Eine Ehe in Briefen - Lew Tolstoj - E-Book

Eine Ehe in Briefen E-Book

Lew Tolstoj

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Beschreibung

Lew Tolstoj und seine Frau Sofja führten während ihrer fünfzigjährigen Ehe einen ausgedehnten Briefwechsel. Diese Briefe geben Einblicke in das Alltags- und Familienleben der Tolstojs und in die Entstehung von Tolstojs großen Werken wie "Krieg und Frieden", "Anna Karenina", "Die Auferstehung" oder "Die Kreutzersonate". Vor allem aber sind sie Dokument einer großen und zugleich schwierigen Liebe. »Die Briefe der Tolstojs können wie ein packender Roman gelesen werden. Zwei höchst intelligente Menschen streiten über die Liebe, die Politik und das Leben. Kein Wort hat hier an Aktualität oder Dringlichkeit eingebüßt. Man leidet mit und lernt.« ORF

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Seitenzahl: 686

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Herausgegeben und

aus dem Russischen übersetzt

von Ursula Keller

und Natalja Sharandak

Insel Verlag

Sofja und Lew am Hochzeitstag 1910 – das letzte Photo von Tolstoj

Inhalt

Vorwort

I. Die erste Ehezeit

II. Krise und Umschwung

III. Dogma und Leben

IV. Im Hungergebiet – Ein Versuch, das Haus zu verlassen

V. Das letzte Jahrzehnt

Anmerkungen

Personenregister

eBook Insel Verlag Berlin 2011

© Insel Verlag Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: bürosüd, München

eISBN 978-3-458-75860-0

www.insel-verlag.de

Vorwort

Im »Strauß von Blumen und Briefen«, mit dem die Familie Behrs Lew Tolstoj am 28. August 1862 zu seinem vierunddreißigsten Geburtstag gratulierte, erfreute eine Blüte den Schriftsteller ganz besonders: das Billett mit der Gratulation der achtzehnjährigen Sonja. Lew Tolstoj war verliebt, und kaum einen Monat später wurde das Fräulein Sofja Andrejewna Behrs seine Ehefrau.

Als viertes von insgesamt fünf Kindern in eine der vornehmsten Familien Rußlands geboren, führte Tolstoj in seiner Jugend das übliche ausschweifende Leben der Jeunesse dorée jener Zeit. Er besuchte Bälle, Diners und Soireen, gab sich dem Kartenspiel und den Frauen hin und suchte nach dem Sinn seines Lebens. Sein Studium an der Universität Kasan brach er ab. Mit Anfang zwanzig »verbannte« er sich in den Kaukasus, wo er hoffte, durch die Disziplinierung der Armee seine »schlechten Angewohnheiten« – Spiel, Trinkgelage und Frauen – ablegen zu können.

Im Kaukasus begann Tolstoj zu schreiben. Die Geschichte seiner Kindheit (1852) rief sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum beachtliche Aufmerksamkeit hervor. Nach den traumatischen Erlebnissen des Krimkrieges nahm Tolstoj seinen Abschied aus der Armee. Seine Sewastopoler Erzählungen (1855) machten ihn zum gefeierten Star der Literatur. Selbstbewußt und nicht immer diplomatisch trat er bei einem Aufenthalt in Sankt Petersburg den Autoritäten der literarischen Welt gegenüber und zog sich schon bald wieder nach Jasnaja Poljana zurück, auf das rund zweihundert Kilometer südlich von Moskau gelegene Landgut seiner Eltern, das ihm als Erbe zugefallen war. Dort versuchte er ein nützliches Leben zu führen. Er unternahm Reisen nach Westeuropa, gründete eine Schule für Bauernkinder, für die er sogar seine literarische Tätigkeit zurückstellte, und war auf Freiersfüßen. Jedoch wollte keine der zahlreichen Kandidatinnen seinem Wunschbild von der idealen Ehefrau entsprechen.

Erst die um vieles jüngere Sofja Behrs vermochte das Herz des Junggesellen zu erobern. Bereits im Jungmädchenalter hatte Sofja von dem Schriftsteller geschwärmt, seine Werke hatten tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen.

Sofja entstammte einer bürgerlichen Familie der russischen Intelligenzija, der Vater Andrej Jewstafjewitsch Behrs war Kaiserlicher Hofarzt mit gutgehender Praxis. Wie damals üblich, wurden die Töchter von deutschen und französischen Gouvernanten zu Hause erzogen. Vor der Eheschließung legte Tolstaja 1861 an der Moskauer Universität das Hauslehrerinnenexamen ab, was damals der besten Bildung für junge Frauen entsprach. Das Studium an der Universität selbst war Frauen erst ein Jahrzehnt später möglich.

Das Fräulein Behrs war künstlerisch begabt, widmete sich der Malerei und der Photographie, schrieb eine Erzählung, von der Tolstoj begeistert war. Doch als der Schriftsteller um ihre Hand anhielt, war Sofja, ganz nach traditionellen Werten erzogen, sogleich bereit, ihr eigenes Leben den Vorstellungen des Gatten zu unterwerfen und ihren eigenen Interessen und Begabungen zu entsagen. Noch am Abend der Hochzeit brach das Ehepaar nach Jasnaja Poljana auf, um dort fernab von den Vergnügungen der Stadt ein Leben nach jenem Ideal zu führen, das Tolstoj für sich und seine Ehefrau erdacht hatte: ein einfaches und rechtes Leben in gegenseitiger Liebe und Hingabe an die Familie, das Wahrhaftigkeit und Genügsamkeit dem Ideal des comme il faut der Gesellschaft entgegenstellt.

Die Tolstojs lebten zurückgezogen auf Jasnaja Poljana und in rascher Folge wurden zahlreiche Kinder geboren. Gleichwohl vermochten die weiblichen Pflichten allein Tolstaja nicht zufriedenzustellen. Sie war überglücklich, als ihr Mann, der sich nach der Veröffentlichung des Romans Familienglück im Jahr 1859 von der Literatur abgewandt hatte und zum passionierten Gutsbesitzer und Pädagogen geworden war, seine literarische Arbeit wiederaufnahm, und wurde ihm zur unermüdlichen Helferin. Zunächst machte Tolstoj sich an die Überarbeitung und Fertigstellung der Werke, die er bereits vor der Ehe begonnen hatte. Die Erzählungen Die Kosaken und Polikuschka, beide 1863 erschienen, waren die ersten Werke ihres Mannes, die Tolstaja in ihrer »unschönen, aber deutlichen Handschrift« abschrieb. Unausgefüllt von ihren Hausfrauenpflichten warf sie ihre ganze kreative Energie und Begabung auf die literarische Tätigkeit ihres Mannes. »Wir lebten auf dem Lande, ohne zu reisen, verfolgten die Neuigkeiten nicht, sahen nichts, wußten nichts – und es interessierte uns auch nichts«, heißt es in Sofja Tolstajas Kurzer Autobiographie. »Das Leben war so erfüllt und unsagbar glücklich durch unsere gegenseitige Liebe, die Kinder und vor allem die Arbeit an dem so bedeutenden Werk meines Mannes, das ich und später die ganze Welt liebte, daß wir nach nichts anderem strebten.«

Die Abschrift der Werke ihres Mannes wurde Tolstajas wichtigste und liebste Aufgabe. Als der Schriftsteller 1863 mit der Arbeit an dem Roman Krieg und Frieden begann, übernahm sie voller Tatendrang die Rolle der »Amme des Talents ihres Mannes«, übertrug seine nahezu unleserlichen Manuskripte, die Tolstoj unzählige Male überarbeitete, ins reine, diskutierte mit ihm seine Ideen und gab ihm Ratschläge im Umgang mit Verlegern und den Zensurbehörden.

Nur selten waren die Eheleute in den ersten beiden Jahrzehnten voneinander getrennt. Wenn Tolstoj in geschäftlichen Angelegenheiten nach Moskau reiste oder sich zur Kur begab, schrieben die Ehepartner sich fast täglich. Jeder Abschied voneinander fiel ihnen schwer, und sie versprachen sich, aufrichtig und wahrhaftig über alles zu schreiben, was sie bewegte. Diesem Versprechen blieben sie bis ans Ende ihrer Ehe treu. Die Briefe sind die »Enzyklopädie des Lebens« der Familie Tolstoj, und sie sind Gespräche über die Werke des Schriftstellers, die seine Frau, oftmals auch in seiner Abwesenheit, ins reine übertrug und die sie seit 1885 als Verlegerin betreute.

Bei aller Begeisterung für das Werk ihres Mannes jedoch war Tolstaja bereits in der ersten Zeit ihrer Ehe mitunter erschreckt über die Übermacht ihres Mannes, der sie ihre eigene Persönlichkeit ganz unterordnete: »Bisweilen möchte ich mich ganz schrecklich gern von seinem ein wenig belastenden Einfluß befreien, nicht allein ihm zu Diensten sein, doch ich vermag es nicht«, hielt sie bereits im Jahr ihrer Hochzeit im Tagebuch fest. »Es ist schwer, denn ich denke seine Gedanken, blicke auf alles mit seinen Augen, bemühe mich, werde doch nicht wie er, aber verliere mich selbst.« »Sie ist jung, und es gibt vieles an mir, das sie nicht versteht und nicht liebt«, notierte Lew Tolstoj im Januar 1863, »vieles, das sie um meinetwillen in sich unterdrückt, und all diese Opfer wird sie mir dereinst in Rechnung stellen.« Tatsächlich sollte Tolstaja ihrem Mann gegenüber diese Rechnung eines Tages aufmachen. Zunächst aber lebte sie ohne Aufbegehren jenes Leben, das er für die Familie ersonnen hatte.

Nach sechs Jahren angespannter Arbeit an Krieg und Frieden war Tolstoj erschöpft. Beständig wurde er von finsteren Attakken der Depression und Selbstzweifel übermannt. Die depressive Verstimmung ging mit körperlichem Mißbehagen einher, und der Schriftsteller begab sich auf ärztlichen Rat zur Kumys-Kur in der baschkirischen Steppe. Bereits vor seiner Hochzeit hatte ein Aufenthalt bei den Baschkiren, die dieses Getränk aus vergorener Stutenmilch als Heilmittel bei den unterschiedlichsten Beschwerden anbieten, Tolstojs Lebenskräfte wieder erwachen lassen. »Denke vor allem an Dich, an Deine Gesundheit und Seelenruhe und nicht so viel an uns«, beschwor Tolstaja ihren Ljowotschka. »Ich fühle, daß die Kinder mein Trost sind, Deiner jedoch ist Dein geistiges, inneres Erleben. Gebe Dich um Gottes Willen nicht den Ängsten hin, der Schwermut, der Selbstquälerei.«

Ungeachtet dessen, daß sie mit ihren zahlreichen Aufgaben vollauf ausgefüllt war, fehlte ihr der geistige Austausch mit ihrem Mann. »In all dem Lärm ist es hier ohne Dich wie seelenlos«, schrieb sie ihm. »Ich bin daran gewöhnt, mich gemeinsam mit Dir auf jene geistige Höhe zu erheben, die mich erleuchtet und mit dem Preis für das Birkhuhn (d.h. mit dem Haushalt) versöhnt.« Und auch Tolstoj merkte bei dieser ersten langen Trennung, wie sehr er seine Sonja liebte und brauchte »Einen Brief von Dir zu bekommen«, vertraute er ihr an, »ist wie ein kleines Rendezvous: ich empfinde dasselbe Gefühl der Ungeduld, Freude und Angst, wenn ich ihn zur Hand nehme, als ob ich nach Hause komme.«

Nach Tolstojs Rückkehr kam es zum ersten schwerwiegenden Konflikt zwischen den Eheleuten. Da die Niederkunft mit dem fünften Kind, der Tochter Maria, Tolstaja im Februar 1871 fast das Leben gekostet hätte, fürchtete sie, wieder schwanger zu werden. Der Wunsch, keine Kinder mehr zu bekommen, war jedoch Tolstojs Vorstellung des Familienlebens derart entgegengesetzt, daß er sogar eine Trennung in Erwägung zog. Erst als Sofja Andrejewna ihre Weigerung, weitere Kinder zu bekommen, aufgab, normalisierte sich die Beziehung wieder. Nicht zum letzten Mal sah Tolstaja sich gezwungen, sich dem Willen ihres Mannes unterzuordnen. Sechzehn Schwangerschaften machte Tolstaja in den ersten drei Ehejahrzehnten durch und gebar dreizehn Kinder.

1873 begann Tolstoj die Arbeit an seinem nächsten großen Roman: Anna Karenina. »Die Umstände, unter denen Anna Karenina geschrieben wurde«, erinnert sich die Schriftstellergattin, »waren sehr viel schwerer als jene, unter welchen Krieg und Frieden entstanden war. Damals lebten wir in ungetrübtem Glück, nun aber starben nacheinander drei Kinder und zwei Tanten.«

»Deine Anna Karenina (die vom Dezember) wird in Golos und Nowoje Wremja über alle Maßen gelobt«, berichtete Tolstaja ihrem Mann begeistert, nachdem die letzten Teile des Romans im Dezember 1877 erschienen waren. Noch ahnte sie nicht, daß das Familienglück sich dem Ende zuneigte und eine Zeit unüberwindbarer Konflikte begann. »Das zwanzig Jahre währende glückliche Zusammenleben endete in einem Drama, das sich lange zuvor angekündigt hatte und unsere Familie zerstörte«, schreibt die Tochter Tatjana in ihren Erinnerungen. »Unsere Familie fand sich in einem tragischen Dilemma, aus dem es keinen Ausweg gab.«

Die Schicksalsschläge der letzten Jahre hatten in Tolstoj wieder seine Angst vor dem Tod wachgerufen. Vergeblich suchte er die Antwort auf die Frage nach dem Ziel jeglicher Existenz im orthodoxen Christentum. Einstmals in Jugendjahren war in Tolstoj die Idee erwachsen, sein Leben der Gründung einer neuen Religion zu widmen, »die auf der Lehre Christi beruhen sollte, gereinigt von Dogmen und Mystik«. Nun, als reifer Mann, beschloß Tolstoj, daß er für seine Berufung bereit sei.

Um den ältesten Kindern eine standesgemäße Ausbildung zu ermöglichen, lebte die Familie ab 1881 während der Winter in Moskau. Für Tolstoj war das Leben im »verruchten Babylon« von den ersten Tagen an eine Qual. Erschüttert von der furchtbaren Not und der Armut der proletarisierten Massen in den Armenvierteln und Nachtasylen schien es dem Schriftsteller verwerflich und unmoralisch, sein Leben und seine Arbeit »umgeben von schamlosem Wohlstand inmitten des Elends« unverändert fortzusetzen. Häufig floh er vor den Eindrücken der Stadt nach Jasnaja Poljana, wo er in der ländlichen Ruhe fernab von der »ansteckenden Kloake« der Stadt seine Antwort auf die Fragen der Armut und sozialen Ungleichheit zu finden suchte. Die gesamte Last des Haushalts, der Erziehung der Kinder und die Sorge um das finanzielle Wohlergehen der Familie lag nunmehr auf den Schultern Tolstajas. »Ich glaube, daß ich mich nirgends besser und ruhiger fühlen könnte«, rechtfertigte Tolstoj seine Aufenthalte in Jasnaja Poljana. »Du, die zu Hause stets von Sorge um die Familie geplagt bist, kannst den Unterschied gar nicht empfinden, der für mich zwischen Stadt und Land liegt.«

Während die Familie in Moskau ein Leben führte, wie es in ihren Kreisen üblich war, arbeitete Tolstoj an der Vereinfachung des Lebens und wollte allem vermeintlichen Luxus entsagen. Der Literat Tolstoj wandelte sich zum religiösen und sozialen Denker. Kompromißlos verurteilte er die bestehende, auf Ausbeutung und Unterdrückung gründende Gesellschaftsordnung. Besitz schien ihm das größte Übel. Der Appell, der aus dieser Überzeugung entsprang, lautete: Die Wohlhabenden mögen ihren Reichtum an die Armen verteilen und selbst nach den Geboten der Bergpredigt ein sittlich geläutertes Leben in Bescheidenheit und selbstloser Nächstenliebe führen.

Seine Forderungen galten auch für die eigene Familie. Tolstoj versuchte seine Frau von der Notwendigkeit zu überzeugen, den gesamten Besitz an die Bauern zu übergeben und von der eigenen Hände Arbeit zu leben. Sofja Tolstaja jedoch hielt unerschütterlich an ihren eigenen Grundsätzen fest: »Du hast stets sorgsam die Frage der Verpflichtungen gegen die Familie ausgelassen«, hielt sie ihm entgegen. »Gäbe es diese Verpflichtungen nicht, die ich mir keineswegs ausdenke, sondern die mein ganzes Wesen bestimmen, so widmete ich mein Leben der Wohltätigkeit, um, wie Du sagst, nicht am Elend der niederen Klassen vorüberzugehen, sondern bemühte mich zu helfen, wo ich nur kann. Doch ich kann es nicht zulassen, daß aus unseren Kindern, die mir von Gott geschenkt wurden, ungehobelte und ungebildete Menschen erwachsen, während ich mich dem Wohle mir fremder Menschen widme.«

Tolstaja stand den neuen Ansichten ihres Mannes kritisch gegenüber und sprach ihre Meinung offen aus. Im Gegensatz zu den visionären Antworten Tolstojs auf die Frage, wie das Übel in der Welt zu bekämpfen sei, war sie stets Realistin und überzeugt, es sei dienlicher, die Menschheit nicht mit Predigten verbessern zu wollen, sondern mit konkreter Hilfe zu unterstützen. »Wenn man einem zu essen gibt, so ist dies gut, wenn man zweien zu essen gibt, so ist es noch besser«, heißt es in einem ihrer Briefe. »So gib auch Du den Hungrigen zu essen, und ich werde, wie Iwan der Narr die Blätter zu Gold verwandelt, so viel Geld mit Deinen Werken verdienen, wie nur immer notwendig dafür.«

Im Juni 1884 eskalierten die Auseinandersetzungen um die richtige Lebensweise derart, daß Tolstoj einige Habseligkeiten in ein Bündel warf und die Familie verlassen wollte. Bereits in Tula aber kehrte er um. In derselben Nacht kam seine Frau mit dem zwölften Kind, der Tochter Alexandra, nieder.

Tolstoj war nicht imstande, seine Frau zu verlassen, zu groß war die Liebe, die beide miteinander verband. Doch diese beiden einander liebenden Menschen fanden sich nun auf unterschiedlichen Seiten. Auseinandersetzungen, Streit und gegenseitige Anschuldigungen standen von nun an auf der Tagesordnung. Auch in ihren Briefen kämpften sie für ihre Überzeugungen, die nicht mehr miteinander zu vereinbaren waren. Sie kämpften um ihre Liebe und rangen sich Kompromisse ab, die ein weiteres Zusammenleben ermöglichten.

1883 erteilte Tolstoj seiner Frau Vollmacht für alle Vermögensangelegenheiten. Nun war Tolstaja auch offiziell für das finanzielle Wohlergehen der Familie verantwortlich. Sie führte die Geschäfte nach ihrem Gutdünken, legte ihrem Mann aber stets Rechenschaft ab. Seit 1885 gab die Schriftstellergattin die Werke ihres Mannes als Verlegerin heraus und war fast ohne Unterlaß mit Korrekturen, Verhandlungen mit Zensurbehören und Buchhändlern, Papiergroßhändlern und Druckereibesitzern beschäftigt. In den fünfundzwanzig Jahren bis zu Tolstojs Tod im Jahr 1910 gab sie dreizehn Auflagen seiner Gesammelten Werke in Druck.

Acht Jahre später befreite Tolstoj sich ganz von jeglichem Besitz. Der Grundbesitz wurde unter den Nachkommen aufgeteilt, und er gab eine öffentliche Erklärung ab, derzufolge seine nach 1881 verfaßten Werke nicht mehr dem Urheberrecht unterlägen. Der auf Tolstojs Anregung gegründete Verlag Posrednik [Der Vermittler], der von überzeugten Tolstoj-Jüngern geführt wurde und erbauliche Literatur in hohen Auflagen zu niedrigen Preisen publizierte, erhielt das Recht der Erstveröffentlichung aller Werke Tolstojs. Gleichwohl blieb die Verlagstätigkeit Tolstajas weiterhin die Haupteinnahmequelle der Familie.

Ebenso wie Tolstoj, der sich häufig nach Jasnaja Poljana zurückzog, um dort ungestört arbeiten zu können, floh seine Frau vor dem zunehmend belastenden Zusammenleben in ihre Arbeit als Verlegerin. »Hinsichtlich meiner verlegerischen Tätigkeit sage ich folgendes«, schrieb sie ihrem Mann: »Ich flüchte mich in diese peinvolle Aufgabe, um zu vergessen; dies ist meine Schenke, in der ich die schwierige Lage der Familie hinter mir lasse. [...] Ich muß mich irgendwohin flüchten vor diesen Szenen, Vorwürfen, vor diesem Leiden im Namen eines neuen, guten Glücks, welches das alte Glück zerstört.«

Zugleich war ihre verlegerische Arbeit aber auch Tolstajas erster Schritt zur Emanzipation vom übermächtigen Einfluß ihres Ehemanns. Nachdem die literarische Arbeit für Tolstoj nach der Fertigstellung von Anna Karenina in den Hintergrund getreten war und er vor allem philosophische und sozialkritische Arbeiten verfaßt hatte, veränderte sich auch das Selbstverständnis seiner Frau. Nach fast drei Jahrzehnten der Ehe, in denen sie die Rolle des »Dienstmädchens des Schriftstellers und Gatten« bereitwillig übernommen hatte, begann sie nun, nach Verwirklichung ihres eigenen Ichs zu streben. Im Alter von fast fünfzig Jahren begann Sofja Tolstaja wieder zu schreiben: Eine Frage der Schuld lautet der Titel ihres Kurzromans, den sie in den Jahren 1892/93 als Antwort auf Die Kreutzersonate ihres Mannes verfaßte und in dem sie der »erbarmungslosen Haltung Lew Nikolajewitschs der Frau gegenüber« eine weibliche Sicht entgegenstellte. »Mich braucht er nur als Gegenstand«, klagt ihre Protagonistin Anna in diesem Roman ihren Ehemann an, und damit beschrieb Tolstaja auch den Grund für die Tragödie ihrer Ehe. Erst fünfundsiebzig Jahre nach ihrem Tod sollte ihre literarische Replik auf Die Kreutzersonate erscheinen.

Trotz aller Spannungen gab es jedoch auch immer wieder Zeiten der Annäherung der Eheleute. Als das Russische Reich zu Beginn der 1890er Jahr von einer Hungersnot heimgesucht wurde, stellten Tolstoj und die ältesten Tolstoj-Kinder sich ganz in den Dienst der Hilfe für die Notleidenden. Tolstaja blieb mit den jüngeren Kindern in Moskau und verfaßte einen Aufruf, der die Bevölkerung aufwühlte. Von allen Seiten wurde die humanitäre Hilfe der Tolstojs national und international durch Spenden unterstützt.

Durch die gemeinsame Arbeit für die Anliegen der von der Hungersnot Bedrohten traten die Auseinandersetzungen im Hause Tolstoj in den Hintergrund. Als aber der Alltag wieder einkehrte, brachen die alten Konflikte erneut auf. Mehr als zuvor litt Tolstoj an seinem Leben: »Dieser Luxus. Dieser Handel mit den Büchern. Dieser moralische Schmutz«, notierte er im Tagebuch. Doch er wurde sich darüber klar, daß er seine Frau und seine Familie nicht verlassen konnte. Das Zusammenleben mit ihnen, das seinen eigenen Überzeugungen entgegengesetzt war, sah er nun als ihm von Gott auferlegte Prüfung. Ein »Kreuz«, das ihm zu seiner Selbstvervollkommnung unabdingbar ist, um demütiger zu werden, zu verzeihen und zu lieben.

Im Februar 1895 starb unerwartet der jüngste Sohn der Tolstojs, Wanetschka, kurz vor seinem siebten Geburtstag. Beide Ehepartner trauerten außerordentlich um den Liebling der Familie. »Alles, alles ist von mir gegangen. [...] Plötzlich ist das Leben zu Ende«, beschrieb Tolstaja ihre Seelennot. Sie fand Trost in der Musik. Die »Tür zum Verständnis der Musik« öffnete ihr der Komponist und Pianist Sergej Iwanowitsch Tanejew, der über viele Jahre lang häufiger Gast bei den Tolstojs in Jasnaja Poljana und Moskau war.

Aus Tolstajas Leidenschaft zur Musik erwuchs eine schwärmerische Begeisterung für den Musiker. Drunter und drüber ging es nun bei den Tolstojs. Von Eifersucht geplagt machte der Schriftsteller seiner Frau heftige Vorwürfe. Seine Briefe an sie aus dieser Zeit bezeugen seine tiefe Verbundenheit mit ihr nach über dreißig Jahren Ehe. »Du hast bei Deinem Aufenthalt hier einen so kraftvollen, munteren und schönen Eindruck hinterlassen, sogar allzu schön für mich, denn nun fehlst Du mir noch mehr als sonst«, machte Tolstoj seiner Sonja im Mai 1897 eine Liebeserklärung, »Mein Wiedererwachen zum Leben und Dein Aufenthalt hier – sind die stärksten und glücklichsten Eindrücke meines Lebens; und dies im Alter von 69 Jahren von einer 53jährigen Frau.« Sie antwortete ihm postwendend: »Wir sollten versuchen, unsere Einhelligkeit nicht dadurch zu zerstören, indem wir unsere grausamen Tagebücher lesen oder einander mit Eifersucht und Vorwürfen quälen oder mit Verachtung dafür, womit sich der andere beschäftigt. Wir müssen unsere Beziehung behüten.«

Ihre Hinneigung zur Musik und platonische Verliebtheit in Tanejew verarbeitete Tolstaja in ihrem Roman Lied ohne Worte, in dem sie mit großer Empfindsamkeit über ihre damalige Zerrissenheit zwischen dem Pflichtgefühl der Ehefrau und Mutter und ihrer Leidenschaft erzählt.

Sergej Tanejew war lange Zeit ahnungslos, daß er der Grund zahlreicher Eifersuchtsszenen im Hause Tolstoj war. Doch dann kamen auch ihm die Gerüchte zu Ohren. Er zog sich zurück, wich seiner einstigen Musikfreundin aus. Bei den Tolstojs kehrte für einige Zeit Ruhe ein.

Das Zusammenleben um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert verlief recht harmonisch, und die Ehegatten schienen in stillem Einverständnis die Verschiedenheit ihrer Anschauungen zu respektieren. »Zuerst war ich traurig, daß wir heute nicht beieinander sind«, schrieb Tolstaja ihrem Mann am achtunddreißigsten Hochzeitstag im September 1900, »doch dann wandte sich mein Herz mit inniger Zärtlichkeit der Erinnerung an unser gemeinsames Leben und Dir zu, und da verspürte ich den Wunsch, Dir für das einstige Glück, das Du mir gabst, zu danken und zu bedauern, daß es nicht unser ganzes Leben lang so stark, still und vollkommen bleiben konnte.«

Im Juli 1898 nahm Tolstoj die Arbeit an seinem Roman Auferstehung wieder auf, den er einige Jahr zuvor begonnen hatte. Die ganze Familie arbeitete an der Reinschrift. Obwohl Tolstaja der Roman, der von einer jungen Frau handelt, deren Leben zerbricht, nachdem ein junger Aristokrat sie verführt hatte, nicht eben gefiel, war sie glücklich, daß ihr Mann endlich wieder literarisch zu arbeiten begonnen hatte. Das fürstliche Honorar, das Tolstoj mit dem Verleger Marx vereinbarte, sollte der in Rußland Verfolgungen ausgesetzten Religionsgemeinschaft der Duchoborzen für ihre Übersiedlung nach Kanada gespendet werden.

Die Machthaber sahen in Tolstojs neuem Werk eine »Karikatur der herrschenden Ordnung und der Gesellschaft«. Der Roman war für sie ein willkommener Anlaß, den Schriftsteller, dessen Standpunkte ihnen schon lange ein Dorn im Auge waren, da sie die Grundfesten von Staat und Kirche in Frage stellten, endlich in seine Schranken zu weisen. Die Orthodoxie, die in Tolstoj den »Verkünder einer neuen Irrlehre« sah, beschloß, den Aufrührer zu maßregeln. Ende Februar 1901 erfuhr der Schriftsteller aus der Morgenzeitung von seiner Exkommunikation. Als Vorwand dafür diente die Beschreibung eines Gottesdienstes in der Gefängniskapelle in Auferstehung.

Empört über die Selbstherrlichkeit der Kirchenfürsten verfaßte Tolstaja einen offenen Brief, in dem sie ihrem Protest flammend und selbstbewußt Ausdruck verlieh: »Die Schuld für den sündigen Abfall von der Kirche tragen nicht jene Verirrten, welche die Wahrheit zu erkennen suchen, sondern jene, welche sich stolz als ihre Oberhäupter bezeichnen und, statt Liebe, Vergebung und Güte zu üben, zu geistigen Henkern all derer werden, die eher Vergebung von Gott erlangen werden, da sie in Frieden und fern aller irdischen Versuchungen ein Leben in Liebe und Hilfe für den Nächsten leben, wenngleich auch außerhalb der Kirche, als jene strafenden und den Kirchenbann aussprechenden Hirten, die mit Brillanten besetzte Mitra und Insignien tragen.« Obwohl die Veröffentlichung der Stellungnahme Tolstajas umgehend untersagt wurde, erreichte sie in hektographierten Kopien in Rußland ebenso wie im Ausland dennoch ein großes Publikum.

Nach langer, schwerer Krankheit Tolstojs lebte das Ehepaar seit 1902 wieder gänzlich auf Jasnaja Poljana und war, wie in den ersten Jahren der Ehe, kaum mehr als wenige Tage getrennt. Beide Ehepartner gingen ihren Beschäftigungen nach. Tolstoj schrieb Hadschi Murat und sammelte Zitate für seinen Lesekreis, einem Konvolut aus den Werken der Dichter aller Zeiten, und arbeitete an seinen Erinnerungen. Tolstaja widmete sich mit Leidenschaft der Malerei und der Fotografie, schrieb »unermüdlich« an ihrer Autobiographie Mein Leben und reiste gelegentlich in Angelegenheit ihres Verlags nach Moskau. Im Historischen Museum, dessen Archiv sie den Großteil der Manuskripte Tolstojs und seiner Korrespondenz übergeben hatte, exzerpierte sie für ihre Autobiographie, in ihren Mußestunden besuchte sie Ausstellungen und Konzerte. Die leidliche Ruhe, die im Hause Tolstoj eingekehrt war, wurde indes nach der Rückkehr des Tolstoj-Adepten Wladimir Tschertkow aus der Emigration im Jahre 1907 wieder gestört. Bei Wladimir Grigorjewitsch Tschertkow glaubte Tolstoj jenes Verständnis zu finden, das er bei seiner Frau und seiner Familie vermißte. Tschertkow war, nachdem er im Dezember 1883 die Bekanntschaft des von ihm leidenschaftlich verehrten Tolstoj gemacht hatte, rasch zu einem der führenden Tolstojaner aufgestiegen. Die Schriftstellergattin sah die kritiklose Verehrung Tolstojs kritisch: »Ich mag ihn nicht«, notierte sie bereits im Oktober 1887 in ihrem Tagebuch. »Er ist nicht klug, sondern verschlagen, einseitig, schlecht. Lew Nikolajewitsch fühlt sich nur deshalb zu ihm hingezogen, weil er von ihm umschmeichelt wird.«

Während seiner Emigration war Tschertkow zum alleinigen Sachverwalter Tolstojs außerhalb Rußlands aufgestiegen. Als er nach zehn Jahren in die Heimat zurückkehren konnte, fühlte Tolstaja sich von Tschertkow und seinen Gefolgsmännern aus dem Leben ihres Mannes verdrängt.

Mit Tschertkows Rückkehr nahm auch die Zahl der Besucher in Jasnaja Poljana wieder zu. Die wichtigsten Vertreter des Tolstoj-Kultes ließen sich in der Nähe des Anwesens ihres Meisters nieder und versammelten sich fast täglich um ihn. Ein normales Privatleben wurde unmöglich. Das Heim zerfiel in zwei Parteien, die sich erbittert bekämpften. Auf der einen Seite standen Tschertkow und die jüngste Tolstoj-Tochter Alexandra, auf der anderen Tolstaja und die Söhne. Die Situation eskalierte, als Tschertkow Tolstoj Ende des Jahres 1909 dazu drängte, ein Testament abzufassen, in dem er seine gesamten Schriften »der Allgemeinheit« vermachte. Als Tolstaja zufällig von diesem Vorgang erfuhr, der auf Tschertkows Drängen vor ihr geheimgehalten worden war, war sie empört.

Am Morgen des 28. Oktober 1910 verließ Tolstoj sein Heim in Jasnaja Poljana. Tolstaja war außer sich, versuchte ihrem Leben ein Ende zu machen. Sie schickte ihrem Mann, dessen Aufenthaltsort anfangs niemandem bekannt war, verzweifelte Briefe. Zu einer Versöhnung der einander so tief verbundenen Ehepartner kam es gleichwohl nicht mehr. Auf seiner Fahrt in ein neues Leben, die er erst an seinem Lebensabend anzutreten wagte, erkrankte Tolstoj und starb am 7. November 1910. Seine Frau ließ man erst zu ihm vor, als er bereits bewußtlos war.

Kurz vor seinem Tod sagte Tolstoj zu seiner Tochter Tatjana: »Vieles stürzt auf Sonja nieder, wir haben schlecht gehandelt.« Tolstaja selbst war sich dessen bewußt, daß vieles auf sie niederstürzen würde. Schon bald nach dem Tod des Schriftstellers erschienen Erinnerungen seiner Adepten, die seine Gattin als bösartiges Frauenzimmer darstellten. Gegengewicht hierzu wurden die Briefe Tolstojs an seine Frau, die Tolstaja bereits 1913 in einer Auswahl herausgab. »Nach meinem Tode wird man meine Beziehungen zu meinem Manne und die seinen zu mir möglicherweise falsch beurteilen und darstellen«, heißt es in ihrem Vorwort. »Man möge sich doch für die lebendigen und wahrhaften Quellen interessieren und nach ihnen urteilen und sich nicht um Vermutungen, Nacherzählungen und Erfindungen kümmern!«

Die Publikation wurde ein großer Erfolg. Die Rezensenten nannten den Band »ein Buch unendlich großer Liebe«, doch sie bemerkten zugleich, daß erst Tolstajas Stimme das Bild dieser großen Liebe vollständig machen würde. Auch von ihren eigenen Briefen an ihren Mann fertigte Tolstaja ein Typoskript an und versah sie mit Anmerkungen. Eine Veröffentlichung jedoch wagte sie nicht.

Die Briefe Lew Tolstojs an seine Frau (insgesamt 840 Dokumente) wurden unter der Redaktion von M. A. Zjawlowski und P.S. Popow im Band 83 der neunzigbändigen Ausgabe der gesammelten Werke Lew Tolstojs 1938 sowie 1949 unter der Redaktion von P. S. Popow und N. N. Gussew im Band 84 auf Russisch vollständig herausgegeben. Auf Deutsch erschien 1925 eine auf der Auswahl Sofja Tolstajas basierende, von Dmitri Umanski aus dem Russischen übersetzte und mit einer Einleitung der Tolstoj-Tochter Tatjana Suchotina-Tolstaja versehene Ausgabe der Briefe Lew Tolstojs an seine Frau.

Ein Großteil der Briefe der Schriftstellergattin an Lew Tolstoj (443 von insgesamt ca. 660) wurde 1936, von A.I. Tolstaja und P. S. Popow kommentiert und mit Anmerkungen versehen, zum ersten und einzigen Mal in Rußland publiziert. Sie wurden bisher nicht ins Deutsche oder eine andere Sprache übersetzt.

In der nun vorgelegten Auswahl von Briefen Lew Tolstojs und Sofja Tolstajas werden hundert Jahre nach dem Tod des Schriftstellers erstmals die Stimmen der Ehegatten einander gegenübergestellt. Sie zeigen psychologisch klare und nüchterne Analysen des Trennenden und führen doch immer wieder zu der Erkenntnis, daß die Ehegatten trotz allem ohneeinander nicht leben können. Ihr Briefwechsel spiegelt nicht nur die Höhen und Tiefen ihrer schwierigen Liebe, sondern zeigt auch die Schriftstellergattin als außergewöhnliche Persönlichkeit.

I. Die erste Ehezeit

Die ersten beiden Jahrzehnte der Ehe leben die Tolstojs zurückgezogen auf ihrem Landgut Jasnaja Poljana. Tatkräftig unterstützt von seiner Ehefrau, die seine Manuskripte in Reinschrift überträgt, arbeitet der Schriftsteller an den großen Romanen Krieg und Frieden (1863-1869) und Anna Karenina (1873-1878).

1862

[Sofja Andrejewna Behrs an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]

[28. August 1862]

[Pokrowskoje, Glebow-Streschnew1]

Wenn ich eine Königin wäre, schickte ich Ihnen zu Ihrem Geburtstag ein herzallerliebstes Reskript, als gewöhnliche Sterbliche aber gratuliere ich Ihnen einfach dazu, daß Sie eines schönen Tages Gottes Welt erblickten, und wünsche Ihnen, noch lange, wenn möglich für immer, auf diese mit ebensolchen Augen zu blicken wie heute.

Sonja2.

[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Behrs]

[14. September 1862]

[Moskau]

Sofja Andrejewna!

Ich ertrage es nicht länger. Seit drei Wochen sage ich mir jeden Tag: »Heute sage ich alles« und gehe doch mit derselben Sehnsucht, Reue und Angst und mit demselben Glück im Herzen wieder fort. Und jede Nacht, wie auch jetzt, deute ich das Geschehene, quäle mich und sage mir: Warum habe ich es nicht gesagt, ja, wie und was ich hätte sagen sollen? Ich nehme diesen Brief mit, um ihn Ihnen zu überreichen, wenn es mir wieder nicht gelingt und mir der Mut fehlt, Ihnen alles zu sagen.

Die falsche Auffassung Ihrer Familie von mir besteht, wie mir scheint, darin, daß man meint, ich sei in Ihre Schwester Lisa3 verliebt. Das stimmt nicht. Ihre Erzählung4 geht mir nicht aus dem Kopf, denn nachdem ich sie gelesen hatte, war ich überzeugt, daß es mir, Dublizki, nicht anstünde, vom Glück zu träumen, daß Ihre romantischen Vorstellungen von der Liebe etwas besonderes seien, daß ich nicht eifersüchtig war und sein werde auf den, den Sie lieben werden. Ich glaubte, ich könne mich an Ihnen freuen, wie an Kindern.

In Iwizy5 schrieb ich: ›Ihre Jugend erinnert mich allzu deutlich an mein Alter, ja, gerade Sie ...‹

Aber damals und auch danach belog ich mich selbst. Damals hätte ich noch einhalten können und mich in mein Kloster einsamer Arbeit und unermüdlichen Schaffens zurückziehen können. Nun kann ich dies nicht mehr und fühle, daß ich in Ihrer Familie alles durcheinandergebracht habe, daß die einfachen und teuren Beziehungen zu Ihnen, als einem Freund und ehrlichen Menschen, verloren sind. Ich kann nicht abreisen, aber bleiben kann ich auch nicht. Sie sind ein ehrlicher Mensch, Hand aufs Herz, sagen Sie mir, um Gottes Willen nicht unbedacht, was soll ich tun? Was man verlacht hat, dafür muß man sich nachher plagen. Ich wäre vor Lachen gestorben, wenn Sie mir vor einem Monat gesagt hätten, daß man sich derart quälen kann, wie ich mich nun quäle, ja freudvoll quäle. Sagen Sie mir als ehrlicher Mensch, wollen Sie meine Frau werden? Aber nur, wenn Sie von ganzem Herzen mutig sagen können: Ja. – Sagen Sie lieber: Nein, wenn Sie auch nur den Schatten eines Zweifels in sich tragen.

Bei Gott, prüfen Sie sich gut.

Es wird mir furchtbar sein, ein Nein zu vernehmen, doch ich sehe es voraus und werde in mir die Kraft finden, es zu ertragen. Doch sollte ich als Ehemann nicht ebenso geliebt werden, wie ich liebe, wird dies furchtbar sein!6

1864

[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]

22./23. April 1864. 22.10 Uhr.

Pirogowo7.

Wir sind sehr gut angekommen, nichts ist gebrochen, nichts gerissen, und Sascha8 war mit dem Sitz sehr zufrieden. In Pirogowo gingen wir zuerst zum Gestüt, und mir ward ganz traurig zumute – als ich die Stallungen sah, in denen früher wertvolle Rassepferde standen und welche nun leerstehen oder mit Bettstellen belegt sind. – Ich war 4 Jahre nicht in Pirogowo, und es ist schrecklich traurig, nach dem einstigen Reichtum und Überfluß die Widerwärtigkeit der Lotterwirtschaft zu erleben [...]. In der Wirtschaft Serjoshas9 bleibt für mich nichts zu tun, obwohl ich doch merke, daß ich schon durch ein überzeugendes Gespräch mit dem Dorfältesten und dem Verwalter durchaus nützlich sein kann. [...]

23. April 4 1/2 Uhr. Ich wachte um 4 auf, ungeachtet dessen, daß ich mich erst gegen 12 schlafen gelegt hatte, habe alle aufgeweckt und den Samowar anzuheizen und die Pferde anzuspannen geheißen. Das Haus ist buchstäblich ein Spielzeug aus Karton und bis ins Detail unübertrefflich gut eingerichtet; doch es ist derart kalt, daß wir in der Küche zu Mittag, oder besser zu Abend, aßen. [...]

Nach dem Essen besichtigte ich das ganze Haus und erkannte Serjoshas Sachen wieder (verschiedene Kleinigkeiten), die ich seit langem nicht mehr gesehen habe, die mir aber schon seit 25 Jahren, seit unserer beider Kindheit, vertraut sind, und es ward mir schrecklich traurig zumute, als ob ich ihn auf immer verloren hätte. Und tatsächlich ist dies fast der Fall. Sie schliefen alle oben, ich unten, vermutlich auf jenem Diwan, auf welchem Tanja10 hinter dem Paravent Serjosha festhielt11. Und diese ganze poetische und traurige Geschichte wurde in meinem Gedächtnis wieder lebendig. Sie beide sind feine Menschen, schön und rechtschaffen; er wird zwar älter, ist aber immer noch Kind, und beide sind nun unglücklich; ich kann verstehen, daß die Erinnerung an jene Nacht – zu zweit allein im leeren, hübschen Haus – für sie die poetischste aller Erinnerungen ist, da sie beide, besonders Serjosha, so bezaubernd waren. [...]

Dann begann es, mir im Ohr zu klingen, und ich hatte Sehnsucht nach Dir (um den kleinen Serjosha12 ist mir noch nicht weh), und ich wurde von Furcht erfaßt, da ich Dich allein ließ; dann schlief ich ein und sah im Traum verschiedene Personen meines Romans13. [...]

Und bitte, laß Dich nicht gehen, wenn ich nicht da bin, wozu Tanja Dich immer verführt, sondern sei so, wie Du es an jenen Tagen bist, wenn Du zum Mäuschen14 gehst, auf dem Fortepiano spielst und allein Serjosha Dich abzulenken vermag. (Wenn Serjosha erkranken sollte, schicke sogleich einen Boten.) Ich bitte Dich, nicht herumzusitzen, sondern Dir Bewegung zu verschaffen, da es Dir sonst (ich besitze die Kühnheit, dies anzunehmen) ohne mich traurig zumute sein könnte. – Ich werde Dir jeden Tag, ebenso wie heute, alles schreiben – und sollte ich die Briefe auch selbst mitbringen –, schreibe, bitte, auch Du mir. [...] Lebt wohl, ich küsse die Hand der Tantchen15.

[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]

[23. April 1864]. Am Abend.

[Jasnaja Poljana]

Ich wollte Dir ebenso gewissenhaft und wahrhaftig alles beschreiben, was sich bei hier uns und mit uns in diesen anderthalb Tagen zugetragen hat, doch dann begann Serjosha plötzlich zu keuchen, seine Brust war ganz eng, und mich erfaßte eine solche Angst, daß ich, wie immer, ganz kopflos wurde und mich zu fürchten begann. Und ohne Dich ist alles noch furchtbarer und schlimmer. Ich wende alle Mittel gegen Erkältung an, gebe Gott, daß die Krankheit nicht gefährlich ist. Mir ist schrecklich, schrecklich schwer, traurig und ängstlich ohne Dich. Gerade schläft er, und ich nehme es auf mich, Dir alles genau zu beschreiben. – Gestern, als Du weggefahren bist, habe ich mich zusammengenommen und nicht geweint. Und dann schien mir plötzlich, ich hätte sehr viel zu tun, ich war ganz geschäftig, lief und hastete hin und her, aber wenn Du mich heute fragen würdest, was ich getan habe – ich weiß es nicht. Vor allem habe ich mich um Serjosha gekümmert und ihn kaum einmal aus den Armen gelegt. Spazieren war ich nicht, am Abend habe ich gestrickt. Als ich dann ins Schlafzimmer ging und mich schlafen legen wollte, empfand ich plötzlich Sehnsucht nach Dir und blieb noch zwei Stunden auf, begann einen Brief, doch er wollte nicht gelingen, ich weinte und habe die ganze Nacht fast gar nicht geschlafen. Als ich dann schließlich doch einschlief, hatte ich die ganze Zeit schreckliche Träume, ich wachte auf und fürchtete mich. [...]

Um elf Uhr stand ich auf, fühlte mich wie krank, so erbärmlich war mir. Serjosha war heiter, es ging ihm besser, und er war sehr lieb. Beim Tee sagte man mir, Nikolaj16 sei krank und könne nicht kochen. Ich begab mich in die Küche und war den ganzen Vormittag mit Kochen beschäftigt. In die Küche brachte Tanja mir Deinen Brief. Ich freute mich so sehr, daß mir über und über warm wurde. Ich las und bekam vor lauter Freude kaum Luft. Es scheint ganz so, als ob Du vor langer Zeit schon abgereist seiest. [...] Ich freue mich sehr über Deine Absicht, mir zu schreiben – wir haben ja gar nicht über alles gesprochen, ich konnte an dem Tag gar nicht sprechen, denn der Abschied fiel so schwer. Und nun macht es mich traurig, Dir zu schreiben, ich vermeide die ganze Zeit, Dich beim Namen zu nennen, denn das ist, als ob ich mich mit Dir unterhielte, doch Du bist nicht bei mir, und dann sehne ich mich noch mehr nach Dir. [...] Serjosha hustet sehr; ich bin schon ganz mutlos und schicke morgen nach dem Doktor und nach Dir, sollte es ihm nicht besser gehen.

24. [April]. Nach dem Essen.

Hier bei uns hat es aufgeklart, mich quält, daß Du unterwegs bist, und ich bin ganz furchtbar beunruhigt unser aller wegen. Ich werde Dir alles persönlich erzählen, schreibe, damit die Zeit schneller vergehen möge, und doch ist es ganz so, als ob ich mit Dir spräche. Was gestern war – ich mag mich gar nicht daran erinnern! Ganz unerwartet, wir saßen beim Tee, begann Serjosha plötzlich wieder zu husten, ich stand auf, schaute nach, mir schien, es sei nichts Besonderes. Dann wurde der Husten immer stärker; ich schrieb ein wenig, hörte von neuem Husten, lief ins Kinderzimmer, er war am Ersticken. In den ersten Minuten war ich ganz außer mir, erinnere mich gar nicht mehr, was um mich herum geschah. Er hustete ganz tief und rang um Luft, doch ich kam schnell wieder zu mir, obwohl ich die ganze Zeit über weinte. [...] Ich gab ihm Rizinusöl, machte Senfwickel. Wenn Du nur gesehen hättest, wie schlimm es um ihn stand. Er weinte, rang um Luft, der Senfwickel brannte ihm; er strampelte und riß an meinem Haar, an meinen Ohrringen, am Kragen, als ob er ganz in mich hineinkriechen wolle oder bitten wolle, daß wir ihn retten. [...]

Nach den Senfwickeln ging es ihm besser, doch er atmete die ganze Nacht sehr schwer. Ich machte ihm weiterhin heiße Umschläge, und er schlief ohne Windeln, so anrührend und lieb anzusehen, in allerliebsten kindlichen Posen. Tantchen Tatjana Alexandrowna und ich haben à la lettre17 nicht eine Minute geschlafen. [...] So vieles habe ich in dieser Nacht überdacht, so sehr liebte ich Dich, so gut verstand und fühlte ich, welch vorzüglicher Mensch Du bist und wie sehr ich Dich liebe. [...] Gegen fünf Uhr erschien Iwan Iwanowitsch18 mit dem Doktor. [...] Dieser gab dreimal 85 antimonhaltige Tropfen, legte die Senfwickel nicht wie wir auf die Brust, sondern auf den Rücken und gab einen Sirup, der sehr gut bei Husten hilft. [...] Serjosha hörte auf, um Luft zu ringen, atmete immer leichter und leichter und schlief ganz ruhig ein. Wir tranken dann alle gemeinsam Tee, es war ganz hell, denn es war bereits sechs Uhr morgens. Alle kamen zur Ruhe, ich sah, daß die Gefahr vorüber war, doch sein Husten und seine Atmung machten mir nach wie vor Sorgen, bis jetzt bin ich noch nicht ganz beruhigt. Er hat gut gegessen, ordentlich geschlafen und hatte guten Stuhl. Seine Zartheit bringt mich noch um den Verstand. [...] Er hat etwas abgenommen und ist Dir dadurch noch ähnlicher geworden. Du bist ja nicht hier, und so suche ich immerfort in seinem kleinen Gesicht Deine Züge. [...] Ich kann Deine Rückkehr kaum erwarten, so sehr möchte ich Dich endlich wiedersehen.

[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]

9. August 1864, Sonntag.

Pirogowo

Wir fuhren den alten Weg. Nach 4 Werst19 lief ich ins Moor und gab einen Fehlschuß auf eine Schnepfe ab. Später, schon fast bei Pirogowo [...], erlegte ich eine Sumpfschnepfe und eine Schnepfe. Tanja und ein Haufen von Knaben aus dem Dorf waren dabei und kreischten. – In Pirogowo empfingen uns Maschenka20 und die Kinder, Grischa21 und Serjosha. [...] Es wäre alles bestens gewesen, aber die Anwesenheit sowohl Serjoshas als auch Tanjas verlieh dem Beisammensein eine gewisse Anspannung und Unaufrichtigkeit. Dieses Musizieren, dieses Heraustreten auf den Balkon und ähnliches ist mir schrecklich unangenehm. Die ganze Geschichte verdirbt mir ziemlich das Leben hier. Immerfort fühle ich mich peinlich berührt und habe Angst um beide. [...] Wir übernachteten bei den Bauern. Ich schlief vorzüglich im Stall, von Dorka22 gewärmt und ohne von Insekten belästigt zu werden. Des Morgens um 4 Uhr weckten uns Schüsse aus dem Moor, das 1/4 Werst vom Dorf entfernt ist. Dort waren bereits 5 Pers. auf der Jagd. Wir zogen los, ich verfehlte eine Schnepfe, später traf ich eine. [...] Dann ritten wir weiter. Und fanden nichts als andere Jäger. Ich hätte zwei Wochen früher kommen sollen, denn das Moor hier ist schon so berühmt, daß von allerorten Menschen zur Jagd kommen. [...]

Ich aß bei Bibikow23 etwas mit bitterem Öl und wollte schon weiter, als plötzlich Serjosha erschien. Er hatte keine Ahnung, daß wir dort waren, sondern machte mit den Sefiroten24 eine Ausfahrt und schaute einfach einmal vorbei. Gemeinsam begaben wir uns nach Hause. Wir tranken Tee und aßen zu Abend, und ich legte mich mit Dorka im Seitenflügel schlafen, wo es, wie es heißt, Wanzen geben soll, doch ich schlief ganz vorzüglich und kann nicht sagen, ob es sie dort gibt oder nicht. Zwischen Serjosha und Tanja war etwas, ich bemerkte dies anhand gewisser Anhaltspunkte, und mir ist dies sehr unangenehm. [...] Gerade bin ich aufgestanden, alle anderen schlafen noch, habe ein Heft zur Hand genommen und schreibe an Sonja, ohne die mir das Leben schwerer fällt. – Gestern kam ich nach Pirogowo zurück mit dem Gedanken, daß ich heute wieder nach Jasnaja zurückkehre; derart bang war mir um Dich und Serjosha, den ich im Traume sah. [...] Als aber Tantchen verkündete, daß sie morgen mit Tanja abreise, beschloß ich, nach Nikolskoje25 zu fahren. [...] Ich bin völlig auf den Hund gekommen. Du sagst, daß ich Dich vergesse. Nicht eine Minute, besonders in Gesellschaft. Auf der Jagd vergesse ich Dich, denke nur noch an die Schnepfen, aber in jeder Begegnung mit anderen Menschen, bei jedem Wort, erinnere ich mich Deiner und möchte Dir all jenes sagen, was ich niemandem, außer Dir, sagen kann. Heute bin ich in Nikolskoje, bleibe dort den ganzen morgigen Tag, werde dann wohl nirgendwohin mehr fahren und komme übermorgen zurück.

[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]

[10. August 1864]. Montag.

[Jasnaja Poljana]

Ich fürchte, dieser Brief erreicht Dich nicht mehr; Du bist vielleicht schon auf dem Rückweg. Doch es ist besser, wenn er irgendwo verlorengeht, als gar nicht zu schreiben, mag sein, daß Du den Brief ja doch erhältst [...]

Über Deinen Brief habe ich mich so gefreut, ich kann gar nicht sagen wie sehr. Man brachte ihn in dem Augenblick, als ich mich zu meinem einsamen Mahl niederließ. Ich lief in mein Zimmer, um ihn dort zu lesen, und es war geradezu peinlich – immerfort lachte ich auf vor Glück. Wieder und wieder habe ich ihn gelesen! Du tust mir ganz und gar nicht leid, da Du auf den Hund gekommen bist, denn ich bin so froh, daß Du Dich meiner erinnerst und daß ich Dir fehlte. Nach Hause aber rufe ich Dich nicht, ich bin froh, daß ich dieses Mal nicht außer mir gerate vor Sehnsucht und Angst um Serjosha, und bin sogar froh, daß Du aus Pirogowo nicht nach Hause zurückgekehrt bist. Wenn wir uns schon einmal getrennt haben, dann solltest Du das, was Du Dir vorgenommen hast, auch tun, ansonsten müßten wir uns ja bald noch einmal trennen. Schade, daß Du zu spät zur Jagd gekommen bist, sie hätte Dir so viel Vergnügen bereitet. [...] Wenn Serjosha schläft, finde ich keine Ruhe, so sehr zieht es mich zu Dir, und ich warte immerfort auf Dich, als ob Du nur für kurze Zeit weggegangen seiest. [...] Dies war das erste Opfer, das ich dem Sohn brachte, daß ich nicht mit Dir fuhr.

Es bereitet mir nun Freude, darüber nachzusinnen, wie es wäre, wenn wir zusammen wären, wenn wir nur zu zweit irgendwohin gefahren wären, um dort eine Weile zu leben, wie Jungvermählte. Doch dies ist nun vorbei, niemals wird dies Wirklichkeit. Serjosha bekümmert mich sehr mit seiner Krankheit, die nicht vergehen will. Nicht eine Minute gibt er mir Erholung. Dauernd Durchfall, Durchfall und Durchfall! Ich bin überzeugt, daß ich einfach nicht in der Lage bin, ihn großzuziehen, aber was soll ich denn tun! Wenn Du mir etwas Richtiges in bezug auf ihn sagst, dann scheine ich oft ungehalten, in meinem Innern aber bin ich glücklich darüber und schätze alles, was Du sagst. [...]

Ich denke oft darüber nach, aber ich vermag mir nicht begreiflich zu machen, welche Gefühle Du für Serjosha empfindest. Wohl nicht dieselben, wie ich – auf welche Art liebst Du ihn? Ich empfinde vor allem Angst um ihn und Mitleid. [...] Bis ich gestern Deinen Brief erhielt, quälte mich fortwährend, daß in letzter Zeit eine gewisse Kälte zwischen uns herrschte, vor allem von Dir ausgehend, ja sogar eine gewisse Verlegenheit, aber Dein Brief ist von solcher Schlichtheit, so schön, daß all diese Gedanken verflogen sind. Gestern, nach Deinem Brief, erschien mir alles wieder so heiter. Die Zeit ohne Dich schien nicht mehr so lang, und auch Serjoshas Krankheit schien nicht mehr so gefährlich zu sein, alles, alles war plötzlich schöner, als ob Du selbst hier gewesen seiest. Ich sage, von Dir ausgehend, aber ich selbst habe Dir zwei Wunden zugefügt, was mir nunmehr peinlich ist, und die Erinnerung daran macht mich schrecklich traurig. Je länger ich mit Dir zusammenlebe, desto schwerer ist mir jede Gemeinheit, die ich Dir antue. Ich würde Dir noch mehr schreiben, doch ich fürchte, den Brief zu spät aufzugeben, daß die Post schon weg sein wird. Deshalb küsse ich Dich nun bis auf weiteres. Warte nicht auf einen weiteren Brief von mir, Du wirst ihn bestimmt nicht mehr erhalten. [...] Lebe wohl, Liebster, vielleicht bringt man mir heute einen Brief von Dir.

[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]

[11. August 1864] Dienstag, am Abend.

Jasnaja Poljana

Heute ist mir plötzlich so traurig zumute, lieber Ljowotschka26, mein Frohsinn ist verflogen, und so sehr wollte ich Dich bald, ganz bald wiedersehen. Das alles hat Dein lieber Brief mit mir gemacht, Deine Liebe zu mir und daß unser Zusammenleben immer schöner und schöner wird. [...] Meinen Tag habe ich folgendermaßen verbracht: Ich stand, wie die ganzen letzten Tage, um acht Uhr auf, es war die erste Nacht, in der ich ausgezeichnet schlief, denn Serjosha schlief gut. Dann habe ich Tanja nach Jassenki27 geschickt. Sie hat mir Deinen Brief mitgebracht. Ich habe den ganzen Vormittag Bücher in Ordnung gebracht, habe sie alle abgestaubt, die Regale ausgewischt und war danach sehr geschafft. Bevor ich niederkomme, wird das letzte Mal gewesen sein, daß ich dies getan habe; es ist keine leichte Arbeit. Dann überkam mich ein allgemeiner Wunsch nach Ordnung, und ich habe angefangen, alles aufzuräumen. Vor dem Essen zeichnete ich, es gelang mir nicht gut, aber dieses Mal will ich Charakter beweisen und das Begonnene zu Ende führen. Um Punkt vier gab es Essen. Der Haushofmeister ist sehr exakt und wir auch. Dann ging ich mit Serjosha spazieren und war in allen Gärten. [...]

Unser Tantchen spaziert mit dem Sonnenschirm alle Wege entlang und hat Lust, alles aufzuessen: die Pfirsiche, den Hahn, die Äpfel. Sie ist sehr guter Stimmung und sehr gütig. Heute hat sie so ergreifend von alten Zeiten erzählt, vom Tod aller ihr Nahestehenden, ihre Stimme zitterte dabei wie stets etwas, Du kennst das ja, und sie war so anrührend aufgeregt. Ich habe derweil weitergemalt, und auch Tanja lauschte ihren Erzählungen. Ljowa, Lieber, mögest Du nur alsbald zurückkommen. Ich träume schon davon, daß dieser Brief Dich in Tschern bereits auf Deinem Rückweg erreicht. [...] Ich küsse Dich, Lieber.

[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]

[11. oder 12. August 1864]

Heute ist der 11. Ich habe endlich einmal ausgeschlafen. Ein wunderbarer Morgen; und ich habe mir fest vorgenommen, den ganzen Tag dem Projekt des Neubaus zu widmen, das Land für das Gehöft und das Vieh usw. zu besichtigen, ohne mich dabei ablenken zu lassen. [...]

Die Einnahmen aus Nikolskoje werden dieses Jahr, ausgehend von den jetzigen Preisen, etwa 4000 betragen, Getreide aus dem letzten Jahr ist noch vorhanden in Höhe von etwa 1000 R[ubel]. Nach Rückzahlung aller Schulden28 bleiben etwa 2500 übrig. – Wenn nun nichts mehr dazwischenkommt, werde ich heute alle Angelegenheiten hier erledigen und am Abend abreisen, wenn ich mich frisch fühle; wenn ich aber allzu müde bin, dann reise ich morgen in der Früh ab und werde schon am Abend Deine Melone29 befühlen und Dein liebes Gesicht sehen. Lebe wohl, Liebe, ich grüße Serjosha und befehle ihm, keine Launen zu haben, sondern atata, atata.

[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]

22. November [1864]. Sonntag. 10 Uhr am Abend.

[Jasnaja Poljana]

Gerade habe ich mein kleines Mädchen30 schlafen gelegt, lieber Ljowotschka, und setze mich nun hin, Dir zu schreiben, bis ich über dem Brief einschlafe. Die Kleine hat heute den ganzen Tag rebelliert, und der Knabe hat starken Durchfall, d.h. sechsmal, obwohl er in der Nacht gut geschlafen hat. [...] Ljowotschka, mein Liebster, schreibe mir bitte die ganze aufrichtige Wahrheit. Ich weiß, daß es nach acht Wochen sehr schwierig und schmerzhaft ist, ja sogar gefährlich, eine Ausrenkung zu beheben, doch ich hoffe, daß trotz allem alles ein gutes Ende finden wird. Mach Dir über uns keine Gedanken, sondern denke nur an Dich selbst, kuriere Dich. Vielleicht gibt es ja in Petersburg noch bessere Spezialisten als in Moskau?31 Du bist jetzt wohl schon angekommen, wenn die Kutsche pünktlich war und keinen Radbruch hatte. Sicher waren unsere Behrsens froh, Dich zu sehen.32 [...] Nachdem Du heute abgefahren bist und ich zu den Kindern gegangen bin und in ihre Bettchen geschaut habe, verflog mein kleiner Ärger auf sie, welchen ich empfand, als ich mich von Dir verabschiedete. Das Mädchen erwachte sogleich, und ich saß lange mit ihr da, stillte sie und mir schien, daß ich sehr glücklich sei, dank Deiner und dank dessen, wieviel Gutes Du mich gelehrt hast. [...] Heute habe ich den ganzen Tag ins reine geschrieben und hoffe, bald fertig zu werden. Ich nutze jede freie Sekunde, um wenigstens ein Wort zu schreiben – alles geht gut voran.33 Sobald ich fertig bin, schicke ich alles unverzüglich nach Moskau. Ich möchte Dich an etwas erinnern, das Du selbst gesagt hast. Lies niemandem den Roman vor, der Dir Richter sein könnte. Vergiß nicht, daß man Dich oft vom Weg abgebracht hat, nun aber ist die Sache zu ernst, als daß Du Dir ein dummes Wort, das irgend jemand sagt, zu Herzen nehmen solltest. Wenn Du jemanden für die Reinschrift brauchst, gib es Mamachen, sie ist ein vorzüglicher Schreiber und wird voller Vergnügen ins reine übertragen. Was macht Tanja? Umsorgt sie Dich? [...]

Der gestrige Abend und unser Abschied voneinander, Deine Abreise – all dies scheint mir heute wie ein Traum, so verschlafen war ich und in einer unnatürlichen, angespannten Stimmung. Aber wie schön hatten wir es in der letzten Zeit, wie glücklich waren wir, wie einmütig, da hat dieses Unglück gerade gefehlt. Ganz furchtbar traurig fühle ich mich ohne Dich, und alles mögliche geht mir durch den Sinn: Er ist fort, wozu ist das nun wieder gut? [...] Ich war heute den ganzen Tag unten und habe mit allen Kräften ins reine geschrieben und dies zerstreut mich.34

[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]

[27. November 1864]

[Moskau]

Gestern war der erste Tag, an dem ich keine Zeit fand, Dir am Abend zu schreiben, deshalb schreibe ich nun des Morgens, alle schlafen noch, damit der Brief vor 9 auf die Post gebracht werden kann. [...] Es ist nicht vergnüglich, ganz und gar nicht vergnüglich ist es im Kreml. A[ndrej] Je[wstafjewitsch], wenn er denn einmal etwas sagt, spricht einzig und allein über seine Krankheit, deren Ursache er in den Gedärmen vermutet. Lisa35 sitzt unbeteiligt da und kümmert sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten, Tanja weint die ganzen Tage, wie zum Beispiel gestern früh. Weshalb? Das ist nicht zu erfahren, entweder immer noch dessentwegen, oder einfach, weil sie sich langweilt. Dies ist die Wahrheit. Vor 2, 3 Jahren war Euer beider Leben eine ganz eigene Welt, mit den Verliebtheiten und den Bändchen, mit all der Poesie und den Dummheiten der Jugend, und nun, nach dem Leben in unserer Welt, welches sie sehr zu lieben begonnen hat, und nach all dem Trübsal, d.h. nach all der Gefühligkeit, fand sie, als sie nach Hause zurückkehrte, ihre alte Welt nicht mehr vor, welche sie mit Dir teilte, allein die gutmütige, aber langweilige Lisa war noch da, und sie fand sich selbst in Angesicht zu Angesicht zu den Eltern wieder, welche in Folge der Krankheit schwierig geworden sind. [...]

Gestern kam Ljubimow36 im Auftrag von Katkow37. Er steht dem »Russki westnik« vor. Ich mußte ertragen, wie er wohl 2 Stunden lang mit mir aufgrund von 50 R[ubeln] für den Druckbogen feilschte und dabei lachte er, mit Schaum vor dem Mund, professoral. Ich blieb hart und erwarte heute seine Antwort. – Sie wollen sehr und werden vermutlich mit 300 einverstanden sein, während es mir, ich gestehe es, ein wenig bange ist, das Buch selbst zu veröffentlichen, wegen der Scherereien mit der Druckerei und, vor allem, mit der Zensur. [...] Während des Essens klingelte es, Tanja lief öffnen, die Zeitungen, es klingelte nochmals – Dein Brief. Alle baten mich, ihn lesen zu dürfen, aber ich gab ihn nicht gern. Er ist allzu schön, aber sie verstehen ihn nicht und haben ihn nicht verstanden. Auf mich aber wirkte er wie schöne Musik, heiter und traurig zugleich, und erquicklich – man möchte weinen.

Wie klug Du bist, da Du schreibst, ich solle den Roman niemandem zu lesen geben. Selbst wenn es nicht klug wäre, würde ich, allein da Du es möchtest, diesen Rat befolgen. Zwischen den Eltern gab es keine Fehden aufgrund des Salzfäßchens o.ä., und Tanja wurde nach dem Essen etwas fröhlicher. [...] Beim Tee las ich, unterhielt mich, lauschte dem Gesang Tanjas [...].

Lebe wohl. Der Arm schmerzt, doch ich hoffe. [...]

[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]

25. November [1864], Mittwoch, am Abend38.

[Jasnaja Poljana]

[...] Ich weiß nicht, ob ich mich freuen oder grämen soll. Natürlich freut es mich, daß Du den Schmerzen, dem gefährlichen Unterfangen der Operation entgehst, zugleich macht es mich traurig, daß nun alles dahin ist. Deine alte Kraft, die Muskeln, Bewegungsfreiheit – all dies wird wohl nicht wiederhergestellt werden. Auch ist traurig, daß Du, da Du Dich der gymnastischen Behandlung unterziehen mußt, noch lange nicht zurückkehren können wirst, denn dieser muß man sich mit Ausdauer, Beharrlichkeit widmen. Aber was soll’s, das sind Nichtigkeiten, daß all dies nur nicht vergeblich, sondern von Nutzen sein möge. Ich bin glücklich, daß Dein Allgemeinbefinden besser ist, dies ist das Wichtigste. Wie trostlos, daß immer noch keine Briefe von Dir gekommen sind. Dein Geist umweht mich, wenn ich einen Brief von Dir lese, und dies macht mich ruhig und belebt mich, auch all die Kleinigkeiten. [...] Wir mußten uns voneinander trennen und müssen dieses Leid ertragen, man kann ja nicht immer nur glücklich sein. Es ist wirkliches, schlimmes Leid, das man zu ertragen lernen muß.

Wie geht es Euch allen dort? Geht es Dir gut? Denke nicht an mich, unternimm alles, was Deine Laune hebt. Besuche den Klub, Bekannte, wen immer Du möchtest; ich bin nunmehr diesbezüglich ganz gelassen, Deiner so glücklich und sicher, daß ich nichts auf der Welt fürchte. Dies sage ich ganz aufrichtig, und es freut mich selbst, dies so zu empfinden. Bei uns ist alles beim alten, ohne die mindeste Veränderung. Ich bin immerfort unten, dort ist mein Reich, sind meine Kinder, meine Aufgabe und mein Leben. [...] Mit der Abschrift bin ich noch nicht fertig, was soll ich machen, ich hatte keine Zeit. Morgen werde ich sie unbedingt fertigstellen.

Die Kleine war sehr unruhig. Sie glüht nach der Pockenimpfung, es zeigten sich auf der einen Hand eine, auf der anderen Hand drei Pocken. Bei Serjosha scheint die Impfung nicht angeschlagen zu haben, obwohl die Njanja davon überzeugt ist. Er hat immer noch recht starken Durchfall, vermutlich schlägt deshalb die Impfung nicht an. [...] Doch bei uns in der Kinderstube ist alles soweit recht ordentlich, und was nicht in Ordnung ist, wird, gebe es Gott, auch vorübergehen.

Wie wundervoll ist alles, was Du mir zur Abschrift hiergelassen hast. Wie sehr gefällt mir die Fürstin Maria!39 Man sieht sie geradezu vor sich. Ein so fabelhafter, sympathischer Charakter. Ich werde Dich aber auch kritisieren. – Fürst Andrej40 ist meiner Ansicht nach noch nicht klar genug. Man weiß nicht recht, was er für ein Mensch ist. Wenn er doch klug ist, warum ist er dann nicht imstande, sein Verhältnis zu seiner Ehefrau zu verstehen? Der alte Fürst41 ist auch sehr gelungen. Allerdings gefiel mir der erste, mit dem Du unzufrieden warst, besser. Ich habe jenen bereits als vollkommen gesehen, und wie er nun ist, entspricht dem nicht. Die Szene, in der Fürst Andrej abreist, ist sehr gut und mit der Person der Fürstin Maria ist sie ausgezeichnet. Es bereitete mir Vergnügen, sie abzuschreiben. Schreibst Du in Moskau auch? Warst Du bei Katkow? Was das Finanzielle betrifft, so meine ich, daß Du eine Bezahlung in Sonderdrucken nicht akzeptieren solltest. Alle, die den »Russki westnik« erhalten, werden diese nicht kaufen, und ein großer Teil der Bessergestellten hat die Zeitschrift abonniert. Warte besser etwas ab, vielleicht wirst Du den Roman dann selbst verlegen.

Dies ist nicht meine Angelegenheit, ich weiß, aber es kam mir nur gerade in den Sinn.

Ljowotschka, mein Lieber, wann nur sehe ich Dich wieder? Denkst Du immer noch mit Freude an unser Leben in Jasnaja, gefällt Dir Moskau nicht besser? Ich glaube nicht. Ich bin Jasnajas ohne Dich schon überdrüssig. Nirgendwohin möchte ich aus meiner Kinderstube gehen, nichts möchte ich unternehmen. Aber denke nur nicht, daß ich mich gehen lasse. Ich bin trotz allem sehr rührig und munter. Nun also, lebe wohl. Ich küsse Dich sehr fest. Das nächste Mal, wenn ich Dir schreibe, schicke ich auch das Manuskript. Dies wird vermutlich am Samstag sein. Gebe Gott Dir alles Gute. Schone Dich um Gottes Willen. Denke an mich und die Kinder.

Deine Sonja.

[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]

26. November [1864]. Spät am Abend.

[Jasnaja Poljana]

Hier, lieber Ljowotschka, mein Freund, sende ich Dir das von mir Abgeschriebene und bitte um Verzeihung, daß ich faul war und so lange gebraucht habe. Jetzt ist es mir weh, daß ich schon fertig bin. Es hat mir solche Freude bereitet, um so mehr, als Du mir am Tag Deiner Abreise gesagt hast: »Du bist mir Helferin.« Ich würde gern von früh bis spät kopieren und dir helfen. Ich habe heute Deinem Bruder Serjosha einen Brief an Papá

migegeben, daß die Pockenimpfung bei Serjosha fils42 nicht angeschlagen habe, doch nun habe ich gerade gesehen, daß sie an beiden Händen doch angeschlagen zu haben scheint. – Gerade kam Iwan43 aus Tula und brachte mir keinen Brief von Euch. Das bekümmert mich sehr. Schreibt mir, meine Lieben, dies würde mich sehr beruhigen. Ljowotschka, hier wird das Wachstuch für den Boden des Kinderzimmers angepaßt, zugeschnitten und verlegt.

Was macht Dein Arm, mein lieber Ljowotschka? Machst Du Deine Übungen? Hat Dir die Reise nach Moskau wenigstens etwas Erleichterung verschafft? Bei Gott, wie sehr wünsche ich, Dich zu sehen, mit Dir zu sprechen, mit Dir zusammenzusitzen. Was machst Du in Moskau, wen besuchst Du, mit wem triffst Du Dich? Schrecklich ist es, so viele Tage lang nur ein paar wenige Worte über Dich zu erfahren und gar nichts Genaues, bis jetzt habe ich immer noch keinen Brief von Dir. Ljowotschka, ich schreibe Dir für alle Fälle auf der Rückseite eine Liste der Dinge, die wir aus Moskau benötigen, bitte Tanja und Mamá, dies alles einzukaufen, wenn möglich.

[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]

[29. November 1864]

[Moskau]

Von Ljowotschka.

Hier mein Bericht über zwei Tage. Als man mir sagte, und ich es glaubte, daß die Übungen allein Heilung bringen könnten, habe ich begonnen, den Arm hin- und herzuschwingen, und ich muß gestehen, daß er dadurch in schlechten Zustand geriet, daß ich sehr niedergeschlagen war, und in dieser Niedergeschlagenheit fuhr ich zu Redlich44. Als Redlich, der ja an mir Geld verdiente, bei der Gymnastik sagte, ich solle den Arm richten lassen, habe ich mich endgültig entschieden. Tatsächlich aber hatte ich dies bereits am Abend zuvor im Theater beschlossen – die Musik spielte, die Tänzer tanzten, Michel Bode45