Ein wilder Schwan - Michael Cunningham - E-Book

Ein wilder Schwan E-Book

Michael Cunningham

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Beschreibung

Michael Cunningham erzählt die alten Märchen neu – er betrachtet sie aus einem anderen Blickwinkel, hinterfragt sie mit Witz und Verve und zeigt dabei, wie zeitlos sie sind.

Noch nie waren Märchen so lustig und raffiniert, so düster und sexy – und so wahr. Rumpelstilzchen, Hänsel und Gretel, Schneewittchen und Rapunzel – wer erinnert sich nicht an die Gutenachtgeschichten aus der Kindheit, an Märchen, die uns verzauberten und schaudern machten. Einer der begnadetsten amerikanischen Schriftsteller holt nun diese und andere Märchen in unsere Gegenwart und erzählt, was sie verschwiegen oder vergessen haben oder wie es nach dem angeblichen Ende »wirklich« weitergeht. Und welch tiefe Abgründe sich an jeder Ecke auftun können. Die altüberlieferten Mythen über Könige und Prinzessinnen, Flüche, Zauber, Habgier und Verlangen erweisen sich in Michael Cunninghams spielerischen, so ironischen wie klugen Erzählungen als verblüffend modern und menschlich.

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Seitenzahl: 160

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Zum Buch

Michael Cunningham erzählt alte Märchen neu: Er betrachtet sie aus einem anderen Blickwinkel, hinterfragt sie mit Witz und Verve und zeigt dabei, wie zeitlos sie sind.

Rumpelstilzchen, Hänsel und Gretel, Schneewittchen und Rapunzel – wer erinnert sich nicht an die Gutenachtgeschichten aus der Kindheit, an Märchen, die uns verzauberten und schaudern machten, aber mit »Es war einmal …« begannen und uns entließen mit »und so lebten sie glücklich bis an ihr Lebensende«. Einer der begnadetsten amerikanischen Schriftsteller holt nun diese und andere Märchen in unsere Gegenwart und erzählt, was sie verschwiegen oder vergessen haben, wie es nach dem vorgeblichen Ende »wirklich« weitergeht oder wie im Grunde alles ganz anders gewesen ist. Und welch tiefe Abgründe sich an jeder Ecke auftun können. Die alten Mythen über Könige und Prinzessinnen, Flüche, Zauber, Habgier und Verlangen erweisen sich in Michael Cunninghams spielerischen, so ironischen wie klugen Erzählungen als verblüffend modern und menschlich; man könnte auch sagen, sie werden zu bösen und hintersinnigen Märchen für Erwachsene. Noch nie waren unsere Gutenachtgeschichten so witzig und raffiniert, so düster und sexy – und so wahr.

Zum Autor

MICHAEL CUNNINGHAM wurde 1952 in Cincinnati, Ohio, geboren und wuchs in Pasadena, Kalifornien, auf. Er lebt heute in New York City, lehrt an der Yale University und hat mehrere Romane und Erzählungen veröffentlicht. Sein Roman Die Stunden wurde vielfach preisgekrönt, u. a. mit dem Pulitzerpreis und dem PEN/Faulkner Award, und wurde in 22 Sprachen übersetzt. Die überaus erfolgreiche Verfilmung The Hours mit Meryl Streep, Julianne Moore und Nicole Kidman wurde mit einem Oscar ausgezeichnet.

Zur Übersetzerin

EVA BONNÉ, geb. 1970 in Gevelsberg, erhielt den Förderpreis für literarische Übersetzungen der Stadt Hamburg und ein Stipendium im Ledig House New York; sie ist die Übersetzerin von u. a. Rachel Cusk, Zelda Fitzgerald, Richard Flanagan, Sarah Perry und Amy Sackville.

MICHAEL CUNNINGHAM

Ein wilder Schwan

Andere Märchen

Aus dem Amerikanischen von Eva BonnéIllustrationen von Yuko Shimizu

Luchterhand

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem TitelA Wild Swan and Other Tales bei Farrar, Straus and Giroux, New York.
Copyright © der Originalausgabe 2015 Mare Vaporum Corp. Copyright der Illustrationen: © 2015 Yuko Shimizu Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: buxdesign | München unter Verwendung von Motiven von vecteezy Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-17563-4V002
www.luchterhand-literaturverlag.defacebook.com/luchterhandverlag

INHALT

ENT. ZAUBERN

EIN WILDER SCHWAN

DIE VERRÜCKTE ALTE

GEHÄNSELT

VERGIFTET

DIE AFFENPFOTE

KLEINER MANN

STANDHAFT. ZINN

BIESTER

IHR HAAR

UND SIE LEBTEN GLÜCKLICH

ENT. ZAUBERN

Die meisten von uns haben nichts zu befürchten. Wenn Sie nicht gerade ein Fiebertraum der Götter sind oder Ihre Schönheit Planeten aus der Umlaufbahn bringt, wird niemand auf die Idee kommen, Sie mit einem Bann zu belegen. Niemand will Sie in ein Ungeheuer verwandeln oder für hundert Jahre in den Tiefschlaf versetzen. Keine als gute Fee verkleidete Hexe möchte Ihnen drei Wünsche erfüllen, in denen das Verhängnis steckt wie die Rasierklinge in einem Kuchen.

Die mittelmäßige Maid – am besten stehen ihr Kerzenlicht, ein Korsett und viel Rouge – hat keinen Grund zur Sorge. Plumpe, picklige Erben, die ihre Untergebenen quälen und jedes Spiel gewinnen müssen, sind immun gegen Fluch und Hexerei. B-Jungfrauen bleiben von der Zerstörungswut böser Mächte verschont, und dumme Bauernburschen bringen weder Dämonen noch Kobolde in Rage.

Die meisten von uns führen ihr Verderben recht zuverlässig selbst herbei. Rachsüchtige Fabelwesen haben es nur auf ganz bestimmte Menschen abgesehen, auf jene, die aus unerfindlichem Grund nicht nur mit Reichtum und Talent beschenkt wurden, sondern auch mit einer Schönheit, die die Vögel aus den Bäumen scheucht; und obendrein sind sie so anmutig, gütig und charmant, als wäre es das Normalste von der Welt.

Wer bekäme nicht Lust, solche Menschen fertigzumachen? Haben nicht gelangweilte Gottheiten sie offenbar allein zu dem Zweck erschaffen, uns andere noch einsamer und unansehnlicher, noch unsicherer, skeptischer und zerknirschter zu machen, als wir ohnehin schon sind? Hegen wir nicht tief in unseren weniger vorzeigbaren Abgründen ein gewisses Verständnis, wenn Dämonen und Zauberer der Versuchung erliegen, solche Mutanten heimzusuchen?

Denn solange wenigstens ein paar Makellose gedemütigt, entstellt oder in rot glühende Eisenschuhe gesteckt werden, leben wir anderen in einer weniger beschwerlichen Welt; in einer Welt der erfüllbaren Ansprüche, wo die Attribute »schön« und »stark« auf eine größere Schar von Männern und Frauen zutreffen und wo ein Kompliment nicht zwangsläufig die stillschweigende Bereitschaft voraussetzt, über Unzulänglichkeiten hinwegzusehen und Abstriche zu machen.

Mal ehrlich: Wenn Sie den lächerlich gutaussehenden Sportler und seine Freundin, das Unterwäschemodel, mit einem Fluch belegen könnten; oder das Filmstar-Ehepaar, dessen vereinte Gene höchstwahrscheinlich Kinder hervorbringen werden, die einer ganz anderen Spezies angehören … würden Sie es tun? Ärgern Sie sich über so viel Glück und Reichtum, über die unbegrenzten Möglichkeiten, und sei es nur ein kleines bisschen? Macht Sie der Anblick gelegentlich wütend?

Falls nicht, sollten Sie sich glücklich schätzen.

Falls aber doch, so können Sie auf Beschwörungen und uralte Lieder zurückgreifen, auf geheime Sprüche, die man während bestimmter Mondphasen aufsagen muss, um Mitternacht, am Ufer bodenloser, tief im Wald verborgener Seen oder in geheimen Kellerverliesen oder auf einer beliebigen Kreuzung, an der drei Straßen aufeinandertreffen.

Diese Verwünschungen sind verblüffend leicht zu lernen.

EIN WILDER SCHWAN

ier in der Stadt lebt ein Prinz, dessen linker Arm aussieht wie der eines gewöhnlichen Menschen, der rechte aber ist ein Schwanenflügel.

Er und seine elf Brüder wurden von einer stänkernden Stiefmutter in Schwäne verwandelt, da sie keine Lust hatte, die zwölf Söhne ihrer Vorgängerin großzuziehen (deren blasses, gekränktes Gesicht mit den glasigen Augen von unzähligen Porträts herunterstarrte und deren pausenlose Schwangerschaften sie noch vor ihrem vierzigsten Geburtstag dahingerafft hatten). Zwölf lärmende, prahlerische Jungs, zwölf empfindliche, gierige Egos, zwölfmal Pubertät, der neuen Königin ganz beiläufig als Zusatzaufgabe untergeschoben. Können wir ihr einen Vorwurf machen? Können wir das wirklich?

Sie verwandelte die Jungen in Schwäne und befahl ihnen, davonzufliegen.

Problem gelöst.

Nur das dreizehnte Kind, das jüngste, verschonte sie, denn es war ein Mädchen; die Stiefmutterträume von geteilten Geheimnissen und stundenlangen Shoppingtouren verpufften bald. Natürlich war das Mädchen mürrisch und bockig, immerhin hatte die Frau ihre Brüder in Vögel verwandelt. Nach einer Phase voller Geduld und Nachsicht mit dem trotzig schweigenden Teenager, nach vielen geschenkten und nie getragenen Ballkleidern gab die Königin es auf. Und so lebte die Prinzessin im Schloss wie eine arme Verwandte, bekam zu essen und hatte ein Dach über dem Kopf, wurde geduldet, aber nicht geliebt.

Die zwölf Schwanenprinzen lebten auf einem Felsen weit draußen im Meer und durften nur ein einziges Mal im Jahr für einen Tag in das Königreich zurückkehren. Bei Hofe waren ihre Besuche ebenso heiß ersehnt wie gefürchtet. Angesichts seiner zwölf Söhne, die früher so stramm und beherzt gewesen waren, während der jährlichen Stippvisite aber zu nichts anderem imstande waren, als zu schnattern, sich zu putzen, durch den Schlosshof zu flattern und nach Insekten zu schnappen, fiel es dem König schwer zu jubeln. Er gab sich Mühe, Freude über ihre Anwesenheit zu heucheln. Die Königin schützte regelmäßig Migräne vor.

Jahre vergingen. Und dann … endlich …

Während eines der jährlichen Heimaturlaube der Schwanenprinzen gelang es der kleinen Schwester, den Bann zu brechen. Eine alte Bettlerin, die ihr beim Beerensammeln im Wald begegnet war, hatte ihr verraten, dass es gegen den Schwanenzauber nur ein Mittel gab: ein Hemd aus Brennnesseln.

Wie dem auch sei. Das Mädchen war gezwungen, die Hemden heimlich zu stricken, denn sie durften nicht aus irgendwelchen Brennnesseln gemacht sein (hatte die alte Bettlerin gesagt), man musste die Brennnesseln nach Einbruch der Dunkelheit auf dem Friedhof ernten. Hätte man die Prinzessin nachts zwischen den Grabsteinen beim Brennnesselpflücken erwischt, wäre sie von ihrer Stiefmutter gewiss der Hexerei bezichtigt und zusammen mit dem Hausmüll verbrannt worden. Das Mädchen war nicht dumm und ahnte, dass auf den Vater kein Verlass sein würde; insgeheim hegte er längst den Wunsch, all seine Kinder los zu sein.

So schlich die Prinzessin jede Nacht auf den umliegenden Friedhöfen herum und sammelte Brennnesseln, und ihre Tage verbrachte sie damit, Hemden zu stricken. Nun erwies es sich als großes Glück, dass niemand im Schloss sie sonderlich beachtete.

Sie hatte das zwölfte Hemd fast fertig, als der Erzbischof (den keiner fragte, was er mitten in der Nacht auf dem Friedhof zu suchen hatte) sie bei der Brennnesselernte beobachtete und prompt verriet. Die Königin fühlte sich in ihrem Argwohn bestätigt; immerhin hatte das Mädchen kein einziges Jungfrauengeheimnis mit ihr geteilt und behauptet, sich für Schuhe, die kostbar genug waren, im Museum ausgestellt zu werden, nicht im Geringsten zu interessieren. Wie zu erwarten, schloss sich der König der Sichtweise seiner Frau an. Er hoffte wohl, stark und gerecht zu erscheinen – ein wahrer König, der sein Volk vor den Mächten des Bösen beschützte und sogar der Hinrichtung der eigenen Tochter zustimmte, wenn dafür seine Untertanen in Sicherheit leben konnten, frei von Angst vor bösen Flüchen und dämonischen Verwandlungen.

Doch gerade als die Prinzessin auf den qualmenden Scheiterhaufen gebunden werden sollte, kamen die Schwanenbrüder vom Himmel herab. Die Schwester warf die Hemden über sie, und nach einem lauten Knall und einer heftigen, glitzernden Windbö standen zwölf stattliche junge Männer im Schlosshof, nackt bis auf die Brennnesselhemden. Ein paar lose weiße Federn schwebten durch die Luft.

Genau genommen …

… standen dort nur elf intakte Prinzen, denn einer, der letzte, war nicht ganz wiederhergestellt – sein rechter Arm war ein Schwanenflügel geblieben, weil seine Schwester ihre Arbeit nicht vollenden hatte können und dem letzten Hemd ein Ärmel fehlte.

Der Preis schien angemessen.

Elf Prinzen waren bald verheiratet, bekamen Kinder, traten in Verbände ein und gaben Partys, von denen alle begeistert waren, selbst die Mäuse im Gemäuer. Die widerspenstige Stiefmutter, plötzlich in der Unterzahl, zog sich vor dem Lärm ganz unmütterlich ins Kloster zurück, woraufhin der König begann, Erinnerungen an eine Zeit heraufzubeschwören, in der er stets treu zu seinen verwandelten Söhnen gestanden hatte, aber der Xanthippe hilflos ausgeliefert gewesen war – eine Version, die seine Söhne nur allzu gern akzeptierten.

Ende der Geschichte. Das »Und sie waren glücklich bis ans Ende ihrer Tage« ging auf sie alle nieder wie das Beil einer Guillotine.

Auf fast alle.

Der zwölfte Bruder, der mit dem Schwanenflügel, hatte es schwer. Sein Vater, seine Onkel und Tanten und die vielen Lords und Ladys waren alles andere als erfreut, auf Schritt und Tritt an ihre Bekanntschaft mit den finsteren Mächten erinnert zu werden, oder an die blinde Eilfertigkeit, mit der sie die Prinzessin auf den Scheiterhaufen werfen wollten.

Bei Hofe kursierten Witze über den geflügelten Prinzen, sogar die elf vollendeten Brüder beteiligten sich daran, auch wenn sie behaupteten, es nicht böse zu meinen. Die kleinen Nichten und Neffen, Nachkommen der elf, versteckten sich kichernd hinter Sesseln und Wandteppichen, wenn der zwölfte einen Raum betrat. Seine Schwägerinnen baten ihn regelmäßig, während der Mahlzeiten nicht so herumzuhampeln (er neigte zum lebhaften Gestikulieren, einmal hatte er mit seinem Flügel eine ganze Rehkeule an die Wand geschleudert). Die Palastkatzen fauchten und sprangen davon, sobald er sich näherte.

Schließlich packte er ein paar Sachen zusammen und zog in die Welt hinaus. In der Welt hatte er es allerdings nicht leichter als im Schloss. Man überließ ihm nur die niedersten Arbeiten. Er besaß keine beruflichen Qualifikationen (er war ein Prinz) und hatte nur eine Hand. Gelegentlich interessierte sich eine Frau für ihn, aber irgendwann stellte sich immer heraus, dass sie heimliche Leda-Phantasien hegte oder, schlimmer noch, davon träumte, ihn mit ihrer Liebe zu erlösen und den Arm zurückzuholen. Die Beziehungen waren nie von Dauer. Der Flügel störte in der U-Bahn, Taxifahrten kamen gar nicht in Frage. Ständig musste er nach Läusen abgesucht werden. Und wenn der Prinz ihn nicht täglich wusch, Feder für Feder, verwandelte sich das Cremeweiß, das an Darwin-Tulpen erinnerte, in ein fusseliges, trostloses Grau.

Der Prinz ertrug seinen Flügel, wie man einen gutmütigen, aber neurotischen und schwer erziehbaren Hund aus dem Tierheim ertragen würde. Er liebte seinen Flügel verzweifelt. Er fand ihn ärgerlich, hinreißend, lästig, anstrengend, rührend. Er schämte sich; nicht bloß, weil er den Flügel nicht sauber halten konnte und ständig in Türen und Drehkreuzen hängen blieb, sondern weil er es nicht schaffte, ihn als Stärke zu betrachten. Dabei wäre das doch naheliegend gewesen, er konnte sich durchaus vorstellen, als faszinierender Mutant aufzutreten, als junger Gott, der seine anatomische Besonderheit mit Stolz, wenn nicht gar Arroganz zur Schau stellt: neunzig Prozent gesundes, muskulöses Menschenfleisch, zehn Prozent blendend weißer Engelsflügel.

Baby, die Federn können streicheln, dass du glaubst, du wärst im Paradies, und den Rest besorgt dieser Männerkörper.

Was hielt ihn zurück? Woher kam dieser Mangel an Courage, so dass er herumlief wie eine wandelnde Entschuldigung, sein Bauch Jahr für Jahr dicker wurde und seine Schultern gebeugter? Warum konnte er sich nicht aufraffen, endlich Sport zu treiben, Haltung anzunehmen und unbekümmert durch die Clubs zu schlendern, in einem Anzug aus schwarzem Eidechsenleder mit nur einem Ärmel?

Ja, Schätzchen, der Flügel ist echt; ein Teil von mir ist engelsgleich, aber glaube mir, der ganze Rest ist teuflisch.

Anscheinend bekam er es einfach nicht hin. Er hätte genauso gut versuchen können, die Meile unter drei Minuten zu laufen oder ein genialer Geiger zu werden.

Er lebt immer noch. Er schafft es irgendwie, das Geld für die nächste Miete zusammenzukratzen. Er nimmt sich die Liebe dort, wo er Liebe findet. Im fortgeschrittenen Erwachsenenalter ist er ironisch geworden, heiter auf eine lässige, abgeklärte Weise. Bei allem Lebensüberdruss ist er geistreich geblieben. Er hat begriffen, dass er als verbitterter alter Mann enden kann oder als Weiser, als heiliger Narr. Es erscheint ihm weniger demütigend, sich in die Opferrolle zu fügen und als Erster zu lachen, wenn die Pointe kommt.

Die meisten seiner Brüder wohnen noch im Schloss und sind mittlerweile zum zweiten oder dritten Mal verheiratet. Mit ihren Kindern, die ein Leben lang verhätschelt und verwöhnt wurden, haben sie es nicht immer leicht. Die Prinzen verbringen ihre Tage damit, goldene Bälle in silberne Schalen zu schlagen oder Motten mit dem Degen aufzuspießen. Abends lassen sie sich von Hofnarren, Jongleuren und Akrobaten unterhalten.

Der zwölfte Bruder treibt sich häufig in Bars am äußersten Stadtrand herum, Treffpunkt für Leute, die nur teilweise oder gar nicht von ihren Flüchen erlöst wurden. Da ist die dreihundert Jahre alte Frau, die sich im Gespräch mit dem magischen Fisch nicht klar genug ausgedrückt hat und der leeren Wasseroberfläche ein »Halt, warte, ich meinte ewigund jung!« entgegenschleuderte. Da ist der Frosch mit dem Krönchen, der die Frauen, die ihn küssen wollen, einfach nicht lieben kann, und der Prinz, der jahrelang nach der komatösen Prinzessin gesucht hat, die er wachküssen soll. Inzwischen streift er kaum noch über Berg und Tal, sondern zieht lieber durch die Kneipen und schwingt lange Reden über die Frau seines Lebens, die ihm entwischt ist.

In solchen Bars gilt ein Mann mit Schwanenflügel als Glückspilz.

Er führt nicht das schlechteste Leben, sagt er sich oft. Vielleicht reicht das. Vielleicht sollte er darauf hoffen – dass es nicht schlechter wird.

Manchmal, wenn er nachts betrunken nach Hause getorkelt ist (das kommt sehr häufig vor), sich die fünf Treppenabsätze zu seiner Wohnung hochgeschleppt hat und vor laufendem Fernseher auf dem Sofa eingeschlafen ist, wacht er Stunden später auf, als das erste Tageslicht durch die grauen Lamellen der Jalousien dringt und ihm niemand Gesellschaft leistet außer seinem Kater, und er merkt, dass er sich den Flügel schützend über Bauch und Brust gelegt hat oder vielmehr dass der Flügel (er weiß, es ist unmöglich, und doch …) sich aus eigenem Willen über ihn wölbt, sowohl Decke wie Freund, ein Fremdling mit unbegrenzter Aufenthaltserlaubnis, so eifrig und anhänglich und lästig wie der Hund aus dem Tierheim. Sein vertrautes Grauen. Seine Last, sein Kamerad.

DIE VERRÜCKTE ALTE

m Grunde ist es die Einsamkeit, die dich irgendwann umbringt. Vielleicht, weil du dir dein Ende immer so viel größer und spektakulärer vorgestellt hast.

Du warst, wie deine Mutter es ausdrückte, immer auf der Überholspur unterwegs. Schon früh hast du dich von der karierten Schuluniform getrennt, hast dich in Tavernen drei Städte weiter als Erwachsene ausgegeben und den Männern erlaubt, erst ihre Finger und dann andere Körperteile in alle möglichen deiner Öffnungen zu schieben, im Halbdunkel der Gassen und kleinen, verdorrten Rasenflächen, die damals als Parks durchgingen.

Drei Ehemänner hast du verschlissen; Freundinnen gegenüber hast du immer gescherzt, du hättest bei jeder Heirat geglaubt, ganz unten angelangt zu sein, bis dir klar wurde, dass der Fahrstuhl der Liebe noch viel tiefere Etagen ansteuert. Ehemann Nummer vier hast du gerade noch verhindert, weil inzwischen selbst du den Keim des Scheiterns in seinen Zukunftsplänen erkennen konntest. Du hattest seine gelallten, in Gin marinierten Vorwürfe praktisch schon im Ohr.

Nachdem du den vierten Freier in die Wüste geschickt hattest, schlugst du die Laufbahn einer derben, gutmütigen Schlampe ein. Da warst du Mitte vierzig. Deine Freundinnen hatten ganz passable Männer geheiratet und fanden im Laufe der Zeit immer öfter Gründe, dich nicht auf einen Drink treffen zu müssen. (Sorry, aber die Kinder rauben mir die letzte Energie; ich würde sehr gern, aber du weißt ja, wie mein Mann reagiert, wenn ich angeschickert nach Hause komme.)

In deinen Vierzigern und Fünfzigern kam dir dein Singlestatus vor wie ein persönlicher Triumph. Du warst nicht gezwungen, einen abgetretenen Parkettboden zu fegen, während dein Mann in der Ecke saß und dir die Schuld an seinem schweren Schicksal und an seinem miesen Gehalt gab, das kaum für die Stromrechnung reichte; du hast dir nicht das fünfte Neugeborene an die unwillige Brust gedrückt, aus der kaum mehr als ein Fingerhut voll Milch rann. Deine Antwort auf das Erschlaffen des Körpers war, ihn in immer engere Kleider zu zwängen, bis schließlich dein sechzigster Geburtstag nahte und es den Anschein hatte, als würden allein die Kleider dich auf dem Barhocker aufrecht halten; als würdest du, schnitte man sie dir vom Leib, hilflos zu Boden fließen und als weißrosa Pfütze verbrauchten Fleisches dort liegen bleiben.

Als du einen Zahn verlorst, durfte das schwarze Rechteck in deinem wissenden Lächeln stehen bleiben. Die Haare hast du dir gefärbt, erst zirkusorange, dann in einem dunklen Braunton mit Auberginestich, zuletzt platinblond.

Du hast dir nichts vorgemacht, oder wenigstens hast du das geglaubt. Du hattest »House of the Rising Sun« im Sinn – ein abgeklärtes, nuttiges Ende, an dem hier und da noch Strasssteine kleben. Du hast dir vorgestellt, die letzten Jahre in wunderbarer, perverser, häuslicher Wollust zu verbringen, wolltest bei den Eiferern, die ihre banale Sittsamkeit für die Verkörperung des Göttlichen auf Erden halten, den Ruf einer Verrückten genießen. Du hast dich auf spätabendliche Besuche von jungen Burschen aus der Nachbarschaft eingestellt (ja, du hast dabei an die Söhne deiner alternden Freundinnen gedacht), die sich von dir unterweisen lassen würden (die Finger dahin, genau da, und jetzt zukneifen, aber ganz sanft, ich verspreche dir, sie wird es lieben);