Eine Kindheit (eBook) - Robert Schopflocher - E-Book

Eine Kindheit (eBook) E-Book

Robert Schopflocher

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Beschreibung

Robert Schopflocher bewegte sich zeit seines Lebens zwischen (mindestens) zwei Welten – der Welt seiner Kindheit, dem multikulturellen, alteuropäischen Fürth mit seiner reichen jüdischen Kulturlandschaft, und der Welt Südamerikas, in der er eine neue Heimat fand, nachdem er mit seiner Familie aus Deutschland flüchten musste. Sein Werk führt beeindruckend die Tradition jüdisch-deutscher Erzählkunst fort. Sensibel und poetisch verleiht Schopflocher den verschiedensten Lebensmodellen und kulturellen Kontexten eine Sprache und kreist stets um die Kraft der Erinnerung. Eine literarische Entdeckungsreise zwischen Deutschland und Argentinien, zwischen Gestern und Heute. Die wichtigsten Erzählungen von einem der bedeutendsten deutschsprachigen Exilautoren des 20. Jahrhunderts in einem Band. Besonderes Extra: Eine bisher unveröffentlichte Erzählung Schopflochers. Mit einem Nachwort der Schopflocher-Kenner Prof. Dr. Dirk Niefanger und Prof. Dr. Gunnar Och.

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Robert Schopflocher

Eine Kindheit

 

Erzählungen

 

 

Mit einem Nachwort von

Dirk Niefanger und Gunnar Och

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Die »Edition moderne fränkische Klassiker« wird herausgegeben von ­Norbert ­Treuheit und Stefan Imhof

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Januar 2018)

 

© 2018 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

www.arsvivendi.com

Umschlaggestaltung: Armin Stingl, Fürth

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-756-8

 

Inhalt

Eine Kindheit

Der Sitz der Seele

Einsamkeit

Wie Reb Froike die Welt rettete

Schach!

Geschichtsunterricht

Fernes Beben

Der Uhrmacher

Der Kanarienvogel

Der Caudillo

Robert Schopflocher, der Erzähler

Textnachweis und Dank

Der Autor

 

 

Mit der Veränderung der Persönlichkeit ändert sich auch die Qualität der Erinnerung. Dieser Satz sollte am Anfang jedwelchen Erinnerungsberichtes stehen, aber gewiß

am Anfang einer »Selbstdarstellung«, um Raum für kritische Reflexionen zu schaffen.

Hans Keilson, »In der Fremde zuhause«

 

Eine Kindheit

Autobiographische Skizzen

Als Kind hatte es mir die Zauberwelt der Tropfsteinhöhlen in der Fränkischen Schweiz angetan: die Bing- und die Teufelshöhle, vor allem aber die Maximiliansgrotte. Die Stalaktiten und Stalagmiten glichen Orgelpfeifen und marmornen Skulpturen; die von den Karbidlampen angestrahlten Kavernen verwandelten sich in geheimnisvoll aufblitzende Schatzkammern. An gewissen Stellen blieb der Führer stehen, legte den Zeigefinger auf die Lippen und machte uns auf das leise Ticken der Wassertropfen aufmerksam oder auf das Rauschen eines unterirdischen Flusses. Es konnte geschehen, daß er sein Licht hinter einen der Steine hielt, der dann alabastern schimmerte. Und gelegentlich brachte er eine hohle Tropfsteinsäule durch einen behutsamen Schlag zum Klingen. Das Auftauchen erzschürfender Zwerge mit roten Zipfelmützen hätte mich kaum in Erstaunen versetzt.

Erstaunen dagegen rief das Erlebnis in mir hervor, das mich beeindruckte, als ich Jahrzehnte später noch einmal die Maximiliansgrotte besuchte. Inzwischen waren zahlreiche Städte in Schutt und Asche gesunken, Millionen Menschen waren dem von einer Verbrecher­clique ausgelösten Mordrausch zum Opfer gefallen. Neue Staatsgebilde waren entstanden, alte waren von der Landkarte verschwunden, und der erste Mensch war auf dem Mond gelandet. Das Zeitalter der Antibiotika war angebrochen, das des Computers, der Gen- und Psycho­technik, der Atomphysik, der weltumspannenden Massenkommunikation. Und in der Tropfsteinhöhle, in die ich nun als Erwachsener zurückkehrte, erzählte uns der Führer in der gleichen maulenden fränkischen Mundart die gleichen Geschichten, die damals, als ich als kleiner Bub an der Hand meines Vaters das glitschige Labyrinth dieser Unterwelt entlang getippelt war, sein längst verstorbener Kollege – sein Großvater womöglich – heruntergeleiert hatte. Vom Windloch war die Rede, wo oaner nei’g’folln wor, tog’lang wor der so dogleg’n mit zerdepperte Glieder. Und wie viele Jahre es braucht, bis so ein Tropfstein heranwächst. Der gleiche Tonfall, die gleiche Höhlenluft und das gleiche Flattern der Fledermäuse. Nur daß man jetzt elektrische Taschenlampen in der Hand hielt anstatt der Karbidfunzeln. Und daß ich mich nunmehr des öfteren bücken mußte, um mir den Kopf nicht zu stoßen.

Angesichts dieser Galerien und Stollen kam mir die Vielschichtigkeit unserer Existenz zum Bewußtsein. Tiefliegende Seelenflöze drängten an die Oberfläche; verschüttete Kindheitserinnerungen erwachten. Die Vergangenheit pflegt einen leichten Schlaf. Das sachte Klopfen an einer Tropfsteinsäule etwa, das Herunterleiern eines längst vergessen geglaubten Spruchs im vertrauten Heimatdialekt – und schon richtet sie sich auf, die Vergangenheit, und bahnt sich den Weg in die Gegenwart, wird zur Gegenwart. Durch fragwürdige Gedächtnismanipulation gefilterte Geschichte, gefärbt vom Heute und von der im Laufe des Lebens erworbenen Erfahrung: eine nur noch unscharf erfaßbare, jedoch stets ausbruchbereite Vergangenheit.

 

Während ich die Augen schließe, regen sich die ersten Kindheitseindrücke: der süßliche Geruch des blühenden Flieders, der säuerliche Mief der Bierwirtschaften, die faulige Würze der frisch gedüngten Felder auf dem Weg nach Poppenreuth. Und die Gaumenfreuden der Laugenbrezeln, der Milchweck’n und Mohnbrötle, der Dampfnudeln mit Hiftmark, des Bitzelwassers mit Zitronengeschmack, des Ochsenmaulsalats. Und die Laute: das Bimmeln und Gequietsch der »Elektrischen«, die Kinderlieder, das im Chor skandierte kleine Einmaleins in der Schule. Hauffs Märchen, die Fürther Spielvereinigung und die Schwabsche Fassung der Heldensagen. Die Kopfhörerradios tauchen aus dem Museum meiner Erinnerung auf, das »Panoptikum« im Ludwigsbahnhof mit seinen stereoskopischen Aufnahmen, und der Laternenmann, der abends die gasbetriebene Straßenbeleuchtung anzündet. Es war die Zeit des Rodelns, des Schlittschuhlaufens auf dem zugefrorenen Kanal, der Kärwah mit Brathering, Krachmandeln und dem Billigen Jakob, dem Sonntagsausflug zur Alten Veste …

Ich vergolde sie nicht, die Vergangenheit. Ein Grund zur Nostalgie liegt nicht vor. Die Kinder konnten damals noch an Halsbräune oder an Lungenentzündung sterben; eine Krebsdiagnose kam einem Todesurteil gleich. Die Kriegsversehrten schleppten sich auf Krücken durch die Straßen, und die Arbeitslosen schellten an der Haustür, um sich einen Teller warmer Suppe zu erbetteln. Das Wissen um Tod, Geldnot und Geschlecht wurde uns Kindern vorenthalten. Wir sammelten Briefmarken und Zigarettenbilder, wir spielten mit dem auf Billionen lautenden Notgeld, jenem von der Inflation hinterlassenen Strandgut. Und während immer mehr Hakenkreuzfahnen blutrot an den Häusern hingen, während die ersten Kolonnen der Braunhemden und die letzten Sozialisten aufmarschierten, tuschelte man zu Hause von der Wirtschaftskrise, von Nazis, Kommunisten und von Notverordnungen.

Wie stark die Kindheitseindrücke in mir verankert sind, erlebte ich, als ich im Jahre 1961 zum ersten Mal nach der ein Vierteljahrhundert zuvor erzwungenen Auswanderung nach Fürth zurückkam. Ich schlenderte durch die kopfsteingepflasterten Gassen der Altstadt, vorbei an den Häuserfassaden aus der Gründerzeit, vorbei an unserer früheren Wohnung, vorbei an der »Mai-Schule« und am Gymnasium. Ich ging im Stadtpark spazieren, auf dessen Bänken ich als Neunjähriger Karl May gelesen hatte. Am Rand der Gänswies’n lief ich entlang, ließ aus der Ferne die unveränderte Silhouette der Stadt mit dem florentinischen Rathausturm auf mich wirken; betrachtete noch einmal den Zentaurenbrunnen und den Platz der Freiheit, den man früher den Fürther Plärrer genannt hatte. Gewiß: die Proportionen hatten sich verschoben; die Stadt bot sich meinem Blick grauer und enger dar als das Fürth meiner Erinnerung, die Luft roch irgendwie anders. Doch gelang es der handgreiflichen Wirklichkeit nicht, das Traumbild jener Heimatstadt zu verdrängen, das ich in mir herumtrage. Die in meinem Gedächtnis verankerten Gebäude erwiesen sich als dauerhafter als die aus Stein und Mörtel errichteten: Kaum hatte ich das Nachkriegs-Fürth hinter mir gelassen, da erhob sich meine Stadt wieder; war, wie ich sie mir als kleines Kind erträumt hatte, als noch die Synagogen auf dem »Schulhof« standen und die Eisbude auf dem Weg nach Dambach.

Natürlich bestand die Heimat meiner Kindheit nicht nur aus Straßen, Denkmälern und Anlagen. Ich gehörte einer Gemeinschaft an, bildete von klein auf einen Bestandteil derselben – das winzige Rädchen eines unsichtbaren Uhrwerks. Da war der erste Schultag mit der großen Schultüte, da war der wetteranzeigende Laubfrosch im Einmachglas, der erste Märklin-Baukasten. Der Herr Lehrer erzählte uns vom Weltkrieg, den er miterlebt hatte, und vom französischen Erbfeind; von Bismarck, dem eisernen Kanzler, und vom Schwedentrunk im Dreißigjährigen Krieg. Dessen Schrecken brachte er uns genauso eindringlich nahe wie das Trommelfeuer, dem er im Schützengraben ausgesetzt gewesen war, oder die siegreiche Schlacht von Tannenberg. Man erinnert sich: »Viel Feind, viel Ehr« auf dem Sockel des Kaiserdenkmals, und der »greise Generalfeldmarschall« in der UFA-Wochenschau. Und dann die Heimatsprache, der Fürther Dialekt! Längst kam er mir abhanden, aber sobald seine Laute an mein Ohr dringen, wird’s mir warm ums Herz. Und dies, obwohl ich weiß, daß sich auch die Mörder meines Volkes seiner bedient haben.

»Das Vaterland kann man verlieren«, schrieb Klaus Mann aus dem Pariser Exil, »aber die Muttersprache ist der unverlierbare Besitz, die Heimat der Heimatlosen.« Am eigenen Leib erfuhr ich es, erfahre es noch immer – seit Jahrzehnten schreibe ich Novellen und Romane in Spanisch, erschrieb mir sogar Auszeichnungen vom argentinischen Schriftstellerverband und von der Stadtverwaltung Buenos Aires’, aber wenn man die Ohren spitzt, vernimmt man hinter jener zweiten, in der Emigration erworbenen Sprache immer noch die Melodie der Muttersprache, diesen »unverlierbaren Besitz«. Und sobald sich ein allgemein gehaltener Begriff aus dem Abstrakten in meinem Kopf in ein konkretes Bild verwandelt, kleidet sich dieses Bild in ein solches, das mit der Sprache meiner Kindheit verschmolzen ist. Ein »Baum« kann zum »árbol« werden, aber auf der Vorstellungsbühne meines Gehirns materialisiert sich kein »Ombú« der Pampa, sondern die längst gefällte Dorflinde Rannas in der Fränkischen Schweiz. Beim Wort »Lehrer« taucht hinter dem »maestro« automatisch Herr Weissensee auf, der vor fast siebzig Jahren mein Klassenlehrer in der Fürther Volksschule gewesen war, und beim Losungswort »Palast« erscheint eine der Jugendstilvillen Fürths vor meinem geistigen Auge, freilich um etliches prächtiger ausgestattet, als sie es je gewesen ist. Und wenn mein Deutsch etwas befremdlich wirkt, »insular«, wie es Siegfried Lenz einmal nannte, so liegt dies an der Überlagerung der einzelnen Sprachsedimente, an denen sich die Geschichte meines Lebens ablesen läßt wie die Klimaschwankungen an den Jahresringen der Baumstämme. Und es liegt wohl auch an der verschiedenartigen Entwicklung Ihrer und meiner Sprache, die, vom gleichen Punkt ausgehend, im Laufe der fast siebzig Jahre, die ich nun in der Sprachfremde lebe, auseinanderstreben. Und an den gewandelten Begriffen liegt es, die sich hinter gleichlautenden Worten verbergen. Begriffe, die verschiedenartige, uns trennende Erfahrungswelten beherbergen.

 

Zurück zu den Kollektiv-Erinnerungen, an denen ich teil hatte: Zu diesen kamen die persönlichen Erfahrungen: die Ausflüge mit den Eltern in die Fränkische Schweiz, wo sich – in Ranna – die väterliche Fabrik befand; und wo wir in den umliegenden Wäldern – versteckt zwischen Farnkraut und Schachtelhalm, diesen Zeugen urzeitlicher Vegetation – Steinpilze, Pfifferlinge, Morcheln, Schwarz- und Preiselbeeren und gelegentlich Versteinerungen längst ausgestorbener Mollusken fanden. Und wo mir mein Vater aus Baumrinden Schiffchen schnitzte. Die Ankunft des Brüderchens, die ersten Zweifel an der Autorität der Eltern, die mir zugefügten kleinen Ungerechtigkeiten, echte und eingebildete; die Spannungen in der Familie, die Masern bei verdunkeltem Zimmer, die Erkrankung des kleinen Bruders auf Leben und Tod – eine doppelseitige Lungenentzündung, wie man angsterfüllt raunte –, Kinderfreundschaften, Spiele, Basteleien, der Tod des Großvaters. Die Entdeckung der Welt, verklärt vom »Schleier der Amnesie«, durch den wir laut Freud die schmerzvollen Kindheitstraumata unschädlich machen.

Die Versuchung liegt nahe, die heimlichen Schrecken aufzuzeigen, die unserer sich harmlos gebärdenden Kindheit innewohnten. Damit aber würde ich das Weltbild verfälschen, das sich mir und meinesgleichen damals bot. Selbst die sensibelsten Kinder meiner Generation ahnten nichts vom latenten Grauen, das zum Beispiel hinter dem Struwwelpeter, hinter Max und Moritz, den Grimmschen Märchen oder den »pädagogischen« Gruselmärchen lauerte. Dem von der aus dem Grab herauswachsenden Hand des verstorbenen Kindes im tränennassen Totenhemdchen etwa, zur Strafe, weil es diese Hand gegen die Mutter erhoben hatte. Oder die Angst vor Schmerz und Schande, die vom »Rohrstöckle« ausging, das, nicht viel anders als Griffel und Schiefertafel, zum Instrumentarium des deutschen Lehrbetriebs gehörte. Welches Kind meiner Generation hat die auf die offen hingehaltene Hand niedersausenden »Tatzen« und das schmerz- und schamverzerrte Gesicht der Kameraden vergessen, die, mit strammgezogener Hose, vor der gesamten Klasse auf der Bank in der ersten Reihe »übergelegt« wurden?

 

Die Geschichte der Menschheit ist immer durch die Brille gefärbt, durch die man sie betrachtet. Es ist nicht das Gleiche, ob man, um ein Beispiel zu nennen, die Kolonisierung Amerikas mit den Augen eines Indianers oder mit denen eines spanischen Konquistadors sieht. Zudem wissen wir heute, daß es mit der »glücklichen Kindheit« nicht allzu weit her ist. Und daß wir alle mit unseren Privat-Gespenstern auskommen müssen, die uns ein Leben lang verfolgen.

Als sich meine Welt erweiterte, wurde mir nach und nach bewußt, daß ich nicht nur ein Fürther Kind war, sondern auch ein jüdisches Kind. Ich kann nicht behaupten, daß es eine schmerzliche Erfahrung war, die da in Form eines durchaus natürlichen Lernprozesses auf mich einströmte. Sie erzeugte anfänglich – zumindest bis zum Jahre 1929, in dem ich in die Schule kam – kein Gefühl des Andersseins oder der Absonderung von der nichtjüdischen Bevölkerung. Sie drang damals auch noch nicht feindlich von außen her auf mich ein. Vielmehr war sie durch die eher positiven Eindrücke geprägt, die der eigene Kreis ausstrahlte. Durch den Jugendgottesdienst in der Synagoge etwa. Durch Familienfeste, wie den Sederabend: die Pessachzeremonie im Hause eines Onkels meines Vaters, um den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten zu feiern. Oder durch das Entzünden der Chanukka­lichter – nach dem Tod meines Großvaters gelegentlich unschuldig säkularisiert mit der Bescherung unter einem geschmückten Tannenbaum verbunden, für die man später spaßeshalber die Wortkombination »Weihnukka« erfand. Durch Blicke, Gesten, hingeworfene Bemerkungen. Rückblickend und mit den Vorbehalten ausgestattet, die mir die Shoah auferlegt, scheint mir, als haftete dem Zusammen­leben zwischen Juden und Christen meiner Heimatstadt etwas Behäbiges an. Eine doppelbödige Gemütlichkeit womöglich, in der die wachsende antisemitische Stimmung der Bevölkerung verdrängt wurde. In den Kreisen des liberalen Bildungsbürgertums, zu dem ich meine Familie wohl zählen darf, verkehrte man miteinander. Meine Eltern hatten nichtjüdische Freunde, auch wenn der jüdische Anteil – meist weitläufige Verwandte oder frühere Schulkameraden meines Vaters – überwog. Natürlich blieb ein Jude Jude und ein Christ war Christ, aber die Religion hatte für alle ihre zentrale Bedeutung eingebüßt. Man war Kaufmann oder Arzt, Schneider oder Versicherungsagent, Mann oder Frau, Musikliebhaber, Naturfreund, Student, Rentner. Und außerdem, gleichzeitig, war man eben auch Jude, Protestant oder Katholik. Soweit ich es im Nachhinein beurteilen kann, kamen in den Kreisen, in denen wir uns bewegten, Begriffe wie »Arier« oder »Nicht-Arier« nicht vor. Freilich: zu den völkisch Gesinnten unterhielten wir keine gesellschaftlichen Beziehungen. In der aktiven Freimaurerloge herrschte Toleranz. Mehrere Vorstandsmitglieder der Jüdischen Gemeinde waren geachtete Mitglieder der 1803 gegründeten Loge, in der seit 1848 Juden zugelassen waren. In den Jahren meiner Kindheit stellten sie etwa vierzig Prozent ihrer Mitgliedschaft. Gemeinsame Erinnerungen an Schule und Militärdienst, an Krieg und Inflation verbanden die Bürger der Generation meines Vaters. Die Andern, die »Sieg Heil!« brüllenden Volksmassen? Es scheint mir, als hätten die meine Kindheit begleitenden Erwachsenen die heranrollende Lawine der Gewalt lediglich als ein weit entferntes Naturereignis empfunden und, trotz der Nürnberger Parteitage, nicht als eine Gefahr vor der Haustür. Hatte nicht noch Anfang der dreißiger Jahre Lion Feuchtwanger eine messerscharfe Analyse der politischen Situation Deutschlands von sich gegeben und die sich abzeichnende Entwicklung vorausgesagt? Und ging hin und baute sich eine Villa im Grunewald! … Man nahm Teil am regen kulturellen Leben, dem man sich zugehörig fühlte. Man interessierte sich für Musik, Bücher und Theater, besuchte und hielt Vorträge und unternahm gemeinsame Ausflüge.

Indem die evangelische Schneiderin meine verblüffte Mutter fragte, ob sie für das Futter eines in Auftrag gegebenen Kleides einen »Mischstoff« benutzen dürfe, bewies sie, daß sie sich in den jüdischen Gebräuchen besser auskannte als ihre aus der Pfalz stammende jüdische Kundin. Die wußte nicht, daß orthodoxe Juden auf Grund einer Auslegung der Thorabestimmungen kein Kleidungsstück tragen dürfen, dessen Stoff aus Garnen unterschiedlicher Provenienz stammt, zum Beispiel aus einem Gemisch von Wolle und Baumwolle oder Leinen. Und am Jom Kippur, dem Versöhnungstag, den die Juden fastend im Gebet verbringen, pflegte der Wirt des in der Nähe der Hauptsynagoge befindlichen Restaurants seine den Gottesdienst schwänzenden Stammkunden laut und vernehmlich aufzufordern: »Die Herrn, die woas heit fast’n, schpeis’n im ersch’tn Schtock.«

Einmal pro Woche verabreichte man uns jüdischen Schülern Religionsunterricht im Rahmen des regulären Schulprogramms, der, genau wie der Unterricht der beiden christlichen Konfessionen, von der Kirchensteuer finanziert wurde. Dabei erwies sich, daß die Gewohnheiten unserer liberalen Elternhäuser, in denen man weder die koschere Küche pflegte noch den Schabbat hielt, von den Lehren abwichen, die uns der gute alte Kantor Gutmann und später der Kantor Adler beizubringen trachteten. Dagegen gingen die Kinder orthodoxer Juden ohnehin in andere Schulen und genossen einen weit intensiveren Religions­unterricht. Unser Volksschullehrer führte seine Klasse – es muß im Jahr 1931 oder 1932 gewesen sein – nicht nur zur Gackelesquell’n und auf die Alte Veste, sondern zeigte ihr auch – ich weiß nicht, ob auf eigene Initiative oder weil ihm sein Programm dies vorschrieb – die Kirchen und die Hauptsynagoge. Dieses 1616 erbaute, 1831 und 1863 renovierte Gotteshaus wurde von meinem Vater, der im Grunde ein Freidenker war, zu den Hohen Feiertagen mit dem Zylinderhut auf dem Kopf aufgesucht. Dort hörte er sich die Predigt des Rabbiners Doktor Siegfried Behrens an, der dann im Jahr 1945 zusammen mit seiner Frau und seiner jüngeren Tochter in lzbica ermordet wurde. Aber so etwas hielt man damals noch nicht für möglich.

Den Zeichen der Verbundenheit der Juden mit ihrer Stadt, von der es im Volksmund hieß: »In Färth, do hot’s viel Jud’n und viel Wärt«, begegnete man auf Schritt und Tritt. So wohnten wir in der Königswarterstraße, ich erblickte das Licht der Welt im Nathanstift, es gab eine Krautheimer-Krippe, und meine Mutter sang bei kulturellen Veranstaltungen im Berolzheimerianum. Das Gerücht, es sei dem Einfluß der Fürther Juden zu verdanken, daß Fürth, im Gegensatz zur Nachbarstadt Nürnberg, vom Luftbombardement der Alliierten verschont blieb, ist allerdings unbegründet. Doch beweist es die ihnen zugetraute Heimatverbundenheit, auch wenn der ihnen zugeschriebene Einfluß auf das Weltgeschehen nur im Volksmythos bestand.

Mein Vater sprach gern davon, daß im Dreißigjährigen Krieg nur zwei öffentliche Gebäude die Brandschatzung der Kroaten überstanden hatten: die Michaeliskirche nämlich und die Hauptsynagoge. Er war stolz auf die Geschichte der jüdischen Gemeinde Fürth, die im Jahre 1582 bereits zweihundert Mitglieder und 1890 – dem Jahr seiner Geburt – bei sechstausend Katholiken und knapp dreißigtausend Protestanten cirka dreitausendfünfhundert Juden, also rund zehn Prozent der Bevölkerung umfaßte. Und ich frage mich, ob dieses Zusammenspiel klassisch-deutscher und jüdischer Überlieferung vielleicht nicht nur in ihm, sondern auch noch in mir und in vielen deutschen Juden seiner und meiner Generation eine schöpferische Spannung erzeugte, wie dies etwa der aus Fürth stammende Schriftsteller Jakob Wassermann bezeugt. Ein ganz besonderes Lebensgefühl, das erst durch die Verbrechen der Nazis in Frage gestellt wurde.

 

So viel also zum Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Bürgern. Aber die Juden Deutschlands bildeten keineswegs einen kompakten Block, wie dies Außenstehende so oft vermuten – ein Irrglaube, der sich genauso hartnäckig aufrecht erhält wie die schon angedeutete Mär von der »Allmacht Judas«, obgleich doch das Unvermögen der Juden, die mörderische Shoah abzuwenden, das Gegenteil beweist. Natürlich gab es bei den Juden nicht weniger soziale Unterschiede als bei der restlichen Bevölkerung. Nicht alle waren reich, nicht alle waren Sanitäts-, Justiz- oder Kommerzienräte. Dazu kamen die bereits angedeuteten Differenzen zwischen den liberalen und den orthodoxen Juden – zwei gänzlich verschiedene Welten: die einen, den Blick auf das, wie sie glaubten, fortschrittliche Mitteleuropa gerichtet; die andern, Thoratreuen, die am Althergebrachten festhielten. Diese Entwicklung war oft auch Ausdruck eines Generationenkonflikts: mein Großvater etwa besuchte bis zu seinem Lebensende die orthodoxe »Klausschul«, mein Vater hingegen die liberale Hauptsynagoge.

Nicht nur die frühen positiven »Judenerfahrungen« stammen aus dem engen Familienkreis, sondern auch die ersten negativen Proben des Andersseins verdanke ich keinen feindlich gesinnten »Gojim«, sondern ebenfalls der Familie. Es gibt Erinnerungsfunken aus meinen ersten Lebensjahren, die in diese Richtung weisen. Die konsternierten Gesichter der Geschwister meiner Großmutter etwa, als ich Knirps, dazu aufgefordert, den alten Tanten etwas vorzusingen, das christliche Vom Himmel hoch, da komm ich her zum Besten gab, das ich gerade im Kindergarten gelernt hatte. Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, ob die großmütterliche Behauptung den Tatsachen entspricht, man hätte mit den in der Folterkammer auf der Burg in Nürnberg ausgestellten eisernen Ruten die Juden gegeißelt, als sie Ende des fünfzehnten Jahrhunderts aus der Stadt vertrieben wurden. Mischehen wurden von der Großelterngeneration im allgemeinen mißbilligt; dem Felix Mendelssohn Bartholdy und dem Heinrich Heine trug man die Taufe immer noch ein wenig nach. Und es ist bezeichnend, daß ein Onkel meines Vaters seine evangelische Freundin erst nach dem Tod seiner strenggläubigen Mutter heiratete.

 

Die auf deutscher humanistischer Bildung beruhende Geisteshaltung meines Vaters wird verständlich, wenn man bedenkt, daß er der ersten Generation deutscher Juden angehörte, die in die Atmosphäre der bürgerlichen und politischen Gleichberechtigung hineingeboren worden waren. Die Juden Bayerns hatten – auf dem Papier zumindest – im Jahr 1868 ihre Emanzipation erlangt; auch wenn erst 1881, also nur neun Jahre vor der Geburt meines Vaters, die letzten gesetzlichen Schranken gefallen waren. Daß dieser Zustand gerade zweiundfünfzig Jahre anhalten sollte, konnte damals niemand voraussehen. Für meinen Vater war es selbstverständlich, daß er Wahlrecht und Gewerbefreiheit genoß, daß er das Humanistische Gymnasium und sein Einjähriges bei der Kavallerie absolvieren durfte und sich niederlassen konnte, wo immer es ihm paßte – kurzum, daß er die gleichen Rechte und Pflichten besaß wie seine nichtjüdischen Mitbürger. Der sogenannte »deutsche Bürger jüdischen Glaubens« bemühte sich redlich, durch betont vaterländische Gesinnung der Umwelt zu zeigen, daß er der gewährten Gleichberechtigung würdig sei.

Meine Urgroßeltern hingegen hatten es noch durchaus in Ordnung gefunden, daß sie in ihrer Jugend fast in keiner Freien Reichsstadt wohnen durften. Was übrigens die Entstehung der Judengemeinden vor den Mauern jener Städte erklärt: Steppach, der Geburtsort meines Urgroßvaters Hirschmann, vor Augsburg; Schopfloch, der Marktflecken, aus dem der Großvater meines Großvaters stammte, vor Dinkelsbühl. Und – eben – Fürth vor den Toren Nürnbergs. Damit ein Jude tagsüber dort seinen Geschäften nachgehen konnte, mußte er sich die gebührenpflichtige Begleitung einer pensionsberechtigten »Juden-Mitgeherin« gefallen lassen. Die hatte aufzupassen, daß er vor Torschluß die Stadt wieder verließ. Noch im achtzehnten Jahrhundert stand es dem Magistrat jeder Stadt, dem Fürsten eines jeden Landes frei, die Juden nach Gutdünken zu besteuern, sie zu enteignen oder aus seinem Machtbereich zu vertreiben. Zu Betteljuden degradiert, irrten die Geächteten dann mit ihren Frauen und Kindern auf den unsicheren Landstraßen Deutschlands umher. So sah sich die Fürther Gemeinde noch im Jahre 1671, im sich anbahnenden Aufklärungszeitalter also, veranlaßt, eine größere Anzahl Juden aufzunehmen, die man auf Betreiben der am Hofe Leopolds I. intrigierenden spanischen Jesuiten aus Wien gewiesen hatte, mit der Begründung, die Fehlgeburt der Kaiserin sei eine himmlische Strafe gewesen, ein Fingerzeig Gottes, weil man die Mörder des Heilands in Wien tolerierte.

Im fast zwei Jahrhunderte währenden Kampf der Juden Bayerns um ihre Emanzipation standen die Fürther Juden in vorderster Linie. Der erste jüdische Anwalt Bayerns (Grünsfeld, 1843), der erste jüdische Landtagsabgeordnete (David Morgenstern, 1849) und der erste jüdische Richter (Salomon Berolzheimer, 1863) stammen aus Fürth.

»Fürth«, schreibt Stefan Schwarz, »ist die Muttergemeinde der Juden Bayerns«. Denn: »Während man zwischen 1500 und 1550 die Juden aus ganz Bayern vertrieb, entstand in der freien Hofmark Fürth in allmählichem Wachstum eine israelitische Gemeinde, die ihre Existenz den Rivalitäten zwischen der markgräflichen, dompröpstlichen und reichsstädtischen Obrigkeit in Ansbach, Bamberg und Nürnberg verdankte.« Die erste Zulassung im Zeitalter des Absolutismus erteilte der Markgraf von Ansbach im Jahre 1528: eine mit viel Geld erkaufte Gunst des Fürsten. Es würde den Rahmen dieser Ausführungen sprengen, die hochinteressante Geschichte der Fürther Jüdischen Gemeinde in allen Einzelheiten nachzuzeichnen. Allein die Schilderung der Machtkämpfe zwischen Marx Model, dem Hoffaktor des toleranten Bischofs von Bamberg, und Elkan Fränkel, dem des protestantischen Markgrafen von Ansbach, Ende des siebzehnten und Anfang des achtzehnten Jahrhunderts würden einen abendfüllenden Vortrag erfordern.

Bereits zu jener Zeit unterhielt die Gemeinde mehrere Synagogen, einen Friedhof (für jede Bestattung war eine Sondersteuer zu entrichten), ein eigenes Spital und die berühmte Jeschiwah, die Talmud­hochschule, die bis 1824 bestand. Im Jahre 1691 wurde eine hebräische Druckerei gegründet, 1763 das erste jüdische Waisenhaus Deutschlands, und 1899 wurde das jüdische Realgymnasium behördlich anerkannt – das konnten auch die Kinder orthodoxer Eltern ruhigen Gewissens besuchen. Niemand verlangte dort von ihnen, den Schabbat durch schriftliche Arbeiten zu entweihen. Im Jahre 1812 zählte die Gemeinde sechshundertfünf Familien, die gegen Zahlung entsprechender Abgaben ihre Religion uneingeschränkt ausüben durften. Diese Freiheiten zogen viele Mitglieder der umliegenden Landgemeinden an. Eine Reihe typisch jüdischer Fürther Familiennamen – Berolzheimer, Büchenbacher, Erlanger, Forchheimer, Kissinger, Kuhnreuther, Offenbacher, Ottensosser, oder, wenn Sie gestatten, Schopflocher – erinnern noch heute daran. Daß es seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts jüdische Magistratsräte und Distriktvorsteher gab und daß der Ober­rabiner Doktor Isaak Löwi zu den Gründern des 1843 ins Leben gerufenen Gewerbevereins gehörte, beleuchtet die Stellung der Juden Fürths. Diese Entwicklung fand – es ist bekannt – 1933 ein schreckliches Ende. Wie aus dem 1997 erschienenen Fürther Memorbuch zu erfahren ist, wurden am 18. Juni 1944 die letzten achtunddreißig Fürther Juden nach Auschwitz deportiert. Keiner kehrte zurück.

 

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle den Humor der Fürther Juden erwähnen, jene leicht wehmütige Schalkhaftigkeit; eine verschmitzte Selbstverspottung. Hier nur ein einziges Beispiel: die Bemerkung Henry Kissingers zu seinem Sohn am Tag von dessen Einsegnung: »Als ich 1936 Bar Mizwah wurde, kam der deutsche Außenminister nicht zu meiner Feier.«

Nach 1933, im Schatten der sich anhebenden Tragödie, kamen dann die Flüsterwitze auf. »Politische Witze« wurden sie genannt. Armselige Geschichtchen, ein seelisches Notventil, um der Verzweiflung irgend einen Ausdruck zu verleihen. Ein befreiendes Lachen lösten sie nicht aus. Damals nicht, und heute noch viel weniger. Ich werde sie nicht wiederholen, diese auf unheimliche Weise harmlosen Witze, die die Prunksucht Görings, die Impotenz Hitlers oder das »nichtarische« Aussehen Goebbels’ verspotteten; oder gar die klugen, tapferen Juden über die sturen Nazis triumphieren ließen, während auf der Straße draußen das Gegröl erschallte: »Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s nochmal so gut.«

Das geheime Grauen grinste aus diesen von Galgenhumor geprägten Witzen, hinter denen sich die Verfolgten zu verschanzen suchten. Vergeblich, wie sich herausstellen sollte. Und wohl auch Ahnungslosigkeit kam darin zum Ausdruck. Man war ja im Glauben an das Gute im Menschen aufgewachsen – »Hilfreich sei der Mensch, edel und gut« –, war vom Fortschritt der Menschheit überzeugt und konnte nicht fassen, daß der »gute alte Risches«, an den man gewöhnt war wie an die Schnakenstiche am Sommerabend, drauf und dran war, sich in den vom Gesetz sanktionierten Massenmord zu verwandeln. Und das beim Volk der Dichter und Denker, dem man sich zugehörig fühlte! »In wenigen Wochen ist der Spuk vorüber«, trösteten sich meine Eltern und ihre Freunde noch nach dem Judenboykott im April 1933. »Das Ausland wird doch keine Judenverfolgungen im zwanzigsten Jahrhundert zulassen!«, beruhigte man sich und verkannte die zerstörerische Gewalt der Instinkte, die durch die Außerkraftsetzung der Gesetze entfesselt wurde.

Es erscheint mir unstatthaft, als nachgeborener Besserwisser die mangelnde Voraussicht jener zu verurteilen, denen ein staatlich sanktionierter und organisierter Völkermord im zivilisierten Deutschland einfach nicht in den Sinn kam. Zudem – ich erwähnte es bereits – war unsere Gesellschaft vom »guten alten Risches« anästhesiert. Daß sich, wie dies Ruth Klüger so plastisch ausdrückt, die Eidechse in einen Drachen verwandeln könne, überstieg ihre Vorstellungsgabe. Einer sich nahenden Gefahr kann man die Stirn bieten und sich ihr kämpfend stellen, was in diesem Fall unmöglich war. Man kann Reißaus vor ihr nehmen, oder – die gefährlichste aller Reaktionen – man kann Vogel-Strauß-Politik treiben, wie wir dies ja täglich in der Weltpolitik erleben. Vielen, die Reißaus nehmen wollten, war dieser Weg versperrt. Zur Auswanderung benötigte man Geld, Verbindungen, einen gültigen Paß und nicht zuletzt ein aufnahmewilliges Land.

Ich möchte dieses Nicht-wahrhaben-wollen an drei Beispielen verdeutlichen. Das erste liefert mein eigener Vater. Im Herbst 1933 mußte ich das Gymnasium auf Grund des »Arierparagraphen« verlassen. Der Numerus clausus betraf zunächst nur die jüdischen Schüler, deren Väter keine Frontkämpfer gewesen waren. Mein Vater hatte den Kriegsausbruch in Argentinien erlebt. Dort meldete er sich beim deutschen Konsul, um seiner vaterländischen Pflicht nachzukommen. Doch auf der Rückreise wurde sein Schiff im Ärmelkanal von den Engländern gekapert. Er geriet in Kriegsgefangenschaft, was seine Verschickung an die Front verhinderte. Um die Folgen des »Arierparagraphen« von seinem Sohn abzuwenden, richtete er im Herbst 1933 ein vom unerschütterlichen Glauben an die Gerechtigkeit getragenes Gesuch an das zuständige Ministerium, um zu argumentieren, daß vier Jahre Kriegsgefangenschaft in diesem Fall höher zu bewerten seien als eine aktive Kriegsteilnahme. Natürlich erhielt er nie eine Antwort, woraufhin ich auf die Jüdischen Schule geschickt wurde, was ich als Degradation empfand, für die ich mich sehr schämte. Einige Monate später kam ich in das Landschulheim Herrlingen, das von Martin Buber inspirierte Realgymnasium mit jüdischer Prägung in der Nähe von Ulm. Eine Wendung, die ich noch heute als eine glückliche Fügung empfinde.

Das zweite Beispiel ist dramatischer. Es stammt von meinem Vetter Rudi, der achtzehn-, neunzehnjährig während der deutschen Besatzung im holländischen Untergrund lebte. Eines Tags suchte ihn Tante Ella, seine Mutter – eine intelligente, gebildete Frau – heimlich auf, um ihn zu überreden, sich freiwillig im Lager einzufinden. So käme er in die Gesellschaft Gleichaltriger und in den Genuß einer ordentlichen Ausbildung. Nur seine instinktive Weigerung, dem mütterlichen Rat Folge zu leisten, rettete ihm das Leben.

Das wohl pathetischste meiner Beispiele, das die Blindheit der Naziopfer belegt, beschränkt sich auf einen einzigen Satz: Auf die Frage des Zahnarzts Dr. Louis Weil, des langjährigen Freundes meiner Eltern, mit denen zusammen er so gerne musiziert hatte. »Darf ich mein Cello mitnehmen?«, erkundigte er sich blauäugig, als ihn der Befehl erreichte, er habe sich mit seiner Familie zur Deportation auf dem Güterbahnhof einzufinden.

Ich glaube weder an Kollektivschuld noch an »Kollektiv-Unschuld«, und es liegt mir fern, als Ankläger oder gar als Richter aufzutreten. »Verurteile niemanden, solange du nicht in dessen Lage kamst«, heißt es im Talmud. Daß der Judenhaß tiefe Wurzeln hat, ist allgemein bekannt. Die Rechtfertigungsversuche jener irrationalen Haßgefühle dem Anderen gegenüber passen sich stets dem jeweils vorherrschenden Zeitgeist an. Früher mußten theologische Argumente herhalten, später politische, biologische oder wirtschaftliche Motive. Manchmal schlossen sie sich sogar gegenseitig aus. Aber: »Tut nichts! der Jude wird verbrannt«, wie Lessing dem Patriarchen von Jerusalem in seinem Nathan der Weise in den Mund legt.

Spätestens Anfang der dreißiger Jahre begannen die Reisenden der nichtjüdischen Konkurrenz der Bronze- und Aluminiumpulver-Werke meiner Familie in ihre Verkaufsgespräche die Bemerkung einfließen zu lassen: »Die Gebrüder Schopflocher? Ja, das ist eine gute, alte jüdische Firma.« Und die Freimaurerloge, die von den Nazis bekämpft wurde, weil sie für Toleranz und Menschenwürde eintrat, wurde ab 1932 von einer Austrittswelle der Vorsichtigen erfaßt, die sich rechtzeitig den »neuen Zeiten« anpassen wollten. Da ich danach trachte, Licht und Schatten gerecht zu verteilen, muß ich an dieser Stelle auch der Kunden meines Vaters gedenken, die ihm 1936, als er vor seiner Auswanderung stand, überdimensionierte Aufträge erteilten, mit deren Erlös der Rest der Familie leben konnte, bis es uns im Jahre darauf gelang, dem Vater nach Argentinien zu folgen. Oder Doktor Heinrich Meyer, den Logenbruder und aufrechten »arischen« Freund meiner Eltern, der nach der »Kristallnacht« ostentativ meine alleinstehende Großmutter besuchte, um ihr seine Hilfe anzubieten. Und der den aus dem Dachauer Konzentrationslager entlassenen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Dr. Stahl 1938 im Auto abholte, um ihn vom Husten zu kurieren, den er sich in der »Schutzhaft« zugezogen hatte. Aber auch diejenigen kann ich nicht vergessen, die sich durch die »Arisierung« jüdischer Geschäfte bereicherten und sich im Verrat an ihren jüdischen Mitmenschen hervortaten. »Schau weg!«, flüsterte Konrad Kurz, auch er ein Logenbruder meines Vaters, diesem bei seinem ersten Nachkriegsbesuch zu, als ein früherer Bekannter auf ihn zusteuerte, an dessen Händen Blut klebte.

Anfang der dreißiger Jahre war es auch, daß ich als ABC-Schütze nach und nach das von außen auf mich eindringende Grauen zu spüren bekam, das meine Heimat für ihre jüdische Minderheit parat hielt. In winzigen Dosen wurde uns das Gift verabreicht, und gerade darin lag die Gefahr. Hier ein »Juden unerwünscht« an einem Eßlokal, ein »Juden Eintritt verboten« auf den roten Plakaten an Wänden und Litfaßsäulen, die zu den Versammlungen der NSDAP aufforderten, dort ein »Stürmer-Kasten« mit seinen obszönen, den Judenhaß schürenden Karikaturen. Hier ein »Die Juden sind unser Unglück!«, dort ein »Deutschland erwache, Juda verkrache!« mit Teerfarbe an eine Brücke gepinselt. Hier ein Horst-Wessel-Lied, dort ein unerwartetes »Eigentlich hat der Hitler doch nicht so unrecht«. Ich spreche von den zwei, drei Jahren vor der »Machtergreifung«, als wir den Lausbuben, die uns »Judenstinker« nachbrüllten, noch zurückrufen konnten: »Der Jud bin ich, der Stinker bist du!« Und der »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« – die Bezeichnung allein stellt ein politisches Credo dar – bildete sich naiverweise ein, den sich ausbreitenden Antisemitismus mit Vernunftgründen bekämpfen zu können, und verteilte »Anti-Anti«-Broschüren unter dem Motto »Deutscher Jude, wehre dich!«.

In den letzten Jahren der Weimarer Republik vervielfältigte sich die Zahl der Hakenkreuzfahnen an den Häusern und die der Partei­abzeichen an den Rockaufschlägen. Das begriff sogar ein neunjähriger Judenjunge, wenn auch natürlich nicht in seiner ganzen Tragweite. Mir war nicht wohl in meiner Haut. Aber obwohl ich auf der Straße gewissen Kindern, die sich zusammenrotteten, ängstlich aus dem Weg ging, empfand ich vage den Rückhalt, den die jüdische Gemeinschaft selbst den Kindern damals noch vermittelte. An den Zeitungsständen wurden der Völkische Beobachter und der Stürmer angeboten, und auf der Straße mußten wir Verspottungen und Beschimpfungen einstecken. Wir waren eingeschüchtert. Aber wir fühlten uns nicht alleine. Noch nicht.

Die erste direkt gegen meine Person gerichtete antisemitische Episode traf mich unvorbereitet auf der Geburtstagsfeier eines blonden Mitschülers, der gerne mit den Jagdgewehren seines Vaters prahlte und den ich sehr bewunderte. Es muß um 1931 herum gewesen sein. Beim Topfschlagen geschah es; man hatte mir gerade die Augen verbunden. Da hörte ich, wie mir jemand »Kleiner Itzig!« zurief. Ein Glucksen, ein beschwichtigendes Wort der Erwachsenen. Ich wußte nicht, was man von mir wollte; betreten nahm ich die Binde von den Augen und sah verständnislos in die grinsenden Gesichter der Kinder und Erwachsenen. »Spiel ruhig weiter!«, forderten mich diese leutselig auf. Hier läßt mich mein Gedächtnis im Stich: an den Ausgang der Szene entsinne ich mich nicht. Man weiß: der Freudsche »Schleier der Amnesie«.

Allmählich – bereits im Jahr vor der »Machtergreifung« – häuften sich die Anrempelungen einiger besonders aggressiver Mitschüler. Das geschah vor allem beim Turn- und beim Schwimmunterricht sowie bei den Schulausflügen, vermutlich, weil dort die Aufsicht weniger streng gehandhabt wurde als im Klassenraum. Wir zwei, drei Judenjungen mußten Hänseleien, Püffe, Beinstellen über uns ergehen lassen. Unsicherheit und Mißtrauen gegen die Umwelt beschlich uns. Wir witterten sogar hinter grundanständigen Menschen – hinter den Lehrern, dem Friseur an der Ecke, dem Metzger und dem Bäcker – mehr oder weniger verkappte Nazis. Das war ganz bestimmt oft ungerecht. Auch dazu eine Anekdote: Während meines kurzen Gastspiels im Humanistischen Gymnasium, Mitte 1933, wurden wir aufgefordert, dem Bund der Auslandsdeutschen beizutreten. Mein Vater gab mir die Pfennige für den Beitrag mit der Bemerkung, er sei ja selbst während seines Argentinienaufenthalts vor dem Weltkrieg Auslandsdeutscher gewesen. Als ich mich beim Klassenleiter meldete, rief mich der diskret zur Seite, um mir fast flüsternd beizubringen, daß ich als Jude in diesem Verein nicht aufgenommen werden könne. Was ich, wenn mich die Erinnerung nicht trügt, als selbstverständlich hinnahm. Für meinen Professor dagegen war die Zurückweisung keineswegs so selbstverständlich. Dem guten Mann war das Gespräch peinlich. Ich konnte es seinem Gesicht ansehen: Er, mein Professor, schämte sich.

Ähnliches berichtet meine Jugendfreundin Liselotte Stahl. In einem Brief erinnert sie sich, daß Oberdirektor Kalb die Tränen in den Augen standen, als er ihrer Mutter das letzte Zeugnis der vom Gymnasium verwiesenen Tochter aushändigte. Und daß Professor Leitl in der Biologiestunde am Tag nach der Zerstörung der Synagogen seinen Schülern erklärt habe, es gebe keine jüdische Rasse, sondern nur eine jüdische Religion, jüdische Geschichte und jüdische Kultur. Und daß sie von den »Logenkindern« ihrer Klasse – sie erwähnt Walter Meyer, Herbert Kurz, Lore Ley und Trude Muggenhöfer, betont aber, es seien viel mehr gewesen – vor den wenigen »Nazikindern« stets in Schutz genommen worden sei. (Ich muß um Nachsicht bitten, daß ich hier nur die Namen derer aufzähle, die mir vertraut sind. Mögen sie stellvertretend für alle Fürther gelten, die ihren jüdischen Freunden in jener düsteren Zeit beigestanden haben.)

Ich erwähnte soeben mein selektives Erinnerungsvermögen. Dazu noch ein Beispiel: Als ich zehn Jahre alt war, erlebte ich die erste von der Regierung organisierte judenfeindliche Aktion – den Boykott der jüdischen Geschäfte am 1. April 1933. Noch heute sehe ich die SA-­Männer vor mir, in ihren braunen Hemden und schwarzen Breeches, den Koppeln und Schaftstiefeln, mit den roten Hakenkreuzbinden am Ärmel, wie sie breitbeinig vor den gebrandmarkten Geschäften stehen. Ich sehe ihre Standarten, habe ihre Losung vor Augen: »Deutsche, kauft nicht bei Juden!« Ich entsinne mich der Neugierigen, die sich vor den Läden versammelten, entnahm den geflüsterten Kommentaren, daß keineswegs alle den Boykott befürworteten. Ich wußte, daß man meinen Onkel Willy Loeb in »Untersuchungshaft« genommen hatte. Aber mein Gedächtnis verweigert die Auskunft, wenn ich es hinterfrage, um die Gefühle aufzuspüren, die mich angesichts dieses vom Staat angeordneten Angriffs auf meinesgleichen überkamen. Ich versuche in mich hineinzusehen. War ich eingeschüchtert? Empfand ich Angst? Entsetzen angesichts der Schutzlosigkeit, die uns bedrohte? Oder schämte ich mich, dieser Rasse anzugehören, die als Nicht-Deutsche, als feindliche Fremde, betrachtet wurden? Wenn man sich für einen Augenblick in den jüdischen Buben versetzt, der an diesem Samstagvormittag die Plakate sehen mußte, die seine Gemeinschaft beschimpften und bedrohten, dem die Gerüchte über Schutzhaft und Dachau, über Folterungen im Braunen Haus im Kopf herumgingen, kann man vielleicht ermessen, wie mir zumute war. Mein Gehirn aber, das mit fast fotografischer Präzision die Szenen des vor fünfundsechzig Jahren stattgefundenen Boykotts registriert, verweigert hier seinen Dienst. Und alle Aussagen, die mir zu diesem Thema einfallen, sind viel spätere Konstruktionen – »vorgeschobene Deckerinnerungen« nennt sie Freud –, mit denen weder Sie noch ich etwas anfangen können.

Aber auch wenn ich den seelischen Zustand, in dem ich mich damals befand, nicht rekonstruieren kann, so bin ich mir der Narben wohl bewußt, die die damalige Verstörtheit in mir hinterließ. Die mich selbst heute noch – mehr als ein halbes Jahrhundert danach – im täglichen Leben beunruhigt. Ich sprach vorhin vom Gift des Hasses, das wir als Kinder in kleinen Dosen in uns aufnahmen. Es muß sich um ein sehr langsam wirkendes Gift gehandelt haben, das nicht nur bei mir, sondern bei vielen Überlebenden meines Alters noch jetzt Spät- und Fernsymptome hervorruft, die wir manchmal sogar unseren Kindern unbewußt weitergeben, wie dies die Studien namhafter Psychologen beweisen. Ein unterirdisches Beben, ein fernes Wetterleuchten; der in der Luft vibrierende Klang eines Tropfsteins, an den man sachte klopft. Man hat sich daran gewöhnt. Man kommt mit einem solchen »Knacks« zurecht: ein wenig Scheu vor Massenversammlungen und vor Uniformierten jeglicher Provenienz, ein paar ganz milde Verfolgungsphantasien. Nur von den Nächststehenden werden sie bemerkt. Die lästige Neigung dann, sich ständig entschuldigen oder rechtfertigen zu müssen, hervorgerufen durch unbestimmte Gewissensbisse. Ein gelegentlicher Angsttraum oder eine schlaflose Nacht, während der man unten in der Seelentiefe ein verdächtiges Rumoren vernimmt, das auch viele meiner Erzählungen durchzieht. Womöglich kündigt sich ein Erdbeben an oder der Ausbruch eines Vulkans, den man für längst erloschen hielt.

Gewiß: Verglichen mit dem Schicksal der im Fürther Memorbuchund auf den Gedenktafeln in der Einsegnungshalle des Neuen Jüdischen Friedhofs verzeichneten Fürther Opfer der Shoah sind die eben geschilderten Erfahrungen nichts weiter als harmloser Kinderkram. Allein wenn ich dieser neunhundert Opfer gedenke, überkommen mich zweierlei Gefühle. Zum einen das durch keinerlei Vernunftgründe tilgbare Schuldgefühl – warum mußten jene sterben, warum durfte ich mich retten? Und ein zweites, das Reiter-überm-Bodensee-Syndrom: Wie wenig hätte gefehlt, und auch meine Eltern, mein Bruder und ich wären umgebracht worden! Als wir auswandern wollten, hielt die Fürther Polizei den Paß meiner Mutter monatelang zurück. Erst jetzt erfuhr ich den Grund: Die Behörden benutzten uns als Geiseln, um meinen vorausgefahrenen Vater zur Rückkehr nach Deutschland zu zwingen, weil die Industrie- und Handelskammer Fürths befürchtete, er könne von Argentinien aus die deutsche Wirtschaft schädigen. Endlich, nach vielen Schikanen, mit grimmigem Humor genau zu ihrem vierzigsten Geburtstag, bekam sie dieses graubraune Heftchen ausgehändigt, von dem ihr Leben und das ihrer Kinder abhing.

Zwei Monate später, im April 1937, verließen wir das Land meiner Kindheit, um in Argentinien eine – wie sagt man? – »neue Heimat« zu finden. Verwundert stelle ich fest, daß das Kindheitsland, aus dem ich vertrieben wurde, in einigen Schichten meines Seins weiter lebt und wirkt, trotz der unfaßbaren Verbrechen, die in ihm stattgefunden haben. Das Land und seine Sprache. Solange ich atmen kann, läßt der Frühling sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte; war es, als hätt der Himmel die Erde still geküßt, und ist die Treue doch kein leerer Wahn.

 

Mit dem Betreten argentinischen Bodens endete meine Kindheit, auch wenn ich noch zwei Jahre lang die Pestalozzi-Schule besuchen durfte, eine der beiden damals nicht »gleichgeschalteten« deutschen Schulen von Buenos Aires, wo der frühere sozialistische Reichstagsabgeordnete Prof. Dr. August Siemsen Deutsch und Geschichte lehrte. Mörike, Eichendorff und Schiller begleiteten mich weiter. Dort fand ich auch den Anschluß an das argentinische Schulsystem, das mich zum Weiterstudium befähigte. Meine weitere Vita – Eleve auf einer Obstfarm in Nordpatagonien, Ausbildung zum Agronomen in Córdoba, die Tätigkeit als Verwalter jüdischer Siedlungen in der Provinz Entre Ríos, die Übernahme des väterlichen Betriebs als Importkaufmann und Leiter einer kleinen chemischen Fabrik in Buenos Aires, eine langjährige glückliche Ehe, Kinder und Enkel – hat natürlich nichts in den Kindheitserinnerungen zu suchen. Auch meine vom Expressionismus beeinflußten Holzschnitte, die mehrmals vom jährlich stattfindenden »Salón Nacional« angenommen wurden; und die in Spanisch verfaßten Erzählungen, Romane und Theaterstücke, sowie die Essays und Erzählungen in Deutsch gehören nicht mehr hier her. Oder doch? Zurückblickend erkenne ich nämlich erst jetzt die Nachwirkung der Kindheitseindrücke, die meinem vielfach verschlungenen Lebensweg einen umfassenden Sinn geben. Ein langer, nicht immer leichter Weg, der, wie ich heute glaube, weitaus wichtiger ist als das angestrebte Ziel, das sich mir noch immer einer genauen Definition entzieht.

 

[Leicht abgeänderte Fassung einer im Jahre 1998 im Fürther Geschichtsverein gehaltenen Vortrags, der im selben Jahr im Wallstein Verlag als Broschüre erschien.]

 

Der Sitz der Seele

An einem schwülen Dezembermorgen im Jahre 1978, als auf den Straßen das martialische Tam-Tam der argentinischen Militärregierung die Bevölkerung auf den Krieg gegen Chile vorbereiten sollte, wurde im jüdischen Gemeindehaus von Buenos Aires ein schlecht rasierter Mann mittleren Alters vorstellig.

Seine Markttasche hatte das Mißtrauen der zwei dominospielenden Türhüter erweckt. Was er da mit sich führe, wollten sie wissen. Das werde er dem Rabbiner mitteilen, die zurückhaltende Antwort. Der ältere der beiden Dominospieler, ein kahlköpfiger Kerl von einschüchternden Körpermaßen, machte die Freigabe des Wegs zu den Büro­räumen im ersten Stock von der Durchsuchung jener Tasche abhängig. Woraufhin der Besucher widerstrebend eine halbgefüllte Flasche mit hermetischem Verschluß zum Vorschein brachte, durch deren dicke Glaswand eine rote Flüssigkeit schimmerte. »Borschtsch«, meinte der jüngere der Wächter abfällig. Das Gefäß habe er hier unten zu hinterlegen, er könne beruhigt sein, niemand würde sich daran vergreifen.

»Rotrübenborschtsch«, bestätigte der Besucher und verzog sein Gesicht zu einer traurigen Grimasse. Er wickelte das Glas sorgfältig, ja fast hätte man sagen können: liebevoll, in das Zeitungspapier ein, dem er es entnommen hatte, verstaute es in seiner Tragetasche und verlangte, endlich durchgelassen zu werden. Und die Tasche gebe er nicht aus der Hand.

Natürlich war ein derartiges Benehmen nicht dazu angetan, das Wohlwollen der in ihrem Spiel gestörten Diensthabenden zu fördern. Er möge sich gefälligst in den ersten Stock begeben. Von der Entscheidung der dortigen Kollegen hänge es ab, ob er die Tasche mit zur »Audienz« nehmen dürfe. Vorausgesetzt, man gewähre ihm eine solche.

In den Amtsräumen oben ließ man ihn gar nicht erst zu Wort kommen, sondern drückte ihm einen Fragebogen in die Hand: Nach- und Vornamen, Geburtsdatum, Beruf, Adresse und Zweck des Besuches. Er trug sich als Sznaider Jacobo ein. Geburtsdatum: 20. Juni 1925. Beruf: Damenschneider. Die Spalte mit der Frage nach seinem Anliegen überging er. Doch als einer der Angestellten auf eine Vervollständigung des Vordrucks drang, erklärte er, er sei gekommen, um die Formalitäten für eine Bestattung zu erledigen. Dafür bedürfe es keines Rabbiners, derartige Routineangelegenheiten erledige man hier im Büro, wurde er belehrt. Und ob er den standesamtlich ausgefertigten Totenschein des Verblichenen mit sich führe und den Nachweis, daß der auch wirklich der jüdischen Religion angehört habe. Diese Papiere seien für eine Beisetzung auf dem Gemeindefriedhof unerläßlich.

Sznaider beharrte auf seinem Wunsch, beim Rabbiner vorgelassen zu werden. Es handle sich um keinen normalen Todesfall und auch um kein normales Begräbnis. Mehr könne er nicht verraten.

Unwirsch wies der Angestellte den aufdringlichen Bittsteller an, Platz zu nehmen. Der gehorchte, ohne das herumstehende Publikum zu beachten: miteinander wispernde und gestikulierende Männer, die offenbar Angehörige verloren hatten, deren Beerdigung sie in die Wege leiten wollten. Nachdem er eine halbe Stunde lang steif auf seinem Stuhl gesessen hatte, den Griff der Tasche krampfhaft umklammert, erkundigte er sich, wie lange er wohl noch warten müsse. Auf diesem Amt habe man sich mit Geduld zu wappnen, erwiderte einer der Schreiber übelgelaunt. Zu gegebener Zeit werde er schon aufgerufen.

 

Eine weitere halbe Stunde verstrich, vielleicht auch etwas mehr, bis ihn endlich einer der amtierenden Rabbiner empfing. Noch bevor er sich niederließ, wickelte Sznaider seine dickwandige Flasche aus und deponierte sie behutsam auf dem Bürotisch.

Es sei eine Blutkonserve, erläuterte er. Das Blut seiner armen Tochter, Gott der Allmächtige habe sie selig. Mehr sei ihm von seinem Kinde nicht geblieben. Ja, und diesem Blut, das für ihn sozusagen den Leichnam seiner Tochter darstelle, wollten er und seine Frau ein jüdisches Begräbnis angedeihen lassen.

Der bärtige Geistliche musterte den vor ihm Stehenden sprachlos durch seine scharfe Brille. Eine derartige Zumutung war ihm noch nie vorgekommen. Endlich überwand er sich und forderte seinen Gast mit einer stummen Geste auf, Platz zu nehmen.

Den vorgebrachten Wunsch hielt er für eine Blasphemie. Oder zumindest für eine Respektlosigkeit seiner Person gegenüber, was nach seiner Auffassung praktisch auf das Gleiche herauskam. Zudem tadelte er im Geist die Taktlosigkeit dieses Unverfrorenen, in seinem Amtssitz ohne Kopfbedeckung zu erscheinen und den Namen des Allmächtigen unnötigerweise im Munde zu führen. Die Aussprache des für einen einfachen Schneider recht kultivierten Jiddischs verriet ihm, daß der Mann aus Polen stammte, wahrscheinlich aus der Gegend von Łód´z. Und als die Vermutung in ihm wach wurde, er müsse die Schrecken des Lagers mitgemacht haben – eine Vermutung, die zur Gewissheit wurde, als er die in den Unterarm eingeätzte sechsstellige Nummer entdeckte –, überkam ihn Befangenheit, ein Gemisch aus Mitleid und unerklärlich schlechtem Gewissen, die ihn im Verkehr mit Shoahopfern stets befiel.

Sznaider legte das Schweigen seines Gegenübers als eine Ablehnung seines Gesuches aus. Nicht zu unrecht, denn wo hatte man schon von der rituellen Bestattung einer Blutkonserve gehört? Er versuchte daher, seinen Wunsch mit dem Argument zu untermauern, daß man ja auch amputierte Gliedmaßen auf dem Friedhof beerdige.

Aber nur am Mauerrand und ohne jegliche Zeremonien, verwahrte sich der Rabbi. Am Ende aller Tage, wenn der Messias die Toten erwecke, gesellten sich diese Arme und Beine zum Leib der Auferstandenen, um deren irdische Hülle wieder zu vervollständigen. Die Bestattung von Blutkonserven dagegen sei vom Talmud nicht vorgesehen. Zudem verhindere ein gläsernes Gefäß, daß jener … nun: jener sterbliche Überrest zum Staub zurückkehre, aus dem er gekommen war.

Sznaider nickte verständnisvoll. Auf diese Einwände war er gefaßt gewesen. Nicht umsonst hatte er als junger Bursche einige Jahre lang die Jeschiwah besucht, eine Talmudhochschule in Warschau. Überdies stammte er aus gläubigem Haus. So gesetzestreu war sein Vater gewesen, auch er ein Damenschneider, daß er die Maße seiner Kundinnen von seiner Gattin hatte nehmen lassen. Denn die Religion verbot ihm, eine fremde Frau zu berühren.

Vielleicht gebe es trotzdem einen Ausweg, murmelte er, den Blick beharrlich auf die Flasche gerichtet.

Daraufhin der Geistliche kopfschüttelnd: »Bekanntlich ist das Blut der Sitz der Seele.« Selbst aus dem Mund eines orthodoxen Rabbis klang diese Behauptung im Zeitalter der Psychoanalyse, der Neurobiologie und der Bluttransfusionen nicht weniger befremdlich als das Ansinnen Sznaiders.

Eine Zeitlang schwiegen beide Männer. Trotz des surrenden Deckenventilators war es drückend heiß im Raum.

Der Rabbiner war versucht, die fatale Neigung der Menschen zu erwähnen, sich Idole zu schaffen, wie sie diese Flasche mit ihrem Inhalt darstellte. Wußte man nicht von Verblendeten, die sich in früheren Jahrhunderten der Asche gewisser auf dem Scheiterhaufen verbrannter Inquisitionsopfer bemächtigten, um sie als Reliquie zu verehren? Wie schwer ist es, den Aberglauben von der wahren Religion zu trennen! Wie unsäglich schwer, den körperlosen Geist des Ich-bin-der-ich-bin zu erfassen! Schon Moses, unser Lehrer, hatte seine Last mit den Verehrern des Goldenen Kalbs. Aber diese Gedankengänge behielt er für sich.

Auf die Frage, wie er überhaupt auf seine abwegige Idee gekommen sei, erzählte Sznaider, Perla, sein einziges Kind, sei vor Jahresfrist von den Sicherheitskräften verschleppt worden. Am hellichten Tag hatten sie mehrere Männer umzingelt, in ein Auto gezerrt und entführt. Im städtischen Krankenhaus, in dem sie als Säuglingsschwester angestellt gewesen war, unterhalte man eine Blutbank. Versorgt mit den Blutspenden aller Mitarbeiter des Spitals, lagerte dort auch das Blut seiner Tochter, um es im Bedarfsfall zu verwenden. Der naheliegenden Frage, wie er denn in den Besitz jener Konserve gelangt sei, die sich doch, ordnungsgemäß registriert und etikettiert, in einem Tiefkühldepot befunden haben mußte, wich Sznaider mit dem Hinweis aus, daß hierzulande ein paar Pesosscheine, in die richtige Hand gedrückt, noch immer Wunder bewirkten.

Die Erwähnung der Sicherheitskräfte hatte im Rabbiner zwiespältige Gefühle ausgelöst. Die Anwendung von Gewalt war ihm zuwider, ganz gleich, ob sie von rechts kam oder von links. Und die Einzelschicksale der Menschen waren ihm keineswegs gleichgültig. In diesem Fall jedoch wurden seine menschlichen Regungen von der Befürchtung überschattet, die Genehmigung einer solch unstatthaften Beerdigung könne von den Behörden als Mittäterschaft an den umstürzlerischen Plänen der Montoneros gedeutet werden. Denn jegliche Hilfe, selbst ärztliche Pflege oder seelensorgerischer Beistand eines verwundeten Guerilleros, wurde als subversive Tätigkeit aufgefaßt und entsprechend bestraft.

Irgend etwas wird die Tochter schon angestellt haben, mutmaßte er. Denn grundlos wird niemand festgenommen. Und woher er eigentlich so genau wissen wolle, daß das Mädchen sich nicht doch noch am Leben befinde. Man spricht ja von fünftausend Vermißten.

»Von mindestens fünfzehntausend spricht man«, stellte Sznaider richtig, ohne den Blick von der Flasche zu wenden, die das Blut seines Kindes enthielt. Aufgetaut, längst zersetzt, für lebensrettende Transfusionen unbrauchbar geworden, wenn auch nach jüdischer Überlieferung noch immer der Sitz der Seele. Perla habe ihren Urlaub gelegentlich in Salta verbracht, um dort oben im Norden mit Gleichgesinnten die Kinder der Tobas-Indios zu impfen und Gratismedikamente zu verteilen. Kann ja sein, daß die Regierung das Impfen von Indianern als subversive Handlung auffaßt.

»Aha!«, brummte der Rabbiner abstandnehmend. Was Sznaider dazu veranlaßte, höflich darauf hinzuweisen, daß bereits die Heilige Schrift gebiete, die Nackten zu kleiden, die Hungrigen zu speisen und den Witwen und Waisen beizustehen. Ganz zu schweigen von der Forderung der Propheten, die sich im alten Israel für soziale Gerechtigkeit eingesetzt hatten.

Während das Zittern seiner Hände die Erregung verriet, die ihn erfaßt hatte, gestand er anschließend den tieferen Grund seines Gesuches. Der wog in seinen Augen schwerer als die Bestimmungen der Religion. Das Schuldgefühl sei es, das ihn und seine Frau bedränge, die Selbstvorwürfe bei Tag und bei Nacht, weil sie das Mädchen so weltfremd im Geiste der Propheten erzogen hatten. Denn nur wenn die Gerechtigkeit auf Erden triumphiere, würden die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet. Ein überhebliches Unterfangen, wie er jetzt einsehe. Denn eigentlich gehe es umgekehrt zu auf einer Welt, in der man alles daransetze, die Pflüge in Schwerter zu verwandeln.

Er trage Schuld am Tod seiner Tochter, denn er schärfte ihren Blick für die Ungerechtigkeit auf der Welt. Für die in den Bahnhofshallen schlafenden hungrigen Kinder; für die von der Gesellschaft zum Betteln verurteilten Invaliden. Schon als kleines Mädchen habe sie die ihr zugesteckten Süßigkeiten unter den Straßenkindern verteilt.

»Aha!«, ließ der Rabbiner erneut verlauten. Etwas anderes schien ihm nicht einzufallen. Vielleicht deutete er die Botschaft der Propheten ganz anders als der Mann vor ihm, der, wie er argwöhnte, in Polen dem linken Flügel des »Bunds« angehört hatte.

Auf der Suche nach der vermißten Tochter sei er bei sämtlichen Ämtern vorstellig geworden, fuhr Sznaider fort. Er habe sogar versucht, ein Habeas-Corpus-Gesuch bei Gericht durchzubringen. Vergeblich! Überall sei er verschlossenen Gesichtern begegnet, bis er endlich vor wenigen Tagen aus dem Mund einer aus der Haft entlassenen Genossin seiner Tochter die fürchterliche Wahrheit erfahren habe.

Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Die Vorstellung der Erniedrigungen, denen seine Tochter im Folterzentrum der Mechaniker­schule der Marine ausgesetzt gewesen war, übermannte ihn. Er sah sie vor sich, nackt und hilflos den gierigen Blicken ihrer Schergen ausgesetzt. Sein Töchterchen! Stellte sich vor, wie sie sich vor Schmerzen krümmte. Neunzehn Jahre alt war sie.

Die an und für sich harmlose Bezeichnung »Genossin« – »Chawerte« in Jiddisch – hatte das ungute Gefühl des Rabbiners verstärkt. Er bemühte sich daher, dem unerquicklichen Gespräch ein Ende zu setzen. Möglichst mit ein paar konzilianten Worten.