hausgiebel nachschauten – Onnie, meine Mutter im Hauskittel, und Eithne mit ihrer Polaroidkamera, die sie nur selten aus der Hand gab, ein Geschenk von Amerikanern auf Besuch –

mit dem Ding ist er wie ein Kind, sagte meine Mutter,

aber da war er unserem Blick bereits so vollständig entschwunden, als wären beide aus der Welt gelöscht, und so wenig mich die erfolgreiche Wiederinstandsetzung des Traktors überraschte, so wenig half sie mir, mich von der quälenden Überzeugung zu befreien, dass an nichts Geringerem als an der entscheidenden Balance, dem reibungslosen Funktionieren des Mechanismus unseres Universums auf eine Weise herumgedoktert worden war, die sich für uns alle noch als tödlich erweisen könnte, weshalb die Behauptung auch nicht übertrieben wäre,

der Anblick des auf dem Boden ausgebreiteten Motors sei für mich auf immer ein Beweis dafür geblieben, dass die Welt längst nicht so eine stabile Einheit war, wie meine kindliche Einbildung es mir vorgegaukelt hatte, sondern letztlich doch ein klapprig Ding zusammengewürfelter und im Dunkel verschweißter Bestandteile, ein Konstrukt, das schneller dem Zusammenbruch entgegenrumpelte, als ich je vermutet hätte, die Angst eines Kindes, die mich bis auf den heutigen Tag hin und wieder packt und zurück in jenen Heuschober zerrt, so wie vor einigen Jahren, als

ich im Dorf war und mit einem Karton Milch und einer Zeitung in der Hand auf dem Gehweg vor Kennys Laden stand und zusah, wie

ein riesiger Tieflader über die Hauptstraße fuhr, ein langes, grollendes Ungetüm, eine Maschine, die sich in niedrigem Gang vorwärtsschob, hoch oben über ihren Rädern der Fahrer in seiner Kabine, der das Ding sorgsam durch die enge Straße lenkte und darauf achtete, dass es nicht die Seitenspiegel der beidseits parkenden Autos abriss, auf dem Auflieger in seinem Rücken etwas, das in Einzelteile zerlegt und beiderseits mit Spanngurten und Ketten befestigt worden war, etwas, das auf den ersten Blick dem schimmernden Knochen eines gewaltigen, ausgestorbenen und ausgegrabenen Biests glich, die Rippen ordentlich um den dicken Stamm einer gigantischen Wirbelsäule gebündelt, die von der Zeit und den Elementen zu so kühlem, keramischem Glanz poliert worden war, dass es mich, legte ich meine Hand darauf, überrascht hätte, fühlte sie sich anders an als Glas, und erst als das Monstrum vorübergerollt war und ich den Hänger von hinten sah, behängt mit Absperrband und Sperrgutaufklebern, begriff ich, dass es sich bei der Ladung um ein zerlegtes Windrad handelte, die Rotorblätter und der konische Turm von der Gondel getrennt und der Länge nach auf der Ladefläche gestapelt, doch rund um den Flansch am unteren Ende genügend Rost, weshalb anzunehmen war, man hatte diese Turbine erst kürzlich im Rahmen eines Projektes zerlegt, weil sie fehlerhaft oder auf die eine oder andere Weise überflüssig oder auch obsolet geworden war, womöglich ein

Ölschlucker,

wie mein Vater gesagt hätte,

und so stand ich da, sah den Laster vorbeifahren und dachte, was für ein trauriger Anblick diese gefällte Apparatur doch war, die hier draußen durch unser kleines Dorf an der Westküste transportiert wurde, denn tief in mir begriff ich, dies war ein klares Beispiel dafür, wie die Welt eine ihrer besseren Ideen aufgab, als wäre etwas, das einmal Anlass für berechtigte Hoffnungen war, nur eine Fehlentwicklung, weshalb die Welt einen kostbaren Traum von sich aufgab, eines ihrer besseren Schicksale, und ich war keineswegs der Einzige, der da stand und dies vorbeirollende Ding anstierte, denn drei Türen weiter, an der Ecke Morrison, war ein alter Mann abrupt stehen geblieben und schaute zu, beide Hände auf den Griff seines Stocks gestützt, wie der Hänger vorsichtig durchs Dorf bugsierte, und auch auf der anderen Straßenseite glotzten Leute wie betäubt und sorgten für eine lang anhaltende Stille, in welcher der Auflader vorbeirumpelte, quer über den Platz und die Straße entlang, ehe er hinter der Kirche abbog und, nunmehr außer Sicht, Richtung Westport weiterfuhr, während man langsam wieder zu sich kam, sich mürrisch anblickte und lachte, als hätte man sich am helllichten Tag einen kindischen Jux gegönnt, wohingegen ich mich auf der anderen Straßenseite fragte, wohin diese gefallene Windturbine unterwegs war, und zugleich dachte, dass es sicher falsch sei zu glauben, solche Dinge seien überhaupt irgendwohin unterwegs oder genauer gesagt, es gebe einen Ort, an den derlei transportiert wurde, entsprachen Stille und Stasis doch dem Wesen dieser Gebilde, was im jetzigen Augenblick eigentlich auch auf mich zutraf, denn ich war gefangen in einem Wiederaufleben derselben alten Angst, die ich schon als Neunjähriger im Heuschober beim Blick auf den Dieselmotor gespürt hatte, als die Einzelteile der Welt auf dem Boden ausgebreitet lagen, nur dass ich jetzt,

vier Jahrzehnte später,

als dieser Gedanke wie ein solider Bogen mein Leben durchzog, verstand, dass, wenn der zerlegte Traktor für mich der Beginn der Welt gewesen war, die chaotische Genesis, die sie zusammenfügte, aus ungleichen Teilen zusammensetzte, dann war diese Windturbine das Ende, ein Schicksal, das man erzwungenermaßen aufgegeben hatte, ein Traum, vertagt, gescheitert oder abgetrieben, eine alte Idee, die eine Erinnerung

an jene Radiosendung weckte, die ich vor einer Weile gehört hatte und in der ein Expertengremium über die Zukunft der Windturbinen diskutierte und ihre Auswirkung auf die Umwelt ins Verhältnis zu welcher Energieeffizienz auch immer setzte, die Kritiker und Befürworter ihre Argumente austauschten, ohne irgendeinen Fortschritt zu erzielen, bis das Wort an die Zuhörer gegeben wurde, die im Großen und Ganzen und einer nach dem anderen bloß wiederholten, was bereits gesagt worden war, doch dann sagte eine Frau, deren zögerliche Stimme sich von den schrillen Tönen der Debatte deutlich abhob, ins Telefon,

sie wohne am Fuße eines mit mehreren Turbinen bestückten Hügels und ganz unabhängig davon, wie deren Auswirkung auf die Umwelt sei oder welchen Wert sie als Quelle sauberer Energie haben, empfinde sie selbst ihnen gegenüber so etwas wie spirituelle Ehrfurcht, brauche sie doch nur ihre Hintertür zu öffnen und jeden Tag einige Minuten zu ihnen hinaufzuschauen, um problemlos glauben zu können, dass ihnen etwas Heiliges anhaftete, denn die Silhouette dieser Gruppe am Horizont, ihre Rotoren, die sich deutlich vorm Himmel abzeichneten, beschworen die nicht lebhaft Christi Ende am Kalvarienberg herauf, ehrlos gekreuzigt, ein Dieb zur Linken, einer zur Rechten, und wenn sie sich drehten, war das nicht wie ein Gebet, das Summen ihrer Generatoren, der endlose, so nachhaltig vom Wind verursachte Rhythmus, der natürlich nichts weniger als Gottes Atem überm Land sei, ihre drehenden Flügel, die an all die buddhistischen Gebetsmühlen erinnerten, die sie auf ihren Reisen nach Indien und Tibet gesehen habe, und es treffe doch gewiss auch zu, dass nur in solch großen Dimensionen und aus so makellosen Legierungen gebaute Maschinen mit ihrem Lied die Kluft zwischen Himmel und Erde für uns überwinden konnten und

gehe es denn nur ihr allein so, fragte sie, oder

verbinde noch irgendwer ähnliche Gefühle mit diesen Maschinen, dieser Technologie,

was natürlich niemand tat, und falls doch, behielten sie es in diesem Moment lieber für sich, sodass nach wenigen wirren Kommentaren, mit denen der Sprecher sich hoffnungslos bemühte, ihren Bemerkungen etwas gescheiten oder praktischen Sinn abzugewinnen und ihr Beitrag zur Debatte als quasi künstlerischer Einschub entschuldigt wurde, der mystischen Träumereien näher war als jedem vernünftigen Argument und auf eine Weise eigen, die es erlaubte, ihn als harmlos abzutun, nachdem man ihn noch mit einem lobenden Kommentar für die aufrichtigen Worte bedacht hatte und für das unverkennbar tiefempfundene Gefühl jener Frau,

das wohl jenem nicht unähnlich war, was ich an diesem Tag mitten in Louisburgh empfand, als ich auf dem Gehweg stand und zusah, wie die zerlegte Turbine ganz ohne Prozession oder Fanfare auf ihrer Bahre durch die Hauptstraße befördert wurde, so einsam, so monumental, dass es durchaus Gott selbst oder doch etwas Wesentliches von ihm hätte sein können, das da durch unser kleines Dorf am Rande der Welt geschleppt wurde, hatte ihn der Tod oder eine massive Kündigungswelle schließlich doch noch erwischt, weshalb man ihn jetzt fortkarrte, um ihn irgendwo auf immer zu verscharren, vielleicht auf einem Schrottplatz jenseits unserer Gerichtsbarkeit, einem Ort, wo Götter zerlegt oder ausgeschlachtet oder endgültig entsorgt wurden, vielleicht aber auch auf einem Lastkahn, von einem Schleppboot aufs offene Meer hinausgezogen, um mit Gewichten beschwert in einem Abgrund mitten im Atlantik versenkt zu werden, irgendwo zwischen den Kontinentalplatten, wo all die überflüssigen Götter liegen, zermalmt und erstarrt in schwärzester Tiefe ohne eine Signalboje, die verraten hätte, wo sie liegen, aus den Augen, aus dem Sinn, mitten unter den Dingen in der Welt, die

auf die eine oder andere Weise wie

Ölschlucker

sind, und die mich alle

daran erinnern, sollte ich es je vergessen, dass meine kindliche Fähigkeit, in Gedanken allzu weit vorauszueilen und mich zu einem apokalyptischen Finale zu räsonieren, über vier Jahrzehnte intakt geblieben ist und nur des kleinsten Anlasses bedarf, um sich wieder einmal zu beweisen und mich in solch abwegigen Untergangsdelirien fortzureißen, dass ich den Boden unter den Füßen verliere und in irgendeinen dunklen Orbit abdrifte, der mich weiter und weiter von daheim und in die fernsten Gegenden führt, eine seltsame Geistesverfassung für einen Ingenieur, der von Natur aus zu stabilen Konstruktionen neigt und nicht zu

dieser kreiselnden Traumzeit des Chaos, die

diesen Tag so verdreht und verzerrt, dass

dank der Zeitungsartikel deutlich wird, wie sehr die Idee des Zusammenbruchs

erweitert werden, über das Bild von wankenden oder in sich zusammenfallenden Dingen hinausgehen muss – einstürzendes Gemäuer, Ziegel, Holz, Metall, Glas –, die Vorstellung eines Ingenieurs vom Kollaps, Gebäude und Brücken, die schwanken, ehe sie zusammenbrechen und Staubwolken aufwirbeln, denn bei dem, was hier über die globale Wirtschaftskatastrophe steht, all das Gerede über Viren und Ansteckung, wird mir klar, es gibt auch andere Arten von Chaos, die über die grundsätzliche Befriedigung einstürzender Dinge hinausgehen, scheint es mir im idealen Reich der Finanzen und Währungen doch ökonomische Konstrukte zu geben, die auf andere Weise zerfallen oder doch

auf eine dem angemessene Weise, was sie im Grunde sind, abstrakte Strukturen, die jenen äußerst seltenen Viren erliegen, welche Werte und Erlöse zersetzen, auch das ihnen zugrunde liegende Vertrauen, Viren, die alles über seinen optimalen Zustand hinaus bis zu dem Punkt anschwellen lassen, wo es aus dem Gleichgewicht gerät und während der stillen Nachtstunden schließlich zusammenkracht, sodass wir am nächsten Morgen in einer Welt aufwachen, die sich gewiss nicht zu unserem Vorteil verändert hat, und natürlich

wird all dies nur im Nachhinein klar,

als würde jedes einstürzende Bauwerk erst das Licht und die Linse schaffen, dank der man das Desaster richtig erkennen kann, Asche und freigewordener Raum werden in der Vorstellung zu einem Standpunkt, von dem aus das Ganze nun für all jene klar zu erkennen ist, die Augen haben zu sehen, denn bis zu dem Moment, wo alles über uns zusammenbrach, war mir

oder irgendwem sonst nicht klar,

was geschah,

so wie

Mitte März, als uns von irgendwoher die unwahrscheinliche Nachricht von Virusinfektionen und Vergiftungen erreichte, eine ganze Stadt, die sich die Seele aus dem Leib kotzte, Stoff für eine B-Movie-Apokalypse, kaum siebzig Meilen von hier,

Arztpraxen und Krankenhausstationen überall in der Stadt, die einen plötzlichen Anstieg der Zahl von Patienten mit Magenproblemen meldeten, Kranke, die über Krämpfe klagten, über Übelkeit und heftigen Durchfall, ein Anstieg, der in keinem Verhältnis zu dem stand, womit sonst um diese Jahreszeit zu rechnen war, weshalb man von einer Lebensmittelvergiftung ausging, die sich durch ein großes öffentliches Ereignis oder eine entsprechende Versammlung verbreitet hatte, doch als eine sofortige Untersuchung ergab, dass die Fälle gleichmäßig verbreitet waren und sich keinerlei Häufungen in geografischer wie demografischer Hinsicht feststellen ließen, war klar, dass die Krankheit sich durch irgendwas verbreiten musste, was unterschiedslos in allen Teilen der Stadt zugänglich war, ein Schluss, der

zu einer sofortigen Untersuchung des Trinkwassers führte und rasch ergab, dass es mit Cryptosporidium verseucht war, einem infektiösen, in menschlichen Fäkalien vorkommenden Parasiten,

ich kapiere einfach nicht, was zum Teufel die Techniker der Stadt eigentlich treiben,

klagte mein Sohn von der anderen Seite der Welt, mit dem ich an jenem Abend skypte, dessen unrasiertes Gesicht den ganzen Bildschirm füllte und dessen Stimme mich mit leichter Verzögerung erreichte, Zeit, die sie brauchte, um die Entfernung zwischen uns zu überwinden, denn

ich hab’s im Netz gelesen – sieht aus, als könnte es ziemlich ernst werden

ist schon ziemlich ernst

und schuld sind diese Techniker, die in ihrem Job gepennt haben, wie konnten die das nur übersehen, und

in Darraghs Stimme schlich sich ein Anflug von Hysterie, zu der er neigt, wenn er mit der menschlichen Fehlbarkeit dieser Welt konfrontiert wird, ein begabter akademischer Verstand, zumindest laut Mairead, der es ihm manchmal aber schwer macht zu begreifen, wie es tatsächlich in der Welt zugeht, weshalb man ihn allzu oft in diesem Ton hört, in dem er vor sich hinwettert, manchmal gar mit Ausdrücken, die ich kaum verstehe, und so sagte ich