Eine Laune Gottes - Margaret Laurence - E-Book

Eine Laune Gottes E-Book

Margaret Laurence

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Beschreibung

»Ein an Perfektion grenzender Roman.« MARGARET ATWOOD Rachel Camerons Leben ist bestimmt von ihrer Arbeit als Lehrerin und den Erwartungen ihrer stark hilfsbedürftigen Mutter. Seit der Vater starb, gibt es außer ihr niemand, der sich um die kränkliche Witwe kümmern könnte. So scheint Rachels Schicksal besiegelt – als Mauerblümchen wird sie in der kanadischen Provinzstadt Manawaka ein gesellschaftlich kontrolliertes und ereignisloses Leben führen. Doch dann begegnet Rachel ihrem ehemaligen Schulfreund Nick wieder, der für die Sommermonate zu Besuch bei seinen Eltern ist. Er geht mit ihr aus und beginnt eine Affäre mit ihr. Und obwohl Rachel ahnt, dass diese Beziehung nicht von Dauer sein kann, stürzt sie sich in dieses Verhältnis, erfährt zum ersten Mal in ihrem Leben körperliche Liebe und beginnt langsam zu begreifen, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen muss, wenn sie sich nicht von den äußeren Umständen erdrücken lassen will ...

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Seitenzahl: 352

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Das Buch

Rachel Cameron ist eine schüchterne Lehrerin, die mit ihrer dominanten Mutter ein zurückgezogenes Leben führt. Vierunddreißig Jahre alt und noch immer unverheiratet, sieht sie ihr Schicksal als Mauerblümchen besiegelt. Doch dann verliebt sie sich zum ersten Mal und beginnt eine Affäre, die ihr Leben auf unvorhergesehene Weise verändert.

Die Autorin

Margaret Laurence, die neben Margaret Atwood und Alice Munro als bedeutendste Autorin Kanadas gilt, wurde 1926 in der Präriestadt Neepawa geboren. Ihre Eltern waren schottischer und irischer Abstammung und starben, als sie noch ein Kind war. 1947 heiratete sie einen Bauingenieur und ging mit ihm nach Afrika. Über Afrika schrieb sie ihre ersten Erzählungen und Romane, ihre bedeutendsten Prosawerke sind jedoch in Kanada in der fiktiven Stadt Manawaka angesiedelt, der ihre Heimatstadt Pate stand. Margaret Laurence starb 1987.

Die Übersetzerin

Monika Baark, 1968

ROMAN

Aus dem kanadischen Englisch

Besuchen Sie uns im Internet:

www.eisele-verlag.de

ISBN978-3-96161-137-9

Die Widmung stammt aus Carl Sandburg, Losers. In: Smoke and Steel. Complete Poems of Carl Sandburg. Harcourt Brace, 1920.

Wir danken dem Canada Council for the Arts für die freundliche Unterstützung.

Die Originalausgabe »A Jest of God« erschien 1966 bei McClelland & Stewart, Toronto.

© 1966 by New End

© 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

Afterword by Margaret Atwood, reproduced with permission of Curtis Brown Group Ltd, London on behalf of O.W. Toad, Ltd

Copyright © O.W. Toad, Ltd, 1988

Umschlaggestaltung: favoritbuero, München

Umschlagabbildung: © Jelena Semic Petrovic/Arcangel

E-Book:

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über die Autorin / Über die Übersetzerin
Titel
Impressum
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
NACHWORT
EMPFEHLUNGEN

Sollte ich Jonahs Grab passieren,Würde ich dort ein wenig verweilen;Denn einmal wurde ich im Finstern verschlungen

The wind blows low, the wind blows high

The snow comes falling from the sky,

Rachel Cameron says she’ll die

For the want of the golden city.

She is handsome, she is pretty,

She is the queen of the golden city.

Natürlich skandieren sie nicht meinen Namen. Es hört sich nur so an, hier am Klassenzimmerfenster, wo ich stehe und ihnen zusehe, denn ich erinnere mich, wie ich selbst zu diesem Lied Seil gesprungen bin, als ich ungefähr so alt war wie die kleinen Mädchen da draußen. Vor siebenundzwanzig Jahren, was unmöglich scheint, als ich selbst sieben war, aber es ist dasselbe braune Ziegelgebäude, nur mit einem neuen Flügel und renoviert. Es hätte mich damals bestimmt überrascht, hätte ich gewusst, dass ich mal hier enden würde, in diesem kleinen Raum, nicht mehr diejenige, die immer krampfhaft gefallen wollte, sondern die dünne Riesin hinter dem Pult, die die Macht hat, ein Kreidestück in der Farbe ihrer Wahl zu nehmen und egal was an die Tafel zu schreiben. Eine Macht, die auszuüben damals lohnend erschien.

Spanish dancers, turn around, Spanish dancers, get out of this town.

Man vergisst diese Lieder, später, aber das Wissen darum muss wie eine Geheimsprache von Kind zu Kind weitergegeben werden – seit wie langer Zeit? Sie wirken wie eine ganz andere Spezies, all diese Generationen von Kindern. Als müssten sie noch immer irgendwo existieren, selbst nachdem ihre Körper grotesk geworden sind und sie den Text und die Melodien vergessen und Enttäuschung gelernt haben und schließlich gestorben sind, und die letzte getrocknete Hülle ihrer selbst zwecks anständigem Begräbnis geschminkt und geschmückt wird von Sterblichen wie Niall Cameron, meinem Vater. Blöder Gedanke. Morbide. Ich darf solchen Gedanken in meinem Kopf keinen Platz einräumen. So etwas ist gefährlich. Ich weiß das.

Nebukadnezar, King of the Jews, Sold his wife for a pair of shoes.

Dieses Lied hier kann ich mir vorstellen, wie es weit zurückreicht durch Zeiten und Sprachen. Skandiert auf Latein vielleicht, mit den gleichen hohen Singsangstimmen selbstgefälliger kleiner Römerinnen, die im Innenhof irgendeiner Villa in Gallien oder Britannien auf den Mosaiken Seil springen, ohne zu ahnen, dass die blauen Hundsköpfigen knurrend vor den Mauern stehen und lauschen. Da. Schon wieder. Das muss aufhören. Das tut mir nicht gut. Sobald ich mich beim Grübeln erwische, muss ich einfach den Schalter umlegen und an etwas anderes denken. Am Ende werde ich noch zur Exzentrikerin, Gott bewahre. Das ist nicht nur meine Einbildung. Ich habe es schon erlebt.

Nicht nur bei Lehrerinnen, natürlich, und nicht nur bei unverheirateten Frauen. Auch Witwen können extrem wunderlich werden, aber die können sich wenigstens mit Trauer herausreden.

Damit muss ich mich sicherlich erstmal noch nicht auseinandersetzen. Vierunddreißig ist ja noch relativ jung. Aber jetzt ist die Zeit, in der man auf der Hut sein muss.

Es klingelt, die Pause ist vorbei. Ich muss schnell meine Kinder einsammeln. Ich muss aufhören, sie als meine Kinder zu bezeichnen, selbst insgeheim. Das geht einfach nicht. Wir sagen es natürlich alle. Selbst Calla sagt es über die Fünftklässlerinnen: »Willst du mal das Plakat sehen, das meine Kinder heute gemalt haben?« Aber die Worte stellen keine Bedrohung für sie dar. Sie empfindet nur eine unbestimmte Art von belustigter Zuneigung und Gereiztheit ihnen gegenüber, allen gleichermaßen.

»Na kommt, zweite Klasse. Schön in eine Reihe stellen.«

Fange ich auch schon an, in diesem affektierten Tonfall zu sprechen, den sich so viele Lehrerinnen aneignen, ohne es zu merken? Anfangs sprechen sie nur mit den Kindern so, aber es wird zur Gewohnheit, und irgendwann können sie überhaupt nur noch so reden. Sapphire Travis macht es die ganze Zeit. Rachel, Liebes, sei ein liebes Mädchen und schenk mir ein winziges Tässchen Tee ein, ja? Die armen Erstklässler. Wie halten sie das nur aus? Kinder haben einen eingebauten Verlogenheitsradar.

»Na, los. Wird das heute noch was? Du meine Güte, James, hör auf zu trödeln.«

Jetzt war ich unnötig streng. Auch hier muss ich aufpassen. Es ist schwierig, die Balance zu finden. Es ist sooft James, den ich so anspreche, aus lauter Angst, bei ihm zu sehr ins Gegenteil zu verfallen.

Warum habe ich mir keinen Mantel angezogen? Ich zittere in diesem Frühlingswind. Meine wärmend verschränkten Arme kommen mir lang und dünn vor. Die letzten Tage sind schön und mild gewesen, doch der Wind von Norden ist immer noch messerscharf. Ich erkälte mich leicht, und wenn ich eine Erkältung habe, geht sie ewig nicht weg und macht mir wirklich das Leben schwer.

James ist wie üblich der Letzte. Dieser Junge kommt grundsätzlich im Schneckentempo ins Klassenzimmer. Beim Verlassen des Raums dagegen scheint er fast abzuheben wie ein Sperling und auf wundersame Weise zu fliegen. Der Anblick seiner drahtigen Zierlichkeit, seiner zauseligen rot-braunen Haare löst bei mir eine verzweifelte Zärtlichkeit aus. Ich frage mich, warum er andere Gefühle in mir weckt? Weil er einzigartig ist, deshalb. Ich darf eigentlich nicht so empfinden. Sie sind alle einzigartig. Welch hehrer Gedanke, einer, den Willard Siddley unterschreiben würde. Natürlich sind sie alle einzigartig, aber wie bei der Gleichheit der Tiere sind manche eben einzigartiger als andere.

Als ich reingehe, ist Calla Mackie im Flur. Ich sollte nicht immer versuchen, den Blickkontakt mit ihr zu vermeiden. Sie ist nett, sie meint es gut. Wenn sie nur etwas normaler aussehen und nicht zweimal die Woche in ihr fantastisches Gotteshaus rennen würde. Sie schiebt sich nach unten durch die lärmende Menge der Kleinen, die die Treppe heraufdrängen wie Fische gegen die Strömung. Calla ist stämmig gebaut, überhaupt nicht dick, aber massig und breit. Sie sagt, sie hätte eigentlich Ukrainerin werden sollen, und tatsächlich hat sie diese slavische Kastenform und starke schwere Knochen. Sie hat grau melierte, glatte Haare, die sie sich mit der Nagelschere selbst schneidet. Ich möchte wetten, sie hat noch nie einen Fuß in einen Friseursalon gesetzt. Sie kämmt sich die Haare hinter die Ohren, schnippelt sie aber fransig über der Stirn wie bei einem Shetlandpony. Sie trägt in der Schule langärmlige Kittel, aber nicht, um ordentlich auszusehen, sondern um jeden Tag denselben braunen Tweedrock und mattgrünen Strickpullover anziehen zu können, ohne dass es auffällt. Vielleicht wäscht sie den Pullover von Zeit zu Zeit und hängt ihn abends zum Trocknen über die Heizung. Was weiß denn ich. Sie überschüttet sich mit Zitronenverbene-Duftwasser. Ihr heutiger Kittel ist aus bräunlichem Chintz und sieht aus wie eine Küchengardine. Arme Calla – was kann sie dafür, dass sie keinen Geschmack hat. Dagegen bin ich geradezu schick.

O Gott. Ich will nicht überheblich sein. Wie kann das passieren, immer noch, diese Anklänge an meine Mutter? Mein dunkelblaues Wollkleid ist drei Jahre alt und viel länger, als es heutzutage modern ist. Ich habe nie die Energie aufgebracht, es zu kürzen. Jetzt hängt es mir wie ein Sack über die Knie. Und die Asche, wo ist die? Ich spiele mich auf. Schon immer tu ich das. Niemand würde es von mir annehmen, wo ich doch so still bin.

»Rachel – ach, Rachel –, komm doch mal kurz.«

»Was ist denn?«

»Warte nach der Schule auf mich«, zischt Calla. »Ich hab was für dich.«

»Ja. Ist gut.«

Sie ist ein großzügiger Mensch. Das weiß ich, und ich sollte es mir nicht ständig in Erinnerung rufen müssen. Aber es ist mir peinlich. Ich weiß nie, was ich sagen soll. Einmal hat sie mir eine ihrer Halsketten geschenkt. Eine grässliche Kette aus polierten Pfirsichkernen. Ich hatte sie nur aus Höflichkeit bewundert. Und dann musste ich sie tragen.

Später Nachmittag, die Kinder malen Bilder. Freie Themenwahl – sie dürfen malen, was sie wollen. Einigen fällt nichts ein. Ich muss Vorschläge machen – das Haus, in dem sie wohnen, was sie letztes Wochenende unternommen haben.

»Hat jemand von euch einen Spaziergang gemacht, in der Natur? Hat jemand von euch Weidenkätzchen gefunden?«

Meine eigene Stimme klingt verlogen in meinen Ohren, wie Peter Hase, und ich bemerke, wie ich neben meinem Pult stehe und ein neues Stück orangefarbene Kreide so fest in der Hand halte, dass es zerbricht. Aber die Kinder scheinen es nicht mitbekommen zu haben. Ein kleiner Antwortchor erhebt sich – natürlich sind es die Mädchen.

»Ich! Ich, Miss Cameron.«

»Ich und mein Bruder, wir haben tausend Weidenkätzchen mindestens gefunden.«

Interessante Geschöpfe, diese sehr jungen Mädchen. Sie sind oft so gefallsüchtig, dass sie Lügengeschichten erzählen, ohne es richtig zu bemerken. Ich glaube kaum, dass mehr als eine Handvoll von ihnen tatsächlich in der Natur war. Sie behaupten es nur meinetwegen. Und dennoch fühle ich mich auf eine Weise unbefangen in ihrer Gegenwart, wie ich es in Gegenwart der Jungs nicht tue, die schon automatisch spotten, trotz ihrer jungen Jahre.

Außer James Doherty. Er ist zu beschäftigt mit seinen Belangen, um sich um andere Dinge zu kümmern. Er geht seinen eigenen Weg, als würde er die Außenwelt erdulden, aber eigentlich nicht daran glauben. Seine schulischen Leistungen sind, allgemein gesprochen, schwach. Und doch weiß er unfassbar viel darüber, wie Autos funktionieren und Elektrizität und Flugzeuge. Das mit den Autos kann ich verstehen. Das Wissen hat er aufgeschnappt, weil sein Vater in der Autowerkstatt von Manawaka arbeitet. Aber woher hat er den Rest? Die Familie ist nicht gebildet. Von zu Hause kommt keine Unterstützung. Seine Eltern haben vermutlich noch nie in ihrem Leben ein Buch aufgeschlagen. Grausam eigentlich, dass er mit den beiden zusammen hier aufkreuzen musste. Grace Doherty ist wirklich keine Leuchte. Sie weiß nicht, was James für ein Kind ist. Ihre einzige Sorge ist, dass er ein gutes Zeugnis nach Hause bringt, nicht, weil das der Beweis wäre, dass er etwas gelernt hat, sondern nur, damit er nicht dümmer dasteht als der Sohn ihrer Schwägerin.

»Dann lass doch mal sehen, was du gemacht hast, James. Darf ich?«

Er reicht mir das Blatt. Zögerlich, weil es ihm wichtig ist. Bei ihm sind es weder Häuser noch mickrige Weidenkätzchen. Das Raumschiff ist wundersam komplex und mit vielen Details ausgestattet – Griffen, Stützen, Schalttafeln, Sauerstofftanks, hydroponische Behälter, um im All Gemüse anzubauen, seltsame und unerlässliche Ausbuchtungen, spitze Flossen, birnenförmige Fenster und kleine knollige Männchen, die eingemummelt in Raumanzügen auf schwankenden Seilen das Schiff besteigen, mit dickem Bleistift, wie Engel auf der Jakobsleiter.

»Sehr gut, James. Und was ist dieses kleine Etwas hier?«

Und er erklärt, entlässt einen Redeschwall, um das Ding verständlich zu machen.

Ich sage – großartig. Er nimmt das Papier wortlos wieder an sich, glücklich. Doch als ich beim nächsten Kind weitermache, sehe ich mich gezwungen, noch einmal großartig zu sagen, diesmal zu Francine MacVey, einer jungen Dame von haarsträubender Einfallslosigkeit. Der unnatürliche Glanz, die geschürzten Lippen und gebogenen Wimpern sind direkt abgekupfert aus irgendeinem billigen Malbuch von Schneewittchen oder irgendeinem Kino-Püppchen. Wie ungerecht gegenüber James, mein Lob auf diese Weise zu schmälern. Nicht auszudenken, er oder irgendeiner von ihnen käme dahinter, wie sehr ich ihn schätze. Sie würden mich schikanieren, mit Sicherheit, aber es wäre nichts im Vergleich dazu, wie sie ihn schikanieren würden. Sie würden ihn beschimpfen – dass Worte einem nichts anhaben können, das ist so wohlfeil, so kalt und hässlich. Diese Vorstellung macht mir schreckliche Angst. Aber auch James wäre grausam, wenn er es wüsste. Er würde einen Weg finden, um verletzend zu sein. Er müsste es sein, aus irgendeinem Bedürfnis heraus, sich vor mir zu schützen. Das ist es, was mich am schmerzlichsten trifft.

Nach der Schule sitze ich an meinem Pult und warte, dass Calla auftaucht. Doch als es klopft und die Tür aufgeht, ist es Willard Siddley. Er ist immer sehr nett zu mir. Ich kann’s nicht anders sagen. Es gibt eigentlich keinen Grund, ihn nicht zu mögen, keinerlei Grund. Es ist diese überhebliche Art, die er an sich hat, glaube ich, irgendwie darauf zu bestehen, dass alles, was er sagt, unglaublich bedeutsam sei, und wer das nicht erkennt, hat eben Pech gehabt. Aber er ist ein guter Direktor. Daran habe ich keinen Zweifel. Alle finden das.

»Ein sehr rätselhaftes Lächeln, Rachel. Soll das die Sphinx oder die Mona Lisa sein?«

Sein Humor. Mir war nicht klar, dass ich gelächelt habe. Wenn das stimmt, dann allenfalls aus Nervosität. Was lächerlich ist. Ich habe nichts zu befürchten. Soweit ich weiß, hat er der Schulbehörde nie etwas Schlechtes berichtet über meinen Unterricht. Ich weiß nicht, wie ich überhaupt darauf komme. Ich ahne, dass mein Gesicht diese blasse Knetgummifarbe annimmt wie immer, wenn ich aus dem Konzept gebracht werde.

»Mir war nicht klar, dass ich gelächelt habe.« Ich muss meine Anwesenheit erklären. »Ich wollte gerade los. Ich hab mir nur noch mal die Kopien durchgesehen für die …«

»Ja«, sagt Willard. »Nun, ich will Sie auch gar nicht aufhalten.«

Ich weiß, dass ich jetzt nicht aufstehen darf, bis er weg ist. Ich bin außergewöhnlich groß für eine Frau, und Willard ist kleiner als ich. Wann immer möglich, richtet er es so ein, dass bei einem Gespräch entweder er sitzt oder ich, damit es keinen Vergleich gibt. Er hasst es, als kleiner Mann zu gelten. Er kompensiert seine, wie er offenbar meint, gedrungene Gestalt, indem er sechshundertmal energischer ist als nötig. Das nennt er Effizienz. Er liest Bücher über Arbeitsablaufstudien und zeichnet Tabellen, um zu lernen, wie man Dinge im Kopf behält, um sie nicht in den Beinen haben zu müssen.

Er schreitet auf mein Lehrerpult zu, stützt sich mit beiden Händen auf die Kante, beugt sich vor und sieht mich mit ernstem Blick durch seine Brillengläser an. Seine Augen sind blassblau wie die toten Augen der tiefgefrorenen Maränen, die es in meiner Kindheit im Winter bei uns zu essen gab, und dieser Fisch blieb mir immer im Hals stecken, wegen der Augen.

James hat heute in der großen Pause Gil Maitland ein Bein gestellt, und Gil stürzte vor ihm in den Kies. Ich hab’s gesehen. Ich stand in der Nähe, halb abgewandt, also musste ich nicht unbedingt durchblicken lassen, dass ich es gesehen hatte. Willard hatte es doch auch gesehen, oder? Das ist es, was er jetzt will. »Nur ganz kurz, Rachel, ich bin kein Freund von altmodischen Disziplinarmaßnahmen, wie Sie sicherlich wissen, aber wir müssen ein Kind vor seiner eigenen Gewalttätigkeit schützen – wir dürfen nicht zögern, nicht wahr, Rachel, wo es doch nur im Interesse des …« Ich weiß, er wird es sagen. Was er nicht weiß, ist, dass Gil gestern mit voller Absicht von der Wippe gesprungen ist, als James auf dem anderen Ende saß, hoch oben in der Luft, und die Wippe ist zu Boden gekracht. Ich bin nicht hingegangen zu James, obwohl ich wusste, dass er sich wehgetan hatte. Das tu ich nie, weil ich weiß, ich darf es nur dann, wenn das Kind weint. Er hat natürlich nicht geweint. Aber heute hätte ich ihn wahrscheinlich zurechtweisen müssen. Man stellt anderen Kindern kein Bein. Willard greift bei den Jungs gern zum Riemen. Angeblich als letzte Instanz. Er sucht allerdings ständig nach einer Gelegenheit.

»Was gibt’s denn?« Eine Stunde scheint vergangen zu sein, seit er gesprochen hat, dabei ist es nur eine Sekunde. Ich kann es einfach nicht lassen mit diesem blöden besorgten Unterton. »Stimmt irgendwas nicht?«

»O nein«, sagt Willard und wirkt überrascht. »Angela und ich wollten Sie nur heute Abend zum Essen einladen, das ist alles.«

Das ist alles, was er zu sagen hatte. Eine Einladung zum Essen. Angela, seine zickige, sich um alles kümmernde Frau, die ständig den nicht-liierten Lehrern Gutes tun will. Ich habe keine Lust. Ich kann nicht, ich kann sogar wirklich nicht.

»Oh – danke –, das ist furchtbar nett von Ihnen, aber ich fürchte, ich kann nicht. Heute hat meine Mutter ihren Bridge-Abend. Ich bereite immer den Kaffee und die Häppchen vor. Sie rotiert, wenn sie das alles allein tun muss.«

Willard nickt. Er hat irgendwie etwas Reptilienhaftes. Nicht wie eine Schlange – eher wie eine Eidechse, geschmeidig, trockenhäutig, flink, und jetzt zuckt er mit den Augen hin und her, schnell und gerissen linst er mich an und glaubt, über mich Bescheid zu wissen. Seine Hände sind gesprenkelt mit Sommersprossen, und kleine Härchen sprießen sogar auf seinen Fingerknöcheln.

»Tja, schade, dass Sie’s nicht schaffen«, sagt er. »Ein alter Bekannter von Ihnen kommt auch.«

Dann ist er schon an der Tür, mit diesen hastigen Schritten, die er an sich hat.

»Wer denn?«

Er dreht sich um und droht mir mit dem Finger.

»Nein, nein. Jetzt ist es zu spät. Oder wollen Sie sich’s doch nochmal überlegen?«

»Tut mir leid. Wie gesagt – ich kann nicht.«

Er ist weg. Meine Hände, wie sie auf dem Pult liegen, sind zu groß. Groß und dünn wie leere Handschuhe.

Warum musste ich ihn das fragen? Auf diese Art? So übereifrig? Klang das so? Als könnte ich kaum erwarten, es zu erfahren? Und wie gehässig von ihm, so zu antworten. Calla sagte mal zu ihm: »Sei nicht gemein, Willard«, nachdem er irgendetwas zu mir gesagt hatte, und er hatte erwidert: »Ach, kommen Sie, das war doch nur ein Scherz!«

Erst jetzt, wo ich mich auf meine Hände konzentriere, die Nägel schön manikürt und mit farblosem Nagellack, geht mir noch etwas anderes auf. Als Willard Siddley seine fleckigen pelzigen Hände auf meinem Tisch liegen hatte, hätte ich sie gern berührt. Um zu sehen, wie sich die Härchen anfühlen. Dennoch stößt er mich ab.

Nein. Stimmt nicht. So war’s nicht. Alles nur Einbildung, mal wieder.

»Hallo, Kindchen.«

Calla. Ich wünschte, sie würde mich nicht immer Kindchen nennen. Es hört sich lächerlich an. Sie soll das nicht, sie kann’s aber einfach nicht lassen. Sie hat, wie ich jetzt sehe, einen Blumentopf dabei. Eine Hyazinthe, eine dicke Knolle, die kurz davor ist, ihre lilablaue Blüte zur Welt zu bringen.

»Hier, für dich. Für dein Pult. Damit auch du überzeugt bist, der Frühling naht.«

»Calla – wie schön. Wie lieb von dir.« Ist es tatsächlich, und ich bedanke mich nicht genug. Vielleicht bemerkt sie, wie unangenehm mir ihre Großzügigkeit ist. »Tausend Dank. Das wäre aber wirklich nicht nötig gewesen.«

»Ach, Quatsch«, sagt Calla und wedelt mit ihrem stämmigen, in Chintz gehüllten Arm. »Ich hab welche für den Tabernakel besorgt. Ich bin diese Woche dran mit Blumen. Da dachte ich, hol ich doch einfach zwei Töpfe mehr, einen für dich und einen für mich. Hübsches Exemplar, nicht? Die sind von Zimmer. Es gab auch noch traumhafte Lilien, aber wie du weißt, steh ich mit denen ein bisschen auf Kriegsfuß.«

Callas Mutter hatte eine ausgesprochene Vorliebe für weiße Lilien und benannte ihre einzige Tochter nach einer Lilienart. Calla hasst ihren Namen, kein Wunder, man kann sich wenig Unlilienhafteres vorstellen. Wenn überhaupt, ist sie eine Sonnenblume, kühn, stark, schlicht und dennoch irgendwie aufstrebend, wobei mir ihr Tabernakel wie ein wahrhaft seltsamer Weg dafür vorkommt.

»Heute Abend ist ein Sondergottesdienst«, sagt Calla beinahe schüchtern, mit dem hoffnungsvollen kleinen Stimmchen, das sie für diesen einen Zweck reserviert hat. »Eine Gastpredigerin, soll sich wirklich lohnen. Hast du nicht vielleicht Lust, mitzukommen, Rachel?«

Ich bin schon ein paarmal mit ihr mitgegangen, wider besseres Wissen. Sie singen jazzige Kirchenlieder, und die Leute stehen auf, um Zeugnis abzulegen. Mir war das Ganze so peinlich, dass ich nicht wusste, wohin ich gucken sollte. Wie können diese Leute sich so lächerlich machen, auch noch in aller Öffentlichkeit?

»Oh, das tut mir schrecklich leid, Calla. Ich würde ja gern, aber heute ist Mutters Bridge-Abend.«

»Du gehst nicht genug unter Leute«, sagt Calla stirnrunzelnd.

Ich weiß ja, sie macht sich nur Sorgen, aber was geht sie das an?

»Es geht mich natürlich nichts an«, sagt sie, als könnte sie Gedanken lesen. »Aber – na ja, auch wenn du nicht gläubig bist, man kommt zumindest mal raus. Für mich ist das mein Fels in der Brandung, weißt du, Kindchen, aber selbst wenn du’s anders siehst, würde es dir immer noch …«

Hält sie mich für so bedürftig? Alles, nur um abends mal vor die Tür zu kommen?

»Beim nächsten Sondergottesdienst komme ich mit«, höre ich mich zusichern.

»Ach, na ja – fühl dich zu nichts gezwungen. Ich wollte dich nicht …«

»Nein, nein, ich komm ja gern mit. Ehrlich. Nur ausgerechnet heute Abend …«

»Klar. Okay. Na ja, wir werden sehen.«

Zumindest habe ich es verschoben, und vielleicht habe ich ja bis dahin eine vernünftige Ausrede, oder ich bin tot.

Ihre enttäuschte Miene beim Rausgehen hätte ich lieber nicht bemerkt. Wollte sie mich doch tatsächlich mit Hyazinthen bestechen – Frechheit.

Endlich kann ich los. Die Flure sind leer und still, nur von oben höre ich den Hausmeister mit Besen und Kehrblech klappern. Es ist länger hell in letzter Zeit, die Dämmerung hat sich noch nicht ganz über die Straßen gesenkt. Die Ahornbäume heben sich dunkel und verästelt gegen den weißen, gar nicht warmen Himmel ab. Die Blätter werden noch einen Monat brauchen. Die Bürgersteige aus Zement sind fast trocken, der letzte Rest geschmolzenen Schnees ist versickert. Ich biege in die River Street ein, passiere die stillen dunklen Ziegelhäuser, die zu groß sind für ihre verbliebenen Bewohner, gebaut von irgendwelchen Großvätern, die vor langer Zeit mit einer Ziegelei oder dem ersten Schlachterladen zu Geld gekommen sind. Vor langer Zeit, also einem halben Jahrhundert. Hier ist nichts alt, aber es wirkt alt. Die Holzhäuser altern schnell, und auch am Ziegelstein haben fünfzig Jahre Schneestürme und glühend heiße Sommer gezehrt. Sie werden ausgestochen durch die neuen Bungalows, die aussehen wie pastellfarbene Kuchen aus der Konditorei, identisch, frisch, geschmacklos. Das hier gilt als bessere Gegend. Nicht wie die andere Seite der Bahnschienen, wo die Hütten sind und das Unkraut bis zum Knie wachsen darf und nicht gewissenhaft gemäht wird, wo ein paar Schwarzhändler kraft selbst gebrauten Fusels neue Chevrolets fahren. Ach nein – so war das früher, in meiner Kindheit, und manchmal bin ich mit Stacey dort herumgezogen, weil sie keine Angst hatte. Wie es heutzutage ist, weiß ich nicht. Die Hälfte meiner Kinder lebt in dem Stadtteil. Ich bin dort nie, ich kenne es nur vom Hörensagen, verzerrte Stadtlegenden, oder irgendein Kind gewährt mir einen kurzen Einblick.

Wie kalt der Wind schon wieder ist. Ich hätte einen Schal und meine Wollhandschuhe anziehen sollen. Gerade erst bin ich diesen üblen hartnäckigen Husten losgeworden. Den will ich auf keinen Fall wiederhaben. Wenn ich ein bisschen zunehmen könnte, würde ich die Kälte nicht so spüren. Aber ich war immer zu dünn, genau wie Papa. Stacey kommt nach Mutter, demzufolge hat sie eine gute Figur. Oder hatte. Seit der Geburt ihrer letzten beiden Kinder habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich habe meine Schwester seit sieben Jahren nicht gesehen. Sie kommt nicht mehr hierher. Wozu auch? Sie lebt seit Jahren woanders. Sie hat ihr eigenes Zuhause und macht sich nicht die Mühe, uns zu besuchen, nicht mal, damit Mutter die Kinder sehen kann. Stacey weiß eben, was sie will. Sie wusste von Anfang an, was sie sich am meisten wünschte, nämlich Manawaka so weit wie möglich hinter sich zu lassen. Sie hat keinen Moment gezögert, um genau das zu tun.

Mein Hauptfehler war es, als Jüngere geboren zu werden. Nein. Was ich falsch gemacht habe, ist, hierher zurückzukommen, nachdem mir schon die Flucht gelungen war. Ein Mensch muss skrupellos sein. Man muss sagen Ich gehe und darf sich nicht zur Rückkehr überreden lassen.

Aber wie hätte ich das tun sollen? Nach Papas Tod konnte ich nicht zu Ende studieren. Es war kein Geld da. Niemand von uns hatte geahnt, wie wenig er besaß, bis er starb. Sein Geschäft war immer gut gelaufen, dachten wir. Mutter sagte: »Ich sag’s nicht gern, aber ich weiß genau, wo das ganze Geld gelandet ist.« Wenn sie es nicht gern sagte, warum sagte sie es dann? Danach hieß es: »Nur ein Jahr, Rachel, und dann sehen wir weiter.« Sehen wir was weiter? Sie konnte ja schließlich nicht wegziehen – das verstehe ich. An jedem anderen Ort der Welt wäre sie verloren. Stacey war schon verheiratet und hatte ein Kind, und Mac verkaufte an der Westküste Enzyklopädien. Sie sagte, ich müsse doch einsehen, wie unmöglich es für sie wäre. Ja, sah ich ein, sehe ich ein. Sah ich, seh ich, Sesam öffne dich. Von Pontius zu Pilatus. Was hätte ich denn tun sollen?

Seit vierzehn Jahren bin ich Lehrerin in Manawaka.

Ein leises Kichern. Den Blick zu Boden gerichtet, bin ich vor mich hingelaufen. Wer ist es?

»Hallo, Miss Cameron.«

»Ach – hallo, Clare. Hallo, Carol.«

Die beiden waren bei mir in der zweiten Klasse. Jetzt müssten sie ungefähr sechzehn sein. Ihre Haare sind unglaublich. Aufgetürmt, fein gesponnen wie die hohe helle konische Masse aus Zuckerfäden, die Zuckerwatte, die wir uns früher immer auf dem Jahrmarkt gekauft haben. Sie sind beinahe weiß, die Farbe nennt sich Silberblond. So viel weiß ich. Das ist kein Geheimnis. Die Frisur hält durch Toupieren, und die Farbe wird aufgesprüht, und das Ganze wird mit Lack fixiert wie Eis auf einer Schneewehe. Sie sehen aus wie Zwillinge aus dem All. Oder nein, eigentlich nicht wie Zwillinge. Wie eine andere Spezies. Venusianerinnen. Aber das ist auch falsch. Das hier ist ihr Planet. Sie sind es, die hier jetzt leben.

Ich kenne sie fast ihr ganzes Leben lang. Aber es scheint nicht so. Ist vierunddreißig für sie vorsintflutlich? Warum lachen sie? Ich muss doch keine Angst haben, dieses Lachen hat nichts Bedrohliches. Worüber sollten sie sich mokieren?

Ein Mal pro Woche lasse ich mir bei Riché die Haare machen. Früher, als ich anfing, zum Friseur zu gehen, mit sechzehn, hieß der Laden noch Lou’s Beauty Salon. Das fänden sie wahrscheinlich amüsant, die beiden. Ich sage zu dem Mädchen: »So wenig Locken wie möglich, wenn’s geht.« Also wird es am Ende genauso gemacht wie immer, maulwurfsbraun mit unscheinbaren Wellen. Man stelle sich vor, ich würde eines Tages sagen: »Machen Sie’s mir wie Zuckerwatte, aufgetürmt, und zwar in Gold?« Da würden sie herzhaft lachen. Bei meiner Größe. Was für alberne Ideen ich habe. Was ich mich wirklich frage, ist, woher können die Venusianerinnen das alles? Sie lassen sich nicht die Haare machen. Wer bringt es ihnen bei? Ich vermute, sie sind jung genug, um Leute zu fragen. In dem Alter ist es keine Schande, etwas nicht zu wissen.

Japonica Street. Unser Haus steht immer noch inmitten von Fichten, so wie ich es schon ewig in Erinnerung habe. Keine anderen Bäume sind so schützend dunkel, halten neugierige Blicke oder die Sonne im Sommer fern, die Wipfel sind höher als Häuser, die niedrigen Äste hängen schwer auf den Boden wie die grobknochigen grünschwarz gefiederten Flügel ausgestorbener Riesenvögel. Das Haus ist nicht groß – was mich immer wieder überrascht. Genau wie es meine Kinder überraschen wird, als Erwachsene zurückzukehren, sich in ihrem Klassenzimmer umzusehen und zu erkennen, wie klein die Schreibtische sind. Das Haus wirkte immer enorm groß, und so habe ich es noch heute vor Augen. Rostroter Ziegelstein, nichts, was es abhebt oder unterscheidet von den anderen Ziegelhäusern in der Nähe. Nichts, bis auf das Schild und den Umstand, dass das Erdgeschoss nicht uns gehört.

In meiner Kindheit war das Schild ein bemaltes Holzbrett, schwarze Lettern auf blassgrauem Hintergrund: Bestattungsinstitut Cameron. Andere Zeiten, andere Sitten, verkündete mein Vater später auf eine für mich nicht nachvollziehbare Weise lachend, woraufhin er von Mutter gerügt wurde. Das neue Schild war pechschwarz mit goldfarbenen Lettern: Bestattungshaus Cameron. Nach seinem Tod und dem Verkauf des Unternehmens ging das Umformulieren weiter. Tag und Nacht blitzt nun in blauem Neon Japonica Kapelle – Bestattungen. Jetzt muss nur noch einer kommen und das Wort Bestattungen streichen. Ein hässliches Wort, das nur so strotzt vor Sterblichkeit. In Manawaka stirbt man nicht, zumindest nicht auf dieser Seite der Bahnschienen. Wir sind eine Ansammlung von Unsterblichen. Wir gehen hinüber, durch Callas Himmelstor aus Topas und Azur vielleicht, aber sterben tun wir nicht. Der Tod ist unhöflich, ungehobelt, und wer ihm auf der Straße begegnet, sollte ihn tunlichst ignorieren.

In jenen Erdgeschossräumen, wo ich nichts zu suchen hatte, verbrachte mein Vater sein Leben. Damals konnte ich an nichts anderes denken als daran, wie peinlich es war, die Tochter eines Menschen zu sein, der diesem Handwerk nachging. Ich kam gar nicht darauf, mir Gedanken um ihn zu machen, ob er sich nicht vielleicht wohlfühlte unter ihnen, den Sprachlosen, und in unserem Haus fehl am Platz, angesichts dessen, wie es bei uns war. Ich hatte nie die Gelegenheit, ihn zu fragen. Als mir die Frage schließlich einfiel, war es dafür zu spät, und sie wäre auch viel zu einschneidend gewesen.

Wir hatten das Glück, hier weiter wohnen zu können, Mutter und ich. Wir verkauften das gesamte Haus, aber deutlich unter Wert, um bleiben zu dürfen. Hector Jonas hat ein Schnäppchen gemacht. Er besaß schon ein Haus. Er wollte das Obergeschoss von diesem gar nicht haben. Wenigstens wohnen wir mietfrei bis in alle Ewigkeit, oder zumindest lange genug für unsere Zwecke. Manchmal frage ich mich, was ich wohl tun werde, wenn Mutter stirbt. Werde ich bleiben, oder was?

»Hallo, Liebling. Bist du nicht etwas spät dran heute?«

»Hallo, Mutter. Nicht sehr. Ich musste noch ein bisschen Ordnung schaffen.«

»Na ja, ich hab ein schönes Lammkotelett, ich hoffe, du möchtest es essen. Du isst nicht genug in letzter Zeit, Rachel.«

»Mir fehlt aber nichts.«

»Du sagst zwar, dir fehlt nichts, aber vergiss nicht, ich kenne dich ganz gut, Liebling.«

»Ja, ich weiß.«

»Du bist zu gewissenhaft, Rachel, das ist dein Problem. Andere lassen es nicht zu, dass ihnen die Arbeit so aufs Gemüt schlägt.«

»Tut sie nicht. Mir fehlt nichts. Ich bin ein bisschen müde vielleicht, aber das ist doch normal.«

»Du machst dir einfach zu viele Gedanken, ob sie was lernen oder nicht. Aber, liebe Güte, du hast ihnen ja nicht ihr Gehirn gegeben, nicht wahr. Das ist nicht deine Sache. Es wird dir doch ohnehin nicht gedankt, wenn du mich fragst.«

Sie steht neben dem Herd. Ihr Herz macht ihr zu schaffen und könnte sie jeden Moment überwältigen. Doch ihre Fesseln sind schlank, und sie trägt mit Stolz hauchzarte Nylonstrümpfe und niemals praktische Schuhe. Sie lässt sich jede Woche die Haare machen, freche steife graue Korkenzieherlocken, und ihr Brillengestell ist delfinblau und elfenhaft. Woher kommt dieses Neckische, wo sie doch diejenige ist, die jeden Abend vor dem Schlafengehen die Sofakissen aufschütteln und sämtliche Aschenbecher im Haus ausleeren und dafür sorgen muss, dass das Haus aussieht, als hätte kein sterbliches Wesen je einen Fuß hineingesetzt?

»Was esst ihr denn heute?«

»Ich dachte an Spargelhäppchen«, sagt sie ernsthaft, »und diese Sellerie-Schinken-Mischung. Die hab ich schon fertig. Du musst sie nur noch belegen. Könntest du die Häppchen machen oder soll ich?«

»Ich kann sie machen. Lass mal.«

»Na ja, wir könnten sie zusammen machen und dann in die Kühlung legen. Das wäre vielleicht einfacher.«

»Wie du willst. Dann machen wir sie nach dem Essen.«

»Mir ist es gleich, Liebling, wie du möchtest«, sagt sie und bildet sich ein, sie meine das ernst.

Wie seltsam, dass ich nicht mal weiß, wie alt sie ist. Sie hat es mir nie verraten, und ich soll sie nicht fragen. In der Welt, die sie bewohnt, ist Alter noch immer etwas so Unausprechliches wie der Tod. Bin ich so weit entfernt von den Kindern, die nicht mir gehören? Sie ist Mitte siebzig, so viel kann ich spekulieren, da sie mich spät bekommen hat, doch die genaue Positionierung ist ihr Kapital, ein wohlgehütetes Geheimnis. Und es spielt eine Rolle. Es bedeutet etwas. Glaubt sie, irgendjemanden kümmert’s, ob sie sechzig oder neunzig ist?

Ich hätte Willards Einladung zum Essen annehmen können. Ich hätte Calla begleiten können. Ich wünschte, ich hätte es getan. Wenn ich’s bedenke, weiß ich eigentlich gar nicht, warum ich es nicht getan habe, das eine oder das andere.

Bridge ist ihr einziges Ventil, ihre einzige Unterhaltung. Es sei ihr gegönnt. Jeder anständige Mensch wäre nur zu froh.

Ich bin’s ja auch, im Grunde meines Herzens. Ich werde mich besser fühlen, gestärkter, wenn ich gegessen habe. Ich gönne ihn ihr, diesen einen Bridge-Abend mit den einzigen drei uralten Freundinnen. Wie könnte ich das nicht tun? Alles andere wäre unanständig.

*

Gott sei Dank, Gott sei Dank. Endlich sind sie weg. Die letzte Tasse ist abgewaschen und steht im Schrank. Das Wohnzimmer ist aufgeräumt genug für ihren Geschmack. Es könnte ein mittsommerlicher Hexensabbat sein, gemessen an dem Aufwand, den wir betreiben – Spitzentischdecke, das Spode-Porzellan, das Silbertablett für die Häppchen, die kleinen Schälchen mit den gesalzenen Knabbernüsschen. Na ja, es findet ja nur ein Mal im Monat bei uns statt. Ich kann mich eigentlich nicht beklagen. Und für sie ist es ja wirklich nett. Sie genießt es. Ihr Gesichtsausdruck wird lebhaft und ihre Stimme fast fröhlich: »Verla, du spielst doch wohl nicht Sans Atout – das würdest du nicht wagen! Oh, Mädchen, ist sie nicht ein gemeines Biest?« Sie hat dieser Tage nicht allzu viele Interessen. Sie liest grundsätzlich nicht und kann Musik nicht ertragen. Ihre Welt ist sehr klein geworden. Wobei sie das schon immer war. Es ist nie anders gewesen. Nur dieses Haus und der schwindende Kreis von Freundinnen. Sie und Papa hatten schon lange aufgehört, sich zu unterhalten, schon zur Zeit meiner Geburt. Sie hat ihn immer ermahnt, sich nicht in den Sesseln zurückzulehnen, wegen seines Haaröls. Dann legte sie Häkeldeckchen über sämtliche Sesselrücken. Und schließlich auch über die Armlehnen, als glaubte sie, er habe nie richtig saubere Hände, in Anbetracht seiner Arbeit. Vielleicht stimmt das aber auch gar nicht. Vielleicht kam es mir nur so vor.

Dieses Zimmer ist schon mein Leben lang meins. Wie mädchenhaft es ist, wie altbacken. Die zierliche weiße Frisierkommode, der runde Spiegel mit dem weißen Holzrahmen und den geschnitzten Rosen, das weiß gestrichene Metallbett mit dem weiß gestrichenen Metallornament, das das Kopfteil schmückt wie eine gestärkte, vergessene Haarschleife. Sicher könnte ich mir neue Möbel leisten. Immerhin ist es mein Gehalt, von dem wir leben. Sie würde sagen, es sei Verschwendung, absolut brauchbare Möbel wegzuwerfen. Und so gesehen stimmt das wahrscheinlich sogar.

Ich bürste mir immer mit einhundert Bürstenstrichen die Haare. Ich schaffe es nicht, meinem Blick im Spiegel auszuweichen. Das schmale eckige Gesicht mit den viel zu weit auseinanderstehenden, grauen Augen, die mich anstarren.

Ich sehe nicht alt aus. Ich sehe nicht älter aus als dreißig. Oder sehe ich mein Gesicht falsch? Woher soll ich wissen, wie andere mich sehen? Vor ungefähr einem halben Jahr wollte einer der Händler, der wegen Hector Jonas da war, mich zum Essen ausführen, und ich Idiotin habe zugesagt. Wir gingen abends ins Regal Café, und ich hatte die ganze Zeit Angst, es könnte mich jemand sehen und wissen, dass der Mann Balsamierflüssigkeit verkauft. Klar, irgendeiner muss sie ja verkaufen. Aber als er meinen Knochenbau lobte, da war es vorbei. Wie ein alter Ägypter, ein Pharaonenbestatter, der zu viel Geheimwissen hat über Innereien und Gebeine. Habe ich einen guten Knochenbau? Kann ich nicht sagen. Ich kann es nicht beurteilen.

Geh ins Bett, Rachel. Und hoffe darauf, dass du schlafen kannst.

Die Stimmen der Mädchen, der alten Damen, klingen noch nach, das Plappern, das schrille Gelächter, wobei sie sich die Hand auf den Busen pressen aus Angst um ihr Herz. Sie fühlen sich verpflichtet, ein paar Bemerkungen an mich zu richten, Bemerkungen, die eine komfortable Stabilität erlangt haben: »Wie läuft’s in der Schule, Rachel?« Gut, danke. »Die halten dich bestimmt auf Trab, was, die Kleinen?« Ja, allerdings. »Also, ich finde es fabelhaft, wie gut du zurechtkommst – ich finde alle Menschen fabelhaft, die sich für den Lehrerberuf entscheiden, für diese Arbeit.« Ach, mir macht’s Spaß. »Na, das ist doch fabelhaft – meinst du nicht auch, May?« Und Mutter nickt und sagt ja, ganz fabelhaft, und Rachel sei die geborene Lehrerin.

Mein Gott. Wie halte ich das nur …

Hör auf. Hör auf, Rachel. Ruhig. Reiß dich zusammen. Entspann dich. Schlaf. Versuch’s.

Doktor Raven würde mir Schlaftabletten geben. Warum, in aller Welt, sage ich nicht ja? Sie machen mir Angst. Was, wenn man abhängig würde? Liegt so etwas in der Familie? Ach Unsinn, doch nicht von Medikamenten. Es waren keine Medikamente bei ihm. »Deinem Vater geht es heute nicht gut.« Ihre gemarterte Stimme. So etwas ist nichts Physisches, um Himmels willen, nichts Erbliches. Und doch sehe ich mich schon Jahre später in der Schule an meinem Pult sitzen, nie ganz wach, dauerhaft dösend und dahindämmernd, mit sanft nickendem Kopf und langsam und unbewusst aufklappendem Unterkiefer. Und alle Leute sehen es und tuscheln, bis schließlich …

O nein. Fange ich schon wieder damit an, mit diesem schrecklichen Wachtraum? Wie verschroben bin ich eigentlich? Versuche ich etwas abzuwenden, das längst in mir gewachsen ist und seine Wurzeln durch meine Adern schiebt?

Schluss jetzt. Es reicht. Die Hauptsache ist doch, vernünftig zu sein, aufzuhören mit dem Grübeln und zu schlafen. Sofort. Konzentrier dich. Ich brauche dringend meinen Schlaf. Er ist unverzichtbar.

Es geht nicht. Es ist schon wieder die Hölle los in meinem Kopf. Banaler Ausdruck. Die Hölle los. Beschreibt die Sache aber relativ genau. Die Nacht fühlt sich an wie ein gigantisches Riesenrad, das in der Dunkelheit seine Runden dreht, sehr langsam, eine Umdrehung pro Stunde, unendlich langsam. Und ich bin daran festgeklebt oder festgebunden wie Papier, wie ein Foto, substanzlos, unfähig, mich zu erden, unfähig, dieses langsame nächtliche Kreisen zu stoppen.

Dieser Schmerz in meinem Schädel – was ist das? Er ist anders als normales Kopfweh, das sich von Schläfe zu Schläfe wie ein Metallspieß durch meinen Kopf bohrt. Auch nicht wie Sinusitis, wie die Anfälle, die über meinen Augen beginnen und sich bis in die Gesichtsknochen hinunterziehen. Der Schmerz ist weniger ein Schmerz als ein Pulsieren, regelmäßig und rhythmisch wie das dumpfe Wummern einer Trommel.

Es ist nichts. Es wird doch wohl kein Tumor sein. Es ist nichts. Vielleicht bin ich ja auf den Kopf gefallen? Dieser Witz funktioniert nicht. Den Ausdruck wortwörtlich zu nehmen kommt mir unheimlich vor.

Ich muss mich auf etwas Unwichtiges, Neutrales konzentrieren. Aber auf was? Ich kann nicht denken. Ich kann nicht aufhören zu denken. Wenn der Schmerz nicht nachlässt, gehe ich zu Doktor Raven, klar. Natürlich. Es würde ohnehin nicht schaden, mich mal gründlich untersuchen zu lassen. Das wäre vielleicht eine sehr gute Idee. Ich kann es mir nicht leisten, abzubauen.

Ich kann nicht schlafen.

– Ein Wald. Heute ist es ein Wald. Manchmal ist es ein Strand. Es muss weit weg sein von allem. Sonst könnte sie gesehen werden. Die Bäume sind grüne Wände, hoch und schützend, Äste aus Pinien und Tamarack, Äste, die bis auf die Erde hängen und tausend Räume formen inmitten der abgefallenen Blätter. Sie ist in dem Raum mit den grünen Wänden, die Äste öffnen sich soeben weit genug, um die Sonne hereinzulassen, das Moos auf der Erde ist haarig und weich. Sie kann sein Gesicht nicht deutlich erkennen. Seine Gesichtszüge sind verschwommen, wie unter Wasser. Sie sieht lediglich seinen Körper genau, seine Schultern und Arme sind tiefbraun, sein Bauch ist flach und hart. Er trägt nur eine engsitzende Jeans, und sie sieht sein gewölbtes Geschlecht. Sie berührt ihn dort, und er bebt und absorbiert den Druck ihrer Finger. Dann liegen sie nebeneinander, mit öliger Haut. Seine Hände und seine Lippen auf der feuchten warmen Haut der Innenseite ihrer Oberschenkel. Jetzt …

Nein nein. Es war doch nur, um einschlafen zu können. Der Schattenprinz. Bin ich labil? Oder nur lächerlich? Letzteres ist viel, viel schlimmer.

Ich spüre, wie ich endlich hineinsinke in die geschmeidige Stille, wo es weder Lichter noch Stimmen gibt. Wenn die Stimmen und Lichter wieder anfangen, dort, wo ich liege, sind sie nicht mehr hell und nicht mehr laut.

– Eine Treppe steigt aus dem Nichts empor, und die Tapete, die unbekannten Blumen mit den verstreuten Blüten. Die Treppe führt hinab ins Verbotene. Die großen Flaschen und Gläser stehen dort, bauchiges grünes Glas. Die schweigenden Leute sind da, mit Lippenstift und Rouge, weiß gepudert wie Clowns. Wie lustig sie aussehen, alle liegen in ihrem Sonntagsstaat, und ihre offenen Augen sind Glasaugen, Murmeln, blau und milchig, Augen, die nicht blinzeln. Er steht hinter der Tür, die ich nicht öffnen kann. Und seine Stimme – seine Stimme –, also weiß ich, dass er inmitten von ihnen liegt, aufgebahrt, und über sie herrscht. Mich kann er nicht täuschen. Er sagt: Lauf Rachel lauf weg lauf weg. Ich laufe über dichtes Gras und kleine lilafarbene Veilchen – Unkraut – Löwenzahn. Die Fichten biegen sich, biegen sich herab, nehmen mich schützend in ihre Mitte. Meine Mutter singt im Falsett, das modische Tremolo, die Frauenchorstimme.

O Heiland, reiß die Himmel auf, herab herab vom Himmel lauf.

Ich schiebe den Vorhang