Ein weißes Land - Sherko Fatah - E-Book

Ein weißes Land E-Book

Sherko Fatah

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Beschreibung

Von Bagdad nach Berlin: Die Reise eines jungen Arabers durch eine Welt, die ihre Unschuld verliert

Bagdad in den 1930er Jahren. Der junge Araber Anwar versteht nichts von den politischen Wirren seiner Zeit. Er träumt von schönen Häusern, von fernen Reisen und vielleicht ein bisschen von der Schwester seines jüdischen Freundes. Er träumt davon, ein »Jemand« zu werden. Doch dann gerät er mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unter den Einfluss der »Schwarzhemden«, der faschistischen Jugendorganisation im Irak. Ein bitter wahres Märchen nimmt seinen Lauf, ein Abenteuerroman mitten durch die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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Sherko Fatah

Einweißes Land

Roman

Luchterhand

Aus dem Koran wird nach der Übersetzung

von Max Henning zitiert.

© 2011 Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-06093-0

www.luchterhand-literaturverlag.de

Dem Andenken an

Hans Weidhofer

gewidmet,

geboren am 11. 2. 1919 in Gorlowken,

gefallen am 31. 1. 1944 bei Vinniza (Ukraine).

Laß den Weltenspiegel Alexandern;

Denn was zeigt er? – Da und dort

Stille Völker, die er mit den andern

Zwingend rütteln möchte fort und fort.

Goethe, West-Östlicher Divan

Der einsame Deutsche 1

1.

Ich sitze hier und beobachte dich wie einen Fremden. Aber ich kenne dich. Vielleicht werde ich es dir nie sagen: Ich kenne dich, ich kenne dich gut. Es ist einige Jahre her. Es ist eine Ewigkeit her. Lange genug, um mich nicht mehr zu erkennen. Aber wie auch, du schaust mich nicht an, du schaust nie jemanden direkt an. Du bist der wichtige Doktor aus dem fernen Deutschland. Und ich, was bin ich schon? Der Bote, den du nicht brauchst, der dir lästig ist. Aber würdest du mich anschauen, dann wüsstest du es sofort. Wir waren uns einmal so nahe wie zwei eingesperrte, verängstigte Hunde, wir hatten den gleichen Dreck in unseren Mäulern, und in jener fernen, kalten Nacht war unsere Angst eine, wir waren ein furchtsames Tier mit zwei Köpfen. Wir haben den Tod gesehen, wie er leibhaftig über die morastige Erde schritt. Seine schmutzigen Stiefel ließen den feuchten Boden schmatzen. Er war schmal von Gestalt, hatte einen großen Kopf mit hoher Stirn. Er sprach deine Sprache. Du hast ihn sicher nicht vergessen. Niemand kann das. Aber vielleicht willst du ihm nur einfach um keinen Preis je wieder begegnen, und sei es nur in der Erinnerung, im Gesicht eines Überlebenden aus jener Zeit. Ich verstehe dich, ich verstehe dich gut, du wichtiger Mann.

Und doch, Gottes Wege sind unerforschlich, bist du hierhergekommen. Du hättest überall hingehen können nach dem Krieg. Aber nein, du bist hier, vor meinen Augen, und allein dein Anblick bringt mir die alte Furcht zurück, die uns beide einmal umschlossen hielt wie eine Faust.

Ich rutschte auf dem Holzstuhl herum, den mir der Doktor am ersten Tag hingestellt hatte. Wortlos, ohne Gruß oder eine andere Regung erledigte dieser hochgewachsene, drahtig wirkende Mann die Sache selbst. Er ließ mich, den Boten, einfach mitten im Krankensaal stehen und kam nach kurzer Zeit mit dem Stuhl zurück. Nah am Fenster stellte er ihn ab. Als er wieder an mir vorbeiging, wies er nur hinter sich.

Ich sah ihm nach, als er aus dem Saal verschwand. Wir hatten kein Wort gewechselt, obwohl wir einander verstanden hätten. Ich hatte geglaubt, Dr. Stein sei mit den hiesigen Sitten vertraut. Die natürliche Autorität, mit der er sich bewegte und kurze Anweisungen auf Englisch gab, die ruhige Art, in der er seine Hände hob, um wie ein erstarrter Dirigent zu warten, bis jemand vom Personal ihm die Gummihandschuhe von den Händen zog, all das hätte mich nie zweifeln lassen an der Kompetenz des Arztes. Doch dieser Mann verstand nichts. Anstatt mich mit dem Zettel loszuschicken, auf dem Dinge notiert waren, die er brauchte, ging er selbst in den Basar. Ich war erstaunt, als er mit den kleinen Paketen zurückkam, sich mir vorsichtig näherte und die Sachen hinhielt wie Geschenke. Doch ich sollte sie nur verwahren, bis der Doktor am frühen Abend nach Hause ging.

Das war nicht richtig. Es war beleidigend. Ich sah es ihm nach. Schließlich war dieser Mann hier ein Fremder. Er konnte nicht wissen, dass jeder Fremde, noch dazu ein so wichtiger wie er, Anspruch auf jemanden hatte, der seine Einkäufe erledigte, seine Briefe holte oder wegbrachte oder ihn zu Leuten führte, die er besuchen wollte. Er hätte es lernen können, wenn er nur einmal gefragt hätte. Dann aber, dachte ich und wiegte den Kopf, hätte er vielleicht auch mehr erfahren, als ihm lieb war. Er hätte mich erkannt, und alles, was wir gesehen hatten, wäre in diesem Augenblick anwesend gewesen, hätte den Raum zwischen uns erfüllt.

So aber saß ich tagein, tagaus auf meinem Stuhl am Fenster, starrte in den Saal oder auf den Hof des Krankenhauses hinaus und wartete. Jedes Mal, wenn der Doktor erschien, fuhr ich zusammen und richtete mich auf, weil ich erwartete, beansprucht zu werden. Und jedesmal war es eine kleine Enttäuschung, wenn es nicht geschah.

Manchmal an diesen langen Nachmittagen fragte ich mich, ob ich mich nicht doch irrte. Ob ich den Mann, den ich von früher kannte, einfach nur wiedererkennen wollte in diesem Arzt aus Europa. Ich hatte nur mit wenigen Menschen über meine Erlebnisse gesprochen. Als ich zurückkehrte, war meine Fähigkeit zu berichten oder gar zu erzählen erloschen. Wem auch hätte ich davon erzählen sollen, wie eine Welt in Trümmern versank, während hier, in meinem Land, alles beim Alten war. Die vertrauten Gassen und Straßen, die gewohnte Hitze und Langsamkeit, nichts hatte sich verändert. Niemand hätte mir geglaubt, was ich gesehen hatte. Ich wusste es im Moment, da ich den Fuß auf heimatlichen Boden setzte. Obwohl ich die Hitze des Feuers noch auf den Wangen, der Stirn fühlte, sprang mir, als ich endlich wieder in meiner Sprache sprechen konnte, etwas an den Hals, ja, genau so fühlte es sich an. Was immer es war, es würgte mich, wenn ich reden wollte. Doch niemand vermisste meine Worte. Es wären nur Worte des Boten Anwar gewesen, die allem, was gewiss erscheint, nichts hinzufügen konnten, keinen Zweifel, keine wichtigen Informationen, nichts.

Als ich begriff, dass ich in dieser neuen Rolle das Stummsein nicht mehr zu spielen brauchte, sondern mühelos, auch sprechend beibehielt, war ich erleichtert. Noch im Krieg hatte ich geglaubt, ich würde auch deshalb durch die endlose Weite und zerstörten Städte wandern, um jemandem in der Heimat davon berichten zu können. Alles, so dachte ich, sei in mir bereit für diese Begegnung. Dann aber, als es so weit war, sagte ich kaum etwas.

Es ist, als suche man einen Menschen, dem man sein Herz ausschütten kann, warte in Wahrheit aber auf Gott. Was sind ein paar Worte zu einem Satz verknüpft, was können sie sein in den Ohren eines Fremden. Nein, was ich brauchte, war ein Vertrauter. Es musste jemand sein, der nicht nur die Worte verstand, sondern sie auffing und zum Leben erweckte. Jemand, der ein Summen hörte, aber die Musik vernahm. Nur ein solcher hätte es mir möglich gemacht zu reden, und vielleicht habe ich insgeheim erwartet, ihm doch noch zu begegnen. Und da schien er nun vor mir zu stehen.

ManchmalkamderDoktorindenRaumundwarfmireinenBlickzu,alshätteervor,michnundocheinmalmiteinemAuftragzubetrauen,seisichabernochnichtsicher.ImmerhobichleichtdenKopfundwartete.EinmalstanddasFensterhintermiroffen.DerheißeWindwehteSandundvertrockneteGrashalmeherein.DreiBettenstandenimRaum,abersiewarenleerundoffen,dieweißenVorhängezurückgeschoben.DerWindließdieVorhängeerzitternwiedenKitteldesArztesunddenHandtuchstapelaufdemMetalltischnebenihm.DerWindstrichsogarüberdasFelleinerKatze,dieplötzlichausdemKorridorhereingeschlüpftwar,nunverharrteunddenKopfzurückzog,alshättesiesichimZimmergeirrt.ImMaul trug sie die Reste einer Nachgeburt aus dem Kreisssaal.

Eine warme Brise ließ mich tief einatmen. Er ist es, dachte ich unvermittelt, kein Wahngebilde könnte mich so täuschen. Er hat schon viele graue Haare und geht schon leicht gebeugt. Sein Gesicht wirkt nicht alt, aber ernst und abweisend. Dennoch ist er es. Und auch er, so glaubte ich plötzlich zu wissen, hat seinen Vertrauten nicht gefunden seit damals. Auch er hat nicht berichtet.

Der Arzt trat auf mich zu, ging umständlich um den Stuhl, reckte sich ächzend und schloss das Fenster. Ich rührte mich nicht, bis er fertig war. Ich hätte ihm geholfen, wenn ich gewusst hätte, was er wollte. So blickte ich der Katze nach, die mit ihrer Beute aus dem Zimmer floh, und wischte mir den Staub von den Schultern, unschlüssig, was ich tun sollte.

Am Abend stand ich auf und streckte mich, als wäre mein Werk vollbracht. Gern hätte ich dem Doktor gesagt, dass ich nun gehen müsse, doch wagte ich nicht, nach ihm zu suchen. Stattdessen schlich ich aus dem Raum in den dunklen Korridor, ging an den fleckigen Wänden entlang bis zum gläsernen Windfang und durch die Eingangstüren auf den weiten Hof hinaus. Das Krankenhaus war ein Neubau, doch die Mauern waren bereits dunkel geworden und alles, was sie umschlossen, schien uralt zu sein.

Niemand hatte mich gehen sehen. Wahrscheinlich war der Doktor sogar erleichtert, als er spät am Abend den leeren Stuhl sah. Ich schob die Hände in die Taschen meines alten Jacketts und ging den Hügel hinab zur Straße, die in die Stadt führte. Ich fragte mich, ob auch ich erleichtert war, fortzukommen von jenem Mann, den ich wiedererkannt hatte. Ich müsste es sein, dachte ich, müsste ihn fliehen wie die Tiere das Feuer. An einem von vertrocknetem Buschwerk durchsetzten Schutthaufen blieb ich stehen.

Die Nacht war sternenklar. Vor mir verschwand die Straße in einer dunklen Mulde und tauchte erst bei den wenigen noch brennenden Lichtern der Stadt wieder auf, schmal und leer. Er gehört, dachte ich, zu all dem, was ich vergessen wollte.

Ich ging weiter. Wer weiß, dachte ich, vielleicht gehen ihm ganz ähnliche Gedanken durch den Kopf. Das jedenfalls weiß ich von ihm: Er würde sich seine Ratlosigkeit unter keinen Umständen anmerken lassen. Das ist der Unterschied zwischen einem klugen Mann und einem einfachen wie mir.

Wie immer schlich ich die dunklen Gassen entlang. Unauffällig zu sein, gehört zu meinem Beruf. Ein Bote ist ein Transportmittel. Was er anbietet ist Verlässlichkeit. Noch wenn ich frei bin und wie jeder andere unterwegs, verhalte ich mich wie ein Bote, ich eile, bin gewissenhaft und doch zurückhaltend. Kümmerliches ist es, worauf ich stolz bin.

Schnellen Schritts hastete ich durch die Dunkelheit. Ich ärgerte mich wieder über die Ignoranz des Doktors, die mich zwang, auf diesem Stuhl im Krankenhaus zu sitzen. Alle, die den Saal betraten, mussten mich, den Boten, anschauen wie eine wichtige Person oder wenigstens einen Kranken, bis sie bemerkten, wer ich wirklich war, um mich sodann geflissentlich zu übersehen.

AusvereinzeltenHäusernfielLichtaufdieGassen.IcherreichtedengroßenPlatzmitdenVerwaltungsgebäuden,gingeinkurzesWegstückimScheinvonjüngstaufgestelltenLaternenunderreichteschließlichdieGasse,indermeinHausstand.AufdergegenüberliegendenSeitebefandsichderGemüsegroßmarkt.HierkamendieBauernderGegendfrühamMorgenanundentludenihreKarren.JetztwaresbeinaheunheimlichstillandiesemOrt.Haufen leerer Stoffsäcke lagen in der Dunkelheit wie tote Esel.

Den Platz gab es noch nicht lange. Der immer größer werdende Basar begann mein einst freistehendes Haus zu umschließen. Zunächst waren es nur Händler und Besucher gewesen, die tagsüber die Gasse bevölkerten. Dann aber breiteten die Geschäfte sich aus. Häuser in der Nähe wurden umfunktioniert oder gleich abgerissen, und die immer weiter ausgebaute Wellblechüberdachung verdunkelte die Gassen, an denen sie gestanden hatten. Ich wollte es als gutes Zeichen sehen: Der Krieg in Europa mit all seinen Auswirkungen bis nach Bagdad war längst vorbei, die Lage hatte sich beruhigt und die Menschen trieben regen Handel. In Wahrheit aber strömten immer mehr arme Leute in die Stadt und veränderten sie so schnell, dass ich kaum folgen konnte.

Der Marktplatz war ausgestorben. Ich schlenderte in die winzige Gasse bis zum Eingangstor des Hauses, oder was davon übriggeblieben war. Fliegen setzten sich auf mein Gesicht, was in der Dunkelheit besonders unangenehm war. Dennoch, so dachte ich oft, wenn ich hier vorbeikam, es ist eine gute Idee gewesen, das anfangs weit hingestreckte Gebäude freizugeben für die Betreiber der Karawanserei. Sie hatten Ställe für die Maultiere der Bauern eingerichtet, genau gegenüber der neuen Gartenmauer. Jetzt, in der Nacht, waren keine Tiere dort. Nur der Geruch verriet ihre Anwesenheit vom frühen Morgen bis zum Abend, wenn die Bauern sie dort unterstellten, um ihre Verkäufe zu tätigen.

Ich schloss das schmale, hohe Tor auf, ging durch einen Gang, der vor dem Umbau ein Korridor gewesen war, und trat in den Garten. Geheimnisvoll rauschten die Blätter des Feigenbaums. Ich blieb kurz stehen und atmete tief ein. Erst hier, getrennt von der Außenwelt, bemerkte ich, welch schöne Nacht mich umgab und wie der Wind die Haut, wenn schon nicht kühlte, so doch wenigstens überstrich. Sogar die Fliegen vertrieb er. Ich blickte zum Haus, alle Fenster waren dunkel.

Ich stieg die schmale Außentreppe hinauf und betrat die Wohnung. Und obwohl der Garten und der Feigenbaum mich die Ruhe schon hatten erahnen lassen, war ich doch erst jetzt ganz bei mir. Das war ein Zustand, den ich immerfort herbeisehnte und doch auch fürchtete.

Ich entzündete das Öllicht, trug es hinüber zur gepolsterten Sitzbank, setzte mich und zog die Schuhe aus. Ich war daheim. Alles um mich war still. Die Lampe erhellte den Raum nicht nur, sondern wärmte ihn mit ihrem flackernden Licht. Meine heimliche Geliebte, die Witwe, schlief wahrscheinlich schon seit Stunden. In der Küche hatte sie mir das Essen hingestellt. Ich zog das Tuch vom Topf, griff ein paarmal hinein, aß im Stehen. Danach ging ich in den kleinen Anbau neben der Küche, um mich zu waschen. Die ganze Zeit, während ich mit einer Schale Wasser aus dem großen Bottich schöpfte und über mich goss, freute ich mich darauf, zur Witwe ins Bett zu kriechen.

Die Augenblicke davor steigerten meine Erregung. Manchmal kam ich absichtlich spät nach Hause, um sie genau wie jetzt zu spüren: Erst die Stille und Verlassenheit in meinem Haus, dann die Nähe zu der Frau.

Nass, wie ich war, das Handtuch um mich geschlungen, ging ich noch einmal zum Topf und nahm ein paar Bissen. Es war eine warme Nacht, dennoch spürte ich kühle Luft auf der Haut. Ich blickte in das anheimelnd beleuchtete Zimmer und stellte fest, dass sich in meine Erregung noch etwas anderes mischte. Ich wusste, was es war, doch ich wollte nicht darüber nachdenken. Ich war aufgewühlt, etwas Bedeutsames war mir widerfahren, eine Begegnung, der ich nicht gewachsen war. Ich zog das Tuch ganz vom Topf und verschloss ihn mit dem Deckel.

IchlöschtedasLichtimZimmerundschlichdurchdendunklen,engenFlurzumSchlafzimmer.Eswargenau,wieicherwartethatte:Sieschlieffest,alsichmichzuihrlegte,warvomBetttuchsoumschlungen,dasseskaumvonihrzulösenwar.Sieerwachte,undjestärkerichamTuchzupfte,umsonachdrücklicherschlangsieesumsich.IchschobihrdunklesHaarauseinanderundküssteihrenNacken.Esgelangmirnurzentimeterweise,dieHautihresRückensfreizulegen,immerfesterzogsiedasTuch.Ichwusste,wassiewollte.IchkannteihreaufreizendePrüderie.Nochimmer,wieschoninunserererstenNacht,verbargsiesich,wennichsiewollte.InzwischenwareseinRitualgeworden,unddiedünneDecke,indiesiesichverkroch,gabmirdieZeit,dieichbrauchte.Siewichnichtvormirzurück;ihreFußsohlenstreicheltensogarwiebeiläufigmeineFüße.Abersiewolltegenommenwerden.Manchmalwünschteichmir,eswäreanders,docheserregtemich.SchließlichzogichdasTuchvonuntenherauf,legtesiefreiunddrangvonhinteninsieein.SiemachteeinHohlkreuzundstöhntesoleise,alswärenihreKinderimRaum.GeradenochhatteichZeit,ihrdasHaarausdemGesichtzustreichen.SieschnapptenachmeinerHandundlutschteandenFingerkuppen,dannwaresvorbei.

Gern lag ich noch eine Weile bei ihr, bevor ich in meinen Raum ging. Ich starrte schwer atmend zur Decke und spürte wieder die Beklemmung. Als wäre mir jemand gestorben, so dachte ich. Die Witwe drehte sich zu mir und legte die Stirn an meine Schulter.

»Du hast einen neuen Nachbarn«, sagte sie unvermittelt.

Ich brauchte etwas, um aus meinen Gedanken zu finden.

»Wen?«, fragte ich.

Sie gähnte. »Es ist dieser Arzt aus Europa, für den du arbeitest.«

Sofort war ich hellwach. »Was sagst du?«, fuhr ich sie an.

»Sie haben seine Möbel gebracht, heute. Ich habe es gesehen, vom Dach aus. Er wohnt im Haus neben den Ställen. Nicht besonders fein, aber geräumig.«

Mich hielt es nicht im Bett. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben und zu schleichen, als ich barfuß auf den Flur hinaustrat und durch das dunkle Zimmer zur Eingangstür ging. Kurz überlegte ich, ob ich die Schuhe anziehen sollte. Doch nicht einmal dafür reichte meine Geduld.

Ich eilte durch die kühle Nachtluft an der Balustrade entlang zur Holzleiter, die auf das Dach führte. Oben angekommen, bemerkte ich, dass mein Oberkörper nackt war, und unwillkürlich duckte ich mich zusammen. Doch da sah ich schon das große beleuchteteFensterimHausaufderanderenSeitederGasse.Icherkannte den Doktor, den ich für diesen Tag hinter mir gelassen zu haben glaubte. Dort war er, offenbar vor Kurzem erst zurückgekommen. Es war wieder ein langer Abend im Hospital gewesen. Er stand in der Mitte seines neuen Wohnraumes, die Hände in die Seiten gestützt, und blickte sich um, als suche er etwas.

Ich kauerte auf dem Blechdach nieder und verschränkte die Arme vor dem Körper. Jetzt, so unerwartet wieder allein mit ihm, begriff ich, dass ich diesen Mann nicht loswerden, dass er mich verfolgen würde mit allem, was er mitgebracht hatte.

IrgendwoindenStällengegenübermussteeinMaultierübriggebliebensein,jetztirrteesoffenbarherumundstießgegendiehölzernenWände.IchfühltedenSchweißaufderHautundfröstelte.WieeinindischerHeiligersaßichda,währendderDoktordamitbegonnenhatte,Kistenauszuräumen.Ertateshastig,stelltealldiekleinenDinge,dieerausdemSägemehlfischteundausdemPapierwickelte, irgendwo in den Raum, manches sogar auf den Boden.

Jetzt bist du angekommen, dachte ich. Jetzt schaffst du dir ein Heim in der Fremde. Ich löste die Arme von der Brust. Der Anblick des spindeldürren Mannes ließ mich erneut zweifeln. Er war ein älterer Herr und ein Arzt aus Europa, doch das bewies noch nichts. Es sind deine Erinnerungen, die dich täuschen, dachte ich. Nur, weil du so lange keinen Europäer mehr gesehen hast, glaubst du, dass dieser hier etwas mit jener Zeit zu tun hat. Plötzlich fühlte ich mich schwach und niedergeschlagen. Alle Anspannung der letzten Stunden löste sich. Ich stand auf und wandte mich ab. Halbnackt wie der Mann im Fenster gegenüber verharrte ich kurz und stieg dann wieder hinab.

2.

An den folgenden Tagen setzte ich mich nicht mehr auf denStuhl im Krankenhaussaal. Ich ging nur kurz hinein und sagte jemandem vom Personal, dass ich da sei. Dann wartete ich auf dem staubigen Platz vor dem Krankenhaus darauf, dass man mich rief.

Ich saß neben dem Eingang unter dem Vordach im Schatten und warf Kieselsteine in den Sand. Als Bote war ich an Wartezeiten gewöhnt, und der Ort vor dem Krankenhaus schien mir nicht der schlechteste zu sein. Manchmal hatte ich mitten auf der Straße im Menschengewimmel stundenlang warten und noch dazu achtgeben müssen, meinen Auftraggeber nicht zu übersehen, wenn er aus dem Haus kam. Hier dagegen war es ruhig, ich konnte meinen Gedanken nachhängen. Mich quälte nur, dass sie alle um diesen Arzt kreisten. Je mehr ich darüber nachgrübelte, umso dringender wurde mein Bedürfnis nach Gewissheit. Ich musste wissen, ob ich mich in diesem Mann irrte. Ich wischte mir über die Stirn und staubte das alte Jackett ab. Unruhe erfasste mich. Mein mühsam erlangter Frieden war dahin, ich fühlte mich wieder wie damals in der eisigen Weite, betäubt vom Schnaps, wie sie sagten, und von der ständigen Angst.

An einem dieser langen Tage ertönten von der Straße her Motorengeräusche und laute Stimmen. Aufgeschreckt wich ich zurück. Das Tor wurde geöffnet und herein fuhr ein von hellbraunem Sand bedeckter Lastwagen. Daneben liefen schreiend Frauen und Kinder. Plötzlich war der Hof von Lärm erfüllt. Der Lastwagen hielt vor dem Eingang des Krankenhauses, Fahrer und Beifahrer stiegen aus und bahnten sich einen Weg durch die Menge. Es dauerte eine Weile, bis sie, denen die Kinder vor die Beine stolperten und die Frauen an den Kleidern rissen, die Rückseite des Lastwagens erreicht hatten und die Ladeklappe öffnen konnten.

Ich ging näher heran und fragte eine der Frauen, was geschehen sei. Bei den Straßenbauarbeiten draußen vor der Stadt hatte es einen Unfall gegeben. Gleich vier Männer waren, als sie am Straßenrand saßen und Pause machten, von einem Laster überfahren worden. Der Fahrer hatte für einen Moment nicht achtgegeben, war den Männern über die Beine gefahren und hatte die Knochen zermalmt.

Kaum war die Ladeklappe offen, verstärkte sich das Geschrei um ein Vielfaches. Nun waren auch die Schmerzenslaute der Opfer zu hören. Der Arzt kam herbeigelaufen, dicht gefolgt von anderen, jüngeren Doktoren, die ich noch nie gesehen hatte. Ich zog mich wieder zurück, ohne dabei den Arzt aus den Augen zu lassen. Gleich fiel mir das leichte Zittern auf, nur sichtbar, wenn er sich rasch bewegte. Er könnte es sein, dachte ich unwillkürlich.

Um besser zu sehen, lief ich in weitem Bogen um den Lastwagen herum. Die vier Verletzten jammerten und schrien abwechselnd, Blut lief in einem fadendünnen Rinnsal von der Ladefläche und tropfte in den Sand. Der Arzt hatte Mühe, den Lärm der Menge zu übertönen, wenn er seine Anweisungen gab. Inzwischen waren Tragen herangeschafft worden, und der Doktor befahl den jüngeren Männern, auf die Ladefläche zu klettern und die Verletzten herunterzuheben. Jedes einzelne der Opfer brüllte auf, wenn es angehoben und, schräg in der Luft hängend, in die von unten her ausgestreckten Hände vor dem Laster übergeben wurde. Die Beine der Schwerverletzten baumelten grotesk aus ihren Rümpfen. An den Körpern der Männer war kaum Blut zu sehen. Mir schien es, als wollten die Leute, ihre Münder mit den Händen bedeckend, die Schmerzensschreie der Männer verstummen lassen.

Die Frauen der Verletzten warfen sich über die Tragen und wurden von den wild gestikulierenden Helfern fortgezogen. Als ich sah, wie diese Frauen Rotz und Tränen in die Enden ihrer Kopftücher wischten, als ich in ihre verquollenen Gesichter blickte, taumelte ich in sichere Entfernung zurück. Ich atmete durch den Mund und fühlte mein Herz schlagen.

DasletztederOpferwurdesounglücklichabgelegt,dassseineBeineleblosanderSeiteschlenkerten,alsmandieTrageanhob.DieSchmerzenmusstenunerträglichsein,derDoktorspranggeistesgegenwärtigherbei.Ichbeobachtete,wieerdenVerletztensicherpositionierteunddieTrägerdannweiterschickte.EinenAugenblicklangblickteerseinemPatientennach,betrachtetedenLasterunddieLeuteumsich.PlötzlichgriffersichmitderRechtenandenHals,eswareineflüchtigeGeste,bevorerdenTrägernfolgte.DochmirprägtesichderAnblickein.WaresAtemnotoderwarauchdemArztetwasandieKehlegesprungenundwürgteihn?

Ich war schon weit fort und atmete wieder ruhig und flach. Als mich einer der jüngeren Ärzte dort abseits stehen sah und heranwinkte, trottete ich wie unbeteiligt hinüber, drängte mich durch die Menschentraube und postierte mich zwischen den beiden Männern, die mit quergehaltenen Besen den Eingang sicherten. Ich musterte die Gesichter der herandrängenden Leute. Solche waren immer dort, wo es Aufruhr gab, sie heulten und schrien, als betreffe es sie selbst, doch in Wahrheit genossen sie nur den Lärm, den sie selbst machten. Ich stieß diejenigen zurück, die zu weit hereinkamen, und zielte dabei auf ihre Gesichter, vernahm Betteln und Klagen, Flüche und Drohungen, doch ich empfand nichts. Es ist wie damals, ich habe mich nicht verändert, dachte ich und wischte den Kopf eines Jungen beiseite. Als er zornerfüllt wieder auftauchte und mir in die Augen sah, wich er zurück.

Obwohl ich alle Hände voll zu tun hatte, wandte ich mich kurz um. Mir war, als hätte ich etwas gespürt, als ich den Kopf wandte. Und tatsächlich, in einigen Metern Entfernung stand der Doktor hinter mir. Anstatt bei seinen Patienten zu sein, beobachtete er mich. Er verzog keine Miene, nichts deutete darauf hin, dass dies mehr als ein Zufall war. Und doch ließ ich hilflos die Arme sinken, als sich der andere umdrehte und an die Arbeit ging.

Auch während der nächsten Wochen erklomm ich in den Nächten die Holzleiter. Ich zog mich nun warm genug an und manchmal nahm ich sogar ein Glas und die Teekanne mit. Ich machte es mir regelrecht gemütlich auf dem Dach. Im Schneidersitz beobachtete ich das dunkle Fenster, und wenn schließlich das Licht den Raum dort drüben erhellte, war ich voller Erwartung, wie im Kino. Ich war mir des Sonderbaren meines Tuns durchaus bewusst und bemühte mich deshalb, unbeobachtet zu bleiben. Es fiel mir schwer, doch wartete ich stets bis nach Einbruch der Dunkelheit, auch wenn ich wusste, dass der Doktor bereits zu Hause war. Es überraschte mich, wie groß meine Neugier und meine Ungeduld war. Ich bin nicht zurückgekommen, dachte ich, ich bin krank, ich bin einsam.

Und doch genoss ich mein geheimes Leben. Mit der Witwe hatte es begonnen. Nur in den Nächten konnten wir uns sehen, aber so waren wir ganz beieinander und fern von der Geschäftigkeit des Tages. Zwischen uns gab es ein stilles Einverständnis: Außer am Anfang sprach sie nie wieder von ihrer Familie und ihren Kindern und ich erzählte nichts von mir. Die Nacht umschloss und schützte uns, und was wir taten, behielt sie für sich.

Dr. Stein hatte seine Wohnung inzwischen eingerichtet. Er war dabei planvoll vorgegangen und musste späterhin nicht viele Änderungen vornehmen. Ein gerahmtes Bild, von dem ich aus der Entfernung leider nicht viel erkennen konnte, hatte er mehrmals an eine andere Wand des Raumes gehängt. Auf dem Bett liegend oder im Stuhl sitzend hatte der Arzt versucht, die bestmögliche Position dafür zu finden. Schließlich gab er es auf, das Bild blieb verschwunden.

Nun kehrte der Alltag ein. Mir fiel auf, dass der Arzt niemals Besuch hatte, obwohl er in der Stadt ein so wichtiger Mann war. Das schien ihn aber nicht zu stören. Wenn er abends heimkam, zog er sich sofort einen Bademantel über und schaltete das Radio ein – ich wusste, dass er nun Feierabendmachte.

Der Doktor hatte einige Bücher in ein Regal einsortiert, er las aber immer nur die Zeitungen, die er stapelweise mitbrachte. Es waren Titel aus dem Westen, einige davon hatte ich aufgetrieben; einer der wenigen Aufträge, die mir durch einen seiner Assistenten erteilt wurden.

NachetwazweiWochengabeseineVeränderung.EinüppigerStraußRosenstandimRaum.Verärgertfragteichmich,wenderDoktorgeschickthabenmochte,sieihmzubesorgen.WahrscheinlichhattendasseineFreundeinderStadtverwaltungübernommen.Ichhättebesserebekommen,wennermichnurgefragthätte.DochdielangstieligenRosenwarenprächtig;selbstimLichtdernackten Glühbirne war ihr samtenes Rot ein Versprechen.

Am Abend darauf hatte Dr. Stein erstmals Gesellschaft. Es war eine Europäerin. Deutlich jünger als der Arzt und fast so groß wie er, stand sie etwas unsicher im Raum und blickte sich um. Sie hatte eine der Rosen genommen, wedelte damit und hielt sie sich ab und an unter die Nase. Der Doktor lehnte an der Zimmertür und putzte mit einem Tuch seine Brille. Natürlich hatte sich in der Stadt längst herumgesprochen, dass diese fremde Frau angekommen war und zu ihm gehörte. Doch nur ich wurde Zeuge ihrer Intimität, nur ich sah die Nervosität des Doktors, die Unsicherheit eines älteren Mannes, der lange allein gewesen war. Und ich konnte in Ruhe diese Frau mit ihrem schmalen, ausgezehrt wirkenden Gesicht betrachten, die sich benahm, als würde sie gleich wieder gehen wollen. Vielleicht ist sie seine Tochter, kam es mir in den Sinn, doch gleich darauf setzte sich der Arzt die Brille auf, steckte das Tuch umständlich in die Hosentasche und umarmte die Frau vorsichtig und dennoch etwas zu heftig. Als sie sich küssten, wandte ich den Blick ab.

Die Frau blieb bei dem Doktor. Sie wartete an den Abenden auf ihn. Ich hörte die Leute über sie reden, der übliche Klatsch, mit dem Unterschied, dass er nicht frech offen ausgetauscht wurde, sondern hinter vorgehaltener Hand. Schließlich handelte es sich um Ausländer, da kann man nie wissen.

Einmal kam sie zum Krankenhaus, wahrscheinlich, um die Arbeitsstätte ihres Mannes zu besichtigen. Sie trug ein Kopftuch, ich erkannte sie erst, als sie an mir vorbeiging und im Gebäude verschwand. Aufgeschreckt wanderte ich umher, bis sie endlich wieder herauskam. Möglicherweise wollte sie meine Dienste in Anspruch nehmen. Am Arm des Doktors trat sie in den Hof, von der Mittagssonne geblendet beschirmte sie die Augen. Ich eilte zu ihnen, doch Stein hob sogleich die Hand. Er blickte mich nicht einmal an, wischte den Boten nur fort wie eine lästige Fliege.

WütendbliebichzurückundsahdiebeideninRichtungAusganggehen.Ichwarnunsicher,dassderDoktorspeziellmichnichtalsBotenwollte,wederfürsichnochfürseineFrau.Sobliebmirnichts,alsdiebeidenvollerIngrimmweiterhinzubeobachten.

Schon nach wenigen Tagen wurde die Sache interessant. Hinter dem Fenster in einigen Metern Entfernung standen sich die Frau und der Doktor gegenüber und redeten aufeinander ein. Immer wieder hob der Arzt die Hände, wie um etwas Unsichtbares abzuwehren. Sie hingegen hielt sich kerzengerade. Ihr dunkelblondes Haar war so offensichtlich ungepflegt, als wollte sie ihn mit ihrem Anblick erschrecken. Der Streit währte lange. Der Doktormachte mehrere Schritte rückwärts, um sogleich, die Hände voraus, wieder vorzustoßen. Er wollte die Frau packen und wagte es dann doch nicht. Schließlich löschte einer von beiden das Licht. Sekundenlang blieb es dunkel. Plötzlich aber war das Fenster wieder hell erleuchtet, die Frau hastete hilflos durch den Raum.

Ich empfand Genugtuung darüber. Als ich die Leiter hinabstieg, fragte ich mich, warum dem Doktor gelingen sollte, was mir verwehrt blieb: Ein normales Leben führen, als wäre nichts geschehen. Ich saß noch lange im dunklen Zimmer und dachte darüber nach, ob ich dem anderen das Unglück wünschen sollte. Wäre es nicht besser, wie dieser auf einen Neuanfang zu hoffen, anstatt wie ich in der Nacht zu hausen wie ein hässliches Tier unter der Erde?

3.

Wenige Tage später war die Frau verschwunden. Ich be-merkte es an der Stille. Kurz vor dem Abendgebet hatte sie gewöhnlich das Geschirr gespült. Sie tat das am Wasserhahn im Hof gegenüber so geräuschvoll, man fragte sich, ob sie zornig oder nur achtlos war.

Auch zog der Doktor von nun an abends die Vorhänge zu. Es blieb nur ein schmaler Spalt, durch den ich zuweilen seinen Schatten auf und ab gehen sehen konnte. Tagsüber im Krankenhaus wirkte er unverändert, aber an den Abenden fand er keine Ruhe mehr.

Ich starrte auf die gelbbraunen Vorhänge und wartete, bis das Licht gelöscht wurde. Das geschah mit jedem Abend immer früher, und ich vermutete, dass er danach im Dunkeln saß, so wie ich es manchmal tat.

Als Dr. Stein einmal plötzlich die Vorhänge aufzog und im hell erleuchteten Fenster stehenblieb, erschrak ich dermaßen, dass ich fast das Teeglas fallen gelassen hätte. Er sah blass aus, die Hemdsärmel waren hochgekrempelt und die Knöpfe vorn so weit geöffnet, dass seine nackte, grau behaarte Brust zu sehen war. Um den linken Arm, oberhalb des Ellenbogens, schlang sich ein Lederriemen, und wieder durchfuhr mich der heiße Schrecken des Wiedererkennens. Er nimmt das Zeug noch immer, dachte ich, und vielleicht ist er ja nur deshalb hier, fern von daheim, weil er ein Süchtiger ist, der unbeobachtet sein will.

Am nächsten Tag war der Doktor aus der Stadt verschwunden. Überstürzt hatte er sich auf die Reise gemacht, niemand wusste, wohin. Die Stadtverwaltung bezahlte meine Botendienste weiterhin, denn man hoffte jeden Tag auf die Wiederkehr des Mannes, ohne den die Arbeit im Krankenhaus schwieriger geworden war. Alle hatten sich auf die natürliche Autorität des Arztes eingestellt; als Fremder, noch dazu mit europäischer Ausbildung, genoss er eine Sonderstellung. Man schickte mich zum Bahnhof, dort sollte ich für den Fall einer baldigen Rückkehr bereitstehen.

So sah ich die Züge ankommen, die Gepäckträger lauern und in den Dampfwolken der Eisenbahnen verschwinden, bevor sie, beladen wie Packesel, daraus wieder auftauchten, um wohlgenährte Familien oder alleinreisende Herren zum Ausgang zu geleiten.

Einer dieser Männer fiel mir auf. Als ich ihn im flirrenden Licht über den Bahnsteig eilen sah, hatte ich den Eindruck, ihn zu kennen. Verwirrt zog ich mich hinter das Bahnwärterhäuschen zurück und lugte um die Ecke, als wäre ich auf der Flucht. Natürlich zweifelte ich sofort an mir selbst. Die Sache mit den Wiederbegegnungen erschien mir wie eine fixe Idee, die in letzter Zeit von mir Besitz ergriffen hatte.

Der Mann ging vorbei und ich kniff die Augen zusammen, um ihn so deutlich wie möglich zu sehen. Kein Zweifel, er war ein Jude. Das zu erkennen, fiel mir nicht schwer. Mochte es auch lange her sein, ich hatte oft genug mit ihnen zu tun gehabt. Inzwischen begegnete man ihnen seltener. Doch nicht das bannte meine Aufmerksamkeit. Diesem leicht hinkenden Mann mit dem vorgebeugten Oberkörper und dem zarten Gesicht, das ich nur im Profil sah, war ich schon einmal begegnet. Mit dem Gedanken daran überfielen mich Erinnerungen; ich hörte die schwache, vor Unsicherheit zitternde Stimme des Mannes wieder, sah, wie er sich vor vielen Jahren den Schweiß von der hohen Stirn wischte und mit seinen hinter der Brille ruhelosen Augen sein Publikum nicht direkt anschauen konnte.

Der Mann hatte mich nicht bemerkt, und als er vorbei war, folgte ich ihm in einigem Abstand. Wenn es Ephraim war, und daran zweifelte ich nicht mehr, dann musste es einen guten Grund geben, warum er jetzt und ausgerechnet hier wieder auftauchte. Kurz fragte ich mich, ob es eine Verbindung geben könnte zum Erscheinen des Doktors, aber sogleich verwarf ich diesen Gedanken wieder. Das ist ein Zufall, sagte ich mir, sie haben nichts miteinander zu tun. Und dennoch überlegte ich fieberhaft, ob es nicht anders sein könnte.

AmAusgangzogderMannseinenHuttiefindieStirn,blicktesichkurzum,nahmeinentiefenAtemzugundmachtesichzielstrebig auf den Weg. Ich verfolgte ihn durch die Gassen, bis er stehen blieb und offensichtlich nicht mehr weiterwusste. Hilfesuchend blickte er sich um, doch sprach niemanden an. Ich beschleunigte meinen Schritt, stand gleich darauf neben ihm und sagte:

»Kann ich helfen?«

Der Mann fuhr zusammen und zog sein einziges Gepäckstück, eine schwarze Ledertasche, hinter den Körper. Den Leuten um uns fiel er auf, seine Kleidung war westlich, wenn auch etwas altmodisch. Das jedoch war es nicht allein: Sie starrten ihn im Vorbeigehen an, weil alles an ihm erkennen ließ, dass er nicht nur fremd an diesem Ort war, sondern auch Angst hatte.

Ich blickte ihm nur kurz in die Augen und wartete. Der Mann zögerte lange, bevor er eine heftige, abwiegelnde Geste machte und weiterging.

Ich blieb zurück und sah ihm nach. Er hat mich nicht erkannt, dachte ich. Statt ihn weiter zu verfolgen, ging ich zum Bahnhof zurück und überlegte, ob ich das Auftauchen des Juden melden sollte. Es waren schwierige Zeiten und ganz gewiss war Ephraim nicht zur Erholung hier. Er musste eine politische Mission haben. Als ich mich wieder auf dem Bahnsteig postiert hatte, konnte ich nicht mehr den Tauben nachschauen, die durch die Dampfwolken aufwärtsstürzten. Auch die Passagiere mit ihren angestrengten und doch erwartungsvollen Gesichtern interessierten mich nicht mehr. Ich dachte nur noch an Ephraim. Ist es wirklich schon so lange her, fragte ich mich, und als wäre die Antwort darauf zu schmerzhaft, ging ich einem der einfahrenden Züge entgegen, ganz so, als erwartete ich die Ankunft eines alten Bekannten.

Dr. Stein kam zurück. Mir fiel es erst auf, als ich nach Tagen wieder einmal auf dem Dach saß und Tee trank. Noch immer waren die Vorhänge geschlossen, doch zuweilen bewegten sie sich, so als machte sich jemand daran zu schaffen. Ich war gespannt darauf, wer hinter den Stoffmassen erscheinen würde, wenn es ihm endlich gelang, sie beiseitezuschieben. Und schließlich war es der Doktor, im Anzug, den Hut noch auf dem Kopf. Er sah gut aus, seine Mission war offensichtlich erfolgreich gewesen. Die Frau war wieder bei ihm, sie machte sich gleich daran, die Wohnung aufzuräumen. Zwischen den beiden schien Einverständnis zu herrschen, jedenfalls verhielten sie sich friedlich, die Frau nickte oft, wenn er etwas sagte – das hatte sie vorher nie getan.

Das Verhalten des Doktors mir gegenüber veränderte sich nicht; weiterhin fühlte ich mich missachtet. Ich beobachtete die Frau bei ihren Einkäufen im Basar. Sie war allein unterwegs, ging gebeugt und hielt ihr Kopftuch unter dem Kinn fest zusammen. Gleichwohl fiel sie auf und wirkte verloren zwischen all den Leuten. Immer wieder zuckte sie heftig zusammen, dann hatte sie einer der älteren Männer, die sich an ihr vorbeidrängten, gekniffen. Sie taten das so geschickt und schnell, dass niemand der Umstehenden es sah, und ehe die Frau reagieren konnte, waren sie in der Menge verschwunden. Je öfter das geschah, desto heftiger reagierte sie, schüttelte sich und schlug mit der Hand nach den unsichtbaren Fingern.

Ich konnte mir gut vorstellen, wie sie sich fühlte, bevor sie morgens zu diesem Gang aufbrach. Aber sie hatten es so gewollt. Ich hätte die Frau beschützen können, dazu war ich da und stand jeden Tag bereit. Im Grunde war es allein der Doktor, der die Frau dieser unangenehmen Situation aussetzte.

Und noch anderes konnte ich sehen: Hatten sie sich anfangs wieder gut verstanden, so fiel ihnen dies nach und nach schwerer. Die Frau nickte nicht mehr zu allem, sondern winkte ab oder verließ sogar den Raum, während er noch sprach. Das ließ Stein wütend werden, und immer dann hob er die Hände, als flehte er sie an. Dabei aber sprach er so laut, dass ich glaubte, es vom Dach aus durch die geschlossenen Fenster hören zu können. Ich bildete mir das nur ein, doch die Vorstellung amüsierte mich. Jeder im Haus dort drüben musste längst Bescheid wissen über die beiden, und jeder in der Straße ahnte bereits, wie das enden würde.

Und so kam es dann auch: Eines Morgens blieben die Vorhänge geschlossen und der Doktor erschien nicht im Krankenhaus. Die Geschichte schien sich zu wiederholen, diesmal nahm es jeder ungerührt hin wie ein unabwendbares Ereignis. Die Angelegenheiten des Europäers waren nicht mehr von besonderem Interesse; man hatte sich an ihn gewöhnt.

Ich aber blieb auf dem Posten. Längst fragte die Witwe nicht mehr, was ich da tat. Ich hatte ihr von Ephraim erzählt, davon, wie ich in letzter Zeit von der Vergangenheit eingeholt wurde. Ich hatte versucht ihr zu erklären, warum mich die Ankunft jenes geheimnisvollen Juden so beschäftigte. Und doch war sie zu dem Schluss gekommen, ich sei verrückt geworden. Darüber hinaus war sie jedoch auch misstrauisch: Bei jedem ihrer Besuche hielt sie mich länger im Bett und reizte mich, bis ich völlig erschöpft war, nur um sicherzugehen, dass ich keine Kraft mehr hatte, um insgeheim diese europäische Hure zu begehren, die sich im Basar Tag für Tag begrapschen ließ, als würde sie davon nicht genug bekommen können. Missmutig, aber zufrieden verließ sie mich, wenn ich, wie immer ohne ein Wort des Abschieds, die Treppe hinaufstieg, um in meinen Wahnideen zu schwelgen.

Ich aber wartete auf den Augenblick, der mir endlich Klarheit verschaffen würde. Und er kam, als ich kaum noch damit rechnete. Eines Abends waren die Vorhänge geöffnet. Der Doktor erschien wieder am Fenster, er streckte sich, als hätte er lange gelegen, sein Hemd war zerknittert und hing ihm aus der Hose. Zum ersten Mal schaute er aufmerksam herüber, so als suche er den unsichtbaren Beobachter. Ich wusste, dass er mich unmöglich sehen konnte, und dennoch fuhr ich zusammen. Wie peinlich wäre es gewesen, wenn er erfahren hätte, was ich hier seit Wochen trieb; es hätte mich zum Gespött der Nachbarschaft gemacht.

Er wandte sich um, ich sah den großen Schweißfleck auf dem Hemdrücken. Kurz verharrte der Doktor, dann bückte er sich, verschwand aus dem Blickfeld. Als er wieder erschien, trat er in sehr aufrechter Haltung an das Fenster. Er trug nun eine schwarze Mütze, die über dem Schirm das winzige Emblem zeigte, das ich so gut kannte. Er schaute in die Gasse hinab, wandte den Kopf nach allen Seiten. Ich wusste, dass er mir damit ein Zeichen gab.

Du bist es, dachte ich, und ließ mich auf die Ellenbogen zurückfallen, ich wusste es die ganze Zeit und habe doch nicht daran geglaubt. Ich seufzte, streckte mich auf dem Dach aus und blickte in den klaren Himmel.

Die schönen Häuser 1

1.

Ich erinnere mich, dass ich nicht wusste, was Bildung ist, bevor ich gebildeten Leuten begegnete. Und daran, dass die Stadt, das Bagdad meiner Kindheit, klein war. Der Wüstensand bedeckte die Vororte mit ihren engen Höfen und den verwahrlosten Gassen, die aussahen wie in eine Kruste geritzt. Doch es gab auch den Fluss, der alles zu sich zu ziehen schien: Die Händler, die hier ihre Frachtkähne entluden, die reichen Leute, die in seiner Nähe ihre Häuser bauten und Gärten anlegten. Auch die Ausländer zog der Fluss an. Hier errichteten die Briten ein Viertel wie Bataween mit breiten, geraden Straßen und drei weiten Parks wie in London, mit Elektrizität und echten Postadressen. Für mich aber gab es hier vor allem die Cafés, die ganz anders waren als alles, was ich kannte. Hier saßen nicht nur die Männer wie in den Teehäusern beim Tawla mit ihren Wasserpfeifen. Hier waren Frauen ohne Abbaja, in westlicher Kleidung, ebenso Gäste wie die Männer, mit denen sie plauderten und lachten. Sie tranken Limonade, rauchten und blickten auf den ruhigen Fluss hinaus. Jeder schien viel Zeit zu haben und klug zu sein. Denn diese Leute redeten unaufhörlich, sie diskutierten aufgebracht und lachten dann wieder zusammen. Oder sie spielten Billard an prächtigen Tischen, groß wie Kommoden und mit schönem, grünem Samt bespannt. Der einzige Zweck dieser Tische war das Spiel, ein Zeitvertreib.

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