Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt - Frank Westermann - E-Book

Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt E-Book

Frank Westermann

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Beschreibung

Zwei Frauen und ein Mädchen auf dem Weg zum Orakel, um Informationen über eine schreckliche Bedrohung zu erhalten ... Zwei Menschen und ein Nicht-Mensch, die wissen wollen, warum Kontakte zu anderen Lebensgemeinschaften kaum noch möglich sind ... Ein Mann, der nicht begreift, weshalb sich alles um ihn herum verändert, aber niemand etwas davon bemerkt ... Was ist das für eine Gefahr, die sie spüren? Und was können sie dagegen unternehmen?

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Frank Westermann

Eine andere Realität

oder

Die Zerstörung der Welt

- Über dieses Buch -

Zwei Frauen und ein Mädchen auf dem Weg zum Orakel, um Informationen über eine schreckliche Bedrohung zu erhalten ...

Zwei Menschen und ein Nicht-Mensch, die wissen wollen, warum Kontakte zu anderen Lebensgemeinschaften kaum noch möglich sind ...

Ein Mann, der nicht begreift, weshalb sich alles um ihn herum verändert, aber niemand etwas davon bemerkt ...

Was ist das für eine Gefahr, die sie spüren?

Und was können sie dagegen unternehmen?

Handlungsträger

Die Spieler:

Zardioc - Kartenmagier

Sikrit - eine Gesandte

Travian - ein Nicht-Mensch

Steve Halloran - politischer Aktivist

Per Vantryk - sein Freund, Fotograf und Journalist

Yara - Chronistin

Laura - Wächterin und Yaras Selbst-Schwester

Fiora - Yaras Tochter

Die Gegenspieler:

Geldenkorn - Meister-Künstler

Dschempetro - Konzernchef im Schweren Lager

Boltagen - Bürgermeister von Goldentor

Peter Ritmaister - General in Woltan

Krieni - Techno-Rätin in Milnewor

Vera von Camelsanien - eine absolute Herrscherin

Weitere Personen:

Azarach - ein Wesen aus der Sphäre

Hsien - Geldenkorns Adept

Rütig - Dschempetros Spion in Woltan

Telström - Banker in Goldentor

Leanda - eine Geächtete in Farewell

1. Kapitel: Die Gesandten (I)

Sikrit war sich der Ehre bewusst, die ihr mit der Erlaubnis, das Flügelpferd reiten zu dürfen, zuteil wurde. Nur in ihren kühnsten Phantasien hatte sie sich diesen Wunschtraum erfüllt. Nun war er Wirklichkeit geworden. Firlin hatte den Antrag im Außenrat eingebracht und hatte sich über ihre Verblüffung sichtlich amüsiert. »Für diesen Auftrag ist das Beste gerade gut genug,« hatte Firlin argumentiert und war damit bei allen durchgedrungen - trotz Sheitas vehementer Einrede (aber es war zur Genüge bekannt, dass diese nur aus persönlichen Gründen erfolgt war).

Nach der Sitzung war Sikrit ihrer Freundin um den Hals gefallen und hatte sie mit Zärtlichkeiten überhäuft. Firlin hatte auch das genossen.

Sikrit lächelte in der Erinnerung an die Szene. Jetzt stand sie also vor dem weiß-rot gescheckten Pferd und streichelte vorsichtig seine Nüstern, beruhigende Worte murmelnd. Es war ihr, als ob das Flügelpferd sie misstrauisch ansah, vielleicht barg es ebenso viel Unsicherheit in seinem robusten Körper wie sie. Nach einer Weile schnaubte es leise, als wollte es damit seine Zustimmung ausdrücken.

»Ich weiß nicht, welche Namen dir andere, die dich geritten haben, gaben. Ich werde dich Khanur nennen nach der Göttin der Tapferkeit. Sie ist zwar nicht mehr besonders populär, aber der Name hat mir schon immer gefallen.«

Flügelpferde waren selten zu finden. Niemand wusste, wie viele Exemplare ihre Zahl ausmachte, aber es waren sicher nicht mehr als einige hundert. An einigen Orten wurden sie als heilige Tiere verehrt und überall nur in seltenen Fällen geritten. Soweit ihr bekannt war, war es nie gelungen, ein Flügelpferd einzufangen. In manchen Fällen entschieden sie aus unerfindlichen Gründen selbst, bei dem Menschen, der sie aufgespürt hatte zu bleiben und sich in die Obhut seiner Lebensgemeinschaft zu begeben. Aus ebenso unergründlichen Motiven verließen sie dieses Terrain wieder. Sie liefen immer frei herum, jederzeit bereit zu kommen oder zu gehen.

Unzählige Geschichten über sie machten die Runde, manche voller Bewunderung und Ehrfurcht, andere verhießen Vorsicht und Zurückhaltung.

Khanur weidete seit jeher auf einer der ausgedehnten Wiesen am Nordende des Dorfes abseits der anderen Pferde. Das erweckte den Anschein, als schreckten sie vor ihm zurück oder sie wiesen es aus irgendwelchen Gründen ab. Ein einsames Tier, das aber auch die Gesellschaft der anderen nicht suchte.

Sikrit befestigte den Rucksack auf ihrem Rücken und schob die Thermopistole zurecht. Die Waffe war ihr vom Techno-Rat zugebilligt worden. Die Bewegung erinnerte sie schmerzhaft an die Gefahren, die ihr aller Wahrscheinlichkeit nach bevorstanden. Wie fast alle Bewohnerinnen und Bewohner der matrilinen Dorfgemeinschaften verabscheute sie Gewalt - körperliche noch mehr als psychische. Als eine von wenigen war sie im Gebrauch von Waffen ausgebildet, aber sie hatte auf ihren Reisen erst einmal davon Gebrauch gemacht. Es war ihr nicht leicht gefallen, aber sie hatte nicht gezögert und kein schlechtes Gewissen quälte sie. Es hatte ihren Ruf als Pragmatikerin gefestigt.

Sie schätzte es allerdings weitaus mehr, wenn ihr normales Durchsetzungsvermögen ausreichte, gerade deshalb wurde sie so oft auf Botschaftsritte geschickt. Außerdem hatte sie damals ein Messer benutzt. Sie konnte sich an keinen Fall erinnern, an dem Hochenergiewaffen ausgeteilt worden waren.

Khanur war ein kleines Exemplar seiner Rasse, so dass sie sich ohne Mühe auf seinen Rücken schwingen konnte. Klein, aber kräftig. Wahrscheinlich konnte es ohne Anstrengung eine weitere Person ihres Gewichtes tragen.

Es war früher Morgen, die Sonne hatte sich gerade erst über den Horizont geschoben, aber einige dunkle Wolken kündigten schon an, dass sich ihre Wärme nicht lange halten würde.

Sikrit sah kurz zurück auf die ersten Häuser des Dorfes, das noch in friedlicher Stille ruhte. Vielleicht würde dieser Friede nicht mehr von langer Dauer sein, wenn sich Firlins Vermutungen bewahrheiteten oder die umlaufenden Gerüchte zu Tatsachen wurden.

Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten der Bäume, die die Wiese von allen Seiten umschlossen, und kam auf sie zu. Mit Erstaunen erkannte sie Sheita. Eher noch hätte sie Firlin erwartet, von der sie sich allerdings schon in der letzten Nacht liebevoll verabschiedet hatte. Ihr wurde etwas ungemütlich, als die junge Frau, die in gewisser Weise eine Rivalin Firlins war, näher trat.

»Ich möchte dir viel Glück auf deiner Reise wünschen, Sikrit,« begrüßte sie die hoch gewachsene, weißhaarige Techno-Expertin. »Ich möchte dir außerdem zu verstehen geben, dass ich weder aus Bosheit noch aus einer üblen Laune heraus gegen deine und Firlins Ideen opponiert habe. Meine Gründe, die ich in den Räten ausführlich dargelegt habe, entsprechen meiner Überzeugung und haben nichts mit meiner Beziehung zu euch zu tun. Ein anderes Motiv allerdings, das ich nur zu gut vor mir selbst versteckt hatte, ist mir erst vor kurzem offenbar geworden. Ich gebe zu, es fällt mir schwer, so offen gerade mit dir zu reden, aber du sollst nicht aufbrechen, ohne darüber Bescheid zu wissen. Ein wesentliches Merkmal, das mein Verhalten bestimmte, war einfach Angst.«

Sikrits Augen weiteten sich und ihre rechte Hand krallte sich in die Mähne Khanurs. Angst? Wie konnte gerade Sheita Angst haben und wovor? Die Frau hatte für sie immer den Inbegriff des Mutes und der Furchtlosigkeit dargestellt.

»Ich sehe Ungläubigkeit in deinen Augen,« fuhr Sheita fort, »aber du hast dich nicht verhört. Meine Angst beruht auf dem Bemühen, unsere Dörfer nicht in Gefahr zu bringen und ein neues Aufbäumen patriarchaler Gewaltstrukturen wie zuletzt in den paratechnischen Jahrzehnten von uns abzuwenden. Diesem Bestreben ordne ich alles andere unter. Und sollte sich diese Gefahr, von der ihr redet, als real erweisen, so fürchte ich um unsere Gemeinschaften. Denn was könnte uns stärker bedrohen als ein Zusammenschluss barbarischer, patriarchaler Horden, die zum wiederholten Mal ein finsteres Zeitalter für uns heraufbeschwören wollen?«

»Ich weiss nicht,« meinte Sikrit stockend. Sheitas pathetische Wortwahl hatte sie schon immer unangenehm berührt. »Ich habe mir über die Natur dieser Gefahr keine weitergehenden Gedanken gemacht, da uns jeglicher Anhaltspunkt fehlt. Warum nimmst du an, die Struktur unserer Lebensgemeinschaft könnte bedroht sein?«

»Darauf kann ich dir keine Antwort geben. Meine Angst manifestiert sich lediglich aus dumpfen Ahnungen heraus, doch darauf wirst du nichts geben, weil du zu sehr Realistin bist. Ich hoffe bei den Göttinnen, dass ich Unrecht habe und dass deine Mission negativ verläuft.«

Sie nahm Sikrits Hand, drückte sie fest und entfernte sich dann mit schnellen Schritten.

Bei Ceris, sie ist ja richtig aufgewühlt, dachte Sikrit und sah ihr nach, bis ihre Silhouette in der Morgendämmerung mit den Schatten der Häuser verschmolzen war. Dann schüttelte sie heftig den Kopf und straffte ihre schlanke Gestalt, als wollte sie düstere Gedanken vertreiben.

»Auf gehts, Khanur,« trieb sie das Flügelpferd an, das daraufhin in einen leichten Trab verfiel.

Als das Dorf nicht mehr zu sehen war, steigerte Khanur seine Geschwindigkeit zu einem schnellen Galopp, entfaltete seine weissen Flügel, ein kurzer Ruck durchfuhr Pferd und Reiterin, dann berührten die Hufe den Boden nicht mehr und sie gewannen langsam aber stetig an Höhe.

Die Momente der ersten Panik, in denen Sikrit ihre Hände in der Mähne Khanurs verkrallte, vergingen rascher, als sie es sich vorgestellt hatte. Es war, als ginge ein beruhigender Einfluss von dem Pferd aus. Sie fühlte Erleichterung. Und bald bewunderte Sikrit, unsicher aber voller Zuversicht und Staunen, wie die gesprenkelten Landschaften unter ihnen vorbei glitten.

In den folgenden Tagen hatte sich ein nie gekanntes Hochgefühl eingestellt. Der Traum vom Fliegen war wahr geworden und sie konnte nicht genug davon bekommen. Das Gefühl des Losgelöstseins von der Welt, die ihr als verkleinertes Abbild zu Füßen lag, ergriff sie mit jeder Flugphase von neuem. Alles schien an Bedeutung zu verlieren, nur Khanur und sie gehörten der Wirklichkeit an. Bisher war die Reise ohne Mühe verlaufen, es hatte keinerlei Schwierigkeiten mit den Gemeinschaften gegeben, deren Obhut sie sich nachts anvertraut hatten und die sie wieder auf den »Boden« der Realität zurückbrachten. Sie machte kaum Gebrauch von den zahllosen GesprächsangeGesandten und ließ nichts über den Zweck ihrer Reise verlauten. Sie bemerkte allerdings auch nichts von einer unbestimmten Gefahr. Die Gerüchte, die ihr in der Heimat zu Ohren gekommen waren, schienen aus der Luft gegriffen.

Das Wetter hatte kaum Anlass zur Klage gegeben. Es wurde zwar kühler, je weiter sie nach Norden vordrangen, und einige starke Regenschauer zwangen Khanur zur Landung, aber im allgemeinen kamen sie zügig voran und lagen durchaus innerhalb der Zeitplanung.

Von nun an erstreckte sich unbekanntes Terrain vor ihnen, doch wenn sie nicht einen weiten Umweg in Kauf nehmen wollten, mussten sie dieses Gebiet überqueren.

Es handelte sich um einen sogenannten Magischen Bereich. Länder, in denen bevorzugt magische Kräfte gebräuchlich waren, stellten keine Ausnahmeerscheinung auf der Erde dar. Sie waren meist im östlichen Teil der Welt zu finden und weitgehend isoliert geblieben.

Aus Erzählungen wusste Sikrit, dass sich die Sitten und Gebräuche der Lebensgemeinschaften der östlichen Hemisphäre derart von denen der westlichen unterschieden, dass sie kaum verständlich waren. Es handelte sich eben um Kulturen, die auf einer völlig anderen Basis aufgebaut waren. Sie musste allerdings zugeben, dass sie persönlich keinen Menschen kannte, der jemals in eines der Magischen Länder vorgestoßen war, und so blieb eine gewisse Skepsis über den Aussagewert dieser Erzählungen.

Ebenso wie es Ausläufer technischer oder post-technischer Kulturen im Osten der Welt gab, existierten Magische Bereiche vereinzelt in der Westhälfte. Um einen solchen Bereich handelte es sich hier.

Im Allgemeinen wurden Magische Bereiche gemieden und umgangen, und ihr war kein Beispiel bekannt, dass je Personen oder irgendetwas anderes daraus in die ihr bekannte Welt eingedrungen wären. Diese Zonen waren tabu. Sie stellten keinerlei Bedrohung dar, bereiteten aber naturgemäß den Menschen, die nahe ihren Grenzen lebten, Unbehagen und Unannehmlichkeiten und man machte Umwege um diese Gebiete.

Es war unbekannt, nach welchen Regeln das Leben in den Magischen Bereichen verlief. Es war die Rede von wunderlichen und beängstigenden Vorgängen, aber diese Geschichten entbehrten jeder Grundlage. Menschen neigten nun mal dazu, dem Unbekannten ihre eigenen verborgenen Ängste anzudichten. Natürlich hatte es wagemutige Frauen und Männer gegeben, die in Magische Zonen vorgedrungen waren, sei es aus Neugier, Forschungsdrang oder als Ausspähungsversuch. Sie wurden nie wieder gesehen. Anders verhielt es sich bei Menschen, die ohne Wissen und Absicht dort hineingeraten waren: sie tauchten unversehrt wieder auf und berichteten - mit geringen Abweichungen in ihren Erzählungen -, dass es sich um verlassene Landstriche handelte, die lediglich einige bekannte Tierarten aber keine Menschen beherbergten. Es wurde vermutet, dass sie nicht die wirkliche magische Welt zu sehen bekommen hatten oder ihnen die Erinnerung daran auf irgendeine Weise genommen worden war. So erwiesen sich diese Augenzeugenberichte als nutzlos.

Auch in der westlichen Welt waren Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten und Begabungen bekannt und Bezeichnungen wie Zauberinnen, Magier, Hellsichtige, Thaumaturgen oder Psi-Begabte waren durchaus geläufig. Meist waren sie integriert in das alltägliche Leben der Gemeinschaften, nur in wenigen Kulturen spielten sie eine besondere Rolle. Sie beherrschten nicht den Lauf der Dinge, ihre Fähigkeiten wurden so selbstverständlich wie die anderer Menschen in Anspruch genommen und ihnen blieb ebenso der Kontakt zu den magischen Bereichen verwehrt.

In einigen Lebensgemeinschaften fungierten sie als Ratgeber, da ihnen Wissen um ein erweitertes Weltbild zugesprochen wurde und in seltenen Fällen hatten sich Kulte um sie herum gebildet.

All das kannte Sikrit aus eigener Erfahrung, ihre Reisen hatten sie selbst in entlegene Gegenden des Kontinents geführt. Doch ein Magischer Bereich war eine andere Sache.

Sie war nicht gefeit gegen die unbestimmten Ängste, die das Geheimnisvolle erzeugt, vertraute aber auf die Friedfertigkeit ihrer Mission und ihre Absicht, sich lediglich einen Umweg zu ersparen. Trotzdem hatte sie vorsichtshalber ihre »Rüstung« angelegt, die ihr Sicherheit geben sollte, obwohl sie sie im Ernstfall wahrscheinlich nicht schützen konnte. Die Rüstung war ihr zusammen mit der Thermowaffe übergeben worden und bestand aus Jacke und Hose aus einem Material, das sich wie Leder anfühlte und sogar Schutz vor Schüssen aus Energiewaffen bieten sollte. Das war sicherlich eine Übertreibung, und Sikrit hoffte, gar nicht erst in eine Situation zu geraten, in der die Rüstung einem solchen Test unterworfen wurde.

Weiter nahm sie sich vor, mit Khanur höher als gewohnt zu fliegen, so dass Ausspähungsversuche von vornherein ausgeschlossen waren. Mehr konnte sie nicht tun.

Jetzt, im Anflug auf den Grenzbereich zur Magischen Zone, kamen ihr Zweifel, ob es wirklich angebracht war, gerade in ihrer Angelegenheit das Risiko auf sich zu nehmen. Schließlich sollte sie sich ausdrücklich nicht m Gefahr begeben, bevor sie ihr Ziel erreicht hatte. Und wenn nun ihr Auftrag mit den Magischen Ländern in Zusammenhang stand?

Doch das war Spekulation und eine Umkehr nicht mehr möglich.

Die Überquerung der Grenze machte sich wie ein körperlicher Schlag bemerkbar. Khanur flatterte kurze Zeit hilflos mit den Flügeln, als ob die Luft an Dichte verloren hätte, und es fühlte sich an, als fielen sie in ein Luftloch. Sikrit merkte, wie ein Schwall von Übelkeit und Erbrechen in ihr hochstieg.

»Zurück,« wollte sie schreien. »Wir müssen umkehren!«

Aber die Worte drangen wie träge, blubbernde Blasen aus ihrem Mund, und die Töne lösten sich vor ihren Lippen auf. Ein widerlicher Geruch stach ihr in die Nase, und kaum hatte Khanur sein Gleichgewicht wiedergefunden, warf ihn eine starke Kraft aus der Flugrichtung und ein unwiderstehlicher Sog zerrte sie und das Pferd dem Erdboden entgegen.

Sikrit versuchte den Schock über die unerwartete Attacke zu vertreiben.

Ihre schlimmsten Befürchtungen waren übertroffen worden.

Khanur stemmte sich verzweifelt gegen den Einfluss, der sie nach unten zog, aber je mehr er kämpfte, desto stärker schien die Kraft zu werden.

Sikrit selbst war hilflos bei diesem Kampf. Sie sah den Schaum vor Khanurs Nüstern in großen Flocken wie durch ein Vergrößerungsglas davonfliegen. Die Farbe des Himmels um sie herum hatte sich verändert. Aus dem dunklen Blau war ein verwaschenes Grau geworden, von schwefelgelben Adern durchzogen. Die Perspektive hatte sich auf unheimliche Weise verzerrt: der Erdboden schien direkt vor ihren Augen zu liegen, während ihre Arme sich kilometerweit entfernt um Khanurs Hals schlangen, als ob sie nicht mehr zu ihrem Körper gehörten. Dazu erklang ein schrilles Heulen, das ihre Ohren marterte und beständig anwuchs.

Mein gesamter Wahrnehmungsbereich wird angegriffen, dachte sie erstaunlich klar. Ich darf mich davon nicht überwältigen lassen. Bloß nicht das Gleichgewicht verlieren!

Zumindest die Augen konnte sie schließen und versuchen, sich auf ihr inneres Kräftereservoir zu konzentrieren. Die Übung war schwierig unter diesen Umständen, aber sie bekam einen Zipfel der Energie zu fassen, die ihr sonst ungehindert zur Verfügung stand.

»Trugbilder, Illusionen!« schrie sie ihre Wut heraus und öffnete ihre Augen wieder. Mit solchen Tricks werdet ihr mich nicht hereinlegen!«

Khanur landete mühsam. Mit zitternden Beinen stand er in der Nähe zweier riesiger Bäume, die sich wie Ungetüme aus der flachen Landschaft erhoben. Sikrit stellte erleichtert fest, dass die Perspektivverschiebungen aufgehört hatten. Auch das erbarmungswürdige Heulen war abgeklungen. Nur der Himmel drohte weiter in düsteren Farben und das Gras und die Bäume besaßen eine fremdartige, bläuliche Kolorierung.

Sie stieg von Khanurs Rücken und zog die Thermowaffe, um sich und das Pferd gegen weitere Angriffe zu verteidigen. Mit beiden Beinen auf der Erde und einem kräftigen Baumstamm im Rücken fühlte sie sich wesentlich wohler als zuvor. Sie konnte ungehindert bis zum Horizont blicken, entdeckte aber kein Lebewesen. Die eingekehrte Stille wirkte fast bedrohlicher als die unheimlichen Geräusche, selbst der Wind schien eine Pause eingelegt zu haben.

Obwohl Sikrit um das Trügerische der Situation wusste, kam der Überfall völlig überraschend.

Von allen Seiten prasselten Schläge und Tritte auf sie ein und zwangen sie auf die Knie. Nach wie vor war kein Mensch zu sehen, doch das war nur eine weitere Illusion aus der Trickkiste der Angreifer. Mit einem Schmerzensschrei sprang Sikrit zurück in ihre Verteidigungsstellung. Ihr Finger krümmte sich um den Abzug der Thermowaffe, doch die Energieblitze wurden einige Meter vor ihr von unsichtbaren Hindernissen verschluckt. Obwohl sie ihre Gegner nicht erkennen konnte, hatte sie den Eindruck, dass ihre Schüsse irgend- welche Ziele trafen, denn sie vernahm stöhnende und angstvolle Laute und ein klägliches Wimmern.

Der vermeintliche Erfolg gab ihr neuen Mut. Ihr Körper handelte jetzt automatisch nach einem eingeübten Schema. Sie schwang die Pistole in einem Halbkreis, die Attacken auf sie ließen nach.

Es schien, als hätten die Angreifer nicht mit Widerstand gerechnet, aber sie war sich darüber im Klaren, dass sie sich auf Dauer in einer besseren Position befanden. Ihre Unsichtbarkeit schützte sie, und sobald sie ihre plumpe Taktik änderten, hatte sie kaum eine Chance gegen die Übermacht. Sie konnte froh sein, dass die Angreifer bisher auf Waffen verzichtet hatten - auch das konnte sich schnell ändern.

Der einzige Ausweg bestand in der Flucht, Khanur stand nur wenige Schritte von ihr entfernt. Er war bisher nicht belästigt worden und wirkte verwirrt, aber einigermaßen erholt. Ein kurzer Galopp bis hinter die Grenze in bekanntes Gebiet musste ausreichen. Sikrit schöpfte neue Hoffnung.

2. Kapitel: Die Gesandten (II)

Der Regen stürzte seit Stunden mit erbarmungsloser Monotonie vom nachtdunklen Himmel. Eine dichte Wolkendecke verbarg Mond und Sterne, so dass die Konturen der Landschaft nicht zu erkennen waren.

Die Hufschlage des Pferdes, das in leichtem Trab zwischen den Bäumen hervorkam ertranken in dem steten Rauschen. Sein Reiter stieß einen erleichterten Laut aus, als er schließlich gewahr wurde, dass der Wald hier ein Ende nahm. Er wischte sich in einer mechanischen Handbewegung die Nässe aus dem Gesicht und hielt das Pferd kurz an, um sich zu orientieren. Es dauerte eine Weile, bis er in der Ferne endlich das schimmernde Licht von erleuchteten Fenstern entdeckte. Das Gasthaus. Es musste das Gasthaus sein. Er seufzte erneut vor Erleichterung.

Die letzte Etappe war die anstrengendste gewesen. Der Regen hatte ihn überrascht, nachdem er die Ansiedlung weit hinter sich gelassen hatte, und es war ihm keine andere Wahl geblieben, als den Ritt bis zum Gasthaus fortzusetzen. Außerdem wollte er rechtzeitig ankommen. Das Plätschern des Regens hatte ihn schläfrig gemacht, trotzdem musste er sich besonders in dem Waldstück auf den Weg konzentrieren und jetzt war er erschöpft und ausgepumpt .

Der Reiter gab dem Pferd einen aufmunternden Klaps, der es zu einer schnelleren Gangart veranlasste. Auf dem restlichen Wegstück würde er so besser vorankommen, obwohl er vorsichtig blieb, denn die Straße hatte sich inzwischen in ein Gemisch aus Matsch und losem Geröll aufgelöst und ihre Begrenzungen waren in der Dunkelheit kaum erkennbar.

Langsam freundete er sich mit dem Gedanken an, dass er in Kürze eine warme Mahlzeit sowie ein Zimmer mit Ofen und Bett erhalten würde. In den letzten Stunden hatten seine Gedanken nur dem Zweck gegolten, den Weg nicht zu verfehlen und sein Pferd nicht stürzen zu lassen.

Welcher vernünftige Mensch war bei so einem Unwetter auch unterwegs?

Doch sein Ehrgeiz, den ersten Stichtag nicht zu verpassen, hatte ihm angetrieben. Er wollte endlich wissen, wofür er diese Strapazen auf sich genommen hatte, die Welt außerhalb seiner Heimat hatte ihn verunsichert und allzu heftig aus gewohnten Bahnen gerissen.

Nun sah es so aus, als hätte er es geschafft, aber es war mitten in der Nacht und er war bis auf die Haut durchnässt.

»Ich werde mir zumindest eine Erkältung holen,« brummte er frierend vor sich hin, während das Gasthaus langsam in erreichbare Nähe rückte. »Da werden mir auch Leandas Kräuter nicht helfen.«

Gegen die Gewalten der Natur versagten eben auch die üblichen Schutzzauber .

Er nickte zufrieden, als er die Beschriftung über der matt erleuchteten Tür des Gasthauses las. Er brauchte immer diese letzte Bestätigung dafür, dass er nichts falsch gemacht hatte.

Als er vom Pferd stieg, wäre er fast auf dem schlüpfrigen Boden ausgerutscht, wenn er sich nicht noch an die Mähne des Tieres geklammert hätte. Das Pferd drehte den Kopf und schaute ihn verwundert an, als begriffe es nicht, und der Mann musste lächeln. Doch gleich darauf überzog sich sein Gesicht wieder mit jenem mürrischen Ausdruck, mit dem er seit Tagen seine Umgebung abschreckte. In dem Licht der Laterne über dem Eingang schälten sich die Konturen von Pferd und Reiter nun deutlicher heraus.

 

Der Mann war sehr groß und hager und ganz in Schwarz gekleidet: schwarze Stiefel, schwarze Hosen und einen schwarzen Umhang. Auch seine Hautfarbe war ein tiefes Schwarz, das verschlossene Gesicht wirkte kantig, verriet aber in seiner Unfertigkeit das junge Alter.

Er schnallte die Satteltasche ab, dann nahm den breitkrempigen Hut vom Kopf, schüttelte das Regenwasser von ihm ab und stieg die wenigen Stufen zur Eingangstür hinauf. Sein Pferd, eine kräftige, schwarze Stute, blieb gehorsam an ihrem Platz stehen.

Die Tür führte direkt in die hell erleuchtete Gaststube. Zu dieser Stunde hielten sich nur noch wenige Gäste darin auf, die alle um einen klobigen runden Tisch gruppiert saßen und einen ziemlich betrunkenen Eindruck erweckten.

Wahrscheinlich irgendeine Handelsgruppe, dachte der Ankömmling und ließ seinen Blick schnell über die Gesichter streifen. Es handelte sich ausnahmslos um Menschen, und der Bote befand sich mit Gewissheit nicht unter ihnen. Er empfing kein entsprechendes Signal. Einige von ihnen sahen ihn staunend an. Wahrscheinlich waren sie nicht an seine Hautfarbe gewöhnt. Wie oft hatten ihn die Menschen in Farewell, die ihn aus irgendeinem Grund nicht leiden konnten, hinter vorgehaltener Grund »Schwarzer« oder »den Schwarzen« genannt. Denn selbst in seinem Heimatort, in dem der weitaus überwiegende Teil der Bewohner von dunkler Hautfarbe war, stach er durch sein tiefes Schwarz hervor. Andererseits hatte er sich auch erst daran gewöhnen müssen, dass er auf seiner Reise so viele hellhäutige Menschen zu Gesicht bekommen hatte.

Der Wirt, der offensichtlich dabei war aufzuräumen und zu schließen, sah erstaunt von seiner Arbeit auf, als die schwarze Gestalt den Schankraum betrat. Missmutig betrachtete er die Pfütze, die sich an der Stelle bildete, an der der neue Gast stehengeblieben war, um sich umzusehen.

»Haben Sie noch ein Zimmer für mich?« fragte die schwarze Gestalt. Seine Stimme klang ungeduldig im abgehackten Dialekt der Bergvölker.

Der Angesprochene war ein grobknochiger stämmiger Mann mit zerzaustem, roten Haar, dem anzumerken war, dass er den Ankömmling am liebsten wieder hinausgesetzt hätte. Doch dies verbot sich ihm schon angesichts der fortgeschrittenen Zeit und des miserablen Wetters.

»Natürlich,« knurrte er. »Es gibt allerdings kein Bad.«

Der schwarz Gekleidete nickte abwesend und sah sich genauer um: der Schankraum war nüchtern und zweckmäßig eingerichtet mit einer Theke am anderen Ende und gradlinig aufgestellten Tischreihen verschiedener Größe. Es war durchweg gutes Holz für das Mobiliar verwandt worden, dessen dunkle Farbgebung eine gewisse Düsterkeit hervorrief. Weiterhin fiel ihm die elektrische Beleuchtung auf, die Gegend war also an ein funktionierendes Stromnetz angeschlossen, was in seiner Heimat durchaus nicht selbstverständlich war.

»Ich muss mein Pferd unterstellen,« fuhr er fort. »Gibt es hier einen Stall oder etwas Ähnliches?«

Links um die Ecke, antwortete der Wirt, der sich in seiner Arbeit nicht beirren ließ. »Es stehen noch andere Reittiere dort. Passen Sie auf, dass Sie den Kadu nicht stören, die Viecher mögen das nicht.«

Der Mann nickte wieder, obwohl er nicht wusste, was ein Kadu war.

 

Nachdem er seinen Rappen untergebracht und versorgt hatte, ließ er sich vom Wirt sein Zimmer zeigen. Die anderen Gäste waren inzwischen zu Bett gegangen, und der Wirt beeilte sich, um ebenfalls seinen verdienten Schlaf zu bekommen. Es ging eine schmale Holztreppe hinauf, die bis unter das Dach führte. Das Zimmer ähnelte eher einer Abstellkammer, in die notdürftig ein Bett, ein Ofen, ein Tisch und ein Stuhl hineingeschoben worden waren. Der Mann war sicher, dass es noch komfortablere freie Zimmer gab, aber der Wirt hatte ihn als Störenfried auserkoren und das bekam er nun zu spüren. Vielleicht hielt er ihn auch für einen Spinner in seiner schwarzen Aufmachung, deren Bedeutung er nicht kennen konnte.

»Die Kosten für das Zimmer sind für jeden Tag im Voraus zu bezahlen.«

Der hagere Mann drehte sich zu ihm um. Seine schwarzen Augen blitzten den kleineren an.

»Glauben Sie, ich habe kein Geld für diese Unterkunft?« Er betonte das vorletzte Wort scharf. Er war nahe daran, den aufgestauten Ärger der vergangenen Tage an dem Wirt auszulassen.

»Wenn es Ihnen nicht gefällt, können Sie jederzeit wieder gehen,« forderte ihn dieser unerschrocken auf.

Der Hagere schwieg und suchte in seiner Tasche nach den Münzen. Es war das erste Mal, dass er Geld benötigte. Dort, wo er herkam, war das Wort Bezahlung unbekannt. Er warf dem Wirt die Münzen zu. Was hatte er davon, sich mit dem Mann anzulegen? Er war auf die Unterkunft angewiesen, der Treffpunkt war eindeutig festgelegt und außerdem musste er sich langsam an die hiesige Profit-Mentalität gewöhnen.

Und schließlich galten seine gesammelten Aggressionen nicht diesem Mann, sondern eher den Umständen, die dazu geführt hatten, dass er sich nun in dieser unerfreulichen Lage befand. Er fragte sich zum wiederholten Mal, was ihn nun genau dazu bewogen hatte, sich auf diese vage umrissene »Mission« zu begeben. Waren die Zeichen wirklich so schrecklich gewesen oder wollte er nicht vielmehr dem eingefahrenen Trott in Farewell entkommen, nach dem er sich inzwischen öfter zurückgesehnt hatte? Nun, heute Nacht würde er sich mit derartigen Grübeleien bestimmt nicht mehr abgeben, dazu war er viel zu müde.

 

Als der Wirt gegangen war, machte er sich daran, den Ofen anzufeuern. Zum Glück reichte ein einfacher Spruch, um Holz und Kohlen zum Entflammen zu bringen. Auf eine warme Mahlzeit würde er wohl vorerst verzichten müssen. Er packte ein paar vom Regen durchweichte Scheiben Brot aus. Das würde bis morgen früh reichen müssen, im letzten Ort war man auch nicht besonders gastfreundlich zu ihm gewesen.

Der kleine Raum wurde schnell warm. Erleichtert zog er seine Sachen aus und verteilte sie vor dem Ofen, damit sie eventuell bis zum nächsten Tag trocknen konnten. Bevor er zu Bett ging, zog er noch das wasserdicht verpackte Kartenspiel aus der Tasche seines Umhangs. Doch es entglitt seinen klammen Fingern und fiel zu Boden. Er fluchte leise. Angesichts dieses unliebsamen Vorzeichens verzichtete er darauf, eine Karte zu ziehen.

Düster starrte er eine Weile vor sich hin, ehe er die wollene Bettdecke bis zum Kinn hochzog und das Licht löschte. Bevor das Gefühl von Einsamkeit weiter an ihm nagen konnte, war er eingeschlafen.

 

Obwohl er zu so später Stunde ins Bett gekommen war, wachte Zardioc am nächsten Morgen früh auf. In der Dachkammer war es angenehm warm, der Ofen knisterte leise vor sich hin. Wieder zwang er sich dazu, seinen lauernden Gedanken nicht nachzuhängen, und stand sofort auf. Seine Stimmung verschlechterte sich noch, als er merkte, dass seine Kleidung noch nicht völlig trocken war. Er hatte in der Eile nur Unterwäsche zum Wechseln mitgenommen und musste die Sachen anziehen. Er nahm sich vor, demnächst einiges einzukaufen, in seinen Satteltaschen war Platz genug. Zum Glück war wenigstens von einer Erkältung nichts zu spüren, aber sein Pessimismus sagte ihm, dass das durchaus noch kommen konnte.

Dann ging er einen Stock tiefer, um dort die Toilette auf dem Flur zu benutzen. Als er die Tür zum Waschraum öffnete, blickte ihm von der gegenüberliegenden Wand sein schwarzes Spiegelbild entgegen. Mit einem Fluch auf den Lippen zertrümmerte er den Spiegel in einer Reflexbewegung mit dem Ellbogen.

»Der Tag fängt so an, wie der andere aufgehört hat,« murmelte er zwischen den Zähnen und betrachtete seinen am Arm eingerissenen Pullover.

Spiegel brachten Unglück. Dieser Glaubenssatz der Magier-Gilde war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Was in einem Spiegel erschien, tat so, als wäre es die Wirklichkeit, war aber eine Täuschung. In ganz Farewell hingen Spiegel deshalb nur an ganz bestimmten dafür vorgesehenen Stellen.

Mit dem Fuß kehrte Zardioc die Scherben in einer Ecke zusammen. Ein Grund mehr für den Wirt, sich über ihn aufzuregen.

 

Nachdem er sich frisch gemacht hatte, ging er in die Gaststube hinunter, um sich ein ausgiebiges Frühstück zu bestellen. Gestern hatte er nur von trockenem Brot und einigen unterwegs gepflückten Früchten gelebt, und sein Magen machte sich unmissverständlich bemerkbar.

Wie er erwartet hatte, war er der erste Gast - er brauchte eben nicht viel Schlaf -, nur der Wirt war schon auf den Beinen. Er sah misstrauisch zu ihm hinüber, als er es sich in einer Ecke bequem machte. Nach einer Weile machte er Zardioc klar, dass er noch warten müsse, es wäre noch keine Frühstückszeit. Er nahm es gelassen hin und stand wieder auf, um nach seinem Pferd zu sehen.

Draußen war es noch immer bewölkt und windig, aber es hatte aufgehört zu regnen. Die Luft war frisch und empfindlich kühl, und Zardioc zog seinen Umhang enger um sich, als er zum Stall hinüberging.

Der Rappe begrüßte ihn mit leichtem Schnauben und rieb seine Schnauze an ihm. Noch mehrere andere Pferde waren im Stall festgebunden, meist ziemlich abgemagerte Gäule, denen der Mangel an Pflege anzusehen war. Zardioc vergewisserte sich, dass genug Heu und Wasser bereitstand, als er ein krächzendes Geräusch aus dem hinteren Teil des Stalles vernahm. Neugierig trat er näher und erblickte, abgesondert von den anderen Reittieren, einen majestätisch aufgerichteten straußenähnlichen Laufvogel. Das Gefieder schimmerte in glänzendem Weiss und war sorgfältig geputzt. Neben dem Laufvogel lag ein seltsam geformter, reich verzierter Sattel.

Der Kadu, vermutete Zardioc und fragte sich, wem das Tier wohl gehören mochte. Es wirkte noch mehr wie ein Fremdkörper als sein Rappe.

Dann verließ er den Stall und ging noch eine Weile vor dem Gasthaus auf und ab.

 

Anstatt leichter fiel es ihm immer schwerer, sich an die fremden Sitten und Gebräuche anzupassen. Er stammte eben aus einer Gemeinschaft, in der alles in recht engen Bahnen verlief, eine Tatsache, die ihm erst jetzt so richtig zu Bewusstsein gekommen war. Noch nie hatte er sich so weit von Farewell entfernt, das war auch nicht üblich, sie waren eine sehr bodenständige Gemeinschaft. Er fühlte sich unsicher und verlassen ohne die vertrauten Gesichter und Stimmen um sich herum, er vermisste den Schutz der Gilde und Familie, wär hinausgeschleudert in ein fremdes Universum. Aus der anfänglichen Neugier war schnell Angst geworden, er vermied Kontakte zu anderen, genoss eher schon den Ritt durch unbewohnte Gebiete des Landes und die Einsamkeit. Gleichzeitig spürte er ein heftiges Verlangen nach Nähe und Gedankenaustausch, aber das blieb unerreichbar für ihn, die Kluft in ihm selbst war zu groß.

Der Umgang mit Geld war eine weitere Barriere zu dem Abschnitt, der vielleicht noch vor ihm lag. Er war es nicht gewöhnt, sich darüber Gedanken zu machen, was wie viel kostete und welche Bequemlichkeit man für eine bestimmte Summe erwarten konnte. Auch das Verhalten der Menschen zueinander schien sich mehr danach zu richten, welcher Wert einander zugemessen wurde.

Zardioc schüttelte den Kopf. All dies war schwer zu begreifen, und die Spielregeln sagten ihm nicht zu. Leanda hatte ihn zwar vorbereitet, aber der Gedanke, dass er sich damit noch weiter auseinandersetzen musste, bereitete ihm Unbehagen. Es konnte natürlich geschehen, dass er sich morgen wieder auf den Heimweg machte, aber diese Möglichkeit war unwahrscheinlich. Es hing alles davon ab, was ihm die Kontaktperson berichten würde. Hoffentlich kam das Treffen heute zustande, er wollte diesen ungastlichen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen.

 

Als er von seinem Spaziergang zurückkehrte, hatte sich die Gaststube gefüllt. Er fühlte neugierige, teilweise ängstliche Blicke auf sich ruhen. Augen, die ihn anstarrten und rasch wieder wegblickten. Die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, störte ihn, unauffällig fühlte er sich wohler.

Außer zwei Geschöpfen hatte er es bei den Anwesenden mit Menschen beiderlei Geschlechts zu tun. Er erkannte die Trinkrunde von gestern Abend wieder, und auch ein Tisch, an dem nur Frauen saßen, alle mit verhüllten Gesichtern, fiel ihm auf. Ansonsten schenkte Zardioc den Menschen keine weitere Aufmerksamkeit, er hätte es sofort gemerkt, wenn der Bote unter ihnen gewesen wäre.

Die beiden Nicht-Menschen, die sich an einem kleinen Tisch gegenübersaßen, interessierten ihn schon eher. Ein Nicht-Mensch als Kurier wäre zwar ungewöhnlich, aber er musste jeder Möglichkeit nachgehen.

Den einen identifizierte er ohne Schwierigkeiten als einen Fung, dessen Fell grünrosa gefärbt war. Fungs gab es relativ zahlreich, und es waren vielerlei Geschichten über sie in Umlauf, deren Inhalt meist humoristischer Natur war. Der Fung trug lediglich eine weite grüne Hose aus seidenartigem Stoff, und seine kleinen, lidlosen Augen in dem runden Kopf blinzelten nervös.

Der andere Nicht-Mensch war von klobiger Gestalt. Ein wuchtiger Körper saß auf vier Beinen, und die Arme, die aus seinem Obergewand hervorragten waren schuppenbedeckt. Er würdigte Zardioc, der nicht wusste, welchem Volk der Gepanzerte angehörte, keines Blickes.

Einem der beiden mochte der Kadu gehören, wahrscheinlich dem Fung, denn Zardioc konnte sich nicht vorstellen, dass der Laufvogel das Gewicht des anderen zu tragen vermochte. Er konzentrierte sich kurz auf die Nicht-Menschen, bis er sich sicher war, dass keiner von beiden der erwartete Gesandte war. Dann nahm er an einem freien, abseits stehenden Tisch Platz und wartete geduldig, bis der Wirt ihm sein Frühstück brachte.

Dieser war jetzt offensichtlich besser gelaunt. Er bot Zardioc an, für ihn ein besseres Zimmer bereitzustellen, da heute noch mehrere Gäste abreisten. Zardioc akzeptierte es dankend, wohl wissend, dass er diese zur Schau gestellte Freundlichkeit nur seinem Geld zu verdanken hatte; Zahlungskräftige Gäste verärgert man nicht. Auch heute waren keine Angestellten zu sehen, der Wirt hatte alle Hände voll zu tun, wahrscheinlich wollte er sein gutes Geld nicht für Lohnzahlungen ausgeben. Zardioc fand das System dahinter verlogen und ineffektiv.

Während sich sein Magen langsam zu füllen begann - das Essen war reichhaltig und schmeckte ausgezeichnet -, fühlte er sich etwas besser und versuchte seine Gedanken zu ordnen.

 

****

 

Angefangen hatte alles vor 10 Tagen, als er mitten in seiner morgendlichen Ausbildung den Ruf Leandas empfangen hatte. Er war sensitiv wie sie und für gerichtete Gedankensignale und unterschwellige Stimmungen besonders ansprechbar. Einige Minuten lang war er sich unschlüssig darüber, wie er sich verhalten sollte. Der telepathische Ruf hatte wichtig und dringend geklungen, und Leanda war eine Frau, die damit vorsichtig umging. Andererseits war es unverzeihlich, den Unterricht einfach zu verlassen, dazu noch mitten in der Meditationsübungen. Doch wenn er den Ruf ernst nahm, blieb ihm im Grunde keine Wahl, denn die Übungen würden sich noch einige Stunden hinziehen. Also erhob er sich leise, bemüht die anderen in ihrer Konzentration nicht zu stören. Der Meister sah ihm mit ausdruckslosem Gesicht hinterher. Noch als er die Halle verlassen hatte, konnte er die bohrenden Blicke in seinem Rücken spüren. Mit seiner Disziplin hatte es nie zum Besten gestanden, aber diesmal hatte er sich wohl die letzten Sympathien verscherzt.

Draußen empfingen ihn klare Luft und schneidender Wind. Die Sonne stand zwar hoch am Himmel, aber er fröstelte in seiner leichten Schulkleidung. Mit raschen Schritten entfernte er sich von dem weitläufigen, nüchternen Gebäudekomplex, in dem die Schule der Magier-Gilde untergebracht war, und bog auf den schmalen Pfad ein, der in die Berge an der Westseite Farewells hinaufführte. Die niedrigen, aber großzügig gebauten Häuser aus blauem Ton, die ab und zu seinen Weg säumten, ließ er bald hinter sich. Der Pfad wurde steiler und verengte sich weiter, doch er war ihn schon so oft gegangen, dass er glaubte, jeden Stein und Absatz zu kennen.

Sein vorgelegtes Tempo ließ ihn keuchen, als er die erste Anhöhe erreicht hatte und auf das grüne Tal mit dem sprudelnden Bach und den zierlichen Wisperespen hinuntersah. Kein Zweifel, er war in einer wundervollen Umgebung aufgewachsen, wenn auch weit entfernt von jeglicher anderen größeren Ortschaft.

Nach kurzer Erholungspause wandte er sich wieder dem Aufstieg zu. Er hatte es nun nicht mehr allzu weit, und der Rest des Weges würde ihn nicht mehr so viel Anstrengung kosten. Die Vegetation war merklich spärlicher geworden und bestand hauptsächlich aus gebeugten Krüppelkiefern und Kriechmoosarten. Eine Schar Blauenten flatterte in niedrigem Flug über ihn hinweg und erfüllte die Luft mit ihrem melodischen Gesang.

Trotzdem wurde er nervöser, je näher er seinem Ziel kam, die Umgebung verschwand vor seinen besorgten Gedanken. Die Dringlichkeit von Leandas Ruf war außergewöhnlich, und sie hatte ihn noch nie aus einer Unterweisungsstunde geholt.

 

Eine halbe Stunde später tauchte ihre Hütte in seinem Blickfeld auf. Sie kauerte unter einem Felsvorsprung in der Nähe des kleinen Wasserfalls. Zardioc fragte sich zum wiederholten Mal, woher Leanda ihre Lebensmittel bezog. Allein von den kümmerlichen Gewächsen und dem geringen Fischbestand konnte sie sich wohl kaum ernähren, und der felsige Boden ließ eine Bewirtschaftung nicht zu. Doch dies war eines der vielen kleinen Geheimnisse, die sie für sich behielt.

Die Tür stand einen Spalt weit offen, ein Zeichen dafür, dass er schon erwartet wurde. Er musste sich unter der niedrigen Tür bücken, um nicht mit dem Kopf gegen den Rahmen zu stoßen. Helles Sonnenlicht fiel durch das große Fenster und erleuchtete den Hauptraum. Leanda saß auf ihrem üblichen Platz auf den bunten Decken. Ein leises Lächeln umspielte ihr schwarzes Gesicht. Wieder kam sie ihm so jung vor, obwohl sie mindestens 30 Jahre älter sein musste als er. Ihre langen Haare fielen bis auf den Boden, die gedrungene Gestalt ließ die Behändigkeit und Zähigkeit nicht vermuten, die in ihr steckten.

Unaufgefordert setzte sich Zardioc ihr gegenüber und akzeptierte den dampfenden Becher, den sie ihm hinhielt. Vorsichtig probierte er einen Schluck, musste husten und setzte den Becher wieder ab. Wie immer musste er sich erst an den beigefügten scharfen Kräuterschnaps gewöhnen. Aber gut schmeckte es allemal.

Vor langer Zeit, noch bevor er geboren war, war Leanda aus ihrer Gilde ausgestoßen worden und hatte sich hierher in die Berge zurückgezogen. Die Ereignisse, die zu dieser außergewöhnlich harten Maßnahme geführt hatten, lagen im Verborgenen und wurden nur hinter vorgehaltener Hand weitererzählt. Wahrscheinlich waren die ursprünglichen Tatsachen inzwischen auch so oft abgeändert worden, dass die Wahrheit nicht mehr herauszuhören war. Zardioc glaubte jedenfalls kaum ein Wort von dem, was ihm ab und zu zugeflüstert wurde.

Warum hast du mich so plötzlich aus dem Unterricht geholt?« eröffnete er das Gespräch ungeduldig und, wie er feststellte, auch etwas ärgerlich.

Hast du deine Karten dabei?« fragte Leanda mit ihrer tiefen Stimme zurück, ohne auf den versteckten Vorwurf einzugehen.

»Du weißt doch, dass ich mich nie von ihnen trenne.«

Leandas Gesicht drückte Konzentration und Besorgnis aus. Zardioc schluckte seine Verstimmung hinunter. Er wusste, was sie von ihm erwartete, seine Fragen würden auf diese Weise beantwortet werden.

Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er das Päckchen Karten aus der Innentasche seines dunkelblauen Schülerumhanges, den die Symbole der Magier-Gilde zierten. Eine jeden Abend wiederholte Kurzformel hielt die Karten sauber und zusammen. In seinen Fingern lösten sie sich voneinander, und er begann, sie zu mischen. Sofort stellte sich auch bei ihm Konzentration ein. Die Anzahl der aufgedeckten Karten sowie das Muster, das sie bildeten, entsprangen seiner Intuition. Der Ablauf des Kartenlegens geschah in einer einzigen fließenden Bewegung.

Vier Karten lagen zwischen ihm und Leanda auf dem Boden, angeordnet in einer geraden Linie. Schon der erste Blick genügte ihm, die Frage nach dem Grund seines Hierseins zu beantworten: Er hatte ausschließlich hohe Kampfkarten gezogen.

Erschrocken beugte er sich vor.

»Das Blatt ist ... Was hat das zu bedeuten?«

Es war keine Frage an Leanda. Er wusste, dass sie ihm nicht antworten würde, bevor er selbst eine Interpretation versucht hatte.

Zardioc riss sich zusammen. Emotionen waren wichtig im Prozess des Kartenlegens, denn darin sollten alle vorhandenen Schwingungen einfließen. Auch der erste Eindruck der aufgelegten Karten äußerte sich meist noch gefühlsbetont, für die genaue Analyse jedoch benötigte er seinen Kopf: nüchterne, präzise Gedankengänge. Beide Aspekte hatte er jahrelang gelernt zu beherrschen - mit mehr oder weniger Begeisterung -, nachdem sich das entsprechende Talent bei ihm unübersehbar gezeigt hatte.

 

»Ganz rechts liegt die Weltkarte in ihrer Kampfform. Sie bedeutet - mit Rücksicht auf die Karten neben ihr -, dass der Lauf unmittelbar bevorstehender Ereignisse unsere ganze Welt betrifft und ihr gewaltsame Auseinandersetzungen drohen. Zumindest droht der Erde eine Gefahr, der nur im Kampf zu begegnen ist. Anschließend links, ebenfalls in ihrem Kampfausdruck, sehen wir die Stammes- oder Gildenkarte, was besagt, dass auch wir alle in diesen Kampf mit einbezogen werden und ...« - er stockte kurz -, »... wie aus der dritten Karte ersichtlich, ich persönlich oder eine mir nahe stehende Person ebenfalls.«

Die Wirkung seiner eigenen Interpretation erschütterte ihn.

»Wie ist so etwas möglich, Leanda. Seit ich mich erinnern kann, hat es keinen Konflikt gegeben, der nicht auf friedliche Weise beigelegt wurde. Kampf gehört der Vergangenheit an. Niemand kann mehr einen Kampf gewinnen. Und es gibt keinerlei Anzeichen für solch eine Gefahr. Alles ist außerordentlich ruhig und ...«

»Ruhe kann auch Friedhofsruhe sein,« fiel ihm Leanda ins Wort. »Ruhe und Behäbigkeit sind leicht zu stören. Wenn sich alle in Ruhe lassen, ist das nicht unbedingt positiv. Und was weiß Farewell davon, was an anderen Orten vor sich geht, wenn es sich freiwillig von aller Kommunikation abschneidet, um seine Ruhe zu haben? ... Aber ich schweife ab, du hast die vierte Karte vergessen.«

Zardioc schüttelte heftig den Kopf, wie um die schweren Gedanken zu vertreiben.

»Das war Absicht. Ich kann nichts mit ihr anfangen.«

»Aber irgendetwas muss sie bedeuten.«

Die vierte Karte zeigte das Symbol der Weltenlinien. Sie war einmalig und existierte nur in dieser einen, unwandelbaren Form. Sie tauchte sehr selten auf und galt gewöhnlich als Bestätigung und Bekräftigung der übrigen Karten. Es kam häufig vor, dass nebensächliche oder unwichtige Karten gezogen wurden. Die Schwierigkeit bestand darin, dies auch zu erkennen. So hatte Zardioc die Karte zunächst ignoriert, dabei aber ein ungutes Gefühl behalten. Jetzt, wo ihn Leanda drängte, verstärkte sich dieses Gefühl, ohne dass er die Ursache kannte.

»Die Karte verdeutlicht wahrscheinlich noch das Ausmaß der Gefahr,« sagte er zögernd.

Leanda legte einen Finger auf die Karte und fuhr die Linien des Symbols entlang.

»Ich weiß selbst nicht, wieso diese Karte mir mehr zu bedeuten scheint. Ich habe den Eindruck, dass sie etwas verbirgt, als wolle sie uns etwas über die Natur, die Art der drohenden Auseinandersetzung erzählen, aber wir wissen es nicht zu deuten. Doch schließlich bist du der Kartenexperte, und wenn du ihr keine Bedeutung beimisst, hast du wohl recht damit.«

»Ich bin mir nicht absolut sicher und empfinde ähnlich wie du. Aber es ist unmöglich, dass die Karte anzeigt, womit wir es zu tun haben. In diesem Fall hätte ich zumindest eine Bestimmungskarte gezogen. Die Weltenlinien sind in jeder Deutung ein unbestimmtes Symbol.«

Ohne weiteren Kommentar stand Leanda auf und winkte Zardioc, ihr zu folgen. Der Kartenmagier konnte den Blick nur schwer von den Karten wenden, er spürte die Drohung fast körperlich, die von ihnen ausging. Schließlich sammelte er sie ein und folgte der Frau in ein vom Hauptraum mit einem blauen gemusterten Vorhang abgetrenntes Zimmer.

Das Kartenbild hatte sein Gemüt verfinstert, alle Leichtigkeit war von ihm abgefallen. Er ahnte, dass ihm weitere Enthüllungen bevorstanden. Ein Kartenbild allein besagte nicht allzu viel, es gab nur einen Hinweis, zeigte die Richtung an. Was jetzt kam, würde womöglich eine deutlichere Sprache sprechen. Hier war das zu finden, was Leanda veranlasst hatte, ihn zu benachrichtigen. Er hatte von Anfang an gewusst, dass sie ihn hierher führen würde, und versuchte nun, sich gegen die Angst vor weiteren schlechten Neuigkeiten zu stemmen.

 

Der Raum war klein und fensterlos und vollgestopft mit Techno-Geräten. Er war der eigentliche Grund für Zardiocs engen Kontakt mit Leanda, der ihn von einem großen Teil der Bevölkerung Farewells isoliert hatte. In einem kleinen Ort sprachen sich ungewöhnliche Verhaltensweisen - noch dazu von einem Angehörigen der angesehenen Magier-Gilde - schnell herum. Besuche bei Leanda waren zwar nicht untersagt, aber nicht gern gesehen. Die Folgen machten sich bald bemerkbar: Man ging Zardioc aus dem Weg, die Gilde strafte ihn mit sichtbarer Verachtung und machte ihm das Leben schwer. Er hatte am eigenen Leib die negativen Seiten der strengen Sitten und ungeschriebenen Gesetze der Gemeinschaft zu spüren bekommen, die ihm früher nur Schutz und Geborgenheit vermittelt hatten.

Leanda hatte die Öllampen angezündet, und auch diesmal ergriff Zardioc wieder eine eigenartige Faszination, als er die metallisch schimmernden Geräte betrachtete. Manche türmten sich unter einem Gewirr von Kabeln und Antennen bis zur niedrigen Decke. Leanda machte sich an ihnen zu schaffen, sie hatte kaum Platz, sich zu bewegen.

Zardioc war mit der Abneigung der Gilden gegen jede Art von Technik und Technologie aufgewachsen. Die Gründe dafür lagen weit in der Vergangenheit und waren nur in Mythenform überliefert. Diese Geschichten berichteten ausnahmslos von Unglücken und Katastrophen im Zusammenhang mit dem Gebrauch technischer Errungenschaften.

Natürlich war bekannt, dass es genug Lebensgemeinschaften gab, die sich auch hochentwickelter Technik bedienten, ohne dass es je zu solchen Verhängnissen gekommen war. Farewell jedoch vermied, wo immer es ging, den Kontakt mit solchen Völkern.

 

Zardiocs erste Begegnung mit Leanda war aufgrund eines Auftrages der Gilde erfolgt, ihr eine Nachricht zu überbringen. Ein Auftrag, den er nur zu gern abgelehnt hätte, denn wer wollte schon etwas mit der »Alten am Berge« zu tun haben, über die teilweise beängstigende Gerüchte in Umlauf waren. Aber er war bestimmt worden und musste die Regeln ohne Widerspruch einhalten. Damals hatte er Leanda in diesem Raum überrascht. Nachdem er dem ersten Impuls von panikerfüllter Flucht widerstanden hatte, hatte sie ihm in Ruhe erklärt, womit sie sich gerade beschäftigte. Er erkannte bald, dass Leandas Tätigkeit nichts Gefährliches oder Verabscheuungswürdiges darstellte. Trotzdem wirkten die Verbote der Gilde wie eine Barriere, doch seine Neugier siegte über die anerzogene Abneigung, und er kam trotz der ihm bewussten Folgen öfter herauf, um sich weitere Erklärungen anzuhören. Die meiste Zeit verwandte Leanda darauf, mit Hilfe ihrer Techno-Geräte Informationen und Meldungen von anderen Gemeinschaften zu empfangen und in Kommunikation mit diesen zu treten.

Im Verlauf seiner Zusammenkünfte mit Leanda hatte sich Zardiocs Weltbild ständig erweitert, ja geradezu umgekrempelt. Ausschlaggebend dafür waren die Berührungen mit den Lebensweisen anderer Gemeinschaften über Leandas Techno-Anlage, die sich mitunter unvorstellbar von der in Farewell unterschieden.

Die Sippen in Farewell lebten relativ abgeschieden in ihrem Tal. Mit einigen Nachbar Stämmen wurden unbedeutende Handelsbeziehungen unterhalten, doch Farewell war eine Selbstversorgergemeinschaft und von daher unabhängig. Natürlich war bekannt, dass Menschen woanders auf ganz andere Weise zusammenlebten, und manchmal war sogar von Städten die Rede, in denen so viele Menschen wohnen sollten, wie sich niemand auch nur annähernd vorstellen konnte. Und niemand kümmerte sich auch darum. Das waren Probleme, die die Einwohner Farewells nichts angingen, von denen sie sich fernhielten, denn die Außenwelt war chaotisch, unstrukturiert, manchmal gar bedrohlich. Das Sippenleben verlief einfach und unkompliziert, in geregelten Bahnen, die sich seit Jahrhunderten kaum geändert hatten. Es kam immer wieder vor, dass einige von den Gilden Ausgebildete ihre Sippen verließen, um ihre Fähigkeiten woanders nutzbringend einzusetzen, aber das unterbrach den Ablauf des Alltags in Farewell nicht, und die Fortgegangenen kehrten meist nicht zurück. Und wenn doch, wurden sie gemieden.

Zardioc erinnerte sich noch an den Tag, an dem der Nicht-Mensch in das Tal gekommen war. Es hatte große Aufregung geherrscht und die geruhsame Ordnung war empfindlich gestört worden. Als kleiner Junge hatte ihn das Aussehen des Fremden verschreckt: lange Fühler an der Vorderseite einer seltsam deformierten Gestalt und ein gepanzerter Rumpf auf vier staksigen Beinen, auf denen sich der Fremde anmutig fortbewegte. Seine Mutter hatte Mühe, ihn zu beruhigen. Trotz aller Unruhe, die sein Erscheinen mit sich brachte, war der Nicht-Mensch freundlich aufgenommen und zuvorkommend behandelt worden. Doch die Gildenmeister waren sichtlich erleichtert, als er Farewell nach einigen Tagen wieder verließ. Die abendlichen Gespräche in der Sippe kreisten noch lange danach um dieses Ereignis.

Mit den Techno-Geräten in der Behausung Leandas waren für Zardioc Kontakte mit anderen Gemeinschaften, mit Menschen in Städten oder auch mit Nicht-Menschen schon lange nichts Außergewöhnliches mehr. Wenn er wollte, konnte er inzwischen die Verbindungen selbst herstellen, Leanda hatte ihm die Bedienung der meisten Apparate erklärt. Ein Hauch von Faszination war trotzdem geblieben.

 

Inzwischen war die gesamte Anlage in dem kleinen Raum zum Leben erwacht: Displays und Anzeigen leuchteten in verschiedenen Farben, huschten über Skalen und Sichtschirme, ein summender Ton erfüllte die Luft.

Leanda schien mit ihren Bemühungen nicht zufrieden zu sein. Sie schimpfte halblaut vor sich hin, ihr massiger Körper schwankte auf und ab und ihre Finger nahmen weitere Einstellungen und Korrekturen vor.

Zardioc, der wegen seiner Größe den Kopf in dem Raum einziehen musste, wurde langsam ungeduldig.

»Was ist los? Was willst du mir so dringend zeigen?«

Doch die Frau beachtete seine Proteste nicht und fuhr in ihrer Arbeit fort. Es hatte keinen Sinn, sie in solchen Momenten weiter zu drängen, deshalb versuchte Zardioc selbst, genauer zu beobachten, um herauszufinden, was Leanda störte. Alles schien zunächst in bester Ordnung, die Stationen waren sende- und empfangsbereit. Dann entdeckte er, dass mehrere kleine Bildschirme der Funkanlage blinkten und flackerten, als wollten sie gleich wieder verlöschen.

»Ich bekomme zu wenig Energie für die Schirme,« schnaubte Leanda ärgerlich. »Aber es ist doch schon öfter vorgekommen, dass die Sichtverbindungen nicht funktionierten,« wandte Zardioc ein.

»Natürlich. Aber dabei handelte es sich immer um Störungen aufgrund großer Entfernungen, die Reichweite ist eben beschränkt, die Anlage ist ziemlich veraltet. Diesmal aber bauen die meisten Schirme gar kein Feld auf.«

Konnte es denn wirklich an der Energiezufuhr liegen? fragte sich der Kartenmagier. Erst vor kurzem hatte Leanda ihm erklärt, dass die Batterien noch für Jahrzehnte ausreichen würden.

»Komm her, junger Freund,« rief sie ihn zu sich. Anscheinend hatte sie die Vergeblichkeit ihrer Anstrengungen eingesehen.

Sie winkte ihn zu sich heran.

»Jetzt bist du an der Reihe. Rufe einfach die dir bekannten Stationen an.« Zardioc sah sie unsicher an. Warum verlangte sie das von ihm?

»Fang mit den Entlegensten an.«

Vielleicht wollte sie ihn auf etwas testen, überlegte er, setzte sich vor das Bedienungspult und zog das Mikrofon zu sich heran. Sie würde ihm den Sinn der Sache schon erklären. Des Rätsels Lösung stand bevor. Mit geübtem Griff stellte er die erste Verbindung her, aber der Kontakt kam nicht zustande. Verblüfft versuchte er die nächste Station, doch auch hier erhielt er keine Antwort auf sein Rufsignal. Dies wiederholte sich noch einige Male, bevor er es aufgab.

»Es meldet sich niemand, ich bekomme keine Verbindung. Es ist, als würden all diese Orte nicht existieren.«

»Genau das ist der Grund, weshalb ich dich an das Funkgerät gesetzt habe. Du solltest die gleiche Erfahrung machen wie ich. Du hast mich das letzte Mal vor zwei Vollmonden besucht. Damals war, wie du dich erinnern wirst, noch alles in Ordnung. Seitdem ist eine Verbindung nach der anderen abgebrochen, ohne Kommentar, ohne Erklärung, von einem Tag auf den anderen. Zu Anfang betraf es nur die im äußersten Süden liegenden Stationen, zu denen ich nicht mehr durchkam, ich schob es zunächst auf wetterbedingte Störungen. Dann reagierten die großen Städte im Westen nicht mehr, du hast es selbst mit Woltan und dem Schweren Lager versucht. Und du weißt, wie die Städte ausgerüstet sind, sie empfangen selbst schwache Signale von mir. Trotzdem ist kein einheitliches Muster zu erkennen. Zu bestimmten Orten im Westen des Kontinents besteht die Verbindung nach wie vor, wohingegen seit einigen Tagen auch zu mehreren Gemeinschaften in unserer Nähe kein Kontakt mehr möglich ist .... Unternimm einen Versuch mit Goldentor.«

»Aber du hast mir erzählt, sie wollen dort nicht mehr mit dir sprechen.«

»Das ist mir egal. Goldentor verfügt am ehesten über Informationen, die uns vielleicht weiterhelfen könnten. In dieser Stadt kreuzen sich die Wege der Gerüchte aus allen Himmelsrichtungen.«

Zardioc probierte es erneut, doch auch Goldentor gab keine Antwort. Es war nichts als das statische Knistern und Prasseln zu hören.

Leanda begann zu zittern und musste sich auf einen Stuhl setzen. Sie verbarg das Gesicht in ihren Händen, und als sie wieder zu ihm aufsah, wirkte es starr und leblos wie eine Maske.

»Goldentor war meine letzte Hoffnung, mehr zu erfahren. Jetzt ist auch hier keine Verbindung mehr möglich. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat und was ich weiter tun soll.«

Leandas Zusammenbruch erschreckte Zardioc. Er hatte sie noch nie so hilflos erlebt.

»Wenn ich dich richtig verstehe, siehst du einen Zusammenhang zwischen dem Abbrechen der Funkverbindungen und der Deutung meines Kartenbildes.«

Die Frau nickte stumm. Auch Zardioc war innerlich aufgewühlt, die anerzogene Gilden-Disziplin hielt jedoch seine Reaktion im Zaum. Welches Phänomen vermochte wahllos Funkverbindungen zu unterbrechen?

»Der Vorgang hat inzwischen den größten Teil des gesamten Kontinents ergriffen« , fuhr Leanda fort. »Ich habe keine Ahnung, um was es sich handeln könnte. Und dann gibt es Gerüchte, Gerüchte über Kämpfe ... unvorstellbare Gerüchte, die verwischt wurden ...«

Ihre Stimme verlor sich in einem Murmeln.

»Aber andere müssen es doch auch gemerkt haben,« fiel Zardioc ein. »In den Gemeinschaften, die bisher nicht betroffen sind, muss es eine Reaktion geben. Was sagen denn Theobald oder Sheita dazu?«

»Du kannst es dir selbst anhören.«

 

Leandas Stimme klang müde und enttäuscht. Sie schien wirklich große Hoffnung in Goldentor gesetzt zu haben. Vielleicht machte sie sich Vorwürfe, nicht eher versucht zu haben, Kontakt herzustellen. Aber nachdem das Techno-Department von Goldentor ihr ihre Unerwünschtheit deutlich gemacht hatte, war es nur allzu verständlich, dass sie sich nicht früher über das Verbot hinweggesetzt hatte. Ihre Verbindung zu oppositionellen Kreisen innerhalb der Stadt war aufgedeckt worden, und die übliche Frequenz hatte von dem Zeitpunkt an nur noch Störgeräusche von sich gegeben. Selbst diese waren diesmal ausgeblieben.

Zardioc schaltete die Verbindung zu Theobald, dem Obmann des Kalu-Stammes, der noch weiter nördlich sesshaft war. Das Antwortsignal erfolgte auf der Stelle, nur der Sichtschirm blieb grau. Zardioc atmete auf.

»Hallo, Leanda. Was ist mit dem Bild los?« erklang die gewohnte helle Stimme.

»Hier ist Zardioc. Wir haben ebenfalls einen Bildausfall.«

»Ha, wie sollen wir das verkraften, auf Leandas hübsches Gesicht verzichten zu müssen?«

»Dummer Schwätzer,« knurrte Leanda aus ihrer Ecke.

»Ich brauche nur eine Auskunft, Theobald. Unsere Verbindung zu Goldentor ist abgebrochen. Habt ihr noch Kontakt zu der Stadt?«

»Das ist ja nicht zu glauben! Jetzt fang du nicht auch noch mit dieser Geschichte an. Leanda hat mir schon die Ohren vollgejammert mit ihren Funkproblemen. Wir haben jedenfalls keine Schwierigkeiten, weder mit Goldentor, noch mit dem Schweren Lager oder Woltan. Ich sage euch, es liegt an eurer Anlage. Das alte Ding ist defekt. Lasst jemand von den Bastlern kommen, der kann sie euch wieder zusammenflicken.«

Zardioc war überrascht von dem rüden Ton, den Theobald anschlug. Er kannte den Obmann als einen eher unterkühlt wirkenden Mann.

»Das heißt, du nimmst die Sache nach wie vor nicht ernst?« Leanda hatte dem Kartenmagier das Mikrofon aus der Hand genommen.

»Genau das heißt es. Lass die Anlage reparieren, dann sprechen wir uns wieder.«

Damit beendete der Obmann das Gespräch.

Das ist reine Verstocktheit,« regte sich Zardioc auf. »Wie kann er einfach über unsere Argumente hinweggehen?«

»Seitdem ich ihm davon erzählt habe, verhält er sich so abweisend, und er ist kein Einzelfall. Es ist ihm nicht zu verübeln, dass er skeptisch ist. Er glaubt, ich weigere mich zuzugeben, dass meine Funkanlage defekt ist, obwohl ich ihm versichert habe, dass alles doppelt durchgecheckt wurde und ich keine Störungsquelle gefunden habe. Seine Starrköpfigkeit ist seltsam. Er ist einfach nicht bereit, eine andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen.«

»Hast du auch mit anderen darüber gesprochen?«

»Natürlich. Aber ich stieß überall auf ähnliche Reaktionen.«

»Aber was beweist das?« überlegte Zardioc laut. »Ich werde einen letzten Versuch mit Sheita machen.«

»Sie wird dir nichts anderes sagen.«

»Trotzdem.«

Der Kartenmagier blieb hartnäckig. Sheita stellte für ihn eine Autorität dar. Die derzeitige Vorsitzende des Kommunikationsrates der matrilinen Dorfgemeinschaften übte eine eigenartige Faszination auf ihn aus mit ihrem selbstsicheren Auftreten.

 

Der Kontakt kam sofort zustande, doch wiederum ohne Bildverbindung. Es dauerte eine Weile, bis Sheita aufgetrieben werden konnte. Zardioc bedauerte schon sein übereiltes Vorhaben und machte sich auf eine Abfuhr gefasst. Er wurde nicht enttäuscht. Nachdem er ihr gegenüber sein Anliegen wiederholt hatte, reagierte sie schroff und unzugänglich.

»Du gehst mir auf die Nerven, Zardioc. Ich habe schon dreimal mit Leanda über diese Sache gesprochen, und ich habe ihr immer wieder erklärt, dass wir keine Probleme haben. Ich habe gerade jetzt Wichtigeres zu tun und möchte nichts mehr davon hören.«

»Aber ... «

»Unterbrich mich nicht, ich war noch nicht fertig! Ich schätze Leanda und habe die Angelegenheit gestern im Rat eingebracht. Es hat sich eine Interessentin gefunden, die sich der Sache annehmen will. Ich gebe euch jetzt Firlin, dann könnt ihr mit ihr alles weitere besprechen.«

»Das ist eine neue Entwicklung.«

Leandas Neugier war geweckt. Ihre Resignation war wie weggeblasen und ihre gewohnte Zielstrebigkeit brach wieder durch. Zardioc übergab ihr das Mikrofon und beglückwünschte sich im Nachhinein zu seinem Einfall.

Kurz darauf meldete sich eine dunkle, weiche Frauenstimme.

»Hier spricht Firlin. Ich bedaure, dass die Bildleitung gestört ist, aber passt das nicht zu den Auffälligkeiten, die du festgestellt hast? Sheita hat davon berichtet, und ich denke, es muss etwas daran sein, wenn du dich deswegen so bemühst. Ich halte dich nicht für jemanden, die wegen Nebensächlichkeiten den Äther unsicher macht. Also habe ich darüber nachgedacht und kann vielleicht einige Puzzlestücke dazu beitragen.«

»Von welchem Puzzle sprichst du?«

Leanda war die Spannung in der Stimme anzuhören.

»Ich möchte nicht gern über Funk darüber Auskunft geben. Es ist merkwürdig genug, dass bei euch immer mehr Funkverbindungen ausfallen, und ich traue dieser Art Kommunikation nicht mehr.«

»Gut, dann schlage ich vor, du kommst hierher. So kannst du dich gleich an Ort und Stelle überzeugen.«

»Nein, das dauert zu lange. Es ist besser, wenn wir uns auf halber Strecke treffen können.«

Leanda zögerte einen Moment.

»Das ist nicht so einfach. Ich kann hier nicht weg ... doch warte ..., ich werde Zardioc schicken.«

»Was?« Der Kartenmagier stieß sich vor Überraschung den Kopf an der niedrigen Decke. »Da habe ich wohl auch noch ein Wort mitzureden.«

»Dann rede!« forderte ihn Leanda auf.

»Also ich ... das müsste ich mir erst überlegen.«

»Es ist nicht viel Zeit zum Überlegen. Traust du deinen eigenen Karten nicht?«

Ein Dutzend Gedanken schossen Zardioc gleichzeitig durch den Kopf. Konnte er so einfach fortgegen? Was war mit seiner Ausbildung, dem Zorn der Gilde ... und nicht zuletzt mit Arnia? Außerdem hatte er sich noch nie weiter als einige Kilometer von Farewell entfernt. Er würde auf fremde Menschen treffen, Menschen, die nicht in Familien, Sippen und Gilden lebten, deren Verhaltensweisen er nicht verstand, die ihm Angst einflößten ...

Er merkte, dass er sich verrannte, dass er begann Ausflüchte zu suchen, die eine positive Entscheidung verhinderten. Und war es nicht auch eine Chance? Eine Möglichkeit, dem eintönigen Dahinleben in Farewell zu entfliehen? Ein Abenteuer, das ihn aus dem Alltag riss, ihn etwas erleben ließ? Eine verborgene Saite klang in ihm an, eine neugierige Spannung, die er nie zuvor gespürt hatte ... Und natürlich würde es gefährlich werden. Die Karten, die abgerissenen Funkverbindungen und die Andeutungen Firlins ließen keinen Zweifel daran. Aber die Gefahr würde ihn auch in Farewell einholen, das stand ebenfalls fest.

»Gut, ich werde gehen.«

Seine Worte klangen nicht so entschlossen, wie er es beabsichtigt hatte. Er bemerkte das Lächeln auf Leandas Lippen und das Aufblitzen ihrer Augen. Plötzlich hatte er das Gefühl, als wäre eine Last von ihm abgefallen, als wäre er von einem Druck befreit. Da erst war er sich der Richtigkeit seiner Entscheidung sicher. Innerlich hatte er sich wohl schon längst von dem einschnürenden Leben in Farewell entfernt, es hatte nur der Auslöser gefehlt. Wahrscheinlich hätte er es sonst niemals geschafft, sich von den alten Bindungen zu befreien.

Firlin zeigte sich ebenfalls erfreut darüber, dass die Idee in die Tat umgesetzt werden konnte, und kündigte an, falls sie nicht selbst kommen könnte, einen Stellvertreter zu schicken. Es wurden Zeit und Treffpunkt verabredet, dann erfolgten die nötigen Vorbereitungen.

 

Es war nicht viel, was Zardioc zusammenpackte, aber er tat es in aller Heimlichkeit. Er hatte weder Zeit noch Lust, sich auf lange Auseinandersetzungen in der Sippe einzulassen, er konnte sich das Geschrei um die Hirngespinste einer Ausgestoßenen lebhaft vorstellen. Sie würden ihn beschwören, nicht alles hinzuwerfen, was er sich in Jahren erarbeitet hatte, eine Karriere in der Magier-Gilde würde ihn zu einem angesehenen Mann machen.