Ein Wunsch im Winter - Pauline Mai - E-Book
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Ein Wunsch im Winter E-Book

Pauline Mai

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Beschreibung

»Lieber Weihnachtsmann, …« Ein versehentlich verschickter Brief wird zum Beginn einer besonderen Liebesgeschichte!

Madita kann der vorweihnachtlichen Zeit mit Glühwein und Plätzchen nur wenig abgewinnen. Vor drei Jahren verstarb ihr Freund an einem Dezemberabend. Seitdem bricht für Madita im Advent die schwerste Zeit des Jahres an, wären da nicht ihre süße Nichte Ella und deren kleiner Bruder Janosch. Die Kinder überreden Madita, gemeinsam Briefe an den Weihnachtsmann zu schreiben und ihre Wünsche zu Papier zu bringen – nichts ahnend, dass ihr eigener Brief später nicht, wie geplant, im Müll landet, sondern bei der einen Person, die alles dafür tun würde, um Madita wieder lachen zu sehen …

Weitere zauberhafte Wohlfühlromane von Pauline Mai:
Das Glück ist lavendelblau
Das Leben leuchtet sonnengelb
Liebe funkelt apfelgrün

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Buch

Madita kann der vorweihnachtlichen Zeit mit Glühwein und Plätzchen nur wenig abgewinnen. Vor drei Jahren verstarb ihr Freund an einem Dezemberabend. Seitdem bricht für Madita im Advent die schwerste Zeit des Jahres an, wären da nicht ihre süße Nichte Ella und deren kleiner Bruder Janosch. Die Kinder überreden Madita, gemeinsam Briefe an den Weihnachtsmann zu schreiben und ihre Wünsche zu Papier zu bringen – nichts ahnend, dass ihr eigener Brief später nicht, wie geplant, im Müll landet, sondern bei der einen Person, die alles dafür tun würde, um Madita wieder lachen zu sehen …

Autorin

Pauline Mai, 1987 geboren, wuchs am Tegeler See in Berlin auf. Sie studierte Literaturwissenschaft und war später als Lektorin in einem großen Publikumsverlag tätig. Heute arbeitet sie als Literaturscout und bringt vor allem selbst bezaubernde Geschichten zu Papier. In ihrer Freizeit erkundet Pauline Mai gern die schönsten Sehnsuchtsorte der Welt – neben dem Reisen hat aber auch der Zauber von Weihnachten einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen.

Weitere Informationen unter: www.paulinemai.de

Von Pauline Mai bereits erschienen

Das Glück ist lavendelblau · Das Leben leuchtet sonnengelb · Liebe funkelt apfelgrün

Pauline Mai

Ein Wunsch im Winter

Roman

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Originalausgabe 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2023 by Pauline Mai

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung und -motiv www.buerosued.de

DK · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-29382-6V001

www.blanvalet.de

Prolog

Schneeschwer hingen die Wolken über den Bergen. Es war schon später Abend, doch das helle Leuchten des Winterhimmels wich nicht. Es warf sein Licht über die Erhebungen unter sich, die Tannenbäume, deren glitzernde Spitzen sich dem Himmel entgegenreckten.

Dort, zwischen vier Berghöhen kaum sichtbar, lag ein kleines Dorf. Dicht an dicht standen die Häuser, als suchten sie nach wärmender Nähe in der kalten Winternacht. Weißer Rauch stieg aus ihren Schornsteinen in den Himmel empor. Winzige perlförmige Lichter strahlten in den Fenstern: Ketten, Bögen und Sterne verkündeten die Adventszeit. Die Häuser schienen allesamt in Richtung eines Platzes zu schauen, auf dem es wimmelte und wogte. In seiner Mitte ragte ein runder Pavillon auf, reichlich mit Lichterketten geschmückt, und drum herum standen hölzerne Buden. Weihnachtliche Melodien tönten über das Gewusel aus Stimmen hinweg. Eine ständige Bewegung herrschte unter den Menschen mit den bunten Wollmützen, Aufregung und Freude lagen in der Luft. Es war der Weihnachtsmarkt, der in dem kleinen Bergdorf alle aus ihren Häusern gelockt hatte.

»Komm schon. Nur noch einen kandierten Apfel. Der Zug fährt dir gewiss nicht weg.« Madita war stehen geblieben und sah mit sehnsüchtigem Blick zu dem bunt beleuchteten Süßigkeitenstand hinüber.

»Du hattest schon eine große Tüte gebrannte Mandeln und ein Lebkuchenherz. Du kannst nicht noch mehr Hunger haben!«, erwiderte Viktor mit ungläubiger Miene, ergriff Maditas behandschuhte Hand und versuchte, sie von der Bude fortzuziehen. Es war nur einer von zahlreichen Ständen, die sich auf dem Platz rund um den Pavillon reihten. Weiße Schneehauben schmückten ihre Dächer ebenso wie die Zweige der Nadelbäume, die von Lichterketten in allen Farben zum Glitzern gebracht wurden. Um Madita und Viktor herum tummelten sich die Dorfbewohner und die Besucher aus den umliegenden Orten. Der Weihnachtsmarkt war seit jeher der Jahreshöhepunkt im Dorf. Alle, sogar die Touristen, kamen an den Adventstagen hier zusammen, um sich von der besonderen Stimmung anstecken zu lassen, um gemeinsam zu naschen, Glühwein zu trinken und beim Dosenwerfen herauszufinden, ob der Arm übers Jahr wirklich schon wieder eingerostet war.

»Wer spricht denn von Hunger?«, rief Madita und strich die rotbraune Haarsträhne fort, die sie am Kinn kitzelte. »Es ist unser letzter gemeinsamer Abend auf dem Weihnachtsmarkt, bevor du zu deinen Eltern fährst. Bitte, nur noch einen Apfel! Oder magst du lieber eine Schokobanane?«

Mit der freien Hand strich Viktor sich das unter der Mütze hervorlugende blonde Haar zurecht. Allein der Anblick seiner ungeordneten Strähnen sorgte für ein Prickeln in Maditas Brust.

»Einen Apfel, aber nur einen kleinen«, willigte Viktor ein und löste in Madita ein glucksendes Lachen aus. Doch gerade als sie sich wieder dem Stand zuwenden wollte, wurde sie von Viktor an sich gezogen. Die dick gefütterten Jacken federten ihren Taumel weich ab. Schon hatte Viktor die Arme um sie gelegt und blickte sie mit seinen hellen Augen liebevoll an.

»Du wirst mir fehlen«, sagte er und stupste mit der Nase sanft gegen ihre. »Das erste Weihnachten ganz ohne dich.«

Madita lächelte traurig. Ihre Wangen waren von der Kälte leicht gerötet, und eine dünne Wolke aus weißem Dunst bildete sich vor ihrem Mund, als sie sprach.

»Musst du denn wirklich fahren? Du könntest die Feiertage auch bei uns verbringen, Thea kocht, und meine Eltern haben Lebkuchen gebacken. Es wird bestimmt …«

»Du weißt, dass ich zu meinen Eltern muss. Ich habe sie seit ihrem Umzug nach Bremen nicht ein einziges Mal besucht. Und es ist Weihnachten. Du würdest auch nicht ohne deine Eltern feiern wollen.«

Madita senkte den Blick. Er hatte ja recht. Ein Weihnachten ohne Familie konnte sie sich nicht vorstellen. Es wäre nicht dasselbe ohne ihre kleinen Traditionen: das Glühweintrinken mit ihrer Schwester Thea und ihren Eltern am 23. Dezember, das leicht verkaterte Baumschmücken am Morgen vor Heiligabend, die liebenswürdigen Sticheleien unter den Schwestern und das laute Weihnachtsliedsingen, wenn Thea das Essen kochte und Madita der Torte den letzten Schliff gab.

»Ohne dich möchte ich aber auch nicht feiern.«

Seitdem sie gemeinsam in denselben Kindergarten – zugegebenermaßen den einzigen im Ort – gekommen waren, waren Madita und Viktor unzertrennlich. Natürlich hatte es die üblichen Fälle von aufbrausenden Freundschaftskündigungen gegeben, die aber nur bewiesen, wie sehr sie einander doch brauchten. Sie hatten dieselbe Grundschule besucht und dasselbe Gymnasium und waren dann zusammen zum Studium nach Erfurt gezogen, wo sie sich eine gemütliche Wohnung teilten. Da hatte sich ihre Freundschaft schon längst in etwas gewandelt, was weit darüber hinausging. Doch seit Anbeginn waren die Weihnachtstage zweigeteilt gewesen: Sobald es dunkel wurde, so lautete die Regel, ging es nach Hause und an den Tisch, wo ein Dauermarathon aus Essen und, in Maditas Fall, Brettspielen bei dämmerigem Licht und Kinderpunsch oder Glühwein anstanden. Die hellen Stunden davor aber verbrachten die beiden gemeinsam, oft auch mit ihren Schulfreunden, auf den Rodelbahnen oder, wenn es kalt genug war, mit Schlittschuhen auf dem zugefrorenen Bach, der sich parallel zu den Bahnschienen durch den Ort schlängelte. In den letzten Jahren hatten Madita und Viktor die Weihnachtstage meist damit zugebracht, Hand in Hand in den schneebedeckten Wäldern spazieren zu gehen oder sich bei Tee und Plätzchen in Decken einzukuscheln, aneinanderzuschmiegen und Filme zu sehen. Ohne Viktor würden diese Tage zum ersten Mal völlig leer sein.

»Dir fällt schon etwas ein, was du ohne mich anstellen kannst, da bin ich absolut sicher. Und wenn dir selbst nichts einfällt, gibt es da immer noch Thea«, sagte Viktor mit einem halben Lächeln und küsste Madita. Als sie seine Lippen auf ihren spürte, die trotz der Kälte so warm waren, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Ihr Kuss wurde intensiver, doch da wurden sie von einem Zwicken in Maditas Arm unterbrochen. Unwillig sah sie auf, hörte jedoch nur noch, wie eine allzu bekannte Stimme grölte: »Nehmt euch mal ein Zimmer, so was in aller Öffentlichkeit!«

Madita grinste. Besagte Stimme gehörte Sofie, ihrer besten Freundin, mit der sie am Vorabend noch ein paar Becher Glühwein getrunken hatten.

»Oder natürlich auch Sofie«, murrte Viktor in gespielter Empörung. »Dass man hier aber auch nie mal eine Minute für sich hat.«

»Wovon träumst du denn? Hier auf dem Weihnachtsmarkt, wo das ganze Dorf versammelt ist? Los, der Apfel«, drängelte Madita und zog Viktor zum Süßigkeitenstand, wobei er fast über einen Haufen zusammengefegten Schnees stolperte.

»Und wenn du dann am 28. wieder da bist, gibt es erst einmal nur uns beide«, sagte Madita in schwärmerischem Ton, während sie an der letzten verbliebenen Ecke ihres kandierten Apfels knabberte und dabei den Kopf an Viktors Schulter schmiegte. Sie hatten sich beim Essen aus dem Trubel des Marktes hinaus in Richtung der Dorfgrenze bewegt, wo die Durchgangsstraße zu dem kleinen Bahnhof gute fünf Gehminuten weiterführte. Es gab nur ein Gleis, und nur selten fuhren Züge durch, zu unbedeutend war das Bergdorf. Fremde Besucher verloren sich nur hierher, um auf Wanderungen die Wälder zu erkunden oder den Weihnachtsmarkt zu sehen, dessen Urigkeit sich in Geschichten und Gerüchten tatsächlich weit über die Berge hinaus herumgesprochen hatte.

Madita hatte sich beim Gehen dicht an Viktor gedrängt und dieser einen Arm um sie gelegt, soweit es der große Rucksack auf seinem Rücken zuließ.

»Ich werde mir ein paar Überraschungen für dich einfallen lassen«, sagte sie und lächelte.

Viktor kannte ihre Überraschungen nur zu gut. Schon als Kleinkind hatte sie ihm kleine Geschenke in den Kindergarten mitgebracht: besonders geformte Steine, die sie auf dem Weg gefunden hatte, oder zu Bändern geflochtene Halme. Sie liebte es, andere mit Geburtstagsfeiern zu überraschen oder sie auf freche Weise herauszufordern, indem sie ihnen eine Handvoll Schnee in den Kragen schmuggelte. Nicht alle waren begeistert davon und funkelten sie erst wütend an, wenn sie sich von dem Schreck erholt hatten. Doch sobald sie merkten, wie Madita ihnen half, den Schnee loszuwerden, und in dieser ihr typischen Weise lachte – es war eher ein Glucksen, laut und fröhlich –, dann war jede Wut sogleich vergessen, und sie konnten alle nicht anders, als in das Lachen einzustimmen.

Der Weg war glatt, sodass sie nur langsam vorankamen, doch das passte Madita gut, die insgeheim hoffte, dass Viktor den Zug verpassen und eine weitere Nacht mit ihr im Dorf bleiben würde.

»Hauptsache, ich muss nicht wieder vor deiner gesamten Familie mein Geschenk auspacken«, murmelte Viktor. »Ich habe mir fast in die Hosen gemacht, nicht genug Freude zu zeigen und sie damit zu enttäuschen.«

Madita warf ihm einen belustigten Blick zu. Seine helle Haut war so kälteempfindlich, dass die Wangen sich bereits im Herbst puterrot färbten. Madita liebte diese roten Wangen, hatte sie schon immer geliebt. Sie ließen ihn so lebhaft aussehen.

»So schlimm war das auch wieder nicht«, wandte sie ein. »Sie hätten dich nicht verstoßen, wenn du es nicht gemocht hättest.«

»Trotzdem. So viel Aufmerksamkeit bin ich nicht gewöhnt.«

Viktor war das Einzelkind zweier viel beschäftigter Eltern, die es durch einen seltsamen Zufall in das kleine Dorf verschlagen hatte, als die hiesige Bürgermeisterin gemeint hatte, zwei potente Politik- und Wirtschaftsberater aus der großen Stadt heranziehen zu müssen. Immerhin zwanzig Jahre waren sie geblieben, auch als sie längst in anderen Projekten in der weiteren Umgebung tätig gewesen waren. Viktor hatte entsprechend wenig von ihnen gesehen. Ihr Verhältnis war nicht schlecht, aber etwas distanziert. Und obwohl Maditas Familie ihn bei sich aufgenommen hatte, als gehörte er schon immer dazu, blieb eine gewisse Schüchternheit in ihm verhaftet, die ihn besonders dann überfiel, wenn er ungewohnt viel Aufmerksamkeit auf sich zog.

»Keine Sorge. Ich will dich sowieso mit niemandem teilen, wenn du endlich zurück bist. Dann will ich dich für den Rest unserer Ferien nur für mich haben«, sagte sie fröhlich und versuchte damit, den aufsteigenden Abschiedsschmerz zu unterdrücken.

Sie erreichten die Kreuzung, an der es geradeaus weiter zum Bahnhof und linksherum zu Theas Wohnung ging, bei der Madita – und auch Viktor – während des Heimatbesuchs übernachteten. Beide verlangsamten das Tempo, bis sie zum Stehen kamen.

»Ich kann dich wirklich noch zum Bahnhof bringen. Thea wird mit dem Essen bestimmt auf mich warten«, beteuerte Madita und griff nach Viktors Händen.

»Dass du überhaupt schon wieder essen kannst nach all dem Süßkram.« Viktor schüttelte lachend den Kopf.

»Ich weiß nicht, ob du die Theorie vom Dessertmagen schon kennst? Das ist ein zweiter Magen, der …«

»Den nur Madita Schroffenstein hat, niemand sonst auf dieser Welt!«, beendete Viktor den Satz, wobei sein Lachen anhielt. »Und ja, du hast diese Theorie schon ein paarmal mit mir geteilt. Falls du es vergessen hast: Ich wohne mit dir zusammen. Und ich liebe dich.«

»Warum fragst du dann überhaupt?«, gab sie mit einem frechen Grinsen zurück, während sie der warmen Woge nachspürte, die seine letzten Worte in ihrem Innern ausgelöst hatten. Viktor schnaufte, ungläubig und amüsiert zugleich, und zog Madita an sich.

»Du solltest braver sein. Der Weihnachtsmann hört alles, und falls du es vergessen haben solltest: In zwei Tagen kommt er schon.«

»Ich weiß!« Jede Frechheit wich aus Maditas Gesicht und wurde von einem Strahlen abgelöst, das kein kleines Kind besser hinbekäme. Es gab keinen Feiertag, auf den sie sich mehr freute als auf Weihnachten. Wieder schüttelte Viktor den Kopf, doch diesmal zeigte er ein verliebtes Lächeln, in das sich eine Spur Wehmut mischte.

»Ich muss los, der Zug …«

»Ich komme noch mit zum Bahnhof.«

»Das macht es uns nur noch schwerer, außerdem bin ich schon spät dran.« Er seufzte leise und sah sie bedauernd an.

»Okay«, lenkte Madita ein und ergab sich der Pflicht. »Meldest du dich, wenn du in Bremen angekommen bist?«

»Klar, ich rufe dich an.« Er beugte sich zu ihr vor und küsste sie. »Ich liebe dich. Frohe Weihnachten.«

»Frohe Weihnachten«, hauchte sie. Dann löste er sich von ihr und setzte sich in Bewegung, so schnell es der glatte Untergrund erlaubte. Sie sah ihm kurz nach, seufzte, dann wandte sie sich ihrem Weg zu und machte vorsichtige erste Schritte.

»Ich rufe dich an!«, hörte sie da seine Stimme. Sie blickte zur Seite und sah ihn, wie er sich noch einmal zu ihr gedreht hatte.

»Ich kann es kaum erwarten«, rief sie glücklich zurück und winkte ihm mit beiden Armen nach. »Ich liebe dich!«

1 Madita

Am häufigsten waren es die Zahlen. Zweiundzwanzig. Zwölf. Der 22.12. Ihnen konnte sie am schlechtesten ausweichen. Wo immer sie sich aufhielt, ob beim Einkaufen oder im Teeladen, wo sie Preise in die Kasse tippte, tauchten sie aus dem Nichts auf und lösten, egal wie gut Madita gewappnet war, diesen plötzlichen und unausweichlichen Schmerz in ihr aus. Mal schaffte sie es, die Tränen zurückzuhalten oder wegzublinzeln, mal konnte sie sie auf halbem Weg die Wange hinunter wegwischen, doch manchmal traf er sie so hart, dass sie sich nur noch mit einer Entschuldigung von der Kundin oder dem Verkäufer abwenden konnte.

Seltener war es der Name. Viktor war glücklicherweise so gut wie nie zu hören, besonders hier, in dem Örtchen, das von den weißen Bergen umgeben war, tauchte sehr selten ein Junge oder Mann auf, der diesen Namen trug. Häufiger begegnete ihr die weibliche Form, Viktoria, doch die ließ sie nur kurz zusammenzucken.

Schlimmer waren die Orte. Ihre Wirkung ließ sich vorher nie abschätzen. Da war zum Beispiel der Dorfplatz, auf dem im Sommer die Bierbänke und die Tanzfläche für das große Dorffest und im Winter die Buden für den Weihnachtsmarkt aufgebaut wurden. Zu Beginn hatte Madita sein Anblick hundert zerfetzende Kugeln in die Brust gejagt, doch dann war es langsam besser geworden. So war es auch mit dem Schulgebäude und dem angrenzenden Spielplatz, auf dem sie sich gefühlt jeden Nachmittag ihres Schülerinnenlebens mit Viktor getroffen hatte. Hier, auf den beiden Schaukeln sitzend, hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, damals mit fünfzehn.

Doch es gab noch immer Orte im Dorf, da kam der Schmerz völlig überraschend. Zig Male war sie in den letzten drei Jahren an ihnen vorbeigegangen, ohne dass etwas geschehen wäre, doch dann, auf einen Schlag, riefen sie eine Erinnerung wach, die ihr entfallen war: wie sie und Viktor mit elf bei Herrn und Frau Paulsen die Kirschen gepflückt hatten. In der sommerlichen Wärme waren sie durch die Bäume geklettert, den ganzen Körper mit Kirschen behangen, die meisten aber waren im Bauch gelandet, und am Nachmittag hatten sie beide mit Krämpfen auf der Erde gelegen, wo das Gras sie an Armen und Beinen gekitzelt hatte. Oder wie sie mit achtzehn nach der Abiparty per Räuberleiter in das Waldbad eingebrochen waren, um beschwipst und verliebt endlich ihre langjährige Wette umzusetzen und nackt in das Becken zu springen. All die Jahre hatte sie nicht daran gedacht, und nun schwappte diese und jene Erinnerung hoch, als wollte sie Madita aus dem oberflächlichen Frieden herauszwicken, der sie mittlerweile für kurze und manchmal sogar längere Momente überkam. Am schlimmsten aber war der Fußgängerübergang der Durchgangsstraße am Ende des Dorfes. Den hatte sie bis heute gemieden, aus Furcht davor, den Schmerz nicht ertragen zu können.

Nie würde sie das Geheul der Sirenen vergessen, das durch die abendliche Ruhe bis zu ihrem Fenster gedrungen war, nie den Anruf, der sie beinahe zeitgleich erreicht hatte. Nie würde sie die tonlose Stimme seiner Mutter aus ihrem Gedächtnis bannen können und ihre Worte, die sich in ihr Innerstes eingraviert hatten. Und niemals die grausamen Minuten im Auto, den grellen Krankenhausgang, die fahlen Gesichter anderer Besucher. Weiter hatte sie es nicht geschafft, sie war zusammengebrochen, ohne in den Raum zu gelangen, in den man ihn nach den vergeblichen Wiederbelebungsversuchen geschoben hatte.

All das hatte eine Narbe zurückgelassen, die ihren gesamten Körper zu umgeben schien. Die Worte, die später erst wirklich in ihr Bewusstsein vorgedrungen waren und stockend wiedergaben, dass Viktor beim Überqueren der Straße vor dem Bahnhof von einem Auto erfasst worden sei. Nie würde sie die Polizistin vergessen, die sie aufgesucht und befragt hatte, auch wenn ihre Fragen zu einem einzigen lang anhaltenden Ton zusammengeschmolzen waren. Nie würde sie den bohrenden, schockartigen Schmerz ausradieren können, der sie getroffen hatte, als sie endlich verstanden hatte: Viktor war tot.

Vor dem Fenster fielen die Flocken in dichten Mengen, ein tanzender weißer Vorhang aus Schnee. Madita wusste genau, wie sie sich auf ihren Wangen anfühlen würden, wenn sie hinausginge: schwerelos, ein angenehm kaltes Zwicken, bevor sie auf der warmen Haut dahinschmolzen. Es war der erste Schnee des Jahres. Seit gestern fiel er ununterbrochen und schwemmte wie jedes Jahr aufs Neue ihre dunkelsten Gedanken an die Oberfläche. In einer dicken weißen Schicht setzte er sich auf das Fensterbrett und begann im Schein der Lichterketten zu glitzern, die Thea vor wenigen Tagen in den Scheiben des Teeladens aufgehängt hatte. Es war fünf Uhr am Nachmittag und der Himmel bereits dunkel. Die Kälte war klirrend, sodass sich an den Scheiben feine Eisblumen gebildet hatten. Die zarten geschwungenen Linien erinnerten Madita an den Spitzenkragen ihrer Urgroßmutter, den ihre Mutter vor einigen Jahren auf dem Dachboden wiedergefunden hatte. Vorsichtig, als fürchtete sie, sie durch ihre Körperwärme zu gefährden, fuhr sie an der Innenseite der Scheibe entlang und folgte den Windungen der Muster.

»Ich wüsste nicht, wann es das letzte Mal im Dezember so kalt gewesen wäre«, riss Theas Stimme sie aus ihrem beinahe meditativen Zustand. »Schnee gibt es ja jedes Jahr, aber diese Temperaturen!«

Madita wandte sich ihrer Schwester zu. Ganz vertieft wirkte sie, wie sie an der Theke kleine nummerierte Papiertüten mit Tee aus einem der großen Gläser befüllte, die sie aus den eng stehenden Holzregalen des Lädchens entnommen hatte. Dabei schob sie immer wieder das rotbraune Haar zurück, das ihr ins Gesicht fiel. Theas Haare waren länger als Maditas, die ihre schulterlang trug, aber sie hatten die gleiche Farbe und die gleiche Dicke. Manche Dorfbewohner meinten, die beiden nur wegen Maditas Brille auseinanderhalten zu können. Aber das war in ihren Augen Quatsch.

Trotz der traurigen Stimmung, die sich in ihrem Inneren breitmachte, musste Madita lächeln.

»Ehrlich gesagt behauptest du das jedes Jahr. Und vorher hat Mama es immer gesagt und davor …«

»Oma«, nahm Thea ihr das Wort aus dem Mund und schmunzelte ebenfalls. Ein warmes Leuchten hatte sich in ihre Augen geschlichen. »Und sie haben recht. Dass es hier in den Bergen aber auch immer so kalt werden muss!«

Der Teeladen bestand bereits seit mehreren Generationen. Ihre Urgroßmutter mit dem Spitzenkragen hatte ihn gemeinsam mit ihrem Ehemann einst als Gemischtwarenladen gegründet. Seitdem war er von der Mutter an deren Kinder weitergegeben worden, bis heute. Und wenn Ella oder Janosch, Theas Kinder, es sich eines Tages wünschten, würde diese Tradition auch weiterhin fortbestehen. Es war kein großes Geschäft, es gab lediglich einen Verkaufsraum, doch der war mit den dunklen Holzbalken und den alten Möbeln so gemütlich, dass es die Kunden nicht zu stören schien, wenn sie sich einmal darin drängen mussten. Das kam meist eh nur kurz vor Weihnachten vor, wenn im Dorf die panische Suche nach den letzten Geschenken um sich griff. Was eignete sich dafür besser als eine der duftenden Teemischungen der Schwestern Schroffenstein zusammen mit einer der ausgewählten Porzellantassen? Jeder Bewohner des Dorfes hatte mindestens drei davon, auch die kleinsten unter ihnen. Deswegen sorgten Thea und Madita dafür, dass die Kollektionen regelmäßig ausgetauscht wurden, damit es nicht zu einem versehentlichen Doppelkauf käme.

Madita löste sich von der Scheibe, nahm das Staubtuch, das sie auf dem Fensterbrett abgelegt hatte, und fuhr damit fort, die Regale und Gläser abzuwischen, damit alles für den Weihnachtsansturm bereit wäre, der sicherlich mit der Eröffnung des Weihnachtsmarkts in wenigen Tagen beginnen würde.

In diesem Moment öffnete sich die Ladentür. Zusammen mit einem Stoß eisiger Luft drängte sich eine kleine stämmige Frau herein, die Arme voller Einkaufstaschen. Kaum war sie durch die Tür, ließ sie die Taschen in der nächsten Ecke fallen, riss sich die Pudelmütze vom Kopf und rieb sich die behandschuhten Hände.

»Sofie!«, rief Madita erfreut und lief zu ihrer besten Freundin, um sie zu umarmen. Der Schnee, der ihr dabei von Sofies Mütze in den Kragen rieselte, brachte sie zum Schlottern. Sofie war in einen dicken Mantel mit Kunstfellkragen gepackt, den sie nun Knopf um Knopf öffnete.

»Was für eine Kälte, ich sag’s euch. Seid froh, dass ihr hier drin in der Wärme bleiben könnt und eure kleine Treppe hinauf zur Wohnung habt. Bei diesen Temperaturen wird der Arbeitsweg zur Folterqual.«

Madita warf einen weiteren Blick auf das eisig verzierte Fenster, dann sah sie zu der schmalen Wendeltreppe hinter der Kassentheke, die direkt zu Theas Wohnung führte – und ihrer, erinnerte sie sich wie schon Hunderte Male zuvor. Vor drei Jahren, als sie beschlossen hatte, das Studium nicht weiterzuführen, um nicht ohne Viktor in Erfurt zurückbleiben zu müssen, war sie zu Thea in die ehemalige Wohnung ihrer Eltern gezogen. Denn die war selbst für eine vierköpfige Familie zu groß. Sie erstreckte sich über zwei Etagen, die direkt über dem Teeladen lagen. Madita teilte sich das oberste Stockwerk mit Ella und Janosch, auf der mittleren Etage befanden sich das Wohnzimmer, die Küche und das Schlafzimmer von Thea und Björn. Als Thea mit Ella schwanger gewesen war und den Laden sowieso von ihrer Mutter hatte übernehmen wollen, hatte diese den Vater gedrängt, der Tochter auch gleich die Wohnung zu überlassen, die für die beiden allein zu groß geworden war. Sie lebten mittlerweile in einer kleineren Mietwohnung in einem ebenso schönen alten Fachwerkhaus nur wenige Schritte entfernt. Und als Madita Thea berichtet hatte, dass sie nach den Weihnachtsferien nicht zurück nach Erfurt gehen wolle, hatte diese sofort vorgeschlagen, dass Madita das freie Zimmer in ihrer Wohnung beziehen könne. Sie solle ihr im Laden aushelfen, bis sie so weit sei, darüber nachzudenken, wie es weitergehen solle. Außerdem war Björn als Polarforscher so oft beruflich auf Reisen, dass sie Unterstützung bei Ella und dem kleinen Janosch gut gebrauchen konnte. Madita war geblieben. Manchmal kam sie sich in der Wohnung zwar wie ein Eindringling ins Familienglück vor, doch Thea, Björn und die Kinder ließen sie das nicht spüren, sondern hatten sie aufgenommen, als hätten sie nie getrennt gelebt. Seitdem lief sie an jedem Wochentag diese Treppe hinab, um den Laden aufzusperren.

»Na, dein Arbeitsweg ist ja nun auch nicht gerade weit«, wandte Thea sich an Sofie.

»Zu weit!«, beschwerte sich diese, die es zu Fuß ganze vier Minuten zu dem Steuerbüro hatte, in dem sie arbeitete. »Bei dieser Kälte ist jeder Schritt zu weit. Ich hoffe nur, die nimmt zum Wochenende hin ab, sonst können wir den Weihnachtsmarkt vergessen. Wer will bei den eisigen Temperaturen schon stundenlang draußen stehen und sich die Füße abfrieren?«

»Das hat hier noch niemanden abgehalten«, meinte Madita und dachte an den Enthusiasmus der Dorfbewohner, wenn es um den Weihnachtsmarkt ging. Jede einzelne Kundin, die in dieser Woche in den Laden gekommen war, hatte bereits vor Vorfreude geschwärmt. Endlich sei es wieder so weit. Dass Madita diese Freude nicht recht teilte, war keiner von ihnen aufgefallen. Lächelnd hatte sie genickt und versucht, das ungute Gefühl, das sich bei dem Gedanken an den Markt in ihre Brust drängte, zu ignorieren. Auch jetzt spürte sie es wieder und hoffte, ihrer besten Freundin würde dies nicht auffallen. Aber die kannte sie einfach zu gut. Sofie betrachtete sie, während sie den Mantel aufschlug. Ein ernsthafter Zug legte sich über ihr Gesicht, und sie strich Madita über den Arm.

»Wir schaffen das zusammen, ja?«, sagte sie aufmunternd, dann blinzelte sie über die Theke. »Oh, ich sehe, ihr macht schon die Adventskalender fertig. Meine Bestellung habt ihr auf dem Schirm, oder? Fünf Stück, wie jedes Jahr.«

Dankbar über die Ablenkung wandte sich auch Madita Thea zu, die ein Päckchen nach dem anderen auf dem Tresen stapelte, um sie später mit Madita in die Weihnachtsschachteln zu legen, von der Eins bis zur Vierundzwanzig.

»Natürlich, deine Kalender machen wir als Allererste fertig«, versicherte Thea in gespieltem Gehorsam.

»Dann ist es ja gut. Schließlich bin ich eure beste Kundin.« Sofie reckte die Brust wie ein stolzer Pfau.

»Die häufigste auf jeden Fall«, sagte Madita lächelnd und deutete auf den Ohrensessel, der gerade so zwischen zwei Regalen Platz fand. Sofie setzte sich mit einem Schnaufen, während Madita in das winzige Kabuff hinter der Wendeltreppe eilte, um drei Tassen Tee einzuschenken, diesmal war es eine Blütenmischung mit Zitronengras und getrockneten Himbeerstückchen, die Madita an den Sommer erinnerte, denn daran wollte sie festhalten, solange es ging. Sie suchte die letzte freie Stelle auf dem Tresen für die Tasse ihrer Schwester, drückte dann Sofie die zweite in die Hand und stellte ihre in dem Regal ab, an dem sie eben noch mit dem Staubtuch zugange gewesen war. Sie nahm es wieder zur Hand und setzte die Arbeit fort, während sie Sofie lauschte.

»Was heute bei uns los war, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen. Dass den Leuten zum Jahresende immer so plötzlich einfallen muss, was sie alles noch nicht erledigt haben. Ein absolutes Durcheinander, und zu allem Überfluss kommt am Wochenende auch noch die Schwiegermutter zu Besuch. Marius möchte, dass ich einen Kuchen backe. Ich! Meine Idee ist, sie einfach auf den Markt zu schleppen und sie mit Glühwein und Schmalzgebäck vollzustopfen. Warum seid ihr eigentlich beide hier? Wer ist bei den Kindern?«, fragte sie da plötzlich. »Ist Björn etwa in der Stadt? Das habe ich gar nicht mitbekommen.«

Thea richtete sich mit einem leisen Stöhnen auf und streckte sich. Vorsichtig nahm sie die dampfende Tasse vom Tresen und trank einen kleinen Schluck. Überraschung flackerte in ihren Augen auf, als sie die sommerliche Mischung schmeckte, die so gar nicht zu dem Wetter da draußen passen wollte. Ihr Blick huschte kurz zu Madita, die tat, als wäre sie ganz in ihre Arbeit vertieft, dann zurück zu Sofie. Madita bemerkte den kurzen Blickwechsel zwischen den beiden, in dem alles steckte, worüber sie sich in den letzten drei Jahren bestimmt immer wieder ausgetauscht hatten. Eine Mischung aus Sorge, Bedauern und Ungeduld. Das schlechte Gewissen meldete sich in ihrem Bauch, sie spürte den Drang, sich zu erklären, aber seufzte nur tonlos auf. Wie oft hatte sie es schon versucht und doch jedes Mal das Gefühl gehabt, das wirklich Wichtige nicht ausdrücken zu können? Es war wie verhext! Als würden die Worte, die so stark in ihr brannten, es nicht über die Zunge hinausschaffen. Das hatte sie vorher noch nie erlebt, sie, Madita, die doch immer einfach hatte losplaudern können, egal mit wem und egal worüber.

»Nein, nein, unsere Mutter kümmert sich um die Kinder, damit wir alles für den Markt vorbereiten können«, sagte Thea als Antwort auf Sofies Frage. Sie deutete auf die Tüten vor sich, die noch zu Adventskalendern werden wollten. Sie verkauften sie zusammen mit ihren Tees und Tassen nicht nur im Laden und per Onlinebestellung, sondern hatten vor einigen Jahren damit begonnen, sie auch den Besuchern des Marktes anzubieten, was bisher immer sehr erfolgreich gewesen war. Dann trübte sich ihr Blick ein wenig. »Björn ist noch bis Mai in Spitzbergen.«

Sofie schüttelte sich.

»Brrr, wenn ich daran denke, jetzt als Polarforscherin da irgendwo in der Antarktis zu hocken, wird mir ganz anders. Nee, du, mir reicht die Kälte hier absolut.« Wie um einen Punkt zu machen, nahm sie einen Schluck vom wärmenden Tee. »Wobei ich mich hiermit fühle, als säße ich gerade auf einer Blumenwiese im Sonnenschein und hörte die Bienen um mich herumschwirren. Wie schaffst du das nur immer, mit deinen Teemischungen solche Gefühle zu wecken, Madita? Verrückt.« Als wollte sie weiter der sommerlichen Wärme frönen, nahm sie einen großen Schluck.

»Das hat sie von unserer Uroma, die konnte das auch«, erklärte Thea sofort. »Manche im Dorf meinten sogar, sie sei eine Hexe, aber …«

»Aber das weißt du doch alles längst«, unterbrach Madita sie, der es unangenehm war, über ihr eigenartiges Talent zu sprechen. Sie folgte bei ihren Teemischungen doch nur den eigenen Gefühlen und der Intuition. Dass sie damit bei den Teegenießern viel mehr auslöste, war ihr nicht bewusst gewesen, bis sie im Laden zu arbeiten begonnen hatte und die Wünsche der Kunden immer ausgefallener und spezieller geworden waren. Nellie Wunders wollte mit einem Mal eine Mischung, die »mich an den guten alten Hamburger Dom erinnert, mit dem leckeren Schmalzgebäck und den Minz-Zuckerstangen, die ich als Kind so geliebt habe«. Und Frank Rollenberg bat darum, das Gefühl eines Angelausflugs mitsamt des Seegeruchs und der prickelnden Kühle des Sommermorgens in einen Tee zu packen, damit »ich mal abschalten kann, wenn die Trude wieder mit mir meckert«.

»Außerdem ist Björn in der Arktis und nicht der Antarktis«, lenkte Madita das Thema zurück. »Lass das nicht Ella hören, sonst hält sie dir einen ganzstündigen Vortrag über die Unterschiede von Nord- und Südpol.«

»Den hat sie mir bestimmt schon zwölf Mal gehalten. Die Kleine wird wohl mal in Papas Fußstapfen treten, was?« Sofie lächelte, und Madita musste einstimmen, als sie an Ella dachte, wie sie über ihren Sachbüchern für Kinder brütete und sie sich von Madita vorlesen ließ, um sich jeden Fakt über den Ort einzuprägen, an dem ihr Vater Monate verbrachte, um über das Eis zu forschen. Tatsächlich machte sie nicht den Anschein, als würde sie einmal diejenige sein, die an Theas statt Adventskalender für den Markt packte, aber das sahen weder Thea noch Madita als Problem an. Es wäre zwar schön, wenn der Laden in Familienhand bliebe, doch wenn es Ella und Janosch lieber in die Ferne zog, so wie ihren Vater, würde sich jemand anderes finden, der sich dafür genauso gut eignete.

Da öffnete sich wieder die Tür, ein älteres Ehepaar kam herein und mit ihm ein Schwall kalter Luft.

»Oh, macht nur schnell die Tür wieder zu«, rief Sofie bibbernd und strahlte die beiden an, die in graue wollene Mäntel gehüllt und mit schicken Hüten im selben Ton bekleidet waren. Sie waren am Eingang stehen geblieben, um durchzuatmen und sich hier im Warmen zu sortieren.

»Guten Abend, Frau Paulsen, Herr Paulsen!«, rief Madita erfreut und hielt mit der Arbeit inne, um sich den Neuankömmlingen zuzuwenden. Die beiden waren seit Langem Stammkunden, schon vor Maditas und Theas Zeit. »Wie geht es Ihnen heute?«

Auch Thea begrüßte sie lächelnd und räumte ein wenig Platz auf dem Tresen frei.

»Ach, ihr seid ja schon ordentlich am Ackern!«, sagte Herr Paulsen mit seiner durch das Alter brüchig gewordenen Stimme. Seine Frau lächelte und stützte sich auf ihren Gehstock, während sie ebenfalls die Päckchen auf dem Tresen in Augenschein nahm. Seit einigen Monaten wurde sie mit jeder Woche stiller, was die Schwestern mit Sorge wahrnahmen.

»Aber so was von!«, sagte Sofie und gab ein Ächzen von sich, während sie sich genüsslich in dem Sessel zurücklehnte und einen Schluck von dem Tee nahm. Herr Paulsen ging einen Schritt auf sie zu und tippte ihr mit dem Zeigefinger gegen das Kinn.

»Sofie Ludwig, frech wie eh und je«, sagte er und gab ein heiseres Lachen von sich.

»Möchten Sie sich setzen? Eine Tasse Tee?«, fragte Madita und machte Anstalten, ihre Freundin von dem Sessel aufzuscheuchen, doch Herr Paulsen winkte ab.

»Wir wollen nur schnell etwas Nachschub für zu Hause erstehen, wenn es recht ist.«

»Aber natürlich, was darf es denn sein?«, fragte Thea und strich sich eine weitere entschlüpfte Haarsträhne hinters Ohr. »Hundert Gramm von dem Earl Grey, wie immer?«

Herr Paulsen nickte. »Und hundert von dem Spezialtee deiner Schwester, bitte«, fügte er leiser hinzu, während seine Frau, für die Madita den Kräutertee vor einigen Monaten zusammengestellt hatte, ihr ein warmes Lächeln schenkte. Madita erwiderte es, zückte eine Papiertüte, hob das Glas aus dem Regal, das sie eben noch abgestaubt hatte, und füllte mit der Schaufel den duftenden Schwarztee in die Tüte. Dasselbe tat sie mit dem Spezialtee, der in einer kleineren Dose in einem Regal hinter dem Tresen verstaut war. Sie verschloss die Tütchen und reichte sie dem alten Mann. Dieser hatte bereits einige Münzen aus seiner Hosentasche gezogen, auf den Cent genau abgezählt. Diese schob er Thea auf der Theke zu, die sie in die klobige metallene Kasse fallen ließ, die noch von ihrer Urgroßmutter stammte.

»Vielen Dank«, sagte er, verstaute die Tüten in seinem Einkaufsbeutel und hakte vorsichtig seine Frau unter. »Und bis bald! Komm, Gretel, jetzt können wir wieder nach Hause und uns einen schönen Tee machen.«

Madita öffnete ihnen rasch die Tür, und die drei Frauen beobachteten stumm, wie das Paar mit kleinen Schritten den Laden verließ und vorsichtig den gestreuten Weg am Fenster entlangging.

»Die Kälte scheint ihr noch mehr zuzusetzen«, sagte Thea besorgt, und Madita nickte.

»Hoffentlich übersteht sie den Winter gut«, fügte sie hinzu, schloss die Tür leise und wandte sich seufzend dem letzten Glas zu, um es von der dünnen Staubschicht zu befreien, die sich innerhalb von nur zwei Wochen darauf abgesetzt hatte.

»Sie scheint aber nicht unglücklich, immer lächelt sie, nicht?«, meinte Sofie, ebenfalls ungewohnt leise.

»Sie hat ja auch den tollsten Mann der Welt«, sagte Thea. Sie lehnte sich seitlich an die Theke und trank von ihrem Tee. »Herr Paulsen ist immer höflich, hat ständig ein Auge auf sie, kümmert sich um alles. Er lernt sogar ganz neue Rezepte, die er für sie kochen kann, hat er mir letztens erzählt.«

»Und dabei ist er nicht mal langweilig«, stimmte Sofie zu. »Hast du gesehen, wie er mir ins Kinn gekniffen hat?« Sie lachte bei der Erinnerung, und Thea stimmte ein. Dabei bemerkten sie nicht, wie sich Maditas Augen mit Tränen gefüllt hatten, während sie stoisch das längst strahlende Glas polierte.

»Der tollste Mann der Welt«, hallte es durch ihren Kopf. Erinnerungen durchzuckten sie wie Kugelblitze. Sie sah Viktor vor sich, wie er am Herd ihrer gemeinsamen Wohnung stand und ihr Lieblingsgericht zubereitete: Gnocchi mit Fenchel und Walnusspesto. Wie er sich die Zeit nahm, die Gnocchi selber zu machen, und wie sich der Duft langsam in der Wohnung ausbreitete, bis sie es nicht mehr aushielt und sich hibbelig an seine Seite drängte. Nicht mal das hatte ihn beim Kochen aus der Ruhe gebracht, und er hatte sogar mit ihr Scherze gemacht und gelacht.

Ob sie ihm gesagt hatte, dass er für sie der tollste Mann der Welt war? Hatte sie es oft genug getan? Von den anderen unbemerkt, wischte sie sich rasch die Tränen von den Wangen.

2 Madita

»Ich glaube, für heute haben wir es.« Mit diesen Worten schob Thea entschlossen die Kassenlade zu und sah hinüber zu Madita. Diese knipste gerade die Lampen im Laden aus, nur die Lichterketten blieben an und beleuchteten das Miniaturdorf aus Steinhäusern im Schaufenster, das seit Generationen zum Advent dort aufgebaut wurde. Madita nickte ihrer Schwester mit einem Lächeln zu, das die Müdigkeit nach dem langen Arbeitstag verriet. Mit dem anstehenden Advent hatte der Onlinehandel enorm zugenommen, und die beiden waren hauptsächlich am Paketpacken gewesen. Sie streckte sich ein wenig in alle Richtungen, wobei sie immer gegen ein Teeregal oder einen Holzbalken stieß. Der Laden war schlicht und einfach zu eng für Gymnastikübungen. Thea drängelte sich an ihr vorbei in Richtung der Treppe und drehte sich auf der ersten Stufe noch einmal um, als wäre ihr ein plötzlicher Gedanke gekommen.

»Hast du dir eigentlich schon überlegt, ob du eine neue Weihnachtsmischung machen wirst?«

Wie auf Knopfdruck wich Madita dem Blick ihrer Schwester aus.

»Ich weiß noch nicht, vielleicht«, murmelte sie.

Ideen hatte sie jedenfalls keine. So wie in den letzten Jahren auch schon schien sich ihr Kopf zum Advent hin zu verweigern. Sie blickte dann auf die typischen Zutaten wie Zimt, getrocknete Apfel- und Orangenstücke, Nelken und Rosinen, doch es wollte einfach keine Idee kommen. Dabei war das Kreieren neuer Teemischungen in der restlichen Zeit des Jahres ihre absolute Lieblingsbeschäftigung. Es gab kaum etwas Schöneres, als die wunderbaren Momente des Jahres, wie das Entdecken der ersten Schneeglöckchen im anbrechenden Frühling oder das Kitzeln des Grases unter den nackten Füßen im Sommer, in einen Tee zu bringen. Der Advent aber hielt für Madita einfach nur Gefühle bereit, die sie ausklammern und am liebsten überspringen würde. Thea schien auf eine Antwort zu warten, noch immer ging sie nicht weiter und verharrte in der halben Drehung, auch als Madita direkt unter ihr vor der Treppe stand. Ihre Stirn lag in Falten, und es wirkte, als würde sie mit sich ringen, ob sie die Worte über die Lippen bringen sollte oder nicht. Doch dann wandte sie sich Madita ganz zu und blickte sie ernst an.

»Du«, sagte sie mit leiser, aber entschlossener Stimme, »ich weiß, dass diese Zeit schrecklich für dich ist.«

Madita hörte innerlich die Alarmsirene angehen und verkrampfte sich sofort. Sie konnte diese Gespräche einfach nicht führen, es zerriss sie jedes Mal, zum einen, weil sie dem Schmerz nicht begegnen wollte, der dann immer aufwallte, und zum anderen, weil sie wusste, dass sie über das Geschehene nicht frei sprechen konnte.

»Ich würde dich wirklich gerne vor alldem schützen, was jetzt kommt und dich an Viktor erinnert. Dieses ganze Weihnachtsding. Also, wenn du lieber nicht auf dem Markt arbeiten willst, kann ich auch eine Aushilfe engagieren, das kriegen wir schon irgendwie hin …« Während Thea sprach, fuhr sie sich durch ihr Haar. Und obwohl sie erst Ende zwanzig war, wirkte sie plötzlich so viel älter. Ihre Augen sahen müde aus und die Haut fahl. Sofort fühlte Madita sich noch schlechter. Ihre Schwester hatte ganz andere Probleme: Sie war quasi alleinerziehend mit zwei Kindern, solange Björn auf Forschungsreise war. Madita und ihre Eltern halfen ihr zwar, wo sie konnten, aber dennoch gab es Dinge, die nur sie erledigen konnte, und die Belastung blieb groß. Zumal sie mit dem Teeladen auch noch ein eigenes kleines Unternehmen führte.

Selbst wenn Madita hätte reden können, wollte sie Thea nicht mit ihren Gefühlen belasten. Nach drei Jahren musste die Trauer doch abnehmen, oder nicht? Zumindest war es das, was sie in den Blicken vieler Freunde und selbst ihrer Eltern las. Diese Ungeduld. Und auch jetzt schimmerte sie leicht in Theas Augen auf, als Madita den Kopf schüttelte.

»Das ist nicht nötig, ich helfe dir auf dem Weihnachtsmarkt. Wie immer!« Sie versuchte sich an einem ermutigenden Lächeln und hoffte, dass es überzeugend rüberkam. »Die Schroffenstein-Schwestern schaffen das.« Zumal der Weihnachtsmarkt ja zum Glück nur an den Wochenenden stattfand und nicht mehr wie bis vor zwei Jahren noch die gesamte Adventszeit hindurch. Die paar Tage würde sie doch wohl durchhalten.

Thea erwiderte ihr Lächeln nicht. Ihre Augen schienen Madita zu durchforsten, ihre Gedanken scannen zu wollen, doch sie fanden nichts, woran sie sich festhalten konnten. Da seufzte Thea leise und wandte den Blick von Madita ab.

»Okay«, sagte sie resigniert.

Madita wollte nicht, dass Thea sich ihretwegen so fühlte, aber dennoch war sie sich sicher, dass es besser war, sie nicht weiter zu behelligen. Würde sie ihr ihre wahren Gefühle anvertrauen, ginge es Thea noch hundertmal schlechter. Oder sie wäre endgültig so genervt von der Gefühlsduselei ihrer Schwester, dass sie gar nicht mehr mit ihr sprechen wollte. Nein, dachte Madita, während sie Thea die knarzenden Stufen der Wendeltreppe nach oben folgte, so ist es besser.

Kaum hatte Thea die Tür am oberen Treppenabsatz geöffnet, sprangen ihr auch schon zwei Rotschöpfe in die Arme. Madita blieb schmunzelnd stehen und sah von hinten zu, wie die fünfjährige Ella und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Janosch ihre Mutter begrüßten, als wäre sie drei Jahre fort gewesen und nicht nur den Tag über.

»Nun lasst uns erst mal reinkommen«, rief Thea lachend und schlurfte mit den beiden an den Beinen durch den Flur und bis ins Wohnzimmer. Erst dort schienen die Kinder auch ihre Tante zu bemerken und liefen zu Madita, um die Arme um ihren Hals zu schlingen, als sie sich zu ihnen hinunterbeugte.

Über die kleinen Schultern hinweg sah Madita, dass das Wohnzimmer gemütlich beleuchtet war. Die winterliche Dunkelheit wurde auch hier mit Lichterketten und Kerzen vertrieben, die die Einrichtung aus alten Möbelstücken der Großeltern und modernen Teilen aus Björns Bestand in warme Farben tauchten. Im Kamin neben der Couch brannte hinter der Glasscheibe ein knisterndes Feuer. Wären die Kinder nicht da gewesen, dieser Anblick hätte etwas Beklemmendes für sie gehabt, doch nun drückte sie die Kleinen fester an sich, schloss für einen Moment die Augen und vergrub die Nase in Ellas duftendem Haar.

»Na, was habt ihr heute erlebt?«, fragte sie dann und lauschte mit einem Lächeln der aufgeregten Erzählung der beiden über ihre Kindergartenabenteuer. Dabei landete ihr Blick auf ihrer Mutter, die gerade aus der Küchentür getreten war. Das volle weiße Haar hing ihr offen über die Schulter, und sie wirkte wie immer, wenn sie Zeit mit ihren Enkeln verbrachte, freudig erregt, mit geröteten Wangen und einem Strahlen in den dunklen Augen. Madita formte mit den Lippen einen Gruß, um die Kinder nicht zu unterbrechen.

»… und dann haben wir eine Höhle gebaut. Emil hat geholfen, aber nur ein bisschen. Und dann hat Ronja Saft ausgekippt. Auf ihr Krokodil. Und dann …«

»Und dann war es Zeit für euch, ins Bettchen zu hüpfen«, meldete sich plötzlich eine dunkle Stimme. Madita lächelte ihren Vater an, der mit grauem Haar und Vollbart neben ihnen auftauchte und Janosch in die Seite zwickte.

»Hallo, Papa.«

Er hatte wohl bis eben in dem Sessel gesessen, der mit dem Rücken zum Flureingang stand, sodass Madita ihn gar nicht gesehen hatte. Seine stets vergnügten Augen mit den lebendigen Fältchen funkelten, als Janosch ihn zurückzwickte und natürlich mit keiner Silbe auf den Vorschlag einging, jetzt ins Bett zu müssen. Der Kleine hatte schnell durchschaut, dass es die beste Taktik war, ungern Gehörtes einfach zu übergehen. Vielleicht vergaßen die Erwachsenen ja ihre blöden Vorschläge …

Ella hingegen war zu ihrer Mutter gerannt und protestierte: »Mama, ich muss aber noch nicht ins Bett. Ich bin größer als Janosch!« Als wüsste sie nicht ganz genau, dass sie immer ein wenig länger als Janosch wach bleiben durfte. »Guckst du noch Bücher mit mir an? Das neue über den Nordpol?«

Thea lächelte beruhigend.

»Natürlich. Wir machen es wie immer. Ich bringe Janosch ins Bett, während du dir die Zähne putzt und den Schlafanzug anziehst, und dann lesen wir noch ganz lange, okay?«

»Ja!«, jubelte Ella mit einem Strahlen auf den Lippen. Sie lief von Thea zu ihren Großeltern und Madita, um allen einen raschen Kuss auf die Wange zu geben, dann nahm sie die Treppe ins obere Geschoss.

Janosch sah alles andere als begeistert aus. Er zog einen Flunsch und krallte sich an dem Pullover seines Großvaters fest. Doch dieser hob ihn mit einem Stöhnen hoch und trug das quietschende Kind kopfüber nach oben. Später würde er wieder darüber klagen, dass die Kinder seinen Rücken ruinierten.

Thea winkte ihrer Mutter und Madita zu.

»Bis später!« Dann verschwand auch sie nach oben.

Maditas Mutter machte einen zufriedenen Laut und wandte sich ihr zu.

»Hast du Hunger? Wir haben Nudeln mit Tomatensoße gegessen. Magst du eine Portion?«

Doch Madita winkte ab, ließ sich auf die Couch am prasselnden Feuer fallen und streckte die Beine von sich.

»Später, danke! Ich esse zusammen mit Thea, wenn sie runterkommt. Jetzt muss ich erst mal die Beine ausruhen.«

Ihre Mutter lächelte verständnisvoll, strich sich das weite Hemd glatt, das sie über einer eng anliegenden Hose trug, und setzte sich neben ihre Tochter. Dabei klackerten die Holzperlen der langen bunten Ketten, die um ihren Hals hingen.

»Ich weiß noch gut, wie sich das angefühlt hat nach einem langen Arbeitstag im Laden. Ich hatte das Gefühl, ich hätte Holzklötze statt Füße an den Beinen.«

»Jaaa«, seufzte Madita lang gezogen und streckte die Arme nach oben, wobei ihr ein Gähnen entfuhr. »Genau so!«

Ihre Mutter beugte sich schmunzelnd zum Couchtisch vor und griff nach einer Strickarbeit, die dort im Korb mit der Wolle und weiteren Nadeln lag. Die große Rundnadel, auf der sich die ersten Reihen eisblauer Wolle wanden, verriet, dass sie an einer Mütze arbeitete. Schon war das Klacken der Nadeln zu hören, das Madita ihre gesamte Kindheit hindurch begleitet hatte. Genau hier vor dem Kamin hatte sie auch damals gesessen und zum regelmäßigen Klickgeräusch mit Thea oder Viktor Türme gebaut oder auf einem Brettspiel gewürfelt.

»Für wen ist die?«, fragte sie nun und folgte mit dem Blick den routinierten Bewegungen der Finger ihrer Mutter.

»Die ist für Ella. Sie wünscht sich ein Eisbärenmotiv auf der Mütze, aber ob ich das hinbekomme …« Sie zog die Brauen hoch und sah Madita mit einem ratlosen Lächeln an. »Am Ende werden es wohl wieder Schneeflocken.«

»Die auch immer sehr schön sind«, merkte Madita als pflichtbewusste Tochter und jahrelange Trägerin der selbst gestrickten Mützen ihrer Mutter an. Sie erwiderte deren Lächeln, doch dem herzlichen Blick konnte sie gerade nicht standhalten. Wie von selbst sah sie rasch in die andere Richtung zu den glühenden Feuerscheiten und den Flammen im Kamin. Noch immer fühlte sie sich aufgewühlt von den Gedanken, die die Adventszeit in ihr weckte, von den Erinnerungen an ihre Kindheit, die auf irgendeine Weise stets mit Viktor zusammenhingen, und von dem Gespräch mit Thea. Das schlechte Gewissen, das auf ihr lastete, war von Anfang an beständiger Teil ihres Alltags. Aber wenn sich der erste Advent näherte, nahm das Brennen und Stechen noch einmal zu.

Schritte drangen von der Treppe her, und wenige Sekunden später ließ sich Maditas Vater mit einem zufriedenen Grunzen in den Sessel plumpsen. Er fuhr sich mit beiden Händen einmal übers bärtige Gesicht und murmelte durch die Handrücken hindurch kaum vernehmbar: »Dieser kleine Racker … Woher kommt die Energie? Woher?« Sein Lächeln aber, das kurz darauf wieder erschien, verriet, wie gern er seine beiden Enkel hatte. Mit einem weiteren Seufzen beugte er sich zu dem Korb vor und griff nach Wolle und Nadeln, um es seiner Frau nachzutun. Nach einem ersten Herzinfarkt mit nur vierzig Jahren hatte er sich das Hobby abgeguckt und pflegte seither einen ruhigeren Lebensstil, der sich in gewaltigen Ladungen von Strickprodukten manifestiert hatte. Was die Zopfmuster in Pullovern und Schals anging, hatte er seine Frau sogar schon überboten.

»Schläft Janosch jetzt?«, fragte Madita nach. In den letzten drei Jahren hatte es ihr in schwierigen Phasen geholfen, sich auf die Alltäglichkeiten zu konzentrieren und sich damit durch den Tag zu hangeln.

»Noch nicht ganz«, sae ihr Vater. »Aber Thea hat übernommen. Du weißt ja, wie sie ist. Wenn sie die Kinder den ganzen Tag nicht gesehen hat, will sie sie wenigstens ins Bett bringen und noch ein bisschen mit ihnen kuscheln.«

Madita sah in die liebevoll blitzenden Augen ihres Vaters und beneidete Thea ein wenig um den Moment der Nähe und Ruhe, den sie jetzt mit den Kindern verbrachte.

Doch so verführerisch diese Vorstellung auch war, konnte sie darin nicht allzu lange verweilen. Ihre Mutter räusperte sich vernehmlich und sagte mit halblauter Stimme wie beiläufig: »Wir wollten mit dir reden.«