Eine Katze im Ghetto - Rachmil Bryks - E-Book

Eine Katze im Ghetto E-Book

Rachmil Bryks

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Beschreibung

Wie haben die Menschen im Lodzer Ghetto gelebt? Worüber haben sie gesprochen, was gedacht, wovon geträumt? Der jüdische Autor Rachmil Bryks erzählt vom Leben und Überleben im Lodzer Ghetto und in Auschwitz. Er trotzt dabei dem Grauen immer wieder mit feinem Witz. Bryks schildert, wie trotz allgegenwärtiger Angst, beißender Kälte und nagendem Hunger geistiger Widerstand geleistet und Menschlichkeit bewahrt werden konnte. "Eine Katze im Ghetto" erzählt von dem verzweifelten Versuch der Juden, der Hungersnot im Lodzer Ghetto zu entkommen. Aus Kraut- und Rettichblättern werden "Fleisch" und "Fisch" hergestellt und die unterschiedlichsten Speisen zubereitet. Um der Kälte zu entfliehen, werden Möbel, Böden und Dächer verheizt. Der Alltag im Ghetto ist geprägt durch Ausweglosigkeit, Arbeit und Angst. Rachmil Bryks erzählt berührend ehrlich und überwältigend in fünf Erzählungen von menschlichem Leid und dem Überleben im Lodzer Ghetto und des Konzentrationslagers Auschwitz. Aus dem Jiddischen übersetzt von Andrea Fiedermutz und mit einem Nachwort von Bella Bryks-Klein.

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Rachmil Bryks

EINE KATZE IM GHETTOUND ANDERE ERZÄHLUNGEN

Aus dem Jiddischen von Andrea Fiedermutz

Gedruckt mit Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien, des Zukunftsfonds der Republik Österreich und des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus

Bryks, Rachmil: Eine Katze im Ghetto und andere Erzählungen / Rachmil BryksWien: Czernin Verlag 2020ISBN: 978-3-7076-0691-1

Erstmals erschienen in der jiddischen Originalausgabe: Af Kidesh ha Shem, New York 1952

Die Übersetzung und Veröffentlichung wurde von der Tochter des Autors, Bella Bryks-Klein, gestattet.

© 2020 Czernin Verlags GmbH, Wien

Übersetzung: Andrea Fiedermutz

Satz, Umschlaggestaltung: Mirjam Riepl

Autorenfoto: Bella Bryks-Klein

Druck: GGP Media GmbH

ISBN Print: 978-3-7076-0691-1

ISBN E-Book: 978-3-7076-0692-8

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

Inhalt

Eine Katze im Ghetto

Ein Schrank im Ghetto

Ein Kinderspiel im Ghetto

Berele im Ghetto

Kiddusch Haschem – jüdische Märtyrer

Nachwort

Anmerkungen

Eine Katze im Ghetto

In den Lagerhäusern des Lodzer Ghettos wimmelte es von Mäusen, welche die dort gelagerten Lebensmittel unbrauchbar machten. Gift durfte man nicht auslegen, denn die Mäuse hätten es verschleppen können, also brauchte man dringend Katzen. Nur – im Ghetto gab es schon lange keine Katzen mehr! Die Deutschen hatten doch bei Androhung der Todesstrafe verfügt, dass Juden keinerlei Tiere halten durften. Sobald das Ghetto abgeriegelt wurde, mussten die Juden bei der Kripo alle Haustiere abliefern, selbst Hunde und Katzen. Und aufgrund der großen Hungersnot waren viele Katzen von selber aus dem Ghetto entflohen. Außerdem aßen die Leute auch die Katzen auf … Eines Tages verbreitete sich im Ghetto ein Gerücht: »Wer eine Katze heranschafft – der erhält ein Brot von zwei Kilo!«

Als die Juden von dieser Neuigkeit hörten, wurde es für jedermann zum Wunschtraum, eine Katze zu fangen.

Ein ganzes Brot war schließlich keine Kleinigkeit!

Es geschah an einem lauen Sommerabend. Einige Juden machten in der Färberei noch Überstunden. In seinem Wächterhaus saß der 24-jährige Schloime Sabludowitsch vertieft in ein Buch. Er war Wächter in der Färberei. Wenn Sabludowitsch beim Lesen war, konnte man neben ihm selbst aus Kanonen schießen – er hörte nichts.

Plötzlich kam Frau Herschkowitz freudestrahlend hereingestürzt: »Panie Sabludowitsch, ich hab eine Katze gefangen! Ich mache Sie zu meinem Partner. Ich halte mich an unser Abkommen: ein halbes Brot für mich, ein halbes Brot für Sie!«

Schloime Sabludowitsch vergaß augenblicklich sein Buch. Ein halbes Brot war schließlich keine Kleinigkeit!

»Ja!«, rief er mit einer solchen Begeisterung, als hätte er gerade gehört, dass der Krieg zu Ende sei.

Frau Herschkowitz brachte sogleich die Katze mit den Worten: »Da sehen Sie: Wenn Gott will, hilft er auch!«

Sabludowitschs Herz schwoll an vor Freude. Er wagte kaum, die Katze zu berühren. Sein ganzes Leben hatte er noch keine Katze in den Händen gehalten.

Die Katze loslassen? Dann könnte sie doch, Gott behüte, weglaufen! Also sagte er in einem Ton, als hätte er in der Not einen rettenden Einfall:

»Wissen Sie was, Frau Herschkowitz? Bringen Sie einen Sack und wir werden die Katze dort hineinstecken!« Die Frau kam sogleich mit einem Drillichsack von einem Überbett zurück (in solche Säcke warfen die Deutschen die blutige Kleidung der getöteten Juden zum Färben und die Juden mussten später für die Deutschen Teppiche aus diesen Stoffen anfertigen).

Es kam Sabludowitsch nicht gerade leicht an, die Katze in den Sack hineinzulocken. Zusammen banden sie ihn schließlich zu, rollten ihn ein und legten ihn auf die Bank. Da es sich um einen Sack von der Länge eines Bettes handelte, schaffte es die Katze, bis zum Boden hinunterzugelangen. Sie kroch über die gesamte Länge und Breite des Sacks und klagte jämmerlich »Miau! Miau!«, während sie einen Ausweg suchte.

Frau Herschkowitz war eine gebrochene Person, eine arme Witwe. Ihre Halbwaisen zu Hause schrien und weinten vor Hunger. Sie musste in der Schlange vor der Suppenküche und den Kooperativen anstehen, um ihre Ration abzuholen, und hatte keine Minute Zeit. Auch jetzt war sie in Eile, um heimzukommen. Sie sagte:

»Panie Sabludowitsch, Sie haben doch Zeit! Ich weiß, dass Sie mich nicht betrügen werden! Deshalb lasse ich die Katze bis morgen bei Ihnen. Morgen, gleich in der Früh, bringen Sie sie in die Approvisations-Abteilung1, nehmen das Brot in Empfang und wir werden es teilen.« Sabludowitsch sagte ihr zu, sie könne sich auf ihn verlassen. Sie wünschte ihm eine Gute Nacht und machte sich auf den Heimweg.

Nicht einmal mit der eigenen Mutter teilte man in dieser Zeit noch ein Stück Brot – das war das Ghetto … Warum hatte sie ihn dann zum Partner gemacht? Weil sie beide verantwortungsvolle Tätigkeiten ausübten: Er durchsuchte als Wachmann die Männer, sie die Frauen, um sicherzugehen, dass niemand etwas auf dem Weg hinaus aus der Fabrik stahl. Beide brachten es fertig, von Zeit zu Zeit wegzusehen, um die Leben der Arbeiter nicht zu gefährden. Durch diese Geheimnisse miteinander verbunden, waren sie jederzeit bereit, einander zu helfen, und einmal hatten sie sich während eines Gesprächs gegenseitig feierlich versprochen, dass, wenn einer von ihnen eine Katze erwischen sollte, er mit dem anderen den Gewinn gerecht teilen wollte.

Aus dem Hof kam eine Wäscherin, die zwei leere Wasserkübel trug. Sabludowitsch ließ sie immer heißes Wasser von der Färberei nehmen. »Lieber Herr Sabludowitsch«, fragte sie lauernd, als sie die Katze miauen hörte, »haben Sie da etwa eine Katze?« Sie klang, als ob sie ihn fragte, ob er eine Million gewonnen hätte. »Ich meine, da muss man Ihnen ja gratulieren, Mazl tov! – Sie werden ein ganzes Brot bekommen! Ja … und noch hundert Mark dazu! Wissen Sie denn, wie hoch der Preis für einen Laib Brot in diesen Tagen ist? Fragen Sie mich – ich weiß es! Ein Laib Brot ist schon 1800 Mark wert! So ist es, lieber Herr! Rumkowskis Königreich2 hat es weit gebracht! Auf der Lebensmittelkarte kostet ein Laib achtzig Pfennige, auf der Straße – 1800 Mark! Überlassen Sie mir die Katze – ich habe Beziehungen in der Verwaltung. Es gibt nur eine Bedingung – ich will die Hälfte des Brotes!«

Sabludowitsch erwiderte, dass er über die Katze nicht alleine verfügen könne, da er einer Geschäftspartnerin verpflichtet sei.

»In diesem Fall, Herr Sabludowitsch«, antwortete sie sogleich, »können Sie mir jeder ein Viertel Laib Brot geben. Besser noch, ich gebe Ihnen gleich auf der Stelle ein Viertel des Laibes, den ich heute gerade bekommen habe, wenn Sie mir die Katze geben. Jetzt ist es zu spät, die Approvisations-Abteilung hat schon geschlossen, aber morgen laufe ich gleich als Erstes hin und bringe Ihnen ein ganzes Brot und hundert Mark obendrein, vielleicht sogar mehr! Ich kann die richtigen Beziehungen spielen lassen – ich mache doch die Wäsche für unseren Ghettochef – Sie können also sicher sein, dass Sie den Rest bekommen, aber dafür will ich eine Hälfte des Brotes sofort.«

Sabludowitsch dachte sorgfältig über das Angebot nach: Eine derartige Gelegenheit durfte nicht leichtfertig jemand anderem überlassen werden. Freilich hatte er selber keine Kontakte, aber wenn er in das Gebäude der Approvisation hineinging, wäre die Katze seine beste »Beziehung«, seine Machtquelle. »Ich kann die Katze niemandem anvertrauen – was, wenn die Frau das Brot nimmt und ich mit nichts zurückbleibe! Kann ich mich dann etwa beim Judenrat3 beschweren?!«

»Nein!«, sagte er resolut.

Die Frau wollte keinesfalls klein beigeben. Mit nichts weniger als dem Stück Brot würde sie sich begnügen, und so wurde sie immer drängender und einschmeichelnder und redete unaufhörlich auf ihn ein. Am Ende hatte sie gar vergessen, was sie hergebracht hatte, und sie versuchte alles, um ihn zum Annehmen des halben Kilo Brotes zu überreden.

Sabludowitsch war schrecklich hungrig. Seit er ins Ghetto gekommen war, war dieser nagende Hunger nie verstummt. Und so sagte er: »Na gut, bringen Sie Ihr Viertel Brot, aber wiegen Sie es ehrlich ab! Dann können Sie die Katze mitnehmen und morgen bringen Sie den Rest. Auf diese Weise kriegen Sie ein halbes Brot allein und meine Partnerin und ich werden auch nur ein halbes Brot kriegen.«

»Fein«, antwortete die Frau und war endlich zufrieden, »ich bringe es auf der Stelle!«, und sie ging weg. Zurück in ihrem Heim, überlegte sie: »Brotrationen sind kostbar, teurer als Diamanten! Soll ich wirklich meine Ration im Vorhinein aushändigen, wo doch das Brot, das ich gerade erhalten habe, für acht Tage reichen muss? Und wo ich nichts zu kochen habe? Nein, ich werde es ihm nicht geben.«

Sabludowitsch wurde von immer grimmigeren Hungerqualen geplagt. Er war sich sicher, dass die Wäscherin nun jeden Augenblick mit dem Brot zurückkommen würde. Doch er wartete umsonst, sie erschien nicht.

Die ganze Zeit über hatte die Katze ihr jämmerliches Miauen nicht unterbrochen. Sie scharrte und wälzte sich entlang der Länge und Breite des Sacks und suchte tastend nach einem Weg in die Freiheit.

Der alte Lande war der Kesselheizer hier. Rußverschmiert wie ein Rauchfangkehrer, klein, dünn, abgezehrt, war er ausgedörrt wie ein getrockneter Pilz. Einst war er ein Gastronom gewesen und hatte sein Geschäft in einer der schönsten Gegenden von Lodz besessen, der Petrikovska-Straße.

Er war bekannt als Schlemmer. Nicht, weil er so viel aß, sondern weil er so viel über Essen sprach: Was er alles essen würde und was er vor dem Krieg alles gegessen hatte, legte er genau von Sonntag bis Sonntag dar – jeden Tag andere Speisen, die er zum Frühstück liebte, zum Abendbrot und vor dem Schlafengehen; was er alles in der Sommerfrische gegessen hatte, auf dem Land, und welche alkoholischen Getränke er bevorzugte. Er zählte die verschiedenen Sorten Cognac, Champagner, Whisky, Likörmischungen auf, starke und schwache. Wenn er sprach, sah man, dass er den Geschmack der Speisen fühlte und wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief.

Kaum hörte er die Geschichte wegen der Katze, stürzte er ohne anzuhalten zum Wachmann, die mit Kirschenblättern gestopfte Pfeife noch im Mund. Wie gewöhnlich hatte er mit einem Hustenanfall zu kämpfen und stammelte mühsam: »Pa… Pa… Pa… Panie Sabludowitsch, ein herzliches Mazl tov! Sie haben tatsächlich eine Katze! Sie haben das große Los gezogen … Wenn ein Mensch Glück hat, dann ist dem nichts mehr hinzuzufügen … Vor einem Jahr hätte mich auch fast das Glück getroffen.«

Er nahm die Pfeife aus dem Mund und begann mit einem selbstgefälligen Lächeln zu erzählen:

»Ich habe damals beinahe eine Katze gefangen. Unter meiner Hand ist sie hervor und mir entwischt! Ich will Sie nicht anlügen, dass ich alleine dabei gewesen sei, tatsächlich hatte ich einige Partner. Woher, glauben Sie, war diese Katze? Sie kam aus der Stadt, hat sich durch den Stacheldrahtzaun durchgeschmuggelt, die Ghettowachen genarrt und getäuscht. Die Katze muss einem Unteroffizier oder einer höherstehenden Person gehört haben. Nicht jeder Deutsche kann heutzutage eine Katze haben. Man frisst doch sogar Katzenbraten! Oj, schmeckt das gut, soll ich so ein gutes Jahr haben! Eine Katze ist schön fett, aber man muss sie mit einem Schnäpschen oder zwei oder drei hinunterspülen. Und danach muss man eine Zigarette rauchen, aber eine ordentliche, nicht so einen Mist!«, und er wies dabei auf die Pfeife. »Weh mir! Ich hab schon einen Fuß im Grab, ich glaube, es geht bald zu Ende mit mir! Es schwindelt mir vor den Augen und der Kopf dreht sich wie ein Karussell. Vier Suppen habe ich heute geschluckt, bei meinem und eurem Leben! Es ist doch nur Wasser … Nach der Suppe ging es mir noch schlechter als zuvor. Wenn ich doch wenigstens ein paar Kartoffelschalen bekommen könnte! Ich weiß nicht, in welcher Küche heute Kartoffeln gekocht wurden? … Ja, ich wollte Ihnen doch erzählen, wie auch mich das Glück fast gestreift hätte. Vor einem Jahr, als ich in den Genuss eines genehmigten Aufenthalts für besonders verdiente Arbeiter im Erholungsheim im Vorort Marishin kam, saßen wir so in der Dämmerung draußen. Um diese Zeit streunen sie herum, die Katzen. Da haben wir doch tatsächlich gesehen, wie eine Katze über den Stacheldraht geklettert ist. Wir alle beteten: Oj, soll doch die Katze ins Ghetto gelangen! Sogleich haben wir einen Plan geschmiedet, wie man die Katze fangen könnte. Sie können sicher sein, Panie Sabludowitsch, wenn jene Katze ins Ghetto reingekrochen wäre, hätte sie mir schon gehört! Ich bin doch Lande, verstehen Sie, und ich hab die richtigen Kontakte in der Approvisations-Abteilung! Die Katze war gerade am Draht, da hat der Deutsche – möge sein Name ausgelöscht werden – sie zurückgejagt, soll er doch an Ort und Stelle den Herztod erleiden! In der Approvisations-Abteilung habe ich gute Beziehungen, verstehen Sie mich recht. Alle diese Halsabschneider, müssen Sie wissen, haben doch früher bei mir gefressen und gesoffen! Ich hatte doch ein Juwel von einem Restaurant, beste jüdische Küche, gebratene Geflügelmägen, gefüllte Hälschen, gehackte Leber, und, und … Soll ich Ihnen jetzt alles aufzählen, was es bei mir gab? Hören Sie auf mich, verehrter Herr Sabludowitsch, und machen Sie mich zu Ihrem Partner! Geben Sie mir die Katze, ich bringe das Brot, und wir werden teilen – das garantiere ich Ihnen, oder ich soll an jedem Bissen ersticken, den ich Ihnen vorenthalte, so wahr ich Lande heiße!«

Schloime Sabludowitsch antwortete ihm aber entschlossen: »Nein, ich brauche keinen Partner!«

»Hören Sie mal, Panie Sabludowitsch, was glauben Sie denn? Genau gerechnet gehört die Katze uns allen, die sich jetzt in der Fabrik befinden, denn wo hat man sie denn gefangen? In der Fabrik, ha? Deshalb gehört sie allen, alle müssen gleichberechtigte Partner sein. Wir alle müssen mit der Katze in die Approvisations-Abteilung gehen, das Brot dafür nehmen und zwischen uns aufteilen! Denn heutzutage kann man niemandem mehr ein Brot anvertrauen! Hier ist das Ghetto, verstehen Sie? Aber weil Sie doch der verehrte Herr Sabludowitsch sind, vergönne ich es Ihnen von ganzem Herzen, es soll Ihnen wohl bekommen!«

Das sagte er natürlich, um es sich nicht mit Sabludowitschs Wohlwollen zu verscherzen, jener durchsuchte ihn schließlich immer vor dem Verlassen der Fabrik …

Die Nacht brach herein. Der Nachtwächter trat seinen Dienst an – er war ein hochgewachsener, breitbeiniger Jecke, dessen Großvater sich schon hatte taufen lassen. Trotzdem hatte man ihn, seinen Enkel, ins Lodzer Ghetto gesperrt. Als er die Katze miauen hörte, freute er sich und sagte lächelnd:

»Herr Sabludowitsch, Sie haben eine Katze? Verkaufen Sie sie mir! Sie bekommen fünfzig Mark und ich werde am Abend einen Katzenbraten zubereiten!«

»Was? Die Katze schlachten? Niemals im Leben! Nicht einmal, wenn Sie mir zwei Brote dafür geben! Was soll das denn, ein Katzenbraten? Man sieht, dass Sie kein Jude sind!«

»Natürlich bin ich kein Jude! Ich bin Reichsdeutscher! Nur mein Großvater war Jude. Ich aber bin Reichsdeutscher! Und trotzdem haben mich die dummen Nazis ins Ghetto umgesiedelt, Donnerwetter noch mal!« An dieser Stelle senkte er die Stimme und wechselte ins Deutsche, gemischt mit ein paar Brocken Jiddisch. Er hielt ihm einen ganzen wissenschaftlichen Vortrag, dass im Fleisch Kalorien und im Brot Vitamine enthalten seien: »Fleisch ist gehaltvoller als Brot. Sie sind alle geschwollen, Ihre Beine leiden an Kalziummangel, deswegen sollten Sie Fleisch essen … Sie erhalten von mir eine halbe gebratene Katze, die wird Sie gesund machen! Eine Katze schmeckt sehr gut, eine Katze ist ein sehr sauberes Tier. Meine Beine sind auch geschwollen. Eine halbe Katze wird meiner Gesundheit auch guttun. Kalorien! Kalorien! Die sind sehr wichtig für den Körper!«

Sabludowitsch wurde übel bei diesen Worten und er schrie ihn zornig an:

»Man sieht, dass Sie kein Jude sind! Ich hätte dieses Essen erbrochen!«

Nach reiflicher Überlegung trug er den Sack mit der Katze schließlich in die Färberei, legte ihn in eine Ecke auf einen Berg blutiger Lumpen und ging nach Hause.

Auf den kahlen Erdstreifen zwischen den engen hohen Hauswänden, wo die Sonne nie hinschien, betrieben die Juden »Gärtnerei«. Erde? – Wohl eher ein Gemisch aus Kohlenstaub, Ziegelstücken, Steinen und Glas. So eine »Erde« dürstete nicht danach, fruchtbar zu werden.

Die Juden plagten sich aber beharrlich mit so viel Mühe, dass am Ende doch ein paar armselige Salatblätter hervorsprossen, ein bisschen Dill, dessen wenige Ähren man an einer Hand abzählen konnte … Man riss die Pflastersteine heraus, um an Erde zu gelangen, manche Juden schütteten ihre Erde auch direkt auf das Pflaster.

Von allen Samen war der Rettich am ergiebigsten und am leichtesten zu bekommen. Die Rettichsamen pflanzte man ein und die Erde brachte schließlich ein paar anämische Rettichblätter hervor.

Überall auf der Welt sind Rettichblätter grün, aber im Ghetto waren sie weiß!

Wer immer ein Krümel Erde hatte, setzte Rettich ein: auf Gehsteigen, in Kästchen, leeren Fleischkonserven, in Kinderwägen, die nach der großen »Sperre« übrig geblieben waren. (Im Jahr 1942 hatten doch die Deutschen eine umfassende Selektion veranstaltet, die sieben Tage und sieben Nächte gedauert hatte und während der fast alle Alten und Kleinkinder, insgesamt 22.000 Menschen, ins KZ abtransportiert wurden.) Ja, viele Kinderwägen standen jetzt verwaist herum und die Juden schütteten Sand hinein und säten Rettich, und ebenso in den Blumentöpfen an den Fenstern. Nach ein paar Wochen konnte man dann die Rettichblätter ernten. Und wenn sie abgeschnitten waren, wuchsen ein paar Tage später schon wieder neue Rettichblätter nach.

Auch Kraut wurde gepflanzt, denn auch aus diesen Samen wuchsen große wilde Blätter.

Aus den Kraut- und Rettichblättern bereiteten die Juden die »köstlichsten Speisen« zu: verschiedene Suppen, Spinat, Salat, Latkes, sogar »Fisch« und »Fleisch«.

Wie die Juden dieses Fleisch hergestellt haben? Nun, man zerhackte die Rettich- oder Krautblätter, schüttete ein wenig Salz und Paprikaersatz dazu und briet das Ganze. In die Pfanne wurden ständig einige Tropfen Wasser gegossen, damit das »Fleisch« nicht anbrannte, denn man hatte kein Fett. Dann musste man sich nur noch vorstellen, man äße Fleisch – und schon glaubte man den Geschmack von Fleisch zu verspüren.

Und wie bereiteten die Juden im Ghetto Fisch zu? Wieder hackte man die Rettich- oder Krautblätter, schüttete ein wenig Salz und Paprikaersatz dazu, fügte ein paar Saccharintabletten hinzu und kochte das Ganze. Auch in die Suppe warf man ein paar Saccharintabletten. Dann musste man sich nur noch vorstellen, man äße Fisch – und schon konnte man den Geschmack von Fisch verspüren. Von dem ständigen Hunger waren die Gaumen bereits verkümmert und die Menschen konnten die verschiedenen Geschmäcker nicht mehr unterscheiden. Über Nacht schwollen die Hände, die Füße, das Gesicht, der Bauch an. Sie konnten sich nicht mehr bewegen und blieben auf den schmutzigen Matratzen liegen. Wenn es nach einigen Tagen und nach großen Mühen und Anstrengungen gelungen war, einen Arzt zu bringen und der Doktor nur einen Blick auf den Kranken geworfen hatte, schrie er meistens gleich: »Aufhören, Rettichblätter und Krautblätter zu essen! Davon wird man so geschwollen!«

Dann pflegten die Juden weinend zu antworten: »So geben Sie uns Brot! Kartoffeln! Oder irgendwas anderes! Panie Doktor, was sollen wir nur essen? Der Hunger peinigt uns so sehr …«

Die Kranken blieben auf den Matratzen liegen, wurden dürr wie Stecken, nur mehr Haut und Knochen, aus den Gliedmaßen rann der Eiter. So lagen sie und warteten auf die Erlösung, den Tod.

Ein Teil von ihnen wurde gleich erlöst: Der Bauch platzte wie ein Ballon und das Wasser floss ab, so blieben ihnen wenigstens lange Qualen erspart. Oft wurde so einer in das Krankenhaus gebracht. Deutsche Ärzte von außerhalb des Ghettos kamen und führten Experimente mit ihm durch wie mit einer Laborratte, bis er unter ihren Händen verstarb.

Nicht jeder hatte aber seine eigenen Rettich- oder Krautblätter. Die meisten waren gezwungen, sie zu kaufen. Da Geld keinen Wert mehr hatte, war die anerkannte Währung im Ghetto Brot. Wenn man endlich die Rettichblätter hatte, musste man noch eine Möglichkeit finden, sie zu kochen. Holz- und Kohlerationen gab es nicht und die Menschen riskierten ihr Leben für Brennstoff. Wegen eines gestohlenen Stückes Holz wurden viele Juden in die Krematorien geschickt. Die Menschen zerhackten Kästen und Zäune und nahmen ganze Häuser auseinander. Man riss in den Wohnungen die Leisten von Türen und Fenstern und die Fußböden heraus und verheizte sämtliche Möbel und alles, was nur aus Holz war. Jede Woche gingen die Hausverwalter mit Polizisten von Wohnung zu Wohnung und kontrollierten, doch vergeblich. Die Menschen wagten ihr Leben, nur um an ein wenig Brennholz zu gelangen, um ihre Kraut- und Rettichblätter abzukochen.

Doch zurück zu Sabludowitsch. Bei sich im Hof, gegenüber seinem Fenster, hatte er Sand auf das Pflaster aufgeschüttet und sich einen »Garten« von etwa vier Metern angelegt. Ursprünglich hatte er Sand für ein größeres Beet gebracht, aber die Nachbarn waren missgünstig und stahlen ihm einen Teil. »Was denn!«, riefen sie, »alles nur für Sie allein? Nehmen Sie sich etwa die ganze Erde?«

Durch die Arbeit in seinem »Garten« wurde Sabludowitsch krank. Jedes Glied tat ihm weh. Er konnte weder sitzen noch stehen, noch liegen, sah schon den Tod vor seinen Augen. Da rieb ihm ein Nachbar den ganzen Körper mit Brennspiritus ein, den er sich auf Umwegen beschafft hatte. Nach einigen Tagen Bettruhe ging es ihm endlich besser.

Zuerst pflanzte er Rettich und Kraut. Das Kraut breitete sich aus, wie mit Ellenbogen und Fäusten schob es die anderen Pflanzen zur Seite. Sabludowitsch säte es in dichten Reihen. Er nutzte jedes Sandkorn: Hinter das Kraut setzte er zuerst einen Rettich, hinter den Rettich eine Rübe, dahinter eine Karotte, dann Petersilie, dahinter schmuggelte er einen weiteren Rettich. Und die Pflanzen wurden wie moderne Staaten – sie »kämpften« untereinander so lang, bis sie sich gegenseitig vollständig zerstört hatten.

Die Krautblätter wuchsen wild heran. Jedes Blatt nahm einen Meter Länge ein und Sabludowitschs Herz schwoll freudig in gleichem Maß an. In seiner Fantasie malte er sich bereits aus, welch herrliche »Fisch«- und »Fleisch«-Gerichte er aus dem Kraut zubereiten würde, wenn es erst einmal reif war.

Die Krautblätter, die gallbitter waren, aß er mit großem Appetit auf. Aber dort, wo der richtige Krautkopf hätte herauswachsen müssen, ringelten sich nebbech nur Würmer.

Anfangs glaubte er, die Vögel hätten sich über sein Kraut hergemacht, weil er kleine runde Löcher entdeckte, wie von Vogelschnäbeln ausgepickt. Bei näherer Untersuchung zeigte sich aber, dass die Unterseiten der Blätter von winzigen, mit freiem Auge kaum sichtbaren Würmern bedeckt waren, die dieselbe Farbe wie die Blätter hatten. Plötzlich standen nach einer einzigen Nacht nur mehr die Skelette der Pflanzen da, auf denen braun-, gold-, schwarzgestreifte Raupen krochen. Sabludowitsch hatte den Einfall, die Pflanzen mit Chlorkalk zu besprühen, aber nichts half. Betrübt ächzte er: »Kein Glück! Wenn es einem beschert ist, zu hungern, dann ist alles vergebens!«

Beim Rettich hatte er aber mehr Glück: Außer den Blättern kam auch ein richtiger kleiner Rettich hervor. Sogleich warf er in dasselbe Loch ein paar neue Samen. Auf diese Weise nutzte er die Erde dreimal während des Sommers. (Später setzte er ganz dicht ausschließlich Rettich, um viele Rettichblätter ernten zu können.) Auf den Rettich schüttete er eine Menge Salz, legte die winzige zugeteilte Ration synthetischen Brotes aus Mais- und Kastanienmehl dazu und spülte das Ganze mit einem Krug heißen gefärbten Wassers, gekauft in der Küche eines Kaffeehauses, hinunter – denn welcher Jude konnte sich schon eine solche Verschwendung erlauben und selber ein Feuer zu Hause anzünden? Für ihn war das ein richtiges Festmahl.

Sabludowitsch lebte in einem höher stehenden Haus. Unterhalb zogen sich über die ganze Länge des Hauses die Keller. Im Sommer stand dort das Wasser einen Meter tief und im Winter war ein Meter Eis. Das kleine Häuschen war ständig feucht.

Im Sommer war es möglich, sich ausgestreckt auf dem Fußboden abzukühlen, und im Winter sah die Stube aus wie aus Eis gebaut: Decke, Wände und Boden waren mit Eis bedeckt.

Während des Sommers wurden die Wände schwarz und bröckelten ab. Sabludowitsch hatte sich selber einen kleinen Ofen aus Ziegelsteinen, einem Blech und einem Blechrohr gebaut und in eine Zimmerecke neben die Tür gestellt. In einer anderen Ecke stand ein Ständer mit ein paar wenigen alten Kleidungsstücken. Eine Zimmerwand war gänzlich vollgestellt mit jüdischen Büchern, die er ins Ghetto mitgebracht und auch in fremden Wohnungen eingesammelt hatte, wenn deren Bewohner deportiert worden waren.

In einer anderen Ecke stand sein Koffer, in dem die wenigen Lebensmittelvorräte aufbewahrt wurden. In der Mitte der Stube befand sich auf einem viereckigen Stoß Ziegeln eine schwere Eisenplatte, bedeckt mit einem alten fadenscheinigen Tuch, das war der Tisch. Kleine Ziegelhaufen daneben dienten als Stühle.

Die zwei Strohsäcke zum Schlafen lagen auf dem Lehm des bereits heruntergerissenen Fußbodens. Auch die Fenster- und Türleisten waren schon entfernt worden. Das wenige Holz war bereits vor langer Zeit von dem kleinen Ofen verschlungen worden, um ein wenig Essen zu kochen.

Soeben stand seine Frau Chanele im Finstern, das nur vom Mondschein erhellt wurde, beim Ofen und warf die Späne der letzten verbliebenen Wäscheschrankschublade ins Feuer. Sie kochte gerade eine Suppe aus Rettichblättern und briet »Fleisch« aus Krautblättern.

Außerdem versuchte sie ein neues Rezept: einen Tsimmes4 aus einer Kaffeemischung, von den Ghettojuden »Kaffee-Mist« genannt: geröstete Gerste mit Spreu, aus der die Deutschen davor das Mehl in einem chemischen Verfahren ausgelöst hatten. Von diesem Abfall erhielt jeder Haushaltsvorstand alle fünfzehn Tage ein halbes Kilo gegen den Lohn eines Arbeitstages. Die Juden aßen die Kaffeemischung mit Löffeln direkt aus den Säcken heraus. Sie verbrannte einem schier die Gedärme.

Chanele hatte ein Rezept aus der Fabrik mitgebracht: Sie schüttete ein wenig von der Kaffeemischung in eine Schüssel und goss etwas warmes Wasser darüber, fügte ein paar Tropfen Rapsöl dazu, Saccharintabletten, einen Löffel Zucker – und bereitete daraus eine Art süßen Konfekt.

Kaum betrat Sabludowitsch die Stube, erzählte er freudig von dem großen Glück, das ihm heute widerfahren war: Er hatte eine Katze!

»Morgen, Chanele, werden wir Brot essen, bis wir satt sind!« Bei Mondschein aßen sie das bisschen wässrige Rettichblätter-Suppe und das Krautblätter-»Fleisch«. Sie riet ihm eindringlich, das Brot, das er morgen für die Katze bekommen würde, nicht auf einmal aufzuessen, sondern es besser auf zwei, drei Tage einzuteilen.

»Du bist schon so angeschwollen«, sagte sie ihm, »dass man kaum mehr deine matten Augen sieht. Glaub mir, Schloime, wenn ich dich ansehe, fühle ich eine Gänsehaut! Was wird das noch mit dir? Oj, wenn wir nur die richtigen Beziehungen hätten!«

»Du weißt doch«, versuchte Sabludowitsch zu spaßen, »Köpfe braucht man im Ghetto nicht, wichtig sind die ›Schultern‹5 für Beziehungen … Man erzählt sich, dass eine Frau ein Kind ohne Hände, ohne Füße und ohne Kopf geboren hat. Sie weinte bitterlich, da tröstete sie der Doktor: Hauptsache, das Kind hat Schultern und kann durch Beziehungen von allem das Beste bekommen!«