Eine grenzenlose Liebe - Aino Trosell - E-Book

Eine grenzenlose Liebe E-Book

Aino Trosell

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Beschreibung

Dies ist ein beindruckender Roman, in dem Aino Trosell das Schicksal ihrer Vorfahren aus der Sicht der Frauen erzählt. Eben war ihre eigene Tochter noch ein Kind und schon ist sie Erwachsen. Ihr steht die Welt offen. Doch ihren Vorfahren erging es anders. So zum Beispiel der Großmutter von Aino Trosell, welche sich als Magd bis zur Selbstverleugnung unterordnen musste. Oder Trosells Mutter, die einen Mann heiratete, den sie nicht liebte.Eine Familiengeschichte voll mit bewegender Frauenleben.Die schwedische Schriftstellerin Aino Trosell (geb. 1949) hat seit 1978 mehr als 15 Bücher in verschieden Genres geschrieben. Wohl am bekanntesten ist sie wegen ihrer Kriminalreihe um Siv Dahlin, welche sich immer und immer wieder in unbequeme Situationen um Verbrechen verwickelt.In ihren Romanen stellt Aino Trosell auf gesellschaftskritischer Weise die soziale Realität dar.Im Jahr 2000 hat sie mit ihrem Roman "Solange das Herz noch schlägt" den schwedischen Krimipreis gewonnen."Ein Buch, das man durchfliegt, um dann wieder an den Anfang zurückzukehren und es Seite für Seite aufs Neue zu genießen." - Smålandsposten"Es gibt Bücher, und es gibt Leseerlebnisse. Eine grenzenlose Liebe ist letzteres." - Folksbladet Norrköping-

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Aino Trosell

Eine grenzenlose Liebe

Saga Egmont

Eine grenzenlose LiebeAus dem Schwedischem von Gisela Kosubek nach

En gränslös kärlekshistoria

Copyright © 2005, 2017 Aino Trosell og Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711442340

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Für meine Familie

Sie hatte sich oft gefragt, wie man nach einer nächtlichen Vergewaltigung am nächsten Tag ganz wie immer sein konnte – Essen kochte, putzte, Wäsche wusch und für die Kinder sorgte.

Sie hatte sich gefragt, wie man sich wohl verhielt, wenn der Vergewaltiger in die Hütte trat, die Mütze ablegte, auf dem Stuhl Platz nahm und einen ansah, während man das Essen auftrug.

Ob man seinen Blick erwiderte?

Oder ihm auswich?

Auf jeden Fall rannte man nicht aus dem Haus und übergab sich, weinte und klopfte bei den Nachbarn.

So etwas tat man nicht zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts, denn ein solcher Ausweg existierte nicht. Zudem hätte man die Kinder erschreckt. Vergewaltigung in der Ehe wurde auch erst irgendwann in den Sechzigern als Straftat angesehen.

Du lagst auf dem Bauch. Kämpftest mit deinem ganzen Körper. Am Ende gelang es dir, den Kopf anzuheben.

Erstaunt begegnetest du meinem Blick. Du warst ein paar Monate alt, und dein Blick saugte sich an meinem fest, und obwohl er noch immer unergründlich und rätselhaft wie so oft bei Neugeborenen war, so drückte er zum ersten Mal auch etwas anderes aus – Entschlossenheit. Du wolltest hoch, zuerst mit dem Kopf, später auf die Knie, danach auf die Füße, wolltest nicht nur diese ersten Schritte machen, wolltest mehr als dieses Tapsen. Du wolltest gehen und dann laufen, schnell laufen, und eines Tages würdest du mir davonlaufen, mein schönes Mädchen – direkt in die Sonne hinein, wo ich dich nicht mehr erreichen könnte, weil mir allmählich die Puste ausginge und ich nicht so rasch laufen könnte wie du.

Alles geht so schnell. Deine weißen, gänzlich makellosen Zähne strahlen, als du in der Ferne lachst, auf dem Weg fort von mir. Dein Leben, das so plötzlich begonnen hatte, ist bereits das einer Erwachsenen, und ich bin nicht mehr jung. Diese Großmutter, die ich hatte, und deren Mutter sowie meine eigene – deine weiblichen Vorfahren, die uns beide formten und prägten, hast du nie kennengelernt, bist nur manchmal in meinen bruchstückhaften Erzählungen auf sie gestoßen.

Du bist Teil der Geschichte, wie man als Frau Mensch wird.

Ich habe nicht davon geredet, denn es war nie eine große Sache. Die Scham war im Weg, die Bitterkeit meiner Mutter, dass wir uns hatten erniedrigen lassen und tief innen glaubten, nichts anderes wert zu sein. Wie erstaunt war ich, als du den Feminismus als Thema für dein Oberstufen-Referat gewählt und dann später an der Universität einen solchen Kurs belegt hast. Ich habe diese Fragen doch nie wirklich mit dir diskutiert, glaubte schließlich selbst, nicht sonderlich daran interessiert zu sein. Es muss all das andere sein, das dich mit seinen Forderungen und Codes an dieses Thema herangeführt hat. Oder habe ich doch wortlos irgendetwas vermittelt?

Natürlich begreife ich, dass du dir Fragen gestellt haben musst – schließlich fehlt so vieles. Einzig die Forderungen sind da, wie man zu sein hat.

Wie wir hierher kamen und zu dem wurden, was wir heute sind, will ich dir jetzt versuchen zu erzählen, es ist deine und meine Geschichte.

Nein, sie handelt nicht nur von dieser Scham. Auch von der Freude, der Triebkraft und der Energie. Es muss möglich sein, Konventionen vom echten Leben zu trennen.

Als du geboren wurdest, war der Weg bereits vorgezeichnet, ich werde es dir zeigen.

Ich stelle keine Forderungen. Ich tue nur meine Pflicht, dir all das zu berichten, dann liegt es bei dir, wie du damit lebst. Du sollst es einfach wissen.

Wo warst du vor deiner Geburt? Ja, zuerst in unseren Herzen, bei uns, die deine Eltern wurden. Wir wussten nicht, dass wir mit dir schwanger gingen. Alles war nur so hell geworden, so voller Freude. Ich strahlte und lachte, ich war froh. Dein Vater war froh. Und wir waren miteinander froh. Es war schön, auf dein Kommen zu warten, auch wenn man sich hin und wieder Sorgen machte, ob auch alles gut gehen würde.

Ein Kind hat Vater und Mutter, einer ist so wichtig wie der andere. Du hast deinen Vater nie vermissen müssen, er hat dich nie im Stich gelassen. Er hat dich vom ersten Augenblick an geliebt, war dir gegenüber stets aufmerksam, hat sich bemüht zu verstehen, was du brauchst. Er war ebenso wichtig für dich wie ich. Doch in dieser Geschichte müssen wir ihn beiseitelassen, denn hier will ich der weiblichen Linie folgen.

Es ist so ungewohnt, in diesen Bahnen zu denken, also muss ich mich zwingen, muss mich anstrengen, um mich zu erinnern. In meinem Leben dominieren die Geschichten der Männer. Mein Vater war kein Vater, wie du einen hast, diese Aufgabe verstand er nicht. Dennoch konnte er erzählen, und darüber verfüge ich auch.

Auf Seiten meiner Mutter fließen nur stille Ströme, und die führen nach Norwegen hinüber. Als Arbeitstitel für diesen Text hatte ich deshalb »Das Norwegenbuch« gewählt; auch wenn ich nicht davon ausging, dieses Buch jemals fertig zu bekommen. Der rote Fluss des Blutes westwärts und nordwärts – hoch ins Gebirge, den Klarälven stromaufwärts, dorthin, wo er zum Trysilelva wird, am Fuße des Trysilfjells graben sich feinste Rinnsale und Wurzelfasern in die Erde.

Als Frau Mensch zu werden ist mit Scham belegt, nun werde ich dich dennoch dorthin führen.

I.

Einstieg

… Großmutter erzählte mir einmal vom Leben in

ihrer Ehe, danach lag ich stundenlang da und heulte Rotz

und Wasser. Dennoch war ich erst siebzehn Jahre alt.

Noch heute kommen mir die Tränen, wenn ich an all das

denke, was sie erzählt hat. Dass es möglich ist,

so etwas zu überleben.

(Aus einem Privatbrief)

Ich war erst siebzehn Jahre alt, als Mama in Malung im Bett der Küchenkammer starb, und erst acht Jahre alt, als die Mutter meiner Mutter in der Stube von Sysslebäck starb, sie starb gestiefelt und gespornt, kann man sagen, denn ihre letzten Worte waren: Hilf mir, die Stiefel auszuziehen, das weiß ich noch genau.

Sie war aus dem Regen hereingekommen und plötzlich unpässlich geworden. Großvater hatte »Stina, Stina« gerufen, doch was helfen solche Rufe, wenn jemand über die Grenze tritt. Nein, da hatte er sich geschnitten, der Dreckskerl, tönt Mamas Stimme in meinem Kopf. Nun konnte ihr der Alte nichts mehr befehlen, saß nur noch da und vergoss Krokodilstränen, vergaß vollkommen, dass er in diesem Moment kein Publikum hatte.

Es ist nicht viel übrig. Ich erinnere mich natürlich an die Geschichten, und ein paar Fotos besitze ich auch, die meisten sind alt und vergilbt. Eins aus Amerika, ich weiß nicht, wer die Leute darauf sind. Mutters Onkel hatte sich auf den Weg gemacht, und später war er nach Europa zurückgekehrt, nur um im Ersten Weltkrieg in einem Feldlazarett zu sterben, gezeichnet und zerrüttet von Krieg und Alkohol. Ansonsten sind wir um den Gebirgskamm wohnen geblieben.

Eine Ansichtskarte zeigt Sysslebäck, am Rand das Elternhaus meines Großvaters mütterlicherseits. Der Ort ist von Bergen umgeben, und der Fluss windet sich diagonal durchs Bild, kommt von Norden, aus Norwegen. Die Karte ist alt und vergilbt. Sie ist an Fräulein Edit Dalborg, Idbäck, Malung gerichtet, und der Text lautet: Herzl. Dank für den Brief vom 22.10. Stina am 26. selbigen Monats nach Trysil abgereist. Ines vom Bengtsmarithof fährt am 11.11. zu Samuel Persson Grimsmyrheden (Malung). Hier alles gut. Herzl. Grüße von Papa.

Ja, Edit war Dienstmagd in Idbäck, und nun sollte offenbar eine weitere Magd exportiert werden. Malung war besser als Sysslebäck, das besser als Trysil war.

Ein Atelierfoto zeigt meine Mutter, drei Jahre alt, sie steht neben ihrer sitzenden Großmutter, der Mutter ihres Vaters. Die Großmutter hält Mamas Hand mit festem Griff. Das kleine Mädchen hat ganz liebe Augen, der Blick der Großmutter ist hart und unergründlich. Dieser Griff, dieser feste Griff über die Generationen. An diesem Bild von Großmutter Ingegerd ist etwas Erschreckendes – ihr Regiment im ehelichen Bett.

Mamas Hochzeitsfoto von 1941 – wie konnte ich eine so hübsche Mutter haben? Wir sind uns überhaupt nicht ähnlich, sie war dunkel und wunderschön, hatte ein aristokratisches Profil und prachtvolles Haar.

Auf dem letzten Foto von ihr ist sie vielleicht fünfundvierzig Jahre alt, aber wirkt bedeutend älter, eher wie fünfundfünfzig oder sechzig, obwohl sie das nie werden sollte.

Zu guter Letzt schließlich das Nachlassverzeichnis: 54 Kronen auf einem Postsparbuch und mehr als viertausend Kronen private Schulden, darüber hinaus noch unbezahlte Rechnungen. Sie dreht sich im Grabe um, weil ich das jetzt schreibe.

Hier in den Grenzgebieten hat uns immer mehr verbunden als getrennt. Die Obrigkeit war weit weg, und die Bande über die Grenze sind uralt. Es war näher nach Norwegen als nach Karlstad oder Falun, ganz zu schweigen von Stockholm, das eine völlig andere Welt war.

Ich hatte der weiblichen Linie meiner Abstammung ständig entkommen wollen, diesem peinlichen Rinnsal westwärts und nordwärts. Aber die Schriftstellerei hat mich dorthin zurückgezwungen. Mir wurde nicht gestattet wegzulaufen, ich durfte diesen Rucksack nicht abwerfen, durfte nicht vergessen, obwohl ich es wollte.

Ich dachte, dass Zeit vergehen müsste.

Zeit ist vergangen. Aber anstatt dass die Bilder blasser werden, treten sie immer deutlicher hervor, völlig zerschlagen wache ich nach Nächten auf, die angefüllt sind mit Schicksalen und Träumen.

Nun also soll all das aus mir heraus. Damit endlich Ruhe einkehrt.

Diese Scham, sie handelt doch in erster Linie von Sex. Der schließlich allerorten beschrieben, besungen, verleumdet wird, sofern man ihn nicht ganz verschweigt. Als sei er eine Kraft unabhängig von der Erde, aus der sie kommt. Übrigens Erde, wohl eher Wüste. Oder ständiger Permafrost.

Die meisten Schilderungen sind gänzlich verlogen, Scham und Pein dürfen nicht einmal erwähnt werden. Und auch Verlangen darf man nicht zeigen, außer man ist verliebt, und alles Animalische ist Sache der harten Kerle, also der Männer. Die hingegen dürfen nicht weich sein, dürfen auch nicht eine halbe Sekunde zögern, falls sich Chancen bieten. Unsereins soll ständig willig, aber nicht billig sein – welch verrücktes Paradox!

Kaum eine Generation ist es her, dass jede erotische Begegnung auch eine Möglichkeit der Befruchtung bedeutete. Bevor es eine Mütter- oder Geburtenberatung gab, die den Namen überhaupt verdiente, war Selbiges immer mit einer potentiellen Todesdrohung verbunden, nicht gerechnet all jene Bedrohungen, die rein gesellschaftlich auf einen warteten, falls man keinen akzeptablen Familienstand vorwies. Gewaltige Konsequenzen für einen kleinen Fehltritt, oder mit einem modernen Terminus ausgedrückt, für das Bejahen seiner Bedürfnisse.

Zu allen Zeiten hat es diese Angst gegeben. Hat die keine Spuren bei uns hinterlassen? Hat sie uns nicht geprägt bis in den letzten Winkel unserer Seele und damit auch die Erbmasse selbst?

Jene keimende Kraft, die man umgehend mit dem universellen Begriff Hure niederknüppelt. Jene unbändige Kraft, die sofort mit ihrem Auftreten unrein wird, die gelöst wird von dem Ganzen, dessen Teil sie ist, vom Gefühl. Der Schmutz, der in die Maschinerie geworfen werden muss, damit Kontrolle möglich ist. In vielerlei Hinsicht waren es obendrein die Frauen, die den Ton angaben.

Diese Kontrolle war durchaus vernünftig, besonders, wenn die wirtschaftliche Lage schwierig war. Wer sollte die Folgen der Erotik versorgen – ich nicht, na, ich ganz bestimmt auch nicht –, und ein Mensch braucht schließlich beide Eltern, wenn es um die Existenz geht. Dieses Huren-Wort stellte die wichtigste Bastion gegen das Unglück der Kinder dar.

Die Verantwortungslosigkeit war eine Hure, war eine Frau, die aus ihren Begrenzungen hinausgelassen war, man durfte nicht ohne Grenzen sein. Wo fand die Feldschlacht statt, wo schwoll es, wo schmerzte es, wo galt es das Eindringen ins Territorium abzuwehren?

Das Schlachtfeld erstreckte sich vom oberen Rand des Busens über tausendjährige Gefilde abwärts bis kurz übers Knie, dazwischen lagen die heißesten Zonen.

Es galt, sich zu verhüllen, sich zu schützen und die Grenzlinien der Bekleidung zu wahren, in jeder Lage rein strategisch zu denken, wenn man überleben wollte.

Es gab keine Herren, denen wir aus dem Nachhinein die Schuld zuschieben könnten, nein, höchstens ein paar Bauern, die etwas besser gestellt waren als andere, das war alles. Hart geurteilt wurde trotzdem.

Wo war euer Stolz, euer Aufbegehren, ihr Frauen, die ihr uns vorangegangen seid? Verstohlen das Gemurmel im grauen Tageslicht von blaugeschlagenen Erinnerungen. Wir waren doch so wenige, und natürlich war es hart, verzeiht uns, wir hatten nicht viel, auf das wir stolz sein konnten.

Ich nicke, natürlich, eher schon auf der Vaterseite, Gewerkschaftskämpfe und Krieg, die Schufterei in Wald und Fabrik – freie Samstage und Fernsehtechnik, davon ließ sich berichten!

Aber unter den geöffneten Häkchen der Nächte tritt das Frauenfleisch über alle Ufer, zischelt mir, winselt mir zu, schreit mir direkt ins Gesicht – rette uns, denn man hat uns gänzlich weggedrängt, welch furchtbares Gefühl! Und du weißt es!

Weiß ich es?

Diese Geschichte hier hat keinen Spiegel, keine Karte und keinen Boden. Etwas quillt herauf. Ich weiß nicht, was es ist, aber es hat mich geformt. Und es formt auch dich.

Es waren nur ein paar unwissende und verzagte Frauen, doch sie hatten Träume. Nur waren diese Träume ebenfalls verstohlen, verzagt und mit Scham belegt.

Meine Großmutter mütterlicherseits heiratete 1905. Das weißt du nicht. Du weißt fast gar nichts über unsere Geschichte. Sie heiratete, als man die Union zwischen Norwegen und Schweden auflöste. Für sie war es genau umgekehrt, sie ging eine lebenslange Union mit Schweden, mit Sysslebäck und Per ein – Liebe aber war es nicht, so viel steht fest.

Deine Großmutter war tot, als du geboren wurdest. Deinen Großvater hingegen hast du kennen gelernt, das ließ sich einfacher machen, und du fandest ihn nett.

Wie kam es nun zu dem, was gekommen ist?

Die Sache ist schwierig.

Früher saß man abends beisammen und wartete auf das Herannahen der Geschichten. Draußen vor dem Fenster dämmerte es, und wenn man kein Licht anzündete, war das ein Zeichen – die Geschichten waren im Anzug.

Jetzt gibt es diese Momente nicht mehr, fast nie mehr. Die Jugend versteht nicht, wird ungeduldig, schaltet irgendwelche Elektronik ein, ja doch, das über diesen Granitstein vom Trysilfjell haben wir doch schon gehört, mehrfach sogar, ist doch nichts Besonderes, können wir vielleicht vom Tisch aufstehen?

Ja, sicher. Ein einfacher Granitstein, ich sehe es jetzt. Dabei hatte ich ihn doch für magisch gehalten mit seiner Bleistiftschrift auf der Rückseite – »vom Trysilfjell, Juni 1906« – ein Erbteil der Sehnsucht.

Ein einfacher Granitstein, den Stina mit Goldfarbe bestrichen hat.

Es sind ja keine Lebenden mehr da, keine Augenzeugen, die mir auf die Finger klopfen und mich der Unrichtigkeit bezichtigen können. Dennoch bin ich beunruhigt. Ich will, dass es stimmt. Ich schreibe fürs Leben. Ich erschaffe einen Hintergrund, und es wühlt mich auf, diese Verantwortung zu spüren. Aber du verstehst ja, dass alles Dichtung ist, auch wenn es die Ereignisse selbst gegeben hat, ich schreibe über mich, das weißt du genau. Jedes Buch, das ich verfasst habe, zeigt nur verschiedene Seiten meiner selbst, und deshalb ist es mir auch nicht möglich, eins davon als das beste zu bezeichnen oder mit einem anderen unzufrieden zu sein, es geht einfach nicht. Es wäre so, als würde man seine Kinder benoten, man hat eine gemeinsame Beziehung, hat gemeinsame Erinnerungen und eine gemeinsame Geschichte, man ist abhängig, egal, wie es auch sein mag.

Es beginnt immer mit einer romantischen Vision, dem Traum, dass man aus sich hinausgelangen könne. Ich bin ein Produkt beider Länder, eine romantische und unmögliche Liebesgeschichte, bitter und wundervoll zugleich, umrankt von unscheinbaren, aber lieblich duftenden Erdglöckchen und mit grauen Strähnen im Haar.

Es gab viel zu wenig Liebe. Dieses Buch hier eine Liebesgeschichte zu nennen ist wahrhaft ironisch, wo ich Ironie, diese Arroganz, doch so verabscheue.

Harmonisch ist es selten, wenn Menschen lieben. Die Liebe hat keine schützende Haut, man trägt leicht Schrammen und Wunden davon, Blut rinnt. Im Hexenstich, mit zwei Y’s, nähe ich diese Wunde zusammen, Trysil, Sysslebäck.

Was ist eine Grenze? Ein Übergang? Zwischen Nationen? Zwischen Menschen? Und die Grenzen der Geschlechter, was wissen wir darüber?

Ich lebe an einem östlicheren Stück des Pilgerpfads. Jener Pilgerzug, der einst an Sysslebäck und Trysil vorbeiging, führte in Richtung Westen. Signalfeuer hatte man stets am Osthang angelegt, damit sie in Norwegen nicht zu sehen waren. In den Nächten leuchteten die Flammen meilenweit. Tagsüber hingegen stieg Rauch auf, signalisierte und warnte, doch was kümmerte es die Bevölkerung? Sie hatte ihr Zuhause auf beiden Seiten der Grenze.

In dieser Grenzregion stellten die Hochzeiten, die Mundarten, das Wild und die gemeinsame Armut jenes Fundament dar, auf dessen Granitrücken die Zugvögel des Krieges zuweilen zwischenlandeten, mehr nicht.

Eine Pilgergegend, eine Union und die Auflösung der Union, genau wie jene zwischen den Geschlechtern. Die glücklich im selben Land leben und alles teilen sollten. Doch die Frauen wurden immer verzweifelter. Diesen Krieg wird keiner gewinnen. Bitte sag, dass es andere Methoden gibt!

Dieser Rausch, war das Liebe, dieser Wahnsinn, war das alles, ist es so banal? Oder greift die Union tiefer ins Fleisch, dennoch tiefer – weit unter die Grenzlinie? Vergebens versuchen allerlei Scharlatane Kapital aus diesem starken Supraleiter zu schlagen, ihn für eigene Zwecke zu okkupieren. Überlebt trotzdem etwas, das ewig ist, überlebt eine Art Burgfrieden in uns trotz all der unsanften Behandlung?

Ich bin äußerst vorsichtig gewesen, um das peinliche Selbstbild nicht weiterzugeben, ich will, dass du der Überzeugung bist, einfach existieren zu dürfen, ohne Rücksicht darauf, ob du dem Bild des braven Mädchens entsprichst. Das Einzige, was ich für wichtig gehalten habe, war, dass du deine eigene Wahl triffst. Du weißt, dass ich dir zu deiner ersten Menstruation gratuliert habe, und du erinnerst dich bestimmt, dass ich damals sagte, die Männer seien besser als ihr Ruf, sie seien wundervoll, du brauchtest keine Angst zu haben. Doch ich glaube, dass du mir das nicht abgenommen hast.

Ein Pilgerzug ging durch das Tal des Klarälven, nordwärts an der Kirche von Dalby vorüber, die meisten Personen dieser Geschichte liegen dort begraben.

Danach wird das Tal immer enger, erinnert an norwegische Fjorde, nordische Landschaft. Branäsberget, Sysslebäck und dann Norra Finnskoga am Höljesdammen. Weiter bis nach Långflon hinauf, dann die Grenze, überall Wald und schließlich Plassens Kapelle, Nybergsund und Trysil.

Das Pilgern an sich hat große Bedeutung, erfordert die richtige Einstellung, Offenheit gegenüber inneren Welten. Jeder Stein bekommt einen Sinn, jeder zurückgelegte Meter, jede Kiefer und jeder Busch, den man hinter sich lässt, ebenso wie die menschlichen Zeichen, die dir in Form verlassener Lagerplätze begegnen, alles hat einen verborgenen Sinn. Menschen gibt es nur wenige. Deine Gedanken haben die ganze Wildnis, den gewaltigen Himmel zur Verfügung und können sich ausbreiten. Hast du einen Glauben, dann schützt er dich vor vielem, andernfalls gerätst du in die Gewalt irdischer Dämonen. Du armes Menschlein, das nicht imstande ist zu glauben. Weh dir, und wenn du deinen Rosenkranz auch noch so abwetzt, so sollst du doch wissen, dass die Raubtiere dein Fleisch zwischen den schwarzen Stämmen wittern. Murmle, bete und lass deine Gebetskugeln wandern, der Bettelbeutel scheuert im Kreuz, und die Füße schmerzen in den ausgetretenen Schuhen. Du wanderst so mühsam, den Kopf zu Boden gesenkt, das Haar hängt vor blicklosen Augen. Doch deine schlecht verhüllten Arme und dein weißer Nacken leuchten auffordernd zwischen den Kiefern. Dein weißes Fleisch sendet seinen Duft an untrügliche Raubtiernasen. So unwiderstehlich ist deine einsame Gestalt, dass die schmalen funkelnden Augen rasch näher kommen. Und während du noch immer mit deinem nicht vorhandenen Glauben ringst, ist dein nächstes Stündchen schon entschieden.

Ich werde erzählen, was damals geschehen ist, und dennoch werde ich erfinden. Es sind die Augen des heutigen Menschen, die versuchen, etwas hinten in der Dunkelheit zu erkennen. Ich werde Gefühle hineinlegen. Ich werde aus den Handlungen der Personen und aus trockenen Dokumenten dieses und jenes herauslesen. Doch werde ich wirklich verstehen, werde ich begreifen, wie ausgesetzt sie derzeit waren? Kann ich mich in das damals herrschende Schweigen einleben? Werde ich begreifen, wie man ein ganzes Leben mit einem Menschen verbringen kann, den man kein einziges Mal wirklich geliebt hat? Die regelmäßigen gewaltlosen Vergewaltigungen, wie gelingt es, so etwas zu verstehen?

Wie ein Mantra hängt über dem Ganzen der universelle Appell: Werde nicht, werde nicht, werde bloß nicht schwanger!

II.

Elis Jugend

Ich sehe sie aus der Ferne, das kleine Mädchen Eli, sehe sie in einem äußerst romantisierten Licht. Denn könnte ich mich tatsächlich in ihre Welt versetzen, würde ich zurückschrecken wie angesichts der furchtbarsten Armut Indiens, seines Hungers, der Gerüche, des Mangels an allem.

Es fehlte an Nahrung, und man lebte überaus beengt, Eli aber war dennoch zufrieden, genügsam, fast glücklich. Als Kind kann man glücklich sein, selbst wenn dieses Mehr an Liebe fehlt, man kennt es nicht anders, das Leben ist so pulsierend und stark, jeder Tag steckt voller neuer Abenteuer, alles Erdenkliche kann geschehen. Sie war ein Teil des Ganzen und wollte nichts anderes sein. Ein wenig Grütze im Bauch brachte Wärme, Freude stieg im Körper auf, da fiel das Lachen leicht. Und die Sommer in Romedal waren warm und fruchtbar, all diese Düfte und der Wald. Der Zopf schlug ihr gegen den Rücken, die Füße waren wie aus Leder, gehärtet, nachdem der Schnee verschwunden war, sie rannte umher wie all die anderen. Kein Kind hielt sich zu jener Zeit im Haus auf, außer zum Essen und zum Schlafen. Diese Eli war in guter Form, sie war klein und gewandt und hatte ein helles Köpfchen.

Im Zimmer, das sie gemietet hatten, saß der Vater und fertigte Schuhe an, während die Mutter den Jüngsten stillte. Eli durfte nie drinnen bleiben, obgleich sie es zuweilen gern wollte, wenn es draußen kalt war. Ihre jüngeren Geschwister durften es ebenso wenig, sie klammerten sich an sie statt an die Mutter, obwohl die Schwester erst sieben Jahre alt war.

Zur Nacht wurde sie zusammen mit den Kleinen auf eine Schlafbank gebettet. Es war eng und manchmal auch nass. Dann gab man ihr die Schuld, weil sie sich nicht gekümmert hatte, dass die Sache vor dem Schlafengehen erledigt wurde.

Die älteren Geschwister gingen den Eltern besser zur Hand. Der große Bruder war für Eli eine Art König, sie betete ihn an: Trag mich, Peter, bitte, spiel mit mir, hier bin ich! Doch er sah sie nicht, und außerdem musste er Holz hacken. Im Übrigen war er Mamas Augenstern, falls es keine Probleme mit dem Jüngsten gab.

Die große Schwester hatte sich um den Haushalt zu kümmern, seit das Brüderchen krank geworden war, während die Mutter vergeblich versuchte, es zu stillen. Abends in der Dunkelheit hörte Eli, wie sie sich halb weinend bemühte, den Jungen zum Trinken zu bringen. Doch schrie er nicht mehr so gellend, es war wieder ruhiger geworden. Dennoch nahm er der Mutter alle Kraft.

Der Vater fluchte, dumpf und bedrohlich, nach jedem Fehlschlag. Zum Abendessen bekamen sie immer öfter Wassergrütze, und Eli fiel das Einschlafen schwer. Alles war so trübselig, dass sie wünschte, der Tod möge kommen und diesen Plärrhans holen, damit alles wie früher wäre. Sie wünschte ihrem Brüderchen den Tod, sie betete darum: Lieber Gott, hol das Balg hier weg. Denn die Mutter, die sonst Handschuhe strickte und sie verkaufte, die redete und sich kümmerte, war wie ausgewechselt, still und in sich gekehrt, zusammen mit dem Jüngsten. Und der Vater trank, das wusste Eli, alle wussten es, obwohl er dazu irgendwo auf der Alm blieb. All das Geld, das für den Schnaps draufging! Mama schalt oder weinte. Aber was konnte er schon daran ändern, die Leute verschlissen einfach zu wenige Schuhe, er tat doch wahrhaftig, was er konnte.

Die Mutter hieß Kari und war aus Romedal, während der Vater aus dem Gudbrandsdal stammte, er hieß Johannes Larsen.

Und Mutter Kari hatte eine Schwester, Hildur.

Hildur war trotz ihrer Jugend, sie war eben erst konfirmiert, ein starkes und resolutes Mädchen. Vergeblich suchte sie eine Dienstmagdstelle in nächster Umgebung, Abend für Abend kam sie erfolglos heim. Die Eltern waren vielleicht verstorben, oder sie waren alt und gebrechlich. Vielleicht wohnte Hildur gar bei ihrer älteren Schwester und deren Familie in dem bereits gedrängt vollen Zimmer.

Eines Morgens im Herbst, als Eli erwachte, war alles verändert, etwas war geschehen, was auch sie betraf. Es herrschte eine gedrückte Stimmung! Hildur stand mit dem Rücken zu ihr und knotete einen Sack zu.

Bestimmt war es ein Sonntagmorgen nach der Heuernte. Alle Arbeiten, bei denen Hildur auf den Höfen ein paar Öre verdienen konnte, waren abgeschlossen.

Also musste sie weit weg von hier gehen, um andernorts ihr Leben zu fristen, in Romedal gab es keinen Platz für sie. Sie wagte nicht länger zu warten, um nicht vom Winter überrascht zu werden. So jung und stark wie sie war, konnte sie nicht verlangen, dass die Alten oder gar ihre Schwester Kari sie versorgten, also blieb ihr nichts anderes übrig als aufzubrechen.

Hildur redete demonstrativ laut, als gäbe es da noch mehr Zuhörer als Kari und Johannes und ein paar eben erst aufgewachte Kinder.

Alle sahen Eli an.

Ja, da war noch mehr. Nie zuvor hatten Vater und Mutter Eli gleichzeitig und auf diese Weise angesehen.

Sie sollte mitgehen! Der Beschluss war spät nachts gefasst worden. So hätte man einen Mund weniger zu stopfen, und sie eignete sich nun mal am besten dafür, in dieser Lage das Zuhause zu verlassen. Die Ältesten gingen in die Lehre oder packten daheim ordentlich mit an, und die Jüngsten waren zu klein. Ich hoffe, du verstehst, sagte die Mutter mit einem Blick so voller Wärme wie noch nie zuvor. Und vielleicht würde es Eli ja sogar gelingen bei der neuen Stelle so viel auszurichten, dass sie etwas heimschicken konnte.

Die Mutter lächelte ihr mit diesem neuen, warmen Blick zu, und Klein-Eli wollte am liebsten sterben. Sie fühlte jetzt, wie selten – oder gar nie? – ihr diese Mutterliebe zugeströmt war, sie wollte einfach darin verweilen, sich in dieser Mutterwärme sonnen, was für eine Freude, ach könnte sie doch auf der Stelle sterben und somit alles zum Stoppen bringen.

Man wollte sie loswerden. Warum?

Es war eine Strafe für irgendetwas, natürlich. Doch was hatte sie getan?

Ja, was hatte sie getan. Ihr innerer Richter grinste höhnisch, setzte sich in Positur und legte los, es gab vieles, wollte er sagen.

Trotz Mutters Lächeln, so ungewohnt freundlich und liebevoll, senkte Eli den Blick, schämte sich entsetzlich. Was hatte sie nicht alles getan – war den jüngeren Geschwistern davongelaufen, bis sie weinten, hatte aufgegessen, was ihnen gehörte, sie waren zu klein und konnten nichts sagen, und sie hatte sie auch geschlagen, wenn es keiner sah, ja, hatte sie ganz allgemein gequält, sie hingen schließlich ständig an ihr, und sie wollte doch spielen, wollte in Ruhe gelassen werden. Zwar trug sie die Kleinen auch umher, schleppte und zog sie, doch das war nicht genug, sie schämte sich ungemein. Hätte sie das hier doch nur gewusst! Und dieses Gebet zu Gott im Himmel, er solle den Jüngsten zu sich nehmen, ihr war doch klar gewesen, dass das Sünde war, schwere Sünde, und Gott wusste, was sie getan hatte. Jetzt kam die Strafe dafür.

Etwas für ihr ganzes Leben Entscheidendes geschah an jenem Morgen in diesem Haus in Romedal. Eli wurde fortgestoßen und durfte nie wieder zurückkehren. Es wird behauptet, sie hätte drei Jahre später, im Alter von elf Jahren, einen Besuch daheim gemacht, doch zu diesem Zeitpunkt war sie gewiss völlig verändert. Von anderer Seite habe ich erfahren, dass sie nie mehr heimgekommen ist. Das klingt fast aggressiv – durfte sie nicht, oder wollte sie womöglich nicht?

Etwas war damals geschehen. Das kleine Mädchen Eli, das in Kürze acht Jahre alt werden sollte, musste einen Schock erlitten haben, der alles ausgelöscht hatte, was sie bis dahin erlebt hatte. Und schlimmstenfalls wurde hier tatsächlich eine Strafe vollzogen. Als Erwachsene war Eli eine aufgeweckte Person, wirklich nicht auf den Mund gefallen, wie wir sagen, also schlagfertig und scharfzüngig, vielleicht hatte sie eine Grenze überschritten, hatte jemanden gekränkt? Aber dennoch, sie war schließlich ein Kind, egal, was sie von sich gegeben haben mochte.

Doch damals herrschten andere Zeiten. Kinder waren selten besonders willkommen, sie kamen einfach, das war alles. Selbstverständlich hatte die Natur es so eingerichtet, und ohne Mutterliebe hätte die Familie schon lange nicht mehr existiert, sie ist einfach lebensnotwendig. Vermutlich war ihre Mama traurig, vielleicht hat sie sich sogar widersetzt, und lediglich der Mann hat gesagt, dass Eli nicht bleiben dürfe. Oder es war genau umgekehrt. Auf jeden Fall war das damals ein dramatischer Augenblick, und dass Eli die Sache nicht selbst gewollt hat, davon können wir wohl ausgehen.

Eine Bahnlinie führte nicht sehr weit entfernt in Richtung Hamar vorbei, aber für die Mädchen hieß es natürlich zu Fuß zu gehen.

Nachdem der erste Schock überwunden war, gestaltete sich der Morgen so feiertäglich wie ein Sonntag überhaupt sein konnte, und Eli stand die ganze Zeit im Mittelpunkt. Sie war froh, dass die Eltern es vorzogen, die wahren Gründe für ihre Deportation nicht zu nennen – sie wollte sie nicht hören, ahnte gleichwohl, dass es um ihre Versäumnisse gegenüber den Kleinen ging. Dennoch wirkte das Ganze nun nicht mehr wie eine Strafe, nein, eher wie ein Fest. Das Beste an Kleidung, was die Mutter finden konnte, wurde in Elis Ränzel gepackt. Und alles Essen, was man im Haus entbehren konnte, gab man ihr mit, sogar ein Stück vom Zuckerhut und nicht mal ein besonders kleines, und man ermahnte sie, darauf zu achten, dass es nicht zerbrach oder feucht wurde.

Als sie los sollten, reichten ihnen alle die Hand. Umarmungen, nein, die nicht, das wäre viel zu zudringlich gewesen. Eli knickste vor ihrer Mutter zum ersten und vielleicht letzten Mal, und die Mutter ersparte ihr viel Kummer, indem sie wegsah, so dass Eli nicht erfuhr, dass sie über das eigene Versagen weinte, weil sie die Tochter fortschicken musste, obwohl sie noch nicht einmal acht Jahre alt war.

Der Vater befand sich bereits vor der Tür, er ertrug diese gefühlsstickige Stimmung nicht. Um seinen guten Willen zu zeigen, begleitete er die Mädchen durchs Dorf, vorbei an der Kirche, in der ein paar Stunden später der Sonntagsgottesdienst stattfinden würde.

Ein Herbstmorgen, so aromatisch, freundlich und mild – dort lag der Wald.

Der Vater verneigte sich vor Hildur, obwohl sie gerade erst konfirmiert war, er tat es, um seinen Respekt und seine Wertschätzung zu bezeugen, weil Hildur sich jetzt ihrer Eli annahm, die plötzlich so klein geworden war: Taten sie wirklich das Richtige?

Sie hatten wohl keine Wahl. Man gab sich die Hand, und Eli knickste schüchtern vor ihrem Vater, den sie trotz der heimischen Enge nie wirklich kennengelernt hatte. Er fehlte ihr nicht im gleichen Maße wie die Mutter. Der Weg schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch, er führte in die Zukunft. Jetzt entschied sie sich. Die Gedanken an die Mutter musste sie unterdrücken.

Der Vater blieb stehen und winkte. Als Eli sich umdrehte, kurz bevor sie hinter einer Biegung verschwanden, stand er noch immer am gleichen Fleck. Sie hob den Arm. Und er winkte zurück.

Ein solches Bild verschwindet nicht, falls es sich so ereignet hatte.

Aber warum wanderten sie nach Osten und später dann nach Norden? Logischer wäre doch gewesen, die westliche Richtung nach Stange, zum Mjøsa-See oder gar nach Hamar einzuschlagen? Zumal das auch näher lag. Diese Gegenden waren von alters her wohlhabend, dort gab es gute Ackerböden, große Höfe, und der große See hatte Handel und Verkehr befördert.

Doch meine Theorie ist, dass zwei so junge, viel zu magere und unerfahrene, arme, kindliche Mädchen vielleicht gerade wegen dieses Wohlstands dort schlechtere Chancen für eine Anstellung gehabt hätten. Die reiche Landwirtschaftsgegend zog sicher Mägde ganz anderen Formats an, bedeutend reifere und kundigere, die von überallher kamen. Für derart junge Mädchen gab es nur Arbeit bei ärmeren Leuten auf Höfen, die in Richtung der großen Wälder lagen.

Das Ganze war also durchdacht. Sie zogen keineswegs aufs Geratewohl los, nein, sie hatten ein Ziel. Dennoch landeten sie an ganz unterschiedlichen Orten, obgleich sie doch so gefährdet und aufeinander angewiesen waren.

Während dieser Wanderung musste ein starkes Band zwischen den Mädchen geknüpft worden sein, sonst hätte Eli als Erwachsene wohl nicht die Hilfe ihrer Tante gesucht, statt die der Familie. Im Zustand des Schocks setzte sie all ihr Vertrauen in die fünfzehnjährige Hildur, die schließlich schon groß war, den Zopf bereits um den Kopf gesteckt trug, und deren Busen sich unter der Bluse wölbte.

Eli hätte ihre Hand halten wollen, getraute sich aber nicht, sondern trabte hinter ihr her, was als Fortbewegungsart nur logisch ist, wenn man so lange Strecken zu Fuß geht.

Es waren dreißig Kilometer bis Elverum, dort blieben sie in der ersten Nacht. Sie kannten jemanden oder kannten einen Ort, an dem sie übernachten konnten. Verpflegung hatten sie selbst dabei. Alles war gut.

Eine Achtjährige – Ende Oktober sollte sie acht Jahre alt werden – ermüdet dennoch ungemein. Als Hildur sie am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe weckte, musste sie das Kind aus dem Heu ziehen, in dem die beiden gelegen hatten. Eli zitterte und fror und wollte nicht aufwachen. Hildur schlich mit ihr in den Kuhstall, in dem die Mägde, die beim Melken saßen, ihr freundlich zunickten und wo im Kamin ein Feuer brannte zum Kochen von Molkenstreichkäse. Eli durfte sich wärmen, quengelte jedoch wie ein kleines Kind und wollte ein Stück vom Zuckerhut, am Ende ließ sich Hildur darauf ein.

Eine der Mägde gab dem Kind heimlich eine Tasse kuhwarmer Milch. Eli hickste vor Dankbarkeit und trank, oh, das schmeckte! Die Fremden waren nett.

Allmählich kehrten ihre Kräfte zurück, und sie konnten weiterwandern. Der Form halber hatte Hildur sich erkundigt, doch nein, niemand kannte hier im Tal jemanden, der ein paar Kleinmägde brauchte.

Hildurs Plan war, nach Innbygda in Trysil zu gehen, sie hatte gehört, dass andere, die dorthin gewandert waren, bleiben durften.

Obwohl Eli noch so klein war, war Hildur dennoch froh, sie bei sich zu haben und die ausgedehnten Wälder nicht allein betreten zu müssen, es war so schon schaurig genug. Der Weg durch den Wald war viel schlimmer als jener bis Elverum, eine einsame junge Frau konnte schnell ein bisschen ängstlich werden. Deshalb war es gut, dass Eli bei ihr war, aus einiger Entfernung konnte man sie sogar für Hildurs Kind halten. Es war jemand zum Reden da, und man war nicht allein.

Nach mehr als zwanzig Kilometern waren Elis Kräfte erschöpft. Als sich Hildur umdrehte, sah sie das Mädchen im Beerenkraut liegen. Geh du vor, Hildur, ich komme nach.

Es dämmerte. Doch obwohl Hildur darauf geachtet hatte, dass sie im Morgengrauen aufgebrochen waren, hatten sie noch immer keinen Hof erreicht. Sollte sie dieses Kind jetzt etwa tragen müssen? Das schaffte sie nie, nicht auf die Dauer. Sie war zwar stark, aber der Pfad war steinig und beschwerlich. Elis Vater hatte robustes Schuhwerk für sie angefertigt, doch es scheuerte, und eigentlich war auch sie ziemlich erschöpft, hatte aber nicht gewagt, diesem Gefühl nachzugeben.

Sie hätten bei ihrem nächsten Haltepunkt, dieser Kate, schon längst angekommen sein müssen. Hildur brachte Eli auf Trab, obwohl sie jammerte, stolperte, hinfiel und vor Weinen hickste, was sich obendrein zu einer Art Krampf auswuchs.

Strenge Worte, allerlei Drohungen und Schreckensbilder von Trollen und ähnlichen Ungeheuern trieben das Kind noch eine Weile weiter, doch dann wurde Hildur klar, dass das Mädchen bereits schlief, obwohl es noch immer in Bewegung war, es fiel der Länge nach hin und hatte Glück, dass es sich nicht den Kopf an den Steinen stieß.

Es war spät geworden. Am Ende verließ Hildur auf einer Anhöhe den Pfad, hier war eine kleine Lichtung, vielleicht beim Viehauftrieb abgeweidet.

Sie sammelte Zweige und Gras und steckte sie in Brand. Eli hörte auf zu schluchzen und sank still neben das Feuer.

Sie aßen das Brot auf. Hildur hatte noch Sauermilch übrig, und sie sagte nichts, als Eli bat, ihr vom Zuckerhut ein weiteres Stückchen abzuhacken, vielmehr nahm sie selbst einen Brocken an.

Hildur hatte eigentlich geplant weiterzuziehen. Aber jetzt war es bereits überall stockdunkel, am Feuer aber hatten sie es warm und schön. Sie lehnten sich immer mehr aneinander. Am Ende lagen sie dicht nebeneinander und schliefen so fest, dass selbst wilde Raubtiere sie nicht hätten wecken können.

Im Morgengrauen brachte die Kälte sie in ihren eiskalten Fängen zum Zittern.

Hildur sagte, es könne nicht mehr weit sein. Aber jetzt ging es Eli noch schlechter als am Morgen zuvor, sie weinte ununterbrochen. Was sollte Hildur tun?

Bei Tageslicht konnte man das Kind auch nicht so leicht erschrecken. Deshalb griff Hildur zu einer moderneren Methode, sie redete ihr gut zu. Sie versprach, wenn Eli das letzte Stück zu diesem Finnenhof, der Kate oder was immer es sein mochte, auf eigenen Füßen zurücklegen würde, könnte sie ihretwegen dort bleiben. Wenn man sie haben wollte, natürlich, ja, vielleicht nahmen die Leute sie ja alle beide.

Eli gehorchte, stand auf und ging. Hildur atmete auf und schämte sich nicht sonderlich, dass sie die Kleine auf so einfache Weise getäuscht hatte. Die Leute würden sie ganz gewiss nicht dabehalten. Hildur würde ihnen zuzwinkern, wenn sie ihre Frage stellte, damit sie begriffen, dass es sich um eine Verschwörung handelte.

Doch während dieser letzten fünf Kilometer schmiedete Eli ihre eigenen Pläne. Mochte kommen, was da wollte, sie würde kein Stück weiter gehen als bis zu diesem Hof. Ihre Beine und Füße schmerzten, und sie sehnte sich zurück, wollte jetzt nicht noch länger wandern, dann fände sie nie mehr zur Mutter und den Geschwistern heim. Den Vater vermisste sie wohl gar nicht?

In den Aufzeichnungen steht: »Eli wurde unehelich geboren, und sie war Magd in Rönningen Östby, wo sie in einer Erdhöhle wohnte. Frühere Angaben zu Eli gibt es nicht, bis auf die Namen ihrer Eltern.«

Wenn sie also unehelich geboren war, existierte vielleicht der Vater in ihrem Alltag gar nicht? Allerdings ist sein Name im Kirchenbuch verzeichnet, er hat die Vaterschaft anerkannt.

Als sich endlich ein Rauchstreifen zwischen den Bäumen zeigte, hatte Eli ihre Überlegungen abgeschlossen. Der Wald öffnete sich im selben Augenblick, als die müde Oktobersonne hervorblinzelte und die letzten Blätter der Ebereschen auf dem offenen Gelände vergoldete. Man hörte es meckern, es gab Ziegen dort. Der Hof war kleiner, als sie gehofft hatten, und bestand eigentlich nur aus einer kleinen Scheune und einem Wohnhaus, das halb in den Hang eingegraben war.

Es stellte sich heraus, dass die Ziegen im Winter das Haus mit ihrer Herrschaft teilten, oder vielleicht war es ja auch umgekehrt. Sobald sie die Tür öffneten, war es zu riechen.

Ein Feuer ist aber immer ein Feuer. Ein Feuer ist wie ein Lächeln, und wenn man herantreten und sich wärmen darf, ist es, als werde man mit offenen Armen empfangen. Die Frau scheuchte ein paar Kinder beiseite und ließ die Wandersleute auf einem Schemel nahe den Flammen Platz nehmen. Sie fühlten sich fast so, als seien sie etwas Besseres.

Ein paar Zicklein rannten umher, obwohl man doch im Haus war, und versuchten an allem, was sie erreichen konnten, zu saugen. Die Kinder benutzten sie als Spielzeug. Sie waren etwa im Alter von Eli und jünger. Und die Frau am Herd, die vorsichtig in einem Topf mit Ziegenkäse rührte, würde noch diesseits von Weihnachten ein weiteres Kind gebären, das ist sonnenklar, dachte Eli altklug. Sie sah Hildur an, die ihr einen traurigen Blick zuwarf, der besagen sollte, du begreifst ja wohl.

Aber da fing Eli zu sprechen an. Und die Hütte lauschte, all die Kinder, die Frau, ja die Wände selbst lauschten. Sie erzählte, woher sie kamen, und die Frau nickte, das sei ja an der Mundart zu hören. Sie schaute Hildur ein wenig fragend an, aber Eli behielt das Wort und berichtete, dass sie unterwegs seien, um eine geeignete Stellung als Mägde zu finden. Und sie selbst mache sich da keineswegs Sorgen, denn sie sei ja mit jeder Art von Arbeit vertraut, ganz besonders mit der Betreuung von Kleinkindern, sie könne ihnen das Essen vorkauen, könne Windeln wechseln und die Kleinen mit Reimen und Spielen beschäftigen. Und sie tue es gern, es mache Spaß, sich um Jüngere zu kümmern, sie könne wirklich alles.

Mittlerweile waren die Kinder des Hauses näher gekommen, sie starrten sie wie verhext an. Eli lächelte ihnen zu. Soll ich euch das Märchen vom süßen Brei erzählen?

Jaa. Sie watschelten, tappten und krochen noch näher, und der Älteste, ein Junge von sechs, setzte sich vor ihr auf den Boden. Hildur machte eine Bewegung, die besagen sollte, Eli nehme sich zu viel heraus, dass es irgendwie anstößig sei, aber Eli tat, als verstehe sie nichts.

Dann erzählte sie das Märchen vom süßen Brei von Anfang bis Ende, und keiner sagte ein Wort, alle hingen an ihren Lippen, obwohl sie noch so klein waren und die Jüngsten bestimmt nicht mehr verstanden, als dieses Wort, dieses süße Wort, das sie immer wieder hören wollten. Als die Geschichte zu Ende war, flüsterten sie: Mehr.

Die Frau am Herd lobte Eli, ein so schönes Märchen, die Kinder wären völlig verzaubert, es stimmte wahrhaftig, was sie gesagt hatte, dass sie mit Kindern umgehen könnte. Eine solche Kleinmagd wie sie wäre hier auf dem Hof schon vonnöten. Besonders seit sie was Krankes hätten.

Und als ziehe man einen unsichtbaren Vorhang weg, wichen die Kinder zur Seite und öffneten gewissermaßen einen Weg ins Halbdunkel. Eine Pritsche wurde hinten an der Erdwand sichtbar. Etwas bewegte sich zwischen den Lumpen, ein weiteres Kind. Ein Hustenanfall und gleich noch einer, bellender Husten.

Es ist die Schwindsucht, erklärte die Frau.

Und obgleich sie es nicht sagte, stand da eine Frage im Raum, tut das etwas?

Hildur machte wieder eine winzige Bewegung, doch Eli ignorierte ihre Warnung erneut. Ich bin an kranke Kinder gewöhnt, sagte sie, stimmt doch Hildur, du kannst es bezeugen.

Die Ansteckung, zischte Hildur. Der Doktor ist hier gewesen, sagte die Frau, die das sicher gehört hatte, er sagt, es bestehe keine Gefahr für die Kinder, sie können hier wohnen bleiben.

Wohin sollten sie wohl sonst gehen?, dachte Hildur, sagte nun aber nichts mehr, wollte nur möglichst rasch aufbrechen.

Eli aber war stocktaub für die Zeichen der Tante. Sie wollte bleiben. Sie wollte nicht noch weiterwandern, und der Proviant war aufgegessen, der Topf mit Ziegenkäse hingegen verbreitete einen himmlischen Duft. Alles war in gewisser Weise auch so bekannt, all die kleinen Kinder, die Enge, sogar das mit dem lungenkranken Mädchen. Wenn sie gesund wurde, konnten sie zusammen spielen, sie konnten Schule spielen. Eli hatte bereits alles von den älteren Geschwistern gelernt. Ich kann ihr das Schreiben beibringen, sagte sie. Und ich habe ein Zuckerstück, das sich die Kleinen teilen dürfen.

Sie meinte es nicht wirklich. Es rutschte ihr nur so heraus, aber die Kinder jubelten.

So kam es, dass Eli ihre erste Stellung antrat, und ein paar Stunden später musste Hildur allein aufbrechen.

Die drei Jahre in dieser Familie – was für ein Leben!

Aber doch immerhin ein Leben. Vom unsichtbaren Mittelkind, das keiner haben wollte, zur unschätzbaren großen Schwester für andere. Sie machte sich schnell unentbehrlich, wollte dort bleiben, wollte zu essen bekommen, und das hier war die einzige Methode. Sie konnte ihre ganze Intelligenz einsetzen, konnte reden, schweigen, konnte erzählen, und auch im Zuhören war sie gut. Obendrein tat sie eine Menge, sah, was gebraucht wurde, war geschickt, alles ging leichter, wenn Eli dabei war.

Doch in erster Linie nahm sie sich der Angst an, des Schmerzpunktes im Leben der Familie. Diese Angst kannte sie nur zu gut, diesen süßen Geruch vor dem Herannahen des Todes.

Also bot sie sich völlig freiwillig an, und so wurde es dann auch, sie teilte das Bett mit dem schwindsüchtigen Mädchen. Wärmte die Gleichaltrige mit ihrem Körper, besser konnte es wirklich nicht sein.

Bestimmt war auch sie voller Furcht, aber das zeigte sie nicht. Und Wunder über Wunder, sie wurde nicht krank. Nein, Eli durfte sogar ihr neunundachtzigstes Lebensjahr erleben, das konnte sie damals jedoch nicht wissen, als sie an die Erdwand gepresst dalag und Kälte, Dämonen, ja den Tod selbst am Eindringen hinderte.

So viel Schauerliches, wie es zu jener Zeit gab, können wir uns heute nicht vorstellen. Lange bevor es Radios, Fernseher und alle Arten von Musikanlagen gab, herrschte dennoch eine Art Raunen, sobald die Dunkelheit herabsank. Da krochen die Geschichten über all das Grausige aus den Ecken. Übrigens genau wie heute, obwohl wir die Scheußlichkeiten nun nicht selbst weitergeben müssen, jetzt wird das kommerziell erledigt.

Und bevor ein öffentliches Gesundheitswesen existierte, gab es uralte Mittel, wichtigtuerische Quacksalber und Hausmittel, die bestenfalls ungefährlich waren, unangenehm aber waren sie sehr oft.

Eine Anweisung war von jemandem ergangen, die besagte, das kranke Mädchen würde leben, wenn es eine Tasse von einem speziellen Gebräu trank, das Blut enthalten sollte – und zwar von einer Kröte. Die musste jedoch lebendig sein, wenn ihr das Blut entnommen wurde!

Die Kröte wurde eingefangen. Sie hechelte, als ihre Haut im Eimer, wo sie eingesperrt saß, immer trockener wurde, sie war gewiss schrecklich verängstigt, man hatte sie geweckt, als sie schon tief in einem Laubhaufen am Erstarren war, es sollte schließlich Winter werden.

Der alte Finne mit der Blechtasse, der Bleikugel und dem Rest des Rezeptes sowie der Formel, die dazu herunterzubeten war, sagte, jemand müsse der Kröte das Blut aussaugen.

Eli war unentbehrlich, war gewissermaßen die große Schwester. Doch zugleich war sie auch eine Dienstmagd, die hier das Gnadenbrot aß. Was konnte sie also dagegenhalten? Sie war beinahe so etwas wie das Eigentum der Leute. Sie konnte sich nicht weigern.

Es gab eine Alternative, ganz sicher, und genau die war das Problem. Wieder loszuziehen, bald kam der Winter und sie dann vollkommen allein, nein. Tod durch Verhungern oder Erfrieren lag in dieser Situation am nächsten, was hatte sie für eine Wahl. Sie tat das einzig Richtige.

Aber die Krötenphobie wurde riesig, ja selbst, wenn es um Frösche ging, sogar bei solch kleinen süßen Krabben, wie wir die winzigen Minikröten nennen, die es immer gibt, wenn eine Quelle völlig sauber ist. Eli wurde total hysterisch, wenn sie die Tiere sah, und vererbte ihr Entsetzen auch der nächsten Generation.

Damals jedoch war es ernst. Vielleicht passierte es sogar mehrmals, vielleicht musste die Kur wiederholt werden. Und sie durfte sich nichts anmerken lassen. Musste die zappelnde, nasskalte Kröte packen, sich durch die Warzenhaut beißen, saugen und das, was kam, in eine Tasse spucken, wieder und wieder. Umgeben von einem Kreis angeekelter Bewunderer, den Kindern, die überzeugt waren, dass Eli einfach alles schafft.

Und kann das zusätzliche Eisen, das Protein, dieses Mädchen womöglich geheilt haben, oder war es einfach der Placeboeffekt? Nichts deutet darauf hin, dass sie gestorben ist. Und auch Eli steckte sich nicht an. Der Preis war eine Krötenphobie, das muss man akzeptieren.

Sie war eine Dienstmagd, war ein Niemand. Sie hatte keinerlei Wert und war dennoch unschätzbar, ähnlich wie die Negersklaven in Amerika.

Einer Kröte Blut auszusaugen, vielleicht war das gar nicht so schlecht. Es sättigt gewiss, allein schon der Gedanke, es ist so Ekel erregend, dass selbst der alltägliche Gestank zur reinen Poesie wird. Im Vergleich dazu wird die einfachste, selbst leicht verdorbene Mahlzeit zum Festessen. Jedenfalls hatte man doch keiner Kröte das Blut aussaugen müssen. Ja, eigentlich geht es einem doch richtig gut. So manche aller hausgemachten Qualen jener Zeit hatten vielleicht ihren Ursprung in solch dunklen Mechanismen.

Sie weinte wohl ein paar Tränen, aber nur insgeheim, draußen allein im Dunkeln unter dem Vorwand natürlicher Bedürfnisse. Danach hieß es gleich wieder die Bühne zu betreten – erzähl doch mal, wie hat sich das angefühlt!

Sie war gut im Erzählen. Als sich der Winter mit seinem Schneebauch über die Menschen herabsenkte, und tausend Sterne leuchteten, und man die Ziegen hinter der dünnen Bretterwand deutlich hören konnte, bevölkerte sie die Erdhöhle mit Königen, Prinzessinnen und Trollen. Oder sie erzählte Ereignisse aus der großen Welt, Eli wusste sehr viel, und was sie vom daheim Gehörten nicht in Erinnerung hatte, erfand sie.

Es gab einen Mann im Haus, zuweilen verschwand er, übernahm Transporte oder anderes. Manchmal saß er einfach nur da, tagelang.

Die Frau war nach dem letzten Kind recht schwach geworden. Eli übernahm noch einen größeren Teil der Hausarbeit, und an den Abenden schlug sie die Tür zur anderen Seite auf, wo einfach alles geschehen konnte, den Begriff Lampenfieber kannte sie nicht, und Schaffensangst war ihr fremd.

Und der Mann saß da. Sie dachte nicht an ihn, sah nur seine Augen, die im Feuerschein blinkten. Sie lachte fröhlich, wenn er etwas sagte, selbst wenn es nicht sehr lustig war, sie wollte es allen recht machen, wollte Freude ausstrahlen und im Haus gute Stimmung verbreiten.

Doch war sie ja ein Nichts. Er packte sie, zog sie in die Scheune und presste ihre Schenkel um sein Glied. Sein Atem machte ihr sofort klar, dass es ernst war, nichts, was man wegscherzen oder dem man sich entwinden konnte.

Er benutzte sie, verstohlen und rasch, ohne ein Wort. Als sie älter wurde, verstand sie, dass sie dennoch Glück gehabt hatte, es war schließlich nur zwischen den Schenkeln. Also doch richtig wohl überlegt von ihm, hätte so mancher gesagt, dass er nichts Schlimmeres versuchte.

Die ersten Male machte es nichts weiter. Es ging so schnell. Er keuchte entsetzlich, rieb und presste, und sie lernte, sich nicht zu widersetzen, sondern im Gegenteil, sie kam ihm entgegen, denn dann ging es rascher zu Ende. Es wurde glibberig, und dann war es vorbei.

Doch passierte es wieder und wieder, und als der Frühling und danach der Sommer anbrach, wurde es schwieriger zu entkommen. Je mehr die Natur sich öffnete, desto größer wurden seine Möglichkeiten. Aber es war ja weiter keine große Sache, man musste kein Wort darüber verlieren.

Nein, kein Wort. Eli spürte, dann würde die Bäuerin sie zum ersten Mal schlagen und sie wegschicken. Sie würde ihr nicht glauben. Nur entsetzlich wütend werden. Alles bräche zusammen.

Man stelle sich vor, dass Eli sofort Bescheid gewusst hat, dass sie nicht einmal darüber nachzudenken brauchte!

Er tat ihr nicht weh. Er war ziemlich gleichgültig, griff nach ihr wie nach einem Werkzeug oder etwas Essbarem, und wenn das Ganze erledigt war, hatte sich die Sache. Nicht mal ein blauer Fleck blieb zurück. Wenn sich einer schämen musste, dann doch wohl nur sie?

Nachdem sie elf geworden war, wurde es erheblich schwieriger. Eli wurde nie größer als einsfünfzig, aber sie war trotz allem gewachsen. Besonders vorn am Oberkörper war sie gewachsen, das war so peinlich, sie versuchte die Schultern nach vorn zu ziehen, doch wie macht man das, wenn man Heu über Reiter hängt? Das Gesicht war ebenfalls erwachsener geworden, das Haar war noch üppiger und die Taille deutlich markiert, die Hüften wölbten sich.

Dieses Keuchen war nun von anderer Art. Seine Finger griffen auf andere Weise und überall an ihren Körper, vor allem an die Brust, die wuchs und schmerzte. Auch war er immer länger zugange. Wollte unten eindringen, versuchte es!

Jetzt bekam Eli Angst.

Eines Morgens zeigte sich Blut. Sie verstand, was das bedeutete. Sie hatte ihre Bäuerin getröstet, weil kein Blut gekommen war, schluchzend hatte die Bäuerin ihr alles darüber erzählt. Eli wusste also Bescheid, was passieren konnte.

Und damit wusste sie auch, dass sie nicht länger bleiben konnte.

Aber die Frau des Hauses erwartete doch ein Kind. Und sie selbst war eine Art Ersatzmutter für die Kleinen geworden. Sie hatte gelernt, sie zu mögen.

Alles war so hart.

Der Frühling war angebrochen, im Wald rann und rieselte es, ihre Wanderung würde wahrhaftig nicht leicht werden.

Was tut man, wenn man davonlaufen will?

Unbemerkt legt man eins nach dem anderen beiseite, rüstet sich insgeheim für die Flucht. Man versteckt, was man braucht, schafft es außer Haus an einen Ort, wohin man als Erstes läuft, wenn es schließlich soweit ist.

Dann überlegt man sich einen Zeitpunkt. Die Kunst ist, nicht zu früh vermisst zu werden. Man kann eine der Ziegen im Wald anbinden, die fehlt also, wenn ihre Zahl überprüft wird. Man kann sagen, man will nach ihr suchen und begibt sich gegen Abend hinaus. Die anderen sind nur froh, dass sie dem entgehen, der dunkle Wald macht ihnen Angst.

Die Ziege bindet man los, die findet allein heim.

Und man selbst löst sich in Luft auf.

Schließlich benötigt man einen ausgearbeiteten Plan, wohin man gehen will, und auch für später. Genau daran mangelt es meistens. Langfristiges Planen ist nichts für einen, der wegläuft, der sich davonmacht und um sein Leben läuft.

Sie war elf, als sie damals nach Romedal heimkehrte.

Aber was hatte sie sich vorgestellt? Erstens würden ihre armen Dienstherren sofort wissen, wo man nach ihr suchen musste, falls man sie zurückhaben wollte. Und ihr Inneres war ein einziges Chaos, sie sehnte sich halb krank nach diesen Kindern und schämte sich, weil sie die erneut hochschwangere Frau im Stich gelassen hatte.