Ein Zimmer über dem Meer - Corina Bomann - E-Book
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Ein Zimmer über dem Meer E-Book

Corina Bomann

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Beschreibung

Eine dramatische Liebe in Cornwall Blind vor Tränen steigt Kim in den nächstbesten Zug. Sie hat bei einem Unfall ihre große Liebe verloren, wie kann sie nur weiterleben? Sie landet in einem Hafenstädtchen in Cornwall und versucht an den windumtosten Klippen einen freien Kopf zu bekommen. Die alte Janet glaubt, Kim will sich hinunterstürzen, und überredet sie auf einen Tee in ihr Cottage. In einer alten Seemannskiste verwahrt Janet ein zerschlissenes Tagebuch. Es erzählt die dramatische Geschichte der stummen Leandra, die genauso verzweifelt war wie Kim. Leandra wurde gerettet, nachdem sie sich zum Leuchtturmwärter bekannte. Kim ist tief berührt von der tragischen Liebesgeschichte der zwei – doch wie sieht es in ihrem eigenen Herzen aus? Gibt es dort Platz für eine neue Liebe?

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ein Zimmer über dem Meer

CORINA BOMANN ist in einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen und hat schon immer geschrieben. Mittlerweile ist sie eine der erfolgreichsten deutschen Autorinnen. Immer wieder begeistert sie ihre Leserinnen mit großen dramatischen Romanen und Heldinnen, die etwas Besonderes erreichen. Ihre Romane werden in zahlreiche Sprachen übersetzt und sind internationale Bestseller. Sie wohnt in Berlin.Von Corina Bomann sind in unserem Hause bereits erschienen: Die Schmetterlingsinsel • Der Mondscheingarten Die Jasminschwestern • Die Sturmrose Das Mohnblütenjahr • Sturmherz Agnetas Erbe. Die Frauen vom Löwenhof 1 Mathildas Geheimnis. Die Frauen vom Löwenhof 2 Solveigs Versprechen. Die Frauen vom Löwenhof 3 Sophias Hoffnung. Die Farben der Schönheit 1 Sophias Träume. Die Farben der Schönheit 2  Sophias Triumph. Die Farben der Schönheit 3 Ein zauberhafter Sommer Eine wundersame Weihnachtsreise Winterblüte • Winterengel

Als Kims große Liebe bei einem Flugzeugabsturz stirbt, bricht für sie eine Welt zusammen. Verzweifelt vor Trauer, springt sie in den nächstbesten Zug. Nur mit ihren Papieren und etwas Geld in der Tasche landet sie in Cornwall. Kim nimmt die schöne Landschaft kaum wahr, sie trauert um ihr verlorenes Liebesglück. Die zupackende Janet hat mit 86 schon vieles gesehen. Behutsam überredet sie Kim, mit ihr zu kommen. In Janets kleinem Haus am Meer wärmt sich Kim auf, und Janet bietet ihr an zu bleiben. In der Nacht bricht Janet zusammen, und Kim bringt sie ins Krankenhaus. Am Krankenbett lernt sie Janets Enkel Dan kennen. Kim ist verunsichert von dem wortkargen Mann, der als Seemann auf einem Frachter angeheuert hatte. Janet bittet Kim, ihr aus einer alten Seemannskiste ein Tagebuch zu bringen und daraus vorzulesen. Es ist jedoch gar nicht Janets Tagebuch, sondern das Tagebuch der stummen Leandra, die um ihr Lebens- und Liebesglück kämpfen musste.

Corina Bomann

Ein Zimmer über dem Meer

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Der Roman ist bereits unter dem Pseudonym Dana Paul erschienen. Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage Juli 2021 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016 Umschlaggestaltung: bürosüd°, München Titelabbildung: © Rekha Garton / Trevillion Images (Frau); © www.buerosued.de (Landschaft) Autorenfoto: © Nadja Klier E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com ISBN 978-3-8437-2586-6

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Epilog

Liebe Leserinnen und Leser!

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Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

Der Wecker klingelt. Ich öffne die Augen und werde von Sonnenlicht geblendet. Wie spät es genau ist, weiß ich nicht. Ich strecke mich, drehe mich noch einmal um und lege meinen Arm auf den leeren Platz neben mir. Jake ist bereits auf. Ich höre ihn in der Dusche rumoren. Sein Flug geht um elf, ich hoffe, wir haben noch genug Zeit, um zu frühstücken und uns richtig voneinander zu verabschieden.

Gestern Abend ist es ziemlich spät geworden. Der letzte Abend vor Jakes Abreise musste gefeiert werden, immerhin erhielt man nicht jeden Tag die Chance, an einem der renommiertesten Wettbewerbe der Welt teilzunehmen. Vom »World Surf Cup« träumt jeder Surfer, und Jake ist einer der besten. Seine Verbundenheit mit dem Meer ist schon beinahe unheimlich. Keine Welle ist ihm zu hoch oder zu wild. Er reitet auf dem Wasser wie ein Meeresgott, ohne die geringste Furcht.

Bei den Videos, die er manchmal mit einer Helmkamera macht, bleibt mir allerdings regelmäßig das Herz stehen. Ich sehe ihn durch einen Tunnel aus Wasser fahren, sehe die Wassermassen bedrohlich auf ihn zurasen, wie sie ihn halb verschlucken. Manchmal stelle ich mir vor, wie es sein würde, in diesem Tunnel zu verschwinden. Jake lacht nur darüber und sagt, ich sei eine Landratte, die das Meer zu Unrecht fürchten würde.

Ich stehe auf und sehe auf die Uhr. Acht Uhr dreißig. Früh genug, um ihn noch einmal in meine Arme zu ziehen. Ich streife mein Nachthemd ab und stelle mich vors Fenster. Angst, dass mich jemand beobachten könnte, habe ich nicht. Rings um das Cottage, das Jake von seinem Großvater geerbt hat, ist alles dicht bewachsen. Die Hecken müssen schon über hundert Jahre alt sein. Weder erlauben sie den Blick nach innen noch nach außen. Sie sind wie Wände, die unser Glück umhüllen und es beschützen.

Angesichts seiner Triumphe könnte sich Jake etwas anderes leisten, eine Villa in Malibu vielleicht, aber es zieht ihn immer wieder in die Heimat, in dieses Haus. Und zu mir.

»Hi, Süße!«, ertönt seine samtig dunkle Stimme hinter mir. Seine Finger streichen durch mein Haar, eine blonde Strähne wickelt sich um seinen Finger. Wenig später spüre ich die Wärme seines Körpers an meinem Rücken.

Jeden Zentimeter dieses Körpers kenne ich. Den Kopf mit den blonden Haaren, den blauen Augen und dem Dreitagebart um die Lippen. Die breiten, muskulösen Schultern, die sanft gebräunte Haut, seine Brust mit den dunklen Warzen, den Streifen Haar, der sich über seinen straffen Bauch zieht, seine warmen Lenden, seine muskulösen Beine.

Er ist noch nackt, das gefällt mir. Sein Arm legt sich warm um mich, dann spüre ich seinen gesamten Körper an meinem. Mein Plan scheint aufzugehen. Ich weiß, dass er mir nicht widerstehen kann, wenn ich nackt vor dem Fenster stehe. Könnte er es, hätte er sich längst angezogen.

Irgendwann einmal hat er mich mit Undine verglichen, dem Wassergeist, der erst eine Seele bekommt, wenn er die Liebe eines Menschen gewinnen kann. Ich habe diesen Vergleich nie richtig verstanden, denn ich bin nun wirklich kein Meerwesen. Ich liebe den Ausblick auf das Wasser, ja, ich liebe Abende am Strand, aber das Meer selbst bereitet mir Unbehagen. Wenn ich am Strand sitze und die sich auftürmenden Wellen beobachte, wird mir flau im Magen. Nur selten traue ich mich ins Wasser, und obwohl ich recht gut schwimmen kann, gehe ich fast nur bei vollkommen ruhiger See baden. Selbst dann spüre ich die zerstörerische Kraft, die vom Ozean ausgeht, eine Kraft, der wir nichts entgegenzusetzen haben, wenn sie beschlossen hat, uns ins Verderben zu ziehen.

Aber in Jakes Armen ist nichts Zerstörerisches. Sie fühlen sich warm und stark an, und als er mich küsst, spüre ich ein Flattern in meinem Bauch, wie damals, als er mich das erste Mal küsste. Obwohl wir uns bereits vier Jahre kennen, ist es immer wieder so, besonders dann, wenn er mich für längere Zeit verlässt.

»Komm mit ins Bett«, flüstere ich, denn ich will ihn nicht gehen lassen, ohne ihn noch einmal gespürt zu haben. Immerhin würde ich drei Wochen lang Strohwitwe sein.

Ich nehme ihn bei der Hand und ziehe ihn mit mir. Küssend sinken wir aufs Bett, umschlingen einander, halten uns fest und reiben unsere Haut aneinander. Wir schaukeln über die Matratze wie ein Boot über stürmische See, unser Haar vermischt sich wie durch einen Sturm, und als wir uns schließlich keuchend und glücklich ansehen, klingelt das Handy.

»Bleib hier«, flüstere ich und fühle im gleichen Moment, dass ich ihn bereits verloren habe – an den Anrufer, der einfach nicht lockerlassen will. Jake küsst mich noch einmal, dann erhebt er sich. Sein Duft und seine Wärme bleiben noch einen Moment lang auf meiner Haut, dann verflüchtigen sie sich wieder.

»Hallo, Nick, wie sieht’s aus?«, fragt Jake und klemmt sich den Hörer unters Kinn, während er in seine Shorts steigt. Was für ein Jammer! Jetzt wird er sich wohl nicht mehr von mir überreden lassen.

Die Antwort höre ich nicht, doch ich weiß, dass es sein Trainer ist, der sicher wissen will, wie weit er ist. Für Jake ist er wie ein zweiter Vater – manchmal ist er aber auch genauso anstrengend wie ein Vater, der ständig ins Zimmer schaut, um sicherzustellen, dass man ja keine Dummheiten macht.

Der Shorts folgt die Jeans, und während Nick auf ihn einredet und Jake alles mit einem »Mhm« quittiert, schafft es mein Held mit viel sportlichem Geschick auch in sein Shirt. Ich betrachte ihn und fühle schon jetzt Sehnsucht in mir aufsteigen. Bis ich ihn wieder spüren darf, werden viele Tage vergehen.

Manchmal bin ich ein wenig eifersüchtig auf Nick, denn in letzter Zeit war Jake mehr mit seinem Trainer zusammen als mit mir. Wenn ich dann sage, dass er eigentlich nicht so viel Training benötigt, weil er doch schon der Beste ist, antwortet Jake immer: »Ich bin nur der Beste, weil ich so viel trainiere.«

Alles könnte ich ihm ausreden, aber nicht die Trainingsstunden.

Nein, vielleicht sollte ich nicht auf den Trainer eifersüchtig sein. Meine Konkurrenz ist wesentlich größer. Das Meer wird nie von ihm ablassen. Egal, was geschieht, es ist immer da und facht seine Sehnsucht an. Trotz der Gefahr liebt Jake es beinahe mehr als mich.

»Okay, ich bin in einer halben Stunde bei dir«, verspricht Jake und legt auf. Dann kommt er mit langen Schritten zu mir und küsst mich.

»Ich werde dich vermissen«, raunt er leise in mein Haar.

»Wirklich?«, frage ich zurück. »Wo du doch Aussicht auf die perfekte Welle hast?«

»Keine Welle ist so schön wie du!«, entgegnet er und küsst mich erneut. »Lass dir die Zeit nicht lang werden. Ich melde mich, sobald ich am Flughafen angekommen bin. Und natürlich, wenn wir gelandet sind. Du hast mich also ständig im Blick.«

Damit löst er sich von mir, und wie immer spüre ich eine gewisse Verzweiflung in mir. Elf Tage Wettkampf, vierzehn Tage Trennung und vierzehn Tage Angst davor, dass das Meer ihn verschlingen könnte. Doch ich zwinge mich zu einem Lächeln und winke ihm, als er das Zimmer verlässt. Ich höre, wie draußen die Tür seines Wagens zuklappt. Wenig später springt der Motor an. Er hupt noch einmal, als er vom Grundstück fährt, dann wird das Motorengeräusch leiser und verschwindet schließlich ganz.

1. Kapitel

Der Bahnhof war an diesem Morgen schon sehr belebt; es fiel Kim leicht, sich in der Menge zu verstecken. Die meisten Reisenden hasteten an ihr vorbei und nahmen keine Notiz von ihr. Kaffeeduft strömte in ihre Nase. Der Mann neben ihr trank mit gierigen Zügen. Sein Anzug wirkte zerknittert, fast so, als hätte er die Nacht im Büro verbracht. Die Zeiger der Bahnhofsuhr rückten auf Viertel nach acht.

Als die Durchsage über sie hinwegtönte, trat Kim ein Stück vom Bahnsteig zurück. Die Zugschlange schob sich träge über das Gleis und kam schließlich zum Stehen. Zischend öffneten sich die Türen. Passagiere stiegen aus, umringten sie, dann war der Weg zur Tür frei.

Kim suchte sich einen Platz am Fenster und ließ sich dann in den rot gepolsterten Sitz fallen. Eine Tasche hatte sie nicht dabei, sie brauchte sie nicht für ihr Vorhaben. Eine Weile beobachtete sie, wie andere Reisende ihre schweren Gepäckstücke auf die Gepäckablage hievten, dann zog sie ihr Handy hervor. Keine Nachrichten. Bereits am vergangenen Abend hatte sie begonnen, alles zu löschen, was mit ihr und Jake zu tun hatte. Gemeinsame Bilder. Nachrichten. Das alles war nicht mehr wahr.

Ein paar Nummern von Freunden und Verwandten und zwei SMS von Jake hatte sie allerdings noch im Speicher belassen. Die erste und die letzte. Nach seinem Tod war es ihr nicht schwergefallen, die anderen Nachrichten zu löschen. Doch mit der ersten und der letzten, so profan ihr Inhalt auch war, tat sie sich schwer.

Seufzend schob sie das Handy wieder in die Tasche und blickte nach draußen. Der Waggon füllte sich mit weiteren Reisenden. Als sich die Türen schlossen und der Zug sich in Bewegung setzte, zog sie einen Zeitungsschnipsel hervor. Er war dermaßen zerknittert und abgegriffen, dass man das Gedruckte kaum noch lesen konnte. Doch als wäre die Druckerschwärze in Kims Finger eingesickert, kannte sie jedes Wort.

Der britische Surfer Jake Ericson (28) ist am gestrigen Nachmittag bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Ericson war einer der Teilnehmer des World Surf Cups. Er startete für Großbritannien und war die größte Medaillenhoffnung. Laut Bericht der Polizei der Grafschaft verlor der Pilot die Kontrolle über die Maschine, die daraufhin ins Meer stürzte. Die Bergungsarbeiten halten an. Neben ihm und der Crew befanden sich sein Trainer Nick Kershaw und sein Physiotherapeut Hank Silberman in der Maschine. Ericson hinterlässt seine Eltern und seine Verlobte.

Kims Augen klebten noch eine Weile an den mittlerweile verblichenen Buchstaben, dann schob sie den Zettel in die Jackentasche zurück. Lange hatte sie sich geweigert, diese Nachricht zu glauben. Jede Nacht schreckte sie hoch, weil sie dachte, eine Nachricht von Jake sei auf ihrem Handy eingetroffen. Doch da war nichts. Bestenfalls meldeten sich ihre Eltern und fragten nach, wie es ihr in dem einsamen Haus ging.

Das Haus hatte mit Jakes Tod alle Wärme verloren. Egal, ob sie die Heizung anstellte oder den alten Kachelofen anfeuerte, es blieb kalt. Oder besser gesagt, die Wärme erreichte ihr Inneres nicht. Sie fühlte sich taub an, innerlich zerbrochen, und vor allem war sie unempfänglich geworden für Wärme und Farben. Alles war verblasst. Alles war erfroren.

»Die Fahrscheine bitte!«, riss sie die Stimme des Schaffners aus ihren Gedanken. Erschrocken blickte sie ihn an. Es dauerte eine Weile, bis die verblichenen Worte des Artikels von ihr abließen und sie begriff, was der untersetzte, rotgesichtige Mann von ihr wollte.

»Oh, ja, okay.« Sie zog das Ticket hervor.

»Sie wollen nach Cornwall«, bemerkte er, während er den Fahrschein entwertete. »Meine Frau stammt aus Falmouth. Schönes Fleckchen Erde, das sage ich Ihnen! Penzance ist freilich eine andere Ecke, aber ich glaube nicht, dass die Unterschiede so groß sind.«

Kim lächelte ihn an und nickte. Sie wusste nicht, wie es in Penzance aussah, sie hatte den Ort gewählt, weil er der nächste zur Absturzstelle von Jakes Flugzeug war. Das Einzige, was sie wusste, war, dass es dort einen Hafen gab – und steile Klippen. Doch sie hatte die Erfahrung gemacht, dass die Menschen eher von ihr abließen, wenn sie nickte, lächelte und so tat, als wüsste sie, wovon sie redeten.

So war es auch bei dem Schaffner. Er ließ von ihr ab, ohne dass sie ein Wort sagen musste, und schob sich weiter durch die Reihen. Kim blickte aus dem Fenster. Der Zug passierte gerade eine Stadt, deren rote Dächer hell im Sonnenlicht leuchteten. Sie wusste nicht, wie diese Ortschaft hieß, doch der Anblick fesselte sie einen Moment lang, so dass sie den zerknitterten Zettel in ihrer Hand vergaß. Sie dachte daran, dass Jake dieser Anblick gefallen hätte. Er war dabei gewesen, ein Star zu werden, dennoch waren ihm die kleinen Dinge wichtiger gewesen. Das Haus seines Großvaters, das Dorf. Städte, in denen sie während einer Urlaubsreise angehalten hatten, ohne zu wissen, was für Sehenswürdigkeiten es dort gab. Jake hatte sie bei der Hand gehalten und durch die Straßen geführt, als wäre er dort aufgewachsen. An seiner Seite war irgendwie alles schöner.

Nun fiel ihr der Zettel wieder ein und sie zog ihn aus der Tasche. Er war jetzt noch ein wenig mehr zerknüllt, doch das war egal. Er hatte nur noch einen Zweck zu erfüllen – sie würde ihn mitnehmen in den Tod. Oder ihn kurz davor in den Wind schicken. Lesen würde sie ihn nicht mehr.

Es war ein guter Tag für Janet. An diesem Morgen spürte sie das Rheuma in ihren Knochen weitaus weniger als sonst, und ihr Körper fühlte sich leichter an.

Ohnehin war nicht mehr viel dran an ihr, die Zeit zehrte sie langsam aus, dennoch schienen ihre Glieder an manchen Tagen wie mit Blei gefüllt zu sein. Doch nicht heute. Sie blickte durch das Fenster ihres kleinen Cottages auf das Meer, froh darüber, sich stark genug für einen Spaziergang zu fühlen.

Noch vor einer Woche hatte sie sich entweder zu schlecht gefühlt, oder ihr Verstand war von einer dunklen Wolke eingehüllt gewesen, die ihr das Rausgehen erschwerte. Heute, an dem wichtigen Tag, war sie frei von alledem.

Sie machte sich ein leichtes Mittagessen, und nachdem sie es verzehrt hatte, trat sie mit ihrem Gehstock vor die Tür. Ihr Enkel hatte zahlreiche Münzen an dem Stock angebracht – Überbleibsel seiner Reisen um die Welt. Manchmal machte sie sich Sorgen um ihn, denn Janet wusste, wie gefährlich das Meer sein konnte. Wenn sie ihn darauf ansprach, lachte er nur und meinte, auf den modernen Schiffen bräuchte niemand Angst haben. Doch die Angst um ihn verließ Janet nie.

Die Luft war frisch, und sie war froh, dass sie sich ihren großen Wollschal um die Schultern gelegt hatte. Er war warm genug, um sie vor dem Wind zu schützen, der das hohe Gras am Wegrand bog. Noch hielt sich der Sommer, aber in der Luft lag bereits der Duft des Winters, und Janet hatte auch die Veränderung des Lichts registriert. Winterlicht, dachte sie. Schon bald wird es uns wieder einhüllen, und dann würde das Meer wieder wütender gegen die Klippe schlagen.

Und womöglich würde dieser Spaziergang der letzte sein, auf den sie in diesem Jahr Lust hatte – auch wenn das Jahr noch ein paar Monate übrighatte. Sie ließ also das Gartentor hinter sich, und während sie für einen Moment lang die kleine Janet sah, wie sie durch die Ginsterbüsche huschte, beschritt sie den geheimen Pfad zu den Klippen.

Viele Generationen ihrer Familie waren diesen Weg entlanggegangen – um nachzudenken oder sich ihren Erinnerungen zu stellen. Er hatte seine Geheimnisse, und einige von ihnen waren tief in Janets Herzen begraben.

Eine Erinnerung holte sie allerdings wieder ein.

Sie sah ein kleines Mädchen hier entlanglaufen, mit blonden Locken, die im Wind wehten. Sie war ihr schon lange nicht mehr erschienen, doch jetzt war es wie damals vor so vielen Jahren.

Je näher Janet den Klippen kam, desto deutlicher wurde ihre Erinnerung. Janet blieb stehen, zog dann das Tuch um ihre Schultern fester. Ein Frösteln durchzog sie. War es vielleicht doch keine gute Idee? Sie spürte, dass noch andere Erinnerungen in ihr lauerten. Hatte sie den Mut, sich ihnen zu stellen? Das kleine Mädchen verschwand aus ihrem Blickfeld. Janet wusste, dass es nicht echt war, lediglich ein Echo ihrer Erinnerung. Dennoch folgte sie ihm weiter und tauchte schließlich tief in das Damals ein.

In Land’s End setzte sie das Taxi ab. Der Fahrer hatte während der gesamten Fahrt von Penzance unaufhörlich geredet, doch Kim hatte nicht zugehört.

Sie bezahlte ihn und wünschte ihm einen schönen Tag. Während er davonfuhr, wandte sie sich um. Der frische, salzige Geruch des Meeres strömte in ihre Nase. Möwen kreischten über ihr.

Mittlerweile war es Nachmittag geworden. Der Himmel war leicht bewölkt, die grauen Wolken verhießen wohl Regen, doch wenn der Wind weiterhin so blies, würden sie nicht lange genug bleiben, um ihre Last loszuwerden.

Kim strebte der Ortsmitte zu und kam sich dabei ein wenig wie in einem der Romane vor, die manchmal in Zahnarztpraxen herumlagen. Das arme Mädchen, das alles verloren hatte, auf dem Weg zu den Klippen, wo es einem gutaussehenden Baron begegnet. Bis auf den letzten Punkt stimmte es – allerdings würde am Ende ihres Weges kein Prinz warten, sondern ein wesentlich dunklerer Herr.

Sie folgte einfach den Wegweisern, die durch enge Gassen zum Longships Lighthouse führten, dabei durchquerte sie beinahe die gesamte Stadt. Malerische alte Häuser drängten sich am Straßenrand zusammen wie Schafe in der Kälte. Die Sonne schien und lockte die Touristen in Scharen aus ihren Unterkünften. Ein Plakat warb für die »Shaun The Sheep Experience«, die offenbar zusätzliches Geld in die Kassen der Stadt schwemmte.

Am Nachmittag erreichte sie die Granitfelsen. Der Ausblick auf das Meer war atemberaubend. Noch stand die Sonne hoch, doch in ein paar Stunden würde man hier sicher einen wunderbaren Sonnenuntergang beobachten können. Weit vom Ufer entfernt, mitten im Meer, ragte das Longships Lighthouse aus den Wellen in die Höhe. Jake hätte diesen Ort geliebt.

Ob er den Leuchtturm kurz vor dem Absturz gesehen hatte? Ob er sich vorgestellt hatte, um ihn herum zu surfen? Ob er seinem Trainer diesen Vorschlag unterbreitet hatte?

Kurz darauf war etwas passiert – die Gutachter glaubten, ein Wildvogel sei in eines der Triebwerke geflogen. Es war in Brand geraten, der Pilot hatte die Kontrolle verloren, und das Flugzeug war ins Meer gestürzt.

Kim trat näher an die Kante heran. Der Zeitungsausschnitt lag in ihrer feuchten Hand. Ihr Herz raste. Trauer wütete in ihr, zerrte an ihren Eingeweiden, aber da war auch Angst. Sie hatte es sich so leicht vorgestellt. Ein Schritt und dann abwärts in die Tiefe. Kurzes Fallen, ein Luftzug, der Aufprall. Vielleicht noch ein paar letzte Bilder. Stille. Doch etwas ließ sie zögern und ihre Hände schweißnass werden. Sie war sich sicher gewesen, sterben zu wollen. Warum nur konnte sie ihren verdammten Körper nicht dazu bewegen, einen Schritt zu machen? Nur noch einen letzten Schritt …

Sie kniff die Augen zu. Vielleicht half das. Vielleicht machte es alles einfacher.

»Wunderbares Wetter, finden Sie nicht auch?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Kim zuckte zusammen und riss die Augen auf. Der Zettel löste sich aus ihrer Hand und wurde vom Wind davongerissen.

2. Kapitel

Die Frau war knapp einen Meter fünfzig groß und stützte sich auf einen Stock, wie ein weises Mütterchen aus einem Märchen. Ihr graues Haar musste früher einmal tiefschwarz gewesen sein, jedenfalls deuteten vereinzelte dunkle Strähnen darauf hin. Die vielen Furchen auf ihrem blassen Gesicht erzählten die Geschichte eines langen Lebens.

Kim wunderte sich über diesen Gedanken. Eben noch hatte sie an nichts anderes denken können als an den Tod. Jetzt betrachtete sie das Gesicht der alten Frau wie ein Buch, das Hunderte Geschichten zu erzählen hatte.

»Der Leuchtturm ist faszinierend, nicht wahr?«, fragte die Alte lächelnd. »Sie müssen ihn mal sehen, wenn das Meer so richtig tobt. Dann erkennt man ihn unter den Wellen kaum noch. Man glaubt, dass er verschluckt werden würde, doch dann taucht er wieder auf, frisch gewaschen und so unnachgiebig wie vorher.«

Kim starrte die Frau verwundert an, und dann nickte sie. »Ja … das ist sicher interessant.«

Die Frau legte den Kopf schräg und betrachtete sie. »Sie sind nicht von hier, nicht wahr? Woher kommen Sie?«

»Bristol«, antwortete Kim der Einfachheit halber, dann wandte sie das Gesicht kurz der Küste zu. Es wäre so leicht, sich jetzt nach hinten fallen zu lassen. Bis die alte Frau die Rettungskräfte geholt hätte, wäre sie längst tot. Doch ihre Entschlossenheit war verflogen. Sie würde eine andere Gelegenheit abwarten müssen.

»Bristol«, wiederholte die Alte. »Sehr schöner Ort. Als ich jung war, war ich einmal dort.«

Kim verwirrten diese Worte so sehr, dass sie nicht wusste, was sie darauf sagen sollte. Doch da streckte ihr die Alte auch schon ihre freie Hand entgegen.

»Freut mich, ich bin Janet Hathington. Bitte verzeihen Sie, wenn ich Ihre Ruhe gestört habe, aber ich komme mittlerweile nur noch selten aus dem Haus, und noch seltener treffe ich hier jemanden, der die Schönheit dieser Klippe zu würdigen weiß. Meist sieht man nur Touristenhorden, die vor lauter Fotografieren vergessen, den Augenblick zu genießen. Sie haben keine Kamera dabei, das finde ich interessant.«

Was soll jemand, der sich umbringen will, mit einer Kamera?, lag es Kim schon auf der Zunge. Eher schießt man mit dem Handy ein letztes Selfie. Allerdings war die Wahrscheinlichkeit, dass das Handy ebenso wie ihr Körper zu Bruch ging, groß.

»Ich … ich wollte einfach nur schauen«, sagte Kim ausweichend, und beinahe ärgerte sie sich ein wenig über die alte Frau. Wäre sie nicht aufgetaucht, hätte ihr Schmerz bereits ein Ende. Dennoch streckte sie ihr die Hand entgegen. »Kim Sanders.«

»Schön, Sie kennenzulernen! Darf ich Kim zu Ihnen sagen? Ich vergesse immer so furchtbar schnell Nachnamen. Komischerweise kann ich mir Vornamen sehr gut merken.«

Ein unbeabsichtigtes Lächeln huschte über Kims Gesicht. Ein wenig erinnerte die alte Frau sie an ihre eigene Großmutter, obwohl Letztere schon vor ein paar Jahren gestorben war.

»Nennen Sie mich ruhig Kim«, entgegnete sie schließlich.

»Okay, dann sagen Sie einfach Janet zu mir. Dann fühle ich mich gleich etwas jünger!« Die Frau lächelte, aber es wirkte ein wenig gezwungen. So als wüsste sie, dass das hier kein zwangloses Gespräch übers Wetter, das Meer und das Longships Lighthouse war, sondern etwas weitaus Ernsteres.

»Okay … Janet.«

Kim hatte Mühe, das Zittern, das in ihr aufstieg, zu verbergen. Noch vor einigen Minuten war ihr die Witterung egal gewesen. Jetzt drang die Kälte durch ihre Jacke, und sie bemerkte, wie scharf der Wind über ihre Wangen strich.

»Wie schön!«, flötete die alte Frau. »Wie wäre es, wenn ich Sie zu einer Tasse Tee einlade? Sie scheinen mir ganz durchgefroren zu sein. Man denkt immer, dass es ein herrlicher Tag ist, aber dann steht man hier oben und merkt, dass der Wind doch rauer ist, wenn man dem Meer so nahe ist. Selbst wenn im Binnenland alles schwitzt, kann man hier am Meer mächtig frieren.«

Besonders, wenn man ein leeres Herz hat so wie ich, dachte Kim und hörte sich sagen: »Okay. Eine Tasse Tee wäre gut.«

»Wundervoll!«, sagte die alte Frau. »Kommen Sie, lassen Sie mich bei Ihnen einhaken. Auf diesem Terrain fühle ich mich am Arm eines starken jungen Menschen sicherer als mit dem Stock.«

Das war gelogen, das wussten sie beide. Die Hand der Frau legte sich auf ihren Unterarm wie ein Rettungsgurt. Kein besonders solider, wenn Kim gewollt hätte, hätte sie die Frau mit Leichtigkeit mit sich reißen können. Doch das wollte sie nicht.

Sie weiß es, dachte Kim, als Janet und sie einen Weg einschlugen, den sie vorher noch nicht beschritten hatte. Sie weiß, dass ich mich umbringen wollte. Der Tee ist nur ein Vorwand, um mich von der Klippe wegzubringen.

Das Cottage war mit Reet gedeckt, das Fenster des Dachgeschosses wirkte wie ein großes Auge, das auf den Hof und die ankommenden Besucher hinabblickte.

Janet öffnete die Gartenpforte, von der die Farbe bereits abblätterte. Der Garten wirkte ein wenig verwildert, bunte Gladiolen und beerenfarbene Malven ragten etwas windschief zwischen abblühenden Schmuckkörbchen und einigen Stauden und Blumen auf, deren Namen Kim nicht kannte.

Ein scharfer, etwas fauliger Geruch wehte ihr entgegen, als sie dem Pflasterweg folgte. An der Oberfläche des Gartens blühte es noch, darunter faulten andere Pflanzen bereits vor sich hin.

Kim wunderte sich darüber, wie behände die alte Frau über den unebenen Weg ging – und das, obwohl sie sich auf einen Gehstock stützte. Sie selbst fühlte sich ein wenig unsicher. Wenn dieser Weg im Winter vereist war, würde sie bestimmt ausrutschen.

Janet fingerte den Schlüssel aus einem Versteck neben dem Türrahmen, dann schloss sie auf. Lavendelduft und ein leichter Hauch Zwiebel und Gurke umhüllten Kim beim Eintreten. Sie fand sich in einer einfach eingerichteten Küche wieder, die gleich an die Haustür anschloss. Das Cottage musste ein paar Jahre mehr auf dem Buckel haben als das Haus von Jakes Großvater.

Kims Blick glitt über die Kräutersträuße am Fenster. Ihre Schatten fielen auf die gegenüberliegende Wand, während sich das goldene Sonnenlicht in den blank gescheuerten Kupfertöpfen spiegelte, die unweit des Fensters an Haken von der Decke hingen.

»Setzen Sie sich doch, Kim!«, forderte Janet sie auf und deutete auf die Holzbank vor dem großen, gründlich saubergeschrubbten Tisch. Nichts außer einer leeren Blumenvase stand dort.

Kim bedankte sich und folgte ihrer Aufforderung. Die Bank knarzte leise, als sie sich setzte.

Janet brach in beinahe hektische Geschäftigkeit aus. Fast so, als fürchte sie, dass ihr Gast wieder verschwinden und seinen ursprünglichen Plan in die Tat umsetzen würde. Sie zog sich den Schal von den Schultern und ließ ihn fast achtlos auf den Stuhl an der Kopfseite des Tisches fallen. Dann holte sie einen Wasserkessel, füllte ihn, setzte ihn auf den alten Herd und legte noch ein paar Holzscheite und ein Brikett nach. Als das Feuer aufloderte, schloss sie die Herdklappe und begab sich zum Schrank, um eine Kanne und ein Päckchen Tee herauszuholen. So abgegriffen, wie das Papier aussah, war das Haltbarkeitsdatum sicher schon überschritten.

Als sie ihre Vorbereitungen abgeschlossen hatte, setzte sie sich Kim gegenüber.

»In diesem Haus haben bislang fünf Generationen der Hathingtons gelebt. Darunter meine Großeltern, meine Eltern und ich – nur dass ich durch Heirat meinen Mädchennamen verloren habe. Mein Versuch, meinen Sohn dazu zu bewegen hierzubleiben ist leider fehlgeschlagen, und mein Enkel liebt die See viel zu sehr, als dass er sich hier niederlassen würde. Doch ihm traue ich es am ehesten zu, dass er, wenn er einmal nicht mehr an Deck stehen möchte, zurückkommt. Nur hier hat er seine Verbindung zum Meer. Nur von hier aus kann er den Leuchtturm sehen.«

Ein versonnenes Lächeln huschte über Janets Gesicht. Kim fragte sich, warum sie ihr all das erzählte. Immerhin war sie eine Fremde. Darüber hinaus wollte sie gar nicht wissen, was die Geschichte dieses Hauses war.

Dass sie mitgegangen war, war lediglich ein Aufschub ihres Entschlusses gewesen.

»Wo leben Sie in Bristol?«, fragte Janet nun. Das Pfeifen des Wasserkessels rettete Kim noch einen Moment lang. Ihre Gastgeberin erhob sich und schlurfte zum Herd. So konzentriert, wie sie wirkte, erwartete sie wohl im Moment keine Antwort.

Doch Kim wusste, dass sie ihr eine geben musste.

»In der Clifton Wood Road«, antwortete sie, und das war nur halb geschwindelt. Immerhin hatte sie dort gelebt, bis sie achtzehn war und auf die Universität gegangen war. Dort hatte sie Jake kennengelernt, und als sie das Studium abgeschlossen hatte, war er es gewesen, der stolz neben ihren Eltern stand, als man ihr das Diplom überreichte.

»Und was machen Sie beruflich?«, fuhr Janet fort. Es war ihr anzumerken, dass sie mit der Clifton Wood Road nichts anzufangen wusste. Aber irgendwie schien sie das Bild, das kurz vor Kims geistigem Auge aufgeleuchtet war, erraten zu haben.

»Ich habe Betriebswirtschaft studiert und seit einigen Monaten meinen Abschluss.«

Sie hatte dieses Fach studiert, ihren Master gemacht und dann bei einer Immobilienfirma angefangen. Sie war nicht sicher, ob sie dort nach dem Ende des Urlaubs weiterarbeiten wollte. Vielleicht war dies dem Unfall geschuldet und ihrer Unfähigkeit, sich wieder ins normale Leben einzugliedern. Vielleicht hatte es auch einen anderen Grund, den sie selbst noch nicht kannte.

»Oh, das ist sehr beeindruckend. Zu meiner Zeit war es bei weitem noch nicht selbstverständlich, dass Frauen studierten. Die meisten haben sich eine Arbeit gesucht – wegen des Krieges blieb ihnen nichts anderes übrig. Aber sobald die Männer wieder da waren, kümmerten sie sich um sie und bekamen Kinder und blieben zu Hause.«

Kim fragte sich, wie alt Janet war. Irgendwann hörte das Alter auf, den Menschen weiter zu verändern. Möglicherweise war die Frau Ende siebzig, genauso gut konnte sie aber Anfang neunzig sein. Dass sie offenbar den Zweiten Weltkrieg miterlebt hatte, war ein Indiz für Mitte bis Ende achtzig.

Normalerweise hätte Kim gefragt, wie es damals so war im Krieg. Ihre Großeltern waren nicht mehr am Leben, so war sie nie in den Genuss alter Geschichten gekommen. Erst Jakes Großvater hatte ihr etwas davon erzählt. Er war bei einer Fliegerstaffel gewesen, die Jagd auf Nazis gemacht hatte. Im ersten Moment hörte sich das alles nach einem großen Abenteuer an, doch beim genaueren Hinhören hatte Kim den Schmerz in seiner Stimme erkannt, wenn er davon erzählte, dass Kameraden von ihm abgeschossen worden waren.

»Dann machen Sie hier also Urlaub? Wollen Sie sich nach dem Studium ein wenig erholen?«, riss Janet sie wieder aus ihren Gedanken. Kim blickte ihr jetzt direkt in die Augen. Das Bernsteingelb der Iris war von zahlreichen dunklen Flecken durchsetzt und wirkte an den Rändern ein wenig ausgewaschen.

Wieder durchzuckte Kim der Gedanke, dass Janet wusste, was sie wirklich vorhatte.

»Ja, ich … ich wollte mich ein wenig erholen.«

»Und wo haben Sie Ihr Gepäck?«, fragte die alte Frau weiter. »Haben Sie ein Hotel in der Stadt?«

Wenn sie nein sagte, sähe für Janet vielleicht alles nach geplantem Selbstmord aus. Das stimmte zwar, aber Kim wollte es ihr gegenüber nicht zugeben. »Ja, habe ich.«

Ein erwartungsvoller Blick traf Kim.

»Ich bin im Land’s End Hotel«, schwindelte sie. Auf ihrem Weg zu den Klippen war sie dort vorbeigekommen, ohne es wirklich genau in Augenschein zu nehmen. »Wahrscheinlich kennen Sie es …«

Verdammt, was tue ich hier?, fragte sie sich. Warum mache ich mich nicht einfach aus dem Staub?

Wie festgeklebt saß sie auf der Bank, und ihre Hände schmiegten sich an die Teetasse, deren Inhalt langsam erkaltete.

»Und ob ich das kenne! Mein George und ich haben dort geheiratet! Ich würde Sie ja fragen, ob dort immer noch alles beim Alten ist, aber ich kann nicht erwarten, dass Sie es von früher kennen, also wäre diese Frage einfach lächerlich.«

Janet kicherte in sich hinein, und für einen Moment schien sie wieder vor Augen zu haben, wie sie damals mit ihrem Mann im Hotel getanzt hatte. Einem Mann, den es offenbar nicht mehr gab.

»Es sieht ziemlich altmodisch aus, es besteht also eine Chance, dass vieles noch so ist wie früher«, antwortete sie.

»Oh, das ist schön!«, freute sich Janet. »Ich sollte meinen Enkel bitten, mit mir hinunter in die Stadt zu fahren. Ich war schon so lange nicht mehr dort.«

»Und wie … wie machen Sie das?«, fragte Kim erstaunt. »Ich meine, Sie müssen doch mal einkaufen gehen. Bringen Ihnen die Nachbarn etwas?«

»Mein Enkel versorgt mich. Und manchmal auch der Besitzer eines kleinen Ladens unten. Ich bin für sie hier oben die Wächterin der Klippen.« Ein geheimnisvolles Lächeln huschte über ihr Gesicht. Wächterin der Klippen. Das klang ziemlich cool. Jake hätte es gefallen. Und er hätte gefragt, woher der Titel kam.

»Warum nennen die Leute Sie so?«, hörte sich Kim fragen, und es schien, als hätte jemand anderes ihre Stimme gelenkt und nicht sie selbst.

»Nun, ich entstamme einer langen Ahnenreihe von Leuchtturmwärtern. Mittlerweile wird das Longships Lighthouse elektronisch betrieben, doch mein Vater war früher noch einer seiner Wärter. Und mein Großvater hat miterlebt, wie im Jahr 1898 die S. S. Blue Jacket auf den Longships zerschellte und dabei beinahe auch den Leuchtturm zerstörte.«

Janets Augen leuchteten auf, wahrscheinlich dachte sie wieder an die Geschichten, die ihr Großvater in sturmumtosten Nächten erzählt hatte. »Unsere Familie hat immer schon zum Meer gehört. Doch Dans Eltern hat es in die Stadt gezogen. Sie hatten nie viel übrig für das Meer.«

Ein trauriger Zug erschien um Janets Mund. Offenbar sah sie ihre Kinder nur selten. Und offenbar schien sich nur der Enkel wirklich um sie zu kümmern.

»Wissen Sie was?«, fragte Janet und vertrieb mit ihren Worten Kims Gedanken. »Bleiben Sie doch noch ein Weilchen bei mir. Es wird gleich Abend, und heute ist ein besonderer Tag für mich, nach so langer Zeit bin ich wieder mal bei den Klippen gewesen, und nun habe ich große Lust aufs Kochen. Mein Enkel sagt immer, ich würde zu wenig essen, und so kann ich ihm mal eine Freude machen und etwas kochen. Allerdings lohnt es sich nur, wenn ich einen Gast habe. Also, was sagen Sie?«

Kim fühlte sich von der Flut der Worte überrumpelt. Janet lud sie zum Essen ein. Das war sehr nett. Und da die Verzweiflung den letzten Rest Höflichkeit in ihr noch nicht ausgelöscht hatte, antwortete sie: »Okay … wenn Sie auch wirklich genug dahaben?«

»Ich habe immer genug in meinen Vorratskammern. Schließlich kommt Dan nur hin und wieder am Wochenende nach Hause, und das meist ganz überraschend.« Das Gesicht der alten Frau strahlte. Sie freute sich ehrlich.

Kim wurde das Herz schwer. Schade, dass Jake sie nicht kennenlernen durfte. Er hätte Janet sicher gemocht und sie in ein Gespräch über das Meer verstrickt. Am Ende des Tages hätte sie ihn wahrscheinlich adoptieren wollen. Aber Kim war anders. Eigentlich hatte sie schon gar nicht mehr hier sein wollen. Die Zeit, die sie hier verbrachte, fühlte sich irgendwie geborgt an. Und sie würde sich noch mehr Zeit borgen müssen, wie es aussah.

Nachdem sie den Tee ausgetrunken hatte, machte sich Janet mit Feuereifer an die Arbeit. So blank geschrubbt wie die Kupfertöpfe im Regal aussahen, waren sie wirklich schon lange nicht mehr benutzt worden. Und ihr Enkel hatte recht, fand Kim. Janet war ziemlich hager.

Schlechtes Gewissen überfiel Kim. Das war auch damals so gewesen, wenn sie bei Jakes Eltern zu Besuch gewesen waren. Die Hausfrau am Herd werkeln zu sehen erweckte in ihr immer den Impuls, zu fragen, ob ihre Hilfe benötigt wurde. Meist war das nicht der Fall, und meist hatte Kim auch keine Lust dazu. Doch sie wusste von Jake, dass seine Mutter es ihr übelgenommen hätte, wenn sie nicht gefragt hätte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Kim, doch Janet schüttelte den Kopf.

»Vielen Dank, Liebes, aber das hier muss ich allein machen. Sehen Sie sich doch ein wenig in meinem Haus um. Es gibt viel zu bestaunen. Wenn Sie etwas wissen möchten, fragen Sie mich ruhig.«

Einen Moment noch stand Kim beklommen im Türrahmen, dann kam sie der Aufforderung nach und trat in den Flur. Eine mit Schnitzereien verzierte Treppe führte ins obere Geschoss, an der Treppe vorbei kam man ins Wohnzimmer. Dieses wirkte auf den ersten Blick wie ein Schifffahrtsmuseum. Alles stand ordentlich an seinem Platz, aber Kim war sicher, dass sie noch nie so viele Sachen auf so einen kleinen Raum verteilt gesehen hatte. Jake hatte es eher minimalistisch gemocht. Klare Linien, viel Luft um die wenigen Möbel herum. Möbel, die seinem Großvater gehört hatten.

Solange er da gewesen war, hatte Kim der Freiraum im Haus gefallen, doch jetzt, wo er fort war, fühlte sich die Leere gespenstisch an und machte ihr den Verlust noch deutlicher.

Dieses Zimmer jedoch hätte ein Aussortieren mancher Gegenstände vielleicht nötig gehabt. Unter den unzähligen gerahmten Fotos, die offenbar aus verschiedenen Jahrhunderten stammten, war die Tapete kaum noch zu erkennen.

Kim blickte in die Gesichter von Männern mit imposanten Bärten und Meerschaumpfeifen im Mundwinkel. Hin und wieder hatten sie eine Frau neben sich, mit blumengeschmückten Hüten und weißen Kleidern. Waren das alles Janets Vorfahren? Möglicherweise war ihre Familie weit verzweigt gewesen. Oder aber sie stand in anderer Beziehung zu all den Menschen auf den Bildern.

Als sie weiterging, stieß Kim auf einige Buddelschiffe. Die S. S. Blue Jacket war auch darunter, jedenfalls behauptete das das Messingschild am Sockel. Allerdings zeigte sie der Künstler nicht zerschellt an den Longships, sondern so, wie sie wahrscheinlich die Werft verlassen hatte.

Kim ertappte sich dabei, dass sie die Flasche um ein Haar berührt hätte. Sofort zog sie die Hand wieder zurück und blickte sich um. Doch Janet werkelte noch immer in der Küche.

Kim ging weiter. Janets Sammelsurium umfasste mehr als ein Leben. Wahrscheinlich waren hier auch Dinge von ihren Vorfahren untergebracht. Immerhin hatte sie von einer langen Reihe von Leuchtturmwärtern gesprochen.

Jetzt wurde Kim klar, dass sie dem Leuchtturm vor der Küste kaum Beachtung geschenkt hatte. Dass sie sich auch noch nie darum gekümmert hatte, wie diese Leuchttürme betrieben wurden. Was sie für die Schiffe da draußen bedeuteten …

Vor einem Gemälde verharrte sie. Auch wenn sie das Longships Lighthouse nicht wirklich beachtet hatte, fiel ihr auf, dass das Bild einen anderen Leuchtturm zeigte. Er stand auf einer Landzunge, die ins Meer ragte, auf einer Klippe und war von kleinen Wirtschaftsgebäuden umgeben. In der Ferne lag Dunst über dem Meer, ein wenig davon hüllte auch die Spitze des Turms ein.

Wo mochte dieser Leuchtturm stehen?

Und wie mochte es sich anfühlen, von seiner Spitze aus über das Wasser zu blicken? Besonders dann, wenn das Meer tobte?

»Ich könnte ein Museum daraus machen, nicht wahr?«, fragte Janet plötzlich hinter ihr.

Kim riss sich vom Anblick des Bildes los. Wie lange hatte die alte Frau schon hinter ihr gestanden und sie beobachtet?

Sie löste sich vom Türrahmen und trat neben sie. »Ein wunderschönes Bild, nicht?«

»Wo steht dieser Leuchtturm?«, fragte Kim, während ihr Blick wieder zu dem Gebäude wanderte.

»Oh, diesen Turm werden Sie nirgendwo mehr finden. Er ist vor vielen Jahren abgebrannt. Er stand einige Meilen westlich von Port Isaac auf einer Klippe, so, dass man auf das Fischerdorf blicken konnte. Nachdem er im Feuer verschwunden war, beschloss man, keinen neuen Leuchtturm an dieser Stelle zu errichten. Stattdessen baute man einen neuen Turm namens Trevose Head, einige Meilen weiter westlich.«

Janets Gesicht verfinsterte sich ein wenig.

»Und wann war das?«, fragte Kim.

»Im Jahr 1815, soweit man weiß. Das einzige Zeugnis, dass es diesen Turm je gegeben hat, ist dieses Gemälde.«

Kim fragte sich, ob es eine Verbindung zwischen Janet und dem Bild gab. Stammte ihre Familie aus Port Isaac? Möglich wäre es.

Doch was geht es mich an?, sagte sich Kim. Ich habe ohnehin nichts mehr mit alldem zu schaffen.

»Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen auch noch den Rest des Hauses. Oh, ich habe eine Idee!« Die Frau klatschte in die Hände. »Wie wäre es, wenn Sie heute bei mir übernachteten? Bis das Essen fertig ist, ist es sicher schon dunkel. Wenn Sie zu Fuß unterwegs sind, könnten Sie sich im Dunkeln leicht verlaufen. Der Leuchtturm zeigt nur den Schiffen den Weg, die Menschen führt er ins Verderben.«

Ein Schauer rann über Kims Rücken. Hatte sie doch Angst? Eigentlich war ein Absturz von der Klippe genau das Verderben, nach dem sie suchte. Was sprach dagegen, nachts loszugehen? Vielleicht sollte sie es tun? Dann würde sie aus Janets Leben ebenso verschwinden wie der Leuchtturm von Port Isaac.

Aber sie wollte nicht unhöflich sein. Die alte Frau freute sich über ihren Besuch. Sie konnte nicht einfach weglaufen.

»Wenn es Ihnen keine Mühe macht«, entgegnete sie, worauf Janet die Hände hochriss.

»Keineswegs! Ach, es ist so schön, mal wieder Besuch zu haben. Sie wissen gar nicht, wie einsam die Nächte hier oben sind!«

Kim spürte einen Kloß in ihrer Kehle. Sie sträubte sich gegen eine Nacht in diesem Haus mit den vielen Seemännern und Leuchttürmen. Draußen rauschte verlockend das Meer, und noch weiter draußen war Jake gestorben und mit ihm ihre Zukunft. Wie konnte sie nur so tun, als wäre nichts?

Die alte Frau hakte sich wieder bei ihr unter. Wieder empfand Kim diese Geste als Versuch, sie am Weglaufen zu hindern, und augenblicklich versteifte sie sich. Janet schien es nicht zu spüren.

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Garten hinter dem Haus. Er ist ein wenig verwildert, und um diese Jahreszeit blüht nicht mehr ganz so viel, aber Sie können dennoch einen guten Eindruck gewinnen.«

Damit zog sie sie durch den Hintereingang des Hauses nach draußen.

3. Kapitel

Hell schien der Mond durch die Scheiben des Gästezimmers. Kim starrte auf die Gardinen, die zwar dünn waren, doch beschienen vom Licht wie eine Nebelwand alles verdeckten, was sich dahinter befand. Die Klippe war von hier ohnehin nicht zu erkennen. Doch das Rauschen des Meeres hörte man beinahe überlaut, und irgendwo da draußen spiegelte sich der Erdtrabant in den Wogen.

Janets Auftauchen und die Teestunde hatten Kims Pläne vollkommen umgeworfen. Sie, die geglaubt hatte, zu dieser Stunde nicht mehr am Leben zu sein, saß nun vor dem Fenster eines lange schon nicht mehr benutzten Gästezimmers.

In der Nacht wäre es leicht gewesen, aus dem Haus zu verschwinden, doch Kim fand zunächst keine Kraft dafür. Vielleicht kam die Energie wieder, wenn sie sich Jakes letzte Spuren auf ihrem Handy ansah. Sie fischte es aus ihrer Tasche.

Obwohl Janet ihr ein paar Shirts ihres Enkels hingelegt hatte, trug Kim ihre eigenen Klamotten, denn eigentlich hatte sie nicht vor, die ganze Nacht zu bleiben. Sie schob den kleinen Kleiderhaufen zur Seite und schaltete das Handy an. In der Zwischenzeit waren zwei Nachrichten eingegangen. Eine Kollegin fragte nach, wie es ihr ging, und ihre Mutter schrieb sie in fast demselben Wortlaut an. Alle wollten immer nur wissen, wie es ihr ging. Sie wusste, dass sie es gut meinten, aber sie konnte es nicht mehr ertragen. Es ging ihr schlecht, was sonst? Und es gab nichts, was ihr helfen konnte.

Da nicht mehr viele Nachrichten übrig waren, fand sie die, die sie suchte, auf Anhieb.

Hi Undine, habe dich am Strand gesehen und würde dich gern mal auf einen Kaffee treffen. Ein Freund hat mir die Nummer gegeben, bitte sei ihm nicht böse und mir auch nicht. Ich bin der Kerl mit der roten Badehose und dem gelben Brett, falls du dich fragst, wer dich hier zulabert. Liebe Grüße, Jake

Das war die erste Nachricht, die sie von ihm bekommen hatte. Da er ihren Namen nicht kannte, hatte er sie einfach Undine genannt. Im ersten Moment hatte sie geglaubt, dass die Nachricht nicht für sie sei, doch sie wusste, wer der Mann war. Ihn hatte sie die ganze Zeit über am Strand beobachtet und sich gefragt, wo seine Freundin sei und ob er überhaupt eine hatte. Eigentlich hatte sie mit Surfen nichts am Hut, aber er war ihr aufgefallen. Sein durchtrainierter Oberkörper, sein Lächeln, seine leuchtend blauen Augen …

In der Antwort an ihn hatte sie nach Undine gefragt und ob die Nachricht eine Verwechslung sei. Das hatte er verneint und ihr erklärt, dass er sie Undine nannte, weil sie so schön sei wie der Wassergeist. Das war der Anfang gewesen. Sie waren ausgegangen, hatten sich unterhalten und irgendwann gemerkt, dass sie an der gleichen Uni studierten. Aus dem umschwärmten Sportler und der angehenden Betriebswirtschaftlerin, die eher ein gespaltenes Verhältnis zum Wasser hatte, wurde ein Paar.

Kim verlor sich einen Moment lang in ihren Erinnerungen, dann tippte sie auf die letzte Nachricht, die sie von Jake erhalten hatte, kurz vor dem Flug.

Bin am Airport angekommen, ziemliches Mistwetter hier. Ich wünschte, ich wäre bei dir, meine Undine. Wenn der Wettbewerb vorbei ist, machen wir einen langen Urlaub, und du suchst aus, wohin es geht. Ich liebe dich! Mit tausend Küssen, dein Jake

Aus dem langen Urlaub war ebenso wie aus dem Wettbewerb nichts geworden. Diesmal hatte das Schicksal ihn nicht verschont.

In Kims Kehle zog sich etwas schmerzhaft zusammen.

Plötzlich verstand sie, warum Jake an Undine gedacht hatte. Das Meerwesen, das seine Seele erst durch die Liebe eines Menschen erhielt. Vielleicht mag ich das Meer nicht, möglicherweise habe ich Angst davor, ging es ihr durch den Kopf. Aber erst durch Jake habe ich meine Seele bekommen. Und dann wurde sie mir wieder genommen. Ich habe nichts zu verlieren.

Schwer erhob sie sich, schlüpfte in ihre Schuhe und griff nach ihrer Jacke.

Um zur Haustür zu gelangen, musste sie an der Küche vorbei. Der Geruch des Abendessens schwebte noch immer in der Luft. Wieder hatte sie Janets freundliches Lächeln und ihre milden Fragen im Kopf. Kim schloss die Augen. Sie durfte sich davon nicht ablenken lassen. Alles war bereit, auch sie. Warum nur ließ sie sich immer wieder von ihrem Vorhaben abbringen? Wäre es vielleicht doch besser gewesen, wenn sie sich in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten hätte?

Sie schlich weiter. Nur noch ein paar Schritte aus dem Haus und etwas Weg durch die Botanik. Sie hatte sich nicht gemerkt, wie sie hergekommen war, aber das Rauschen des Meeres würde sie zu den Klippen führen.

»Können Sie auch nicht schlafen?«, fragte eine Stimme aus der Dunkelheit. Kim zuckte zusammen. Als sie zur Seite blickte, sah sie Janets Umriss vor dem Fenster.

O nein! Zum zweiten Mal wurde sie ertappt. Hielt Janet hier etwa Wache?

»Nein«, antwortete Kim unsicher. Und wieder schaffte sie es nicht, den Bann, den die Stimme der Alten auf sie legte, zu durchbrechen.

»So geht es vielen, die an unsere Küste kommen«, antwortete die Frau, ohne sich zu bewegen. »Sie glauben, das Meer zu kennen, aber es überrascht sie schließlich doch.«

Kim spürte, wie ihr Entschluss erneut ins Wanken geriet. Die Worte der Frau lösten den Knoten in ihrem Magen. Ihre Arme wurden schwer, und ihre Beine waren auf einmal zu müde, um sie noch weiter zu tragen. Mühsam schlurfte sie zum Küchentisch und ließ sich auf die Bank sinken. Die Verzweiflung trieb Tränen in ihre Augen.

Die alte Frau saß immer noch ganz ruhig auf ihrem Platz. Erst jetzt erkannte Kim, dass sie nicht dem Fenster zugewandt war, sondern ihr. Als hätte sie auf sie gewartet.

»Es ist das Rauschen, nicht wahr?«, fragte sie. Kim blickte ertappt auf die Tischplatte. Wahrscheinlich sah Janet ihr Gesicht wesentlich besser, als es umgekehrt der Fall war. »Das Meer singt in der Nacht lauter als am Tag. Mögen wir es am Tag noch ignorieren, in der Nacht, wenn alle anderen Geräusche zum Erliegen kommen, hören wir es. Und so manchem raubt es den Schlaf wie ein schlechter Gedanke.«

Kim wagte noch immer nicht, von der Tischplatte aufzusehen. Ihr Blick folgte einem tiefen Kratzer, der wohl von einem Beil im Holz hinterlassen worden war.

»Nicht, dass es bei mir noch eine Bedeutung hätte«, fuhr Janet fort. »Ich bin alt und schlafe generell schlecht. In meinem Alter spürt man seinen Körper auch im Schlaf, und manchmal will sich der Schlaf auch gar nicht einstellen. Ich sitze dann hier und denke nach, versuche, mich an die Zeit zu erinnern, als ich noch jung war.«

Die Worte strichen an Kim vorbei. Warum kommt sie nicht zum Punkt?, dachte sie. Warum fragt sie nicht? Sie weiß es doch. Sie muss es wissen. Sonst würde sie hier nicht sitzen und den Ausgang bewachen wie ein Schießhund!

»Holen Sie Ihre Tasche aus dem Hotel, Kind. Kommen Sie für eine Weile her. Dann können Sie immer noch entscheiden, ob Sie leben oder sterben wollen. Geben Sie sich Zeit für den Entschluss.«

Die Worte brannten in Kim.

»Woher …« Sie konnte nicht weitersprechen. Ihre Stimme wurde zu einem Schluchzen.

»Niemand stellt sich so nahe an die Klippen«, antwortete Janet nach einer Weile. »Niemand geht ohne Gepäck irgendwohin. Ich lebe schon sehr lange hier und habe viele Besucher kommen und gehen gesehen. Ich habe auch schon miterlebt, wie jemand über die Klippe gegangen ist. Ob absichtlich oder unabsichtlich weiß ich nicht, man konnte ihn danach nicht mehr fragen. Aber ein Mensch, der an seinem Leben hängt, hält einen gewissen Sicherheitsabstand ein.«

»Und warum haben Sie mich nicht gehen lassen?« Wut ballte sich in Kims Magen zusammen. Sie fühlte sich als Versager, als Feigling.

»Weil ich gespürt habe, dass Sie noch nicht bereit sind zu gehen.«

»Ach, wirklich?«, brauste Kim auf. »Woher wollen Sie das wissen?«

»Weil Sie gleich gesprungen wären, wenn Sie es mit Ihrem Vorsatz wirklich ernst meinen würden.«

Kim spürte Janets Blick auf ihrem Scheitel. Ihre Worte hallten in ihren Ohren. Wenn Sie es mit Ihrem Vorsatz wirklich ernst meinen würden …

Hieß das, sie glaubte nicht, dass es ihr ernst war?

»Sie wissen nichts von mir, hören Sie? Sie kennen mich überhaupt nicht! Also lassen Sie mich in Ruhe!«

Kim sprang auf, warf dabei beinahe die Bank um und stürmte aus dem Haus. Sie war entschlossen! Sie würde der Alten ihre Entschlossenheit zeigen!

Sie lief zum Gartenzaun, riss ihn auf und stürmte dann an den Ginsterbüschen vorbei. Ihre Schritte hallten überlaut in ihren Ohren. Kiesel sprangen unter ihren Schuhen auf und purzelten ins Gras. Doch bevor sie überhaupt in die Nähe der Klippen kam, gaben ihre Beine nach. Sie stolperte und stürzte mit den Knien voran auf den Weg. Dann brach sie in Tränen aus, das erste Mal seit langem.

Die Welt verschwand unter einem Tränenschleier. Das Tosen des Meeres wurde vom Rauschen des Blutes in ihren Ohren übertönt. Ihre Kehle fühlte sich zerfetzt an, als hätte sie stundenlang geschrien. Dabei schluchzte sie nur ganz leise.

Für einen Moment schien Kim in einer Schutzblase verschwunden zu sein. Der Schmerz zerriss sie, Tränen verbrannten ihre Wangen, aber mehr spürte sie nicht. Nicht mal den Wind, der über ihren Rücken strich und an ihren Haaren zerrte. Das Pulsen in ihren Schläfen löschte sogar ihre Gedanken aus, als wäre sie unter Wasser und dem Tode nahe.

So blieb sie eine Weile hocken.

Janet erschien nicht. Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie Kim nicht davon abhalten können wegzulaufen. Aber wahrscheinlich ahnte sie, dass sie nicht weit gekommen war.

Dieser Gedanke, dass Janet glaubte, dass es ihr nicht ernst mit dem Sterben sei, holte Kim zurück. Es ärgerte sie, dass Janet wahrscheinlich recht hatte.

Während der vergangenen Wochen hatte Kim versucht, es sich vorzustellen. Irgendwo hatte sie gelesen, dass Ertrinken ein gnädiger Tod war, wenn man nicht dagegen ankämpfte. Ein tiefer Atemzug, die Augen schließen, sich sinken lassen – das war’s.

Doch so einfach war es wohl doch nicht. Vielleicht brauchte sie mehr Zeit.

Das Schluchzen verebbte. Nun hörte Kim den Wind, spürte, wie er kühlend über ihr Gesicht strich. Ihr Körper zitterte, und vereinzelte Schluchzer sprangen aus ihrer Kehle.

Als sie sich umwandte, sah sie Janet an der Gartenpforte stehen. Ein paar Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Dutt gelöst und umwehten ihr Gesicht. Ihr Blick war ruhig. Sie wirkte wie ein Denkmal mit einem verständnisvollen Lächeln.

Kim erhob sich und wischte sich übers Gesicht. Ihre Haut brannte, und die Augen kamen ihr nur noch wie schmale Schlitze vor. In ihren Schläfen pulsierte es schmerzhaft, aber ihr Innerstes fühlte sich gereinigt an, als wäre Regen über eine staubige und verbrannte Landschaft hinweggegangen.

Der Wunsch zu sterben war nicht verschwunden, doch er fühlte sich schwächer an. Möglicherweise war sie jetzt auch schon zu müde dafür. Wenn sie in der Dunkelheit irgendwo abrutschte und sich das Bein brach, würde alles noch viel länger dauern.

Sie senkte den Kopf und trottete zum Haus zurück. Janet stand immer noch am Gartentor. Abwartend blickte sie Kim an. Diese wagte kaum den Blick zu heben.