Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn - Vilayanur S. Ramachandran - E-Book

Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn E-Book

Vilayanur S. Ramachandran

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Beschreibung

Warum erröten wir? Was ist Kunst? Was bedeutet der "freie" Wille? Und was ist das Selbst? Bislang gehörten diese Fragen zur Domäne der Philosophen. Neuere Studien der Gehirnforschung liefern nun die ersten Erklärungen, nach denen Menschen seit allen Zeiten suchen. In seinem bekanntermaßen klaren und überaus verständlichen Stil hat Ramachandran sich dieser Themen in Form von fünf Vorlesungsessays angenommen. Brilliant! Vilayanur Ramachandran gilt neben Oliver Sacks als einer der bekanntesten Neurowissenschaftler. "Die blinde Frau, die sehen kann" war in Deutschland sein erster großer Erfolg.

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Vilayanur S. Ramachandran

Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn

 

 

Aus dem Englischen von Hainer Kober

 

Über dieses Buch

Warum erröten wir? Was ist Kunst? Was bedeutet der «freie» Wille? Und was ist das Selbst? Bislang gehörten diese Fragen zur Domäne der Philosophen. Neuere Studien der Gehirnforschung liefern nun die ersten Erklärungen, nach denen Menschen seit allen Zeiten suchen. In seinem bekanntermaßen klaren und überaus verständlichen Stil hat Ramachandran sich dieser Themen in Form von fünf Vorlesungsessays angenommen. Brilliant! Vilayanur Ramachandran gilt neben Oliver Sacks als einer der bekanntesten Neurowissenschaftler. «Die blinde Frau, die sehen kann» war in Deutschland sein erster großer Erfolg.

Vita

Vilayanur S. Ramachandran ist Neurowissenschaftler und Direktor des «Center for Brain and Cognition» in San Diego und Professor für Psychologie und Neurowissenschaften an der University of California. Er ist Mitglied im «Century Club» der Newsweek, der die hundert wichtigsten Menschen für die Zukunft Amerikas umfasst. Er lebt in Del Mar, Kalifornien.

 

Hainer Kober, geboren 1942, lebt in Soltau. Er hat u.a. Werke von Stephen Hawking, Steven Pinker, Jonathan Littell, Georges Simenon und Oliver Sacks übersetzt.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel «The Emerging Mind» bei Profile Books Ltd, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2024

Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «The Emerging Mind» Copyright © 2003 by Vilayanur S. Ramachandran

Redaktion Astrid Grabow

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung zero-media.net, Daniel Mogford

Coverabbildung Getty Images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00539-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

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Für meine Eltern

Vilayanur Subramanian und

Vilayanur Meenakshi

 

Für Diane, Mani und Jaya

 

Für Semmangudi Sreenivasa Iyyer

 

Für Präsident Abdul Kalam,

weil er die Jugend unseres Landes

in ein neues Jahrtausend führt

 

Für Shiva Dakshinamurthy,

den Gott der Erkenntnis, der Musik,

des Wissens und der Weisheit

Vorwort

Es war eine große Ehre für mich, als man mich bat, die Reith-Vorträge 2003 zu halten: Damit war ich der erste Mediziner und Experimentalpsychologe, der eingeladen wurde, seit Bertrand Russell die Vortragsreihe 1948 ins Leben rief. In den letzten fünfzig Jahren haben die Vorträge einen festen Platz im geistigen und kulturellen Leben Großbritanniens gefunden, und ich habe die Einladung mit großer Freude angenommen. Die Liste derer, die mir vorausgingen, umfasst die Helden meiner Jugend: Peter Medawar, Arnold Toynbee, Robert Oppenheimer, John Galbraith und Russell selbst – um nur einige zu nennen.

Mir war klar, dass es angesichts der überragenden Bedeutung und des prägenden Einflusses meiner Vorgänger schwer sein würde, in ihre Fußstapfen zu treten. Noch mehr schüchterte mich die Vorgabe ein, dass die Vorlesungen nicht nur für Fachleute interessant, sondern auch für ein «Laienpublikum» verständlich sein sollten, wie es Lord Reiths ursprüngliches Konzept für die BBC-Reihe vorsah. In Anbetracht der Fülle neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse blieb mir also nichts anderes übrig, als mich mit einem impressionistischen Überblick zu begnügen, statt mich an einer erschöpfenden Darstellung zu versuchen. Zwar befürchtete ich, dass ich die Sachverhalte dabei zu sehr vereinfachen und dadurch einige meiner Kollegen verärgern würde, doch ich tröstete mich mit Lord Reiths eigenen Worten: «Es gibt Menschen, die zu verärgern unsere Pflicht ist.»

Es hat mir viel Freude gemacht, durch Großbritannien zu reisen und die Vorträge zu halten. Der erste, der in Londons Royal Institution stattfand, war für mich ein besonders festliches und denkwürdiges Ereignis, nicht nur, weil ich unter den Zuhörern viele vertraute Gesichter ehemaliger Lehrer, Kollegen und Studenten erblickte, sondern auch, weil es derselbe Vortragssaal war, in dem Michael Faraday zum ersten Mal den Zusammenhang zwischen Elektrizität und Magnetismus nachwies. Fast konnte ich seine Anwesenheit spüren, vermutlich etwas ungehalten über meine unbeholfenen Versuche, den Zusammenhang zwischen Gehirn und Geist darzulegen.

Mir ging es in diesen Vorträgen immer darum, die Neurowissenschaften – die Gehirnforschung – einem breiteren Publikum (dem «arbeitenden Menschen», wie Thomas Huxley gesagt hätte) zugänglich zu machen. Die Strategie ist einfach: Wir untersuchen eine neurologische Funktionsstörung, die durch eine Veränderung in einer winzigen Hirnregion des Patienten hervorgerufen wird, und fragen uns, warum der Patient diese sonderbaren Symptome zeigt. Was verraten uns die Symptome über die Funktion des gesunden Gehirns? Können wir durch eine sorgfältige Untersuchung dieser Patienten erklären, wie die Aktivität der hundert Milliarden Neuronen im Gehirn die Komplexität unserer bewussten Erfahrung hervorruft? Angesichts der zeitlichen Einschränkungen, denen ich unterworfen war, habe ich mich auf die Felder beschränkt, auf denen ich selbst gearbeitet habe (Phantomglieder, Synästhesie und visuelle Verarbeitung), sowie auf Bereiche, die mit einem breiten, interdisziplinären Interesse rechnen können, weil sie eines Tages vielleicht die Kluft zwischen C.P. Snows «zwei Kulturen» schließen werden – zwischen den Natur - und den Geisteswissenschaften.

Im dritten Vortrag geht es um ein besonders strittiges Thema: die neurologische Basis künstlerischer Erfahrungen – die «Neuro-Ästhetik» –, die unter Naturwissenschaftlern gewöhnlich als Tabuzone gilt. Spaßeshalber werde ich mich daran versuchen, nur um zu zeigen, wie ein Neurowissenschaftler dieses Problem angehen könnte. Und ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich mich damit auf ein höchst spekulatives und unsicheres Gebiet vorwage. Peter Medawar hat einmal gesagt: «Wissenschaft ist ihrem Wesen nach eine phantastische Reise in eine Welt, die wahr sein könnte.» Spekulationen sind also zulässig, solange sie zu überprüfbaren Vorhersagen führen und solange der Autor deutlich macht, wann er sich auf Spekulationen einlässt und wann nicht, mit anderen Worten, wann er sich auf dünnem Eis bewegt und wann er festen Boden unter den Füßen hat. Ich habe mich bemüht, diese Unterscheidung im gesamten Buch durchzuhalten. Gelegentlich habe ich sie durch entsprechende Endnoten verdeutlicht.

Im Bereich der Neurologie gibt es einen grundsätzlichen Meinungsstreit zwischen den Vertretern der «Einzelfallstudie», der eingehenden Untersuchung von nur ein oder zwei Patienten mit dem gleichen Syndrom, und den Verfechtern der quantitativen Studien, die an umfangreichen Patientenstichproben statistische Analysen vornehmen. Gegen das erste Verfahren wird gelegentlich eingewandt, man könne allzu leicht durch einen einzigen seltsamen Fall auf eine falsche Fährte gelockt werden, doch das ist unsinnig. Die meisten Definitionen neurologischer Syndrome, die sich über längere Zeit bewährt haben, etwa die Hauptformen der Aphasie (Sprachstörungen), die Amnesie (die von Brenda Milner, Elizabeth Warrington, Larry Squire und Larry Weiskrantz erforscht wurde), die kortikale Farbenblindheit, das Neglect-Syndrom, das Blindsehen (Blindsight), das Split-Brain-Syndrom (Durchtrennung des Balkens) und so fort, sind ursprünglich durch sorgfältige Einzelfallstudien entdeckt worden. Mir ist kein einziges Syndrom bekannt, das durch die Ergebnisse einer großen Stichprobe gefunden wurde. Am besten beginnt man tatsächlich mit der Untersuchung von Einzelfällen und überprüft dann, ob sich die Ergebnisse zuverlässig an anderen Patienten wiederholen lassen. Das gilt für die meisten Erkenntnisse, von denen ich in diesen Vorträgen berichten werde – Phantomglieder, Capgras-Syndrom (Doppelgängerillusion), Synästhesie und Neglect-Syndrom. Die Ergebnisse sind bei allen Patienten bemerkenswert ähnlich und wurden von vielen Forschern bestätigt.

Häufig werde ich von Kollegen und Studenten gefragt, wann und weshalb ich anfing, mich für das Gehirn zu interessieren. Es ist nicht einfach, den Ursprung der eigenen Interessen zu bestimmen. Ich will es trotzdem versuchen. Schon mit elf Jahren begann ich mich für naturwissenschaftliche Fragen zu interessieren. Soweit ich mich erinnere, war ich etwas eigenbrötlerisch und unbeholfen im sozialen Umgang, hatte aber einen wirklich guten Freund in Bangkok, der meine Liebe zur Wissenschaft teilte: Somthau (‹Cookie›) Sucharitkul. Vor allem aber fühlte ich mich wohl in der Gesellschaft der Natur, und vielleicht war die Naturwissenschaft auch meine «Zuflucht» vor der sozialen Welt mit ihrer Willkür und ihren verwirrenden Konventionen. Ich verbrachte viel Zeit damit, Muscheln, Gesteinsproben und Fossilien zu sammeln. Mit Begeisterung vertiefte ich mich in die Archäologie der Antike, in Kryptographie (Indusschrift), vergleichende Anatomie und Paläontologie. So fand ich es unglaublich faszinierend, dass sich die winzigen Knochen in unseren Ohren, mit denen die Säugetiere den Schall verstärken, aus den Kieferknochen der Reptilien entwickelt haben. In der Schule begeisterte ich mich für die Chemie. Häufig mischte ich chemische Stoffe, um zu sehen, was passieren würde (ein Stück brennendes Magnesiumband konnte ins Wasser geworfen werden und brannte unter Wasser weiter, wobei es dem H2O Sauerstoff entzog). Meine zweite Leidenschaft war die Biologie. Einmal versuchte ich, den «Mund» von Venusfliegenfallen mit verschiedenen Zuckern, Fettsäuren und einzelnen Aminosäuren zu füttern, um zu sehen, welche Stoffe sie veranlassten, sich zu schließen und Verdauungsenzyme auszuschütten. In einem anderen Experiment wollte ich herausfinden, ob Ameisen den Süßstoff Saccharin horteten und verzehrten, das heißt, ob sie ihn genauso gern mochten wie Zucker. Würden die Saccharin-Moleküle ihre Geschmacksnerven auf die gleiche Weise «täuschen» wie die unseren?

All diese – «viktorianisch» inspirierten – Beschäftigungen hatten wenig mit den Dingen zu tun, mit denen ich mich heute befasse: Neurologie und Psychophysik. Doch offenbar haben mich diese Kindheitsinteressen nachhaltig in meiner «erwachsenen» Persönlichkeit und in meiner wissenschaftlichen Vorgehensweise geprägt. Mochte das, womit ich mich beschäftigte, auch noch so schwierig und rätselhaft sein, ich hatte immer das Gefühl, mich auf meinem eigenen Gebiet zu bewegen, in einem privaten Paralleluniversum, das von Menschen bewohnt wurde wie Darwin, Cuvier, Huxley, Owen, William Jones und Champollion. Sie waren für mich «wirklicher» – auf jeden Fall lebendiger – als die meisten lebenden Personen, die ich kannte. Vielleicht hat diese Flucht in meine eigene Welt dazu geführt, dass ich mich als jemand Besonderes empfand und nicht als «seltsam», eigenbrötlerisch oder anders. Sie verhalf mir dazu, Langeweile und Eintönigkeit zu besiegen, mich der faden Existenz zu entziehen, welche die meisten Menschen als «normales Leben» bezeichnen, und einen Ort aufzusuchen, wo, um Russell zu zitieren, «wenigstens einer unserer edleren Triebe dem öden Exil der realen Welt entfliehen kann».

An der Universität von Kalifornien in San Diego, einer Institution, die so altehrwürdig wie lebendig und modern ist, wird man zu solchen «Fluchten» ausdrücklich ermuntert. Ihr neurowissenschaftliches Programm wurde kürzlich in einem Vergleich aller amerikanischen Universitäten von der National Academy of Sciences auf Platz eins gesetzt. Zählt man das Salk Institute und Gerry Edelmans Neurosciences Institute hinzu, so gibt es in La Jollas «Neuron Valley» eine höhere Konzentration von Neurowissenschaftlern als irgendwo anders auf der Welt. Jemand, der sich für das Gehirn und seine Funktionen interessiert, kann kaum ein anregenderes Umfeld finden.

Wissenschaft ist immer dann besonders interessant, wenn sie noch in den Kinderschuhen steckt, wenn ihre Adepten noch von Neugier getrieben und nicht in «Professionalismus» und Routine erstarrt sind. Leider trifft das auf viele der erfolgreichsten Wissenschaftsfelder längst nicht mehr zu, etwa die Teilchenphysik oder die Molekularbiologie. Heutzutage ist es keine Seltenheit, dass ein Artikel, der in Science oder Nature erscheint, dreißig oder mehr Autoren zählt. Da würde mir viel von dem Spaß an der Sache verloren gehen (und anderen Autoren wohl auch). Das ist einer der zwei Gründe dafür, dass ich eher zur altmodischen Geschwind’schen Neurologie tendiere, die uns erlaubt, zu den Grundprinzipien und den naiven Fragen zurückzukehren – so einfachen Fragen, dass sie von einem Schulkind gestellt werden könnten, die den Experten aber unter Umständen in arge Verlegenheit bringen. Wir haben es mit einem Forschungsfeld zu tun, auf dem es noch möglich ist, wie Faraday zu arbeiten – «tüftelnd» und improvisierend – und auf überraschende Ergebnisse zu stoßen. Wie viele meiner Kollegen hoffe ich, auf diese Weise das goldene Zeitalter der Neurologie, die Zeit von Charcot, Hughling Jackson, Henry Head, Luria und Goldstein, noch einmal aufleben zu lassen.

Der zweite Grund, warum ich mich für die Neurologie entschieden habe, ist offenkundiger. Es ist der Grund, warum Sie dieses Buch zur Hand genommen haben. Wir Menschen interessieren uns nun einmal für uns selbst mehr als für irgendetwas anderes, und das Herzstück der neurologischen Forschung ist die Frage, wer wir sind. Seit ich als Medizinstudent meinen ersten Patienten untersucht habe, hat mich die Neurologie nicht mehr losgelassen. Es handelte sich um einen Mann mit Pseudobulbärparalyse (einer bestimmten Form des Schlaganfalls), ein Leiden, das ihn zwang, in Sekundenabständen zwischen Lachen und Weinen zu wechseln. Auf mich wirkte sein Verhalten wie eine Kurzfassung der Conditio humana. Waren das nur freudlose Freude und Krokodilstränen, fragte ich mich, oder schwankte der Mann tatsächlich zwischen Glück und Trauer – wie bei einer manisch-depressiven Verstimmung, nur in wesentlich kürzerem Wechsel?

Dieses Buch behandelt viele solcher Fragen: Wie entstehen Phantomglieder? Wie entwerfen wir ein Körperbild? Gibt es künstlerische Universalien? Was ist eine Metapher? Warum «sehen» manche Leute einen musikalischen Ton als Farbe? Was ist Hysterie? Einige dieser Fragen werde ich im vorliegenden Buch beantworten, andere sind etwas sperriger, so zum Beispiel die Frage nach dem menschlichen Bewusstsein.

Doch egal, ob ich Antworten finde oder nicht, wenn die Vorträge Ihr Interesse für diesen Forschungszweig wecken können, haben sie ihren Zweck mehr als erfüllt. Wer sich eingehender mit den behandelten Themen beschäftigen möchte, findet im Anhang ausführliche Endnoten und ein Literaturverzeichnis. Mein Kollege Oliver Sacks hat einmal zu einem seiner Bücher bemerkt: «Das eigentliche Buch findest du in den Fußnoten, Rama.»

Ich möchte diese Vorträge all jenen Patienten widmen, die sich freiwillig stundenlangen Tests in unserem Institut unterzogen haben. Oft habe ich aus den Unterhaltungen mit ihnen – trotz ihrer «geschädigten» Gehirne – mehr gelernt als von meinen gelehrten Kollegen auf Konferenzen.

Kapitel einsPhantombilder des Geistes

Während der letzten dreihundert Jahre ist die Geschichte der Menschheit immer wieder von größeren geistigen Umwälzungen bestimmt worden, die wir als wissenschaftliche Revolutionen bezeichnen. Sie haben das Bild, das wir von uns selbst und unserer Stellung im Kosmos haben, entscheidend beeinflusst. Zuerst erfolgte die kopernikanische Revolution – die Erkenntnis, dass unser Planet, weit vom Mittelpunkt des Universums entfernt, nur ein winziges Staubkorn ist, das um die Sonne kreist. Dann folgte die darwinistische Revolution, die in der Auffassung gipfelte, dass wir keine Engel, sondern nur unbehaarte Affen sind, wie Thomas Henry Huxley einst in diesem Saal darlegte. Die dritte Revolution war die Entdeckung des «Unbewussten» durch Freud – die Vorstellung, dass unser Verhalten, obwohl wir unser Geschick selbst zu lenken meinen, größtenteils durch ein brodelndes Gemisch aus Motiven und Emotionen bestimmt wird, deren wir uns kaum bewusst sind. Mit anderen Worten, nach Freud ist Ihr bewusstes Leben lediglich eine komplizierte und improvisierte Rationalisierung von Dingen, die Sie in Wirklichkeit aus anderen Gründen tun.

Doch jetzt stehen wir vor der größten Revolution – der Erklärung des menschlichen Gehirns. Das wird sicherlich ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit sein, denn anders als in den früheren wissenschaftlichen Revolutionen geht es hier nicht um die Außenwelt, nicht um Kosmologie, Biologie oder Physik, sondern um uns, um ebenjenes Organ, das die früheren Revolutionen erst ermöglicht hat. Und ich möchte betonen, dass sich diese Erkenntnisse über das menschliche Gehirn nicht nur nachhaltig auf die Naturwissenschaften, sondern auch auf Kunst, Philosophie und Geisteswissenschaften auswirken werden.

Durch das breite Themenspektrum der Vorträge ziehen sich zwei Aspekte wie ein roter Faden. Erstens, wenn wir neurologische Syndrome untersuchen, die lange Zeit als Merkwürdigkeiten oder bloße Anomalien galten und deshalb nicht berücksichtigt wurden, können wir gelegentlich neue Einsichten in die Funktionen des normalen Gehirns gewinnen, das heißt in die Prozesse des gesunden Gehirns. Zweitens, viele Funktionen des Gehirns lassen sich am besten aus einem evolutionären Blickwinkel verstehen.

Es heißt, es gebe im gesamten Universum keine Struktur, die so komplex organisiert ist wie das menschliche Gehirn. Dazu ein paar Zahlen: Das Gehirn besteht aus einhundert Milliarden Nervenzellen oder «Neuronen», welche die Grundbausteine und Funktionseinheiten des Nervensystems bilden. Jedes Neuron stellt etwa 1000 bis 10000 Kontakte, so genannte Synapsen, zu anderen Neuronen her. Hier findet der Informationsaustausch statt. Daraus hat man errechnet, dass die Zahl möglicher Anordnungen und Kombinationen von Gehirnaktivitäten – mit anderen Worten, die Zahl der Gehirnzustände – die Zahl der Elementarteilchen im bekannten Universum übersteigt. Obwohl das mittlerweile allgemein bekannt ist, bin ich immer wieder aufs Neue darüber verblüfft, dass die ganze Vielfalt unserer geistigen Existenz – alle unsere Gefühle und Emotionen, unsere Gedanken, Ambitionen und Liebesregungen, unsere religiösen Überzeugungen und all das, was wir für unser privatestes Selbst halten – lediglich das Produkt dieser winzigen gallertartigen Gebilde in unserem Kopf sind. Sonst gibt es nichts. Wo soll man angesichts dieser verwirrenden Komplexität beginnen? Fangen wir mit einem kleinen Grundkurs in Anatomie an. Im 21. Jahrhundert haben die meisten Menschen eine ungefähre Vorstellung vom Aussehen des Gehirns. Es besteht aus zwei spiegelbildlichen Hälften und sieht aus wie eine Walnuss, die auf einem Stängel sitzt. Dieser Stängel ist der Hirnstamm. Jede Gehirnhälfte ist in vier Lappen unterteilt: Frontallappen, Parietallappen, Okzipitallappen und Temporallappen. Die hintere Region des Okzipitallappens ist für das Sehen verantwortlich. Schädigungen in diesem Bereich können zum Beispiel Blindheit hervorrufen. Der Temporallappen ist für das Hören, die Emotionen und für bestimmte Aspekte der visuellen Wahrnehmung zuständig. Der seitlich gelegene Parietallappen erzeugt die dreidimensionale Repräsentation von der räumlichen Beschaffenheit der Außenwelt und der Lage unseres Körpers in dieser dreidimensionalen Repräsentation. Besonders rätselhaft ist der Stirnlappen. In seiner Zuständigkeit liegen einige der kompliziertesten Aspekte des menschlichen Geistes und Verhaltens, etwa Moralempfinden, Klugheit, Ehrgeiz und andere geistige Strebungen, von denen wir sehr wenig wissen.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Gehirn zu untersuchen. Ich beschäftige mich mit Menschen, die eine Schädigung oder Veränderung in einer eng umschriebenen Region des Gehirns aufweisen. Interessanterweise werden die kognitiven Fähigkeiten von Patienten mit kleineren Läsionen in spezifischen Hirnregionen nicht generell beeinträchtigt. Ihr Verstand ist nicht ausgeschaltet. Oft liegt in diesen Fällen der selektive Verlust einer ganz bestimmten Funktion vor, während andere vollständig erhalten bleiben. In der Regel liefert dies einen verlässlichen Hinweis darauf, dass die betroffene Hirnregion irgendwie an der Steuerung der beeinträchtigten Funktion beteiligt ist. Ich könnte viele Beispiele nennen, will mich hier aber auf einige besonders anschauliche Fälle beschränken.

Da wäre zunächst einmal die Prosopagnosie – die Gesichtsblindheit oder Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen. Wenn der Gyrus fusiformis, eine Hirnstruktur in den Temporallappen, in beiden Gehirnhälften geschädigt ist, kann der Patient keine menschlichen Gesichter mehr erkennen. Er ist nach wie vor in der Lage, Bücher zu lesen, ist also nicht blind. Er ist auch nicht psychotisch oder in irgendeiner anderen Weise psychisch gestört, sondern lediglich unfähig, Menschen zu erkennen, wenn er ihre Gesichter sieht.

Die Prosopagnosie ist allgemein bekannt, doch es gibt ein anderes Syndrom, das viel seltener auftritt: das Capgras-Syndrom bzw. die Doppelgängerillusion. Ein Patient, den ich vor nicht allzu langer Zeit behandelte, hatte sich bei einem Autounfall eine Kopfverletzung zugezogen und lag im Koma. Als er nach etwa zwei Wochen daraus erwachte, konnte ich bei meiner ersten Untersuchung keine neurologischen Schäden feststellen. Doch er litt unter einer hartnäckigen Wahnvorstellung – er sah seine Mutter an und sagte zu mir: «Herr Doktor, diese Frau sieht genauso aus wie meine Mutter, sie ist es aber nicht. Sie ist eine Hochstaplerin.» Wie ist das möglich? Bedenken Sie, dass dieser Patient – ich werde ihn David nennen – in jeder anderen Hinsicht vollkommen gesund war. Er war intelligent, aufmerksam, ein guter Gesprächspartner (wenigstens nach amerikanischen Maßstäben) und litt auch ansonsten unter keinerlei emotionalen Störungen.

Um seine Krankheit richtig zu verstehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass Sehen kein einfacher Vorgang ist. Wenn Sie morgens die Augen öffnen, dann erfassen Sie mit einem einzigen Blick die Dinge in Ihrer Umgebung, sodass der Eindruck entsteht, das Sehen sei ein müheloser und verzögerungsfreier Prozess. Tatsächlich aber haben Sie in jedem Augapfel nur ein winziges, verzerrtes Bild der Welt, das auf dem Kopf steht. Dadurch werden die Fotorezeptoren der Netzhaut erregt, woraufhin Signale durch den Sehnerv in die hinteren Regionen des Gehirns wandern, wo sie in dreißig verschiedenen visuellen Arealen analysiert werden. Erst dann erkennen Sie allmählich, worauf Ihr Blick gerichtet ist. Ist es Ihre Mutter? Ist es eine Schlange? Ein Schwein? Dieser Erkennungsprozess findet in einer kleinen Region des Gehirns statt, die als Gyrus fusiformis bezeichnet wird. Genau dieser Bereich ist bei Menschen, die unter Prosopagnosie leiden, geschädigt. Wenn wir das Bild endlich richtig erkannt haben, wird die Nachricht an die Amygdala geschickt, eine Struktur, die manchmal auch als Tor zum limbischen System bezeichnet wird. Das limbische System ist der emotionale Kern unseres Gehirns, mit dessen Hilfe wir die emotionale Bedeutung des betrachteten Objekts bewerten. Ist es ein Raubtier? Eine Beute, die ich jagen kann? Ein potenzieller Paarungspartner? Ist es der Direktor meines Fachbereichs, dem ich Aufmerksamkeit schenken muss, oder nur ein Fremder, der ohne Interesse für mich ist? Oder ist es gar ein völlig unbedeutendes Objekt, etwa ein Stück Treibholz? Was ist es?

In Davids Fall funktionierten der Gyrus fusiformis und alle visuellen Areale völlig normal, sodass sein Gehirn ihm mitteilte, die Frau in seinem Blickfeld sehe aus wie seine Mutter. Doch wurde das «Kabel», das die visuellen Zentren mit der Amygdala verbindet, durch den Unfall zerschnitten. Folglich blickte David seine Mutter an und dachte: «Sie sieht zwar genauso aus wie meine Mutter, aber wenn sie es ist, warum empfinde ich dann nichts für sie? Nein, das kann unmöglich meine Mutter sein; das ist eine Fremde, die so tut, als wäre sie meine Mutter.» Dies ist die einzige Interpretation, die angesichts der Unterbrechung in Davids Gehirn einen Sinn ergibt.

Wie lässt sich eine so ungewöhnliche Idee am besten überprüfen? Mein Student Bill Hirstein und ich haben in La Jolla zur gleichen Zeit wie Haydn Ellis und Andrew Young in England ein paar einfache Experimente mit galvanischen Hautreaktionen durchgeführt (siehe Kapitel fünf).[1] Unsere Daten ließen mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf schließen, dass in Davids Gehirn eine Unterbrechung zwischen Sehen und Emotion vorliegt, wie es unsere Theorie vorhersagt. Noch verblüffender ist der Umstand, dass David die Stimme seiner Mutter am Telefon sofort erkennt. Hier findet keine Täuschung statt. Doch beträte seine Mutter eine Stunde später denselben Raum, würde er ihr wieder mitteilen, sie sähe zwar aus wie seine Mutter, sei aber eine Hochstaplerin. Diese Anomalie erklärt sich aus der Tatsache, dass eine unabhängige Verbindung zwischen dem auditorischen Kortex im Gyrus temporalis superior und der Amygdala besteht und dass diese Verbindung durch den Unfall höchstwahrscheinlich nicht beschädigt wurde. Daher blieb die akustische Erkenntnisfähigkeit erhalten, während die visuelle ausfiel. Dies ist ein schönes Beispiel für unsere Arbeit: Ein bizarres, scheinbar rätselhaftes neurologisches Syndrom – ein Patient behauptet, seine Mutter sei eine Hochstaplerin – lässt sich ganz einfach mittels bekannter Nervenbahnen im Gehirn erklären.

Unsere emotionale Reaktion auf visuelle Eindrücke ist zweifellos von entscheidender Bedeutung für unser Überleben. Doch die Existenz bestimmter Verbindungen zwischen den visuellen Hirnzentren und dem limbischen System wirft eine weitere interessante Frage auf: Was ist Kunst? Wie reagiert das Gehirn auf Schönheit? Bedenkt man, dass diese Bahnen das Sehen mit den Emotionen verbinden und dass ein wesentliches Merkmal der Kunst eine ästhetisch-emotionale Reaktion auf visuelle Bilder ist, so ist von einer Beteiligung dieser Bahnen auszugehen. Doch davon mehr in einem der kommenden Vorträge.

Werden diese komplizierten Verbindungen im Gehirn schon durch das Genom im menschlichen Fötus festgelegt oder bilden sie sich erst in der frühen Kindheit aus, wenn wir beginnen, mit der Welt zu interagieren? Das ist die so genannte Natur-Kultur-Debatte. Sie ist auch von zentraler Bedeutung für mein nächstes Beispiel: die Phantomglieder. Die meisten Leute verstehen, was mit dem Begriff gemeint ist. Einem Patienten wird ein Arm amputiert, weil sich dort ein bösartiger Tumor gebildet hat oder der Arm bei einem Unfall so schwer verletzt wurde, dass er nicht mehr zu retten ist. Trotz der Amputation hat der Patient das Gefühl, dass der Arm noch da ist. Ein berühmtes Beispiel ist Lord Nelson, der seinen in der Schlacht verlorenen Arm noch lange spüren konnte. (Aus dieser Empfindung leitete er, nicht ganz schlüssig, die Existenz einer immateriellen Seele ab. Wenn ein Arm die physische Vernichtung überleben könne, so seine Überlegung, warum dann nicht auch der ganze menschliche Körper?)

Ich hatte einen Patienten, dessen Arm oberhalb des linken Ellenbogens amputiert worden war. Eines Tages verband ich ihm die Augen, berührte anschließend vorsichtig verschiedene Regionen seines Körpers und bat ihn, mir die betreffenden Stellen anzugeben. Nichts Besonderes geschah, bis ich seine linke Wange berührte und er rief: «O mein Gott, Sie berühren meinen linken Daumen», mit anderen Worten, seinen Phantomdaumen! Er schien genauso überrascht zu sein wie ich. Als ich seine Oberlippe berührte, rief dies eine Empfindung in seinem Phantomzeigefinger hervor, während er eine Berührung seines Unterkiefers deutlich im kleinen Finger seiner Phantomhand spürte. Auf seinem Gesicht war eine vollständige, systematische Karte seiner fehlenden Phantomhand verzeichnet.

Wie kommt das? Genauwie das Capgras-Syndrom sind auch die Phantomglieder ein Rätsel, das selbst Sherlock Holmes Kopfschmerzen bereitet hätte. Was um alles in der Welt geht da vor sich? Die Antwort liefert uns abermals die Hirnanatomie. Die Berührungssignale von der gesamten Hautfläche der linken Körperhälfte werden auf der rechten Großhirnhälfte kartiert, und zwar auf einem senkrechten Streifen Kortexgewebes, den wir als hintere Zentralwindung (Gyrus postcentralis) bezeichnen. In Wirklichkeit gibt es mehrere solche Körperkarten, doch der Einfachheit halber betrachten wir hier nur eine einzige: S1 auf der hinteren Zentralwindung. Diese Karte ist eine genaue Repräsentation der gesamten Körperoberfläche – fast so, als hätte jemand einen winzigen Menschen auf die Gehirnoberfläche gezeichnet. Es handelt sich um den Penfield-‹Homunkulus›, der weitgehend vollständig und durchgehend ist, so wie man es von einer Karte erwartet.

Allerdings gibt es eine Besonderheit: Auf dieser Hirnkarte liegt das Gesicht direkt neben der Hand und nicht, wie man erwarten würde, neben dem Hals. Der Kopf ist gewissermaßen verrutscht. (Warum, ist nicht bekannt. Vielleicht hat es evolutionäre Gründe, vielleicht hat es auch damit zu tun, wie sich das Gehirn beim Fötus oder Kleinkind entwickelt. Auf jeden Fall aber ist es verrutscht.) Damit hatte ich einen Ansatz zur Erklärung des Vorgangs. Wenn ein Arm amputiert wird, empfängt die für die Hand zuständige Kortexregion keine Signale mehr. Sie hungert nach sensorischem Input, sodass der Input von der Gesichtshaut in das brachliegende, eigentlich der Hand zugeordnete Territorium eindringen kann.[2] Sensorische Signale, die vom Gesicht eintreffen, werden nun in den höheren Zentren des Gehirns dahingehend missdeutet, dass sie von der fehlenden Hand stammen. Diese Signale sind so spezifisch, dass die Berührung des Gesichtes mit Eiswürfeln oder warmem Wasser in der Phantomhand ein Gefühl von Kälte oder Wärme hervorruft. Wenn Viktor, einem anderen Patienten, Wasser das Gesicht hinablief, spürte er, wie es an seinem Phantomarm herabtröpfelte. Hob er nun den Arm, fühlte er zu seinem Erstaunen, dass das Wasser – im Widerspruch zu den physikalischen Gesetzen – an seinem Arm hinauflief.

Mit Hilfe eines neuen bildgebenden Verfahrens zur Darstellung des Gehirns (Neuroimaging) – der MEG oder Magnetenzephalographie – überprüften wir unsere Hypothese der ‹Neukartierung› bzw. ‹Cross-Verdrahtung› (Cross Wiring). Auf den Bildern sind die Hirnregionen zu erkennen, die bei der Berührung verschiedener Körperbereiche aktiviert werden. So konnten wir mit Gewissheit feststellen, dass bei Viktor (genau wie bei anderen Armamputierten) durch Berührung seines Gesichts nicht nur die Gesichtsregion, sondern auch die Handregion der sensorischen Karte erregt wurde. Anders im Gehirn eines Nichtamputierten: Dort wird bei Berührung des Gesichts lediglich die Gesichtsregion auf dem Kortex aktiviert. In Viktors Gehirn haben sich also offensichtlich Cross-Verdrahtungen gebildet – eine wichtige Erkenntnis, die uns erlaubt, die Veränderungen in der Anatomie des Gehirns, genauer gesagt, die Veränderungen in seinen sensorischen Karten, mit der Phänomenologie zu korrelieren. Eine solche Verknüpfung zwischen Physiologie und Psychologie stellt eines der Hauptanliegen der kognitiven Neurowissenschaft dar.[3]