Das Glutnest - Margaret Laurence - E-Book

Das Glutnest E-Book

Margaret Laurence

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Beschreibung

"Es geht zwar um tiefe Enttäuschungen, aber es ist sehr lustig geschrieben ... Wie Margaret Laurence beschreibt, wie das Leben alle Träume und Sehnsüchte platthaut und wie bigott die Leute sind und verlogen... Das ist einfach wunderbar zu lesen. Ein ganz herrlicher Roman. Besser können Sie durch diesen Herbst gar nicht kommen."Elke Heidenreich auf SpiegelOnline über Das Glutnest Als Stacey MacAindra ihre Heimatstadt Manawaka in der Erwartung auf ein neues Leben vor vielen Jahren verließ, rechnete sie nicht damit, einmal so zu enden: als Hausfrau mit einem abwesenden, einsilbigen Ehemann, vier Kindern und einer existenziellen Krise. Sie kann nicht glauben, dass ihr Leben nicht mehr zu bieten hat – und brennt darauf, aus der nervtötenden Routine ihrer Tage auszubrechen und die Leidenschaft ihrer Jugend wieder zu entfachen, die nur noch eine dunkle Erinnerung zu sein scheint. Auch im dritten ihrer Manawaka-Romane schenkt uns Margaret Laurence eine unvergessliche Heldin – menschlich, voller Ironie und Humor. In der Erzählung von Staceys Leben steckt der ganze Reichtum, der Schmerz und die Schönheit des Alltäglichen, und die vergessene Lebensfreude, die jeder von uns in sich trägt. 

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Seitenzahl: 441

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Das Buch

Kaffeetrinken mit den Nachbarsfrauen, kochen für die Kinder und abends die Perlenkette für den Ehemann anlegen: So hatte sich Stacey MacAindra ihr Leben eigentlich nicht vorgestellt. Immer öfter erwischt sie sich bei Erinnerungen an ein anderes, wilderes Leben, immer weiter wagt sie sich in Streifzügen durch die Stadt aus der Routine ihres Hausfrauendaseins heraus. Bis sie eines Tages auf den jungen Luke trifft und die Versuchung, ihrem Alltag den Rücken zu kehren, immer größer wird ...

Die Autorin

MARGARETLAURENCE, die neben Margaret Atwood und Alice Munro als bedeutendste Autorin Kanadas gilt, wurde 1926 in der Präriestadt Neepawa geboren. Ihre Eltern waren schottischer und irischer Abstammung und starben, als sie noch ein Kind war. 1947 heiratete sie einen Bauingenieur und ging mit ihm nach Afrika. Über Afrika schrieb sie ihre ersten Erzählungen und Romane, ihre bedeutendsten Prosawerke sind jedoch in Kanada in der fiktiven Stadt Manawaka angesiedelt, der ihre Heimatstadt Pate stand. Margaret Laurence starb 1987.

MARGARET LAURENCE

DAS GLUTNEST

ROMAN

Aus dem kanadischen Englisch

von Monika Baark

Das Motto auf der nächsten Seite stammt aus Carl Sandburg, Losers. In: Smoke and Steel. Complete Poems of Carl Sandburg. Harcourt Brace, 1920.

Wir danken dem Canada Counsil for the Arts für die freundliche Unterstützung.

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die großzügige Unterstützung dieser Arbeit.

ISBN 978-3-96161-183-6

Die Originalausgabe »The Fire-Dwellers« erschien 1969 bei McClelland & Stewart, Toronto.

© 1969 by New End

© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

Umschlaggestaltung: favoritbuero, München

Umschlagabbildung: © Lauren Rautenbach/Arcangel

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Über das Buch / Über die Autorin

Titel

Impressum

Motto

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

EMPFEHLUNGEN

Orientierungsmarken

Cover

Inhalt

Textbeginn

Sollte ich Neros Grab passieren,

Werde ich zum Wind sagen ›Sieh an, sieh an‹ –

Ich mit meinen Mätzchen in einer brennenden Welt,

Ich mit meinen zahllosen unnützen Nummern.

CARL SANDBURG, LOSERS

EINS

Ladybird, ladybird,

Fly away home;

Your house is on fire,

Your children are gone.

– Irrer Reim. Den hab ich heute Morgen im Kopf. Was daher kommt, dass ich gestern versucht habe, Jen ein paar artikulierte Laute beizubringen. Warum man einem Kind überhaupt so was beibringen wollte, ist mir ein Rätsel. So viele dieser Kinderreime sind schauerlich, wenn man’s recht bedenkt. Here is a candle to light you to bed, and here comes a chopper to chop off your head. Ideal, um die Sprösslinge in den Schlaf zu lullen, vor allem, wenn der Reim von diesem berühmten Gebet gefolgt wird, in dem es darum geht, vor dem Aufwachen zu sterben. Vielleicht ist es aber auch gut so. Dann wissen sie schon mal, was sie erwartet. Welch ein Frohsinn am frühen Morgen, was, Stacey? Früher Morgen, von wegen. Es ist Viertel vor neun, und ich bin immer noch nicht angezogen.

Der Ganzkörperspiegel ist an der Schlafzimmertür. Stacey sieht darin reflektierte Bilder, entrückt durch das Glas wie Menschen im Fernsehen, weniger wirklich als die Wirklichkeit und doch schärfer, weil isoliert und limitiert durch einen Rahmen. Das Doppelbett ist ungemacht und auf einem Stuhl liegt ein Haufen ihrer Kleidung, nachlässig abgestreifte Strümpfe wie runde Nylonpfützen, der Hüfthalter in Form eines Reifens, so wie sie ihn ausgezogen hat. Auf einem anderen Stuhl liegt Macs schmutziges Hemd, ordentlich zusammengefaltet. Zwei Bücher wohnen auf dem Nachttisch – Der goldene Zweig und Investitionenund Du, von ihr und von ihm, beide ungelesen. Verstreut auf dem Schminktisch inmitten von Fauler-Zauber-Cremes und Lippenstiften sind Fotos von Katie, Ian, Duncan und Jen in diversen Altersstufen. Über dem Bett hängt ein Hochzeitsfoto, Stacey mit dreiundzwanzig, beinahe schön, wobei sie damals nichts davon wusste, und Mac mit siebenundzwanzig, hoffnungsvoll souverän schlank, Agamemnon Herr der Männer oder das Pendant, zumindest in ihren Augen. Auf dem Bett sitzend, sieht Stacey sich gespiegelt, gegenwärtig und leibhaftig, nur unzulänglich bedeckt von einem kurzen malvenfarbenen Nylonnachthemd, bei dem die Schleife am Ausschnitt fehlt und die Schulterrüsche von einem der Kinder abgerissen wurde.

– Mein Gott, dieses elende Nachthemd ist schon uralt. Ich muss mir mal ein paar neue besorgen. Oder zumindest eins. Ganz so pleite sind wir ja nicht mehr. Ich hole mir heute zwei, beide todschick. Welchen Unterschied das machen wird? Keinen. Da, dieses verflixte Buch – warum liegt das auf meinem Nachttisch? Ich werde niemals dazu kommen, es zu lesen. Elementares Hintergrundwissen, sagte der Mann immer wieder. Er hatte es wahrscheinlich schon tausendmal gelesen. Wenn ich schon den soundsovielten Abendkurs belegen musste, warum dann ausgerechnet Mythologie und Moderne? Hörte sich hochtrabend an, deshalb. Zwei Mal bin ich hingegangen. Rausgeschmissenes Geld.

Stacey betrachtet ihre Unterwäsche auf dem Stuhl, macht aber keine Anstalten, sich anzuziehen. Ihr Blick wird zurückgelenkt zum Spiegel.

– Alles wäre gut, wenn ich nicht so doof wäre. Wäre ich gebildeter, meine ich. Oder schön. Gut, das wär jetzt ein bisschen viel verlangt. Sagen wir, wenn ich ungefähr fünf Kilo abnehmen würde. Hör zu, Stacey, mit neununddreißig, nach vier Kindern, kannst du nicht verlangen, auszusehen wie eine Nymphe. Das vielleicht nicht, aber für Hüften wie meine gibt’s keine Ausrede. Ich wünschte, ich würde in irgendeinem Land leben, wo vollschlanke Frauen Mode sind. Alles wird gut werden, wenn die Kinder erstmal älter sind. Ich werde freier sein. Ja, und dann? Was zum Teufel ist eigentlich mit dir los? Es ist doch alles gut. Es ist alles gut. Los, du fette Kuh, jetzt beweg mal deinen Hintern. In der Stadt ist doch Schlussverkauf. Im Radio lief Reklame – Alles für eins neunundvierzig, pling pling. Komisch, ich fluche nie vor meinen Kindern. Dadurch hab ich das Gefühl, ihnen ein Beispiel zu sein. Ein Beispiel für was? Für alles, was ich hasse. Hasse, aber fortsetze.

Stacey zieht sich an und bringt die zweijährige Jen nach nebenan zu Tess Fogler. Tess ist noch im Morgenrock, aber da sie groß und schlank ist, sieht sie aus, als würde sie gleich den peruanischen Botschafter empfangen. Tess’ Haare sind honigblond und sogar schon so früh zu einer makellosen Banane hochgesteckt. Stacey, die kleiner ist als sie gern wäre, trägt ihren blassblauen Frühlingsmantel vom letzten Jahr, und, da ihr dunkles unbändiges Haar dringend gemacht werden muss, einen kleinen Stohhut mit Schleier, den sie nicht mag.

– Mein Gott, seh ich aus. Wie schafft sie das immer nur.

»Furchtbar lieb von dir, Tess.«

»Ach was, das mach ich doch gern.«

»Ich bin dir so dankbar!«

»Jen macht überhaupt keine Mühe, stimmt’s, meine Süße?«

Murmel murmel quiek

»Du liebe Güte, sie will sich partout nicht verständigen, was?«

– Ja ja, reib’s mir unter die Nase. Wenn du Kinder hättest, wüsstest du, dass das kein Spaß ist.

»Na komm, Süße, magst du einen Keks?«

»Sie hat gerade gefrühstückt.«

– Bitte nicht füttern. Ich kenn deine Kekse. Shortbread. Letztes Mal hat sie sich übergeben, als ich mit ihr zu Hause war. Gott, bin ich undankbar.

»Tausend Dank, Tess – ich bin dir wirklich dankbar.«

»Ach was. Geh du nur, mach dir keine Sorgen.«

– Ist da irgendwas in ihrem Oberstübchen? Vielleicht nein. Vielleicht nur ich. Stacey, du alte Hexe.

»Tess – Katie holt Jen in der Mittagspause ab, wenn sie aus der Schule kommt, falls ich noch nicht zurück bin, gut?«

»Klar, gut, gut.«

Stacey geht den Bluejay Crescent hinunter bis an die Ecke und nimmt den Bus in die Innenstadt. Aber sie geht nicht zum Schlussverkauf. Unweit des Wassers steigt sie aus und marschiert los. Es sind nicht ihre Nerven. Es ist nur so, dass sie seit gut zwanzig Jahren in dieser Stadt lebt, der Perle des pazifischen Nordwestens, und nichts darüber weiß. Plötzlich und unerklärlicherweise hat sie das Gefühl, es werde allmählich Zeit dafür. Sie weiß, dass sie auf diese Weise nichts erfahren wird.

Die Tauben haben das ganze Ehrenmal aus Granitstein zugekackt, wie sie zu ihrer Freude feststellt. Stacey bleibt stehen und liest die Inschrift. Ihre Namen werden ewig leben. Und auf der anderen Seite: Bedeutet Euch das gar nichts. Kein Fragezeichen. Entlang der Sockelstufen sitzen drei alte Männer im schwächelnden Sonnenlicht, husten und spucken und klammern sich am eigenen mageren Brustkorb fest und murmeln einander etwas zu, Erinnerungen vielleicht, oder Flüche gegen das Hier und Jetzt.

– Vermutlich fühlen sie sich hier zuhause. Es war ihr Krieg, der Krieg meines Vaters. Er hat nur ein Mal davon erzählt, ein einziges Mal. Mutter war abends aus, und Rachel war sieben und schlief. Er sprach von einem achtzehnjährigen Jungen – eine Handgranate ging in seiner Nähe hoch und die Detonation traf den Jungen zwischen den Beinen. Mein Vater weinte beim Erzählen, denn der Junge starb nicht. Mein Vater war betrunken, aber sonst hätte er’s nicht erzählt. Mac redet nie über seinen Krieg, hat er nie getan, nicht dass er überhaupt noch groß redet. Ian ist dieses Jahr zehn geworden und Duncan sieben. Tja, selbst wenn ich vier Mädchen bekommen hätte, na und?

Die Straßen erwachen gerade zum Leben. In diesem Teil der Stadt sind die Nächte lang. Ein paar Männer in Anoraks und Jeans hängen vor den Cafétüren herum. Die Schaufenster von Bens Billigkaufhaus sind voll mit handgeschriebenen Kärtchen – Nur $ 10.95 Billiger geht’s nicht, $ 4.75 Hier können Sie ein Schnäppchen schlagen! $ 9.95 Ihr macht uns noch arm und ähnliche volksnahe Sprüche, aufgestellt vor Koffern, Seesäcken, Holzfällerstiefeln, Buschmessern, Thermoskannen und glänzenden zweischneidigen Äxten. In der Lobby des Princess Regal Hotel fegt ein altes Fischweib, Fleischweib, mit gelben Zähnen gähnend und mit schlackerndem Wanst im trostlosen Mohnblütenkleid die letzte Nacht zusammen – unter Hacken zerdrückte Kippen, vollgeschnäuzte oder -geheulte Kleenex, und Asche. Auch dort sitzen alte Männer, sie sitzen in den roten Plastikstühlen und warten darauf, dass die Bierkneipe aufmacht, damit ihnen irgendjemand einen ausgeben kann und sie mit hochmütiger Miene annehmen können, Verachtung als Labsal für ihren Stolz.

– Wie ist es wirklich? Woher sollte ich das wissen? In den Zimmern dort über den Läden wohnen Leute, die abends die Cafés und Bars bevölkern, die durch diese Straßen streifen, ihr Revier. Männer oben aus den Wäldern oder von den Fischerbooten. Untreue Holzfäller, die ihre untreuen Frauen vermöbeln. Kinder, die Trips schmeißen – guck mal, Polly, ich bin Batman – wusch aus dem sechsten Stock in die warmen roten Arme eines betonierten Todes. Alte Seebären, die auf der Suche nach Lebensblut durch die Gassen torkeln, eine Gallone Calona Royal Red. Huren, zu alt oder verwarzt für feinere Gegenden. Junge Leute mit steinernem Blick, merklich verzweifelt auf der Suche nach einem Schuss. Ist es so? Alles, was ich weiß, weiß ich aus der Zeitung. 17-jähriger wegen Drogenmissbrauchs angeklagt. Junge Frau tötet Geliebten und sich selbst. Obdachlosenzahl steigt, besagt Studie. Indigenes Brautpaar bei Verkehrsunfall enthauptet. Mann legt Brand in Zimmer und stirbt. Lauter lustige Geschichten. Was weiß ich davon? Ich sehe die toten Gesichter spöttisch an mir vorüberziehen, sie schauen mich an, einmal, zweimal, und sagen sich achselzuckend Das nenn ich mal solide. Hab ich das verdient? Ja, und verdammt noch mal nein. Fast zwanzig Jahre bin ich hier, und weder kenne ich die Stadt noch fühle ich mich hier heimisch. Vielleicht wäre mir das in jeder Stadt so ergangen. Ich erzähle es nur ungern. Ich denke immer, die Leute könnten denken, es sei klar, dass ich aus der Kleinstadt komme.

Stacey Cameron, knapp neunzehn, erstklassige Schreibkraft, hat endlich den Staub von Manawaka abgeschüttelt. Stacey, eins sechzig groß, Brüste wie Äpfel, wie es im Hohelied Salomos heißt. Stacey im handgeschneiderten roten Kostüm und verspielter Spitzenbluse. Lebwohl, geliebte Familie. Lebwohl, Vater, Bestatter vom Dienst, der nur die Toten kleiden konnte, zwischen Gelagen mit seiner ganz eigenen Balsamierflüssigkeit. (Dad? Verzeih mir. Aber ich musste gehen.) Lebwohl, Mutter, das Leiden Christi. (Bin inzwischen nicht mehr sicher, was deine jammernden Augen wirklich sagen wollten.) Lebwohl, Schwester, immer so klug. (Der Gedanke, dass du noch da bist, ist mir unerträglich.) Lebwohl, ihr Prärien. Im Zug war eine Frau aus Neufundland mit sechs Kindern unterwegs zu ihrem Mann in ein Heerlager in Chilliwack. Keiner hatte je zuvor eine Eisenbahn gesehen. Eins der Kinder übergab sich in der Damentoilette, und Stacey begann beim Aufwischen zu helfen. Dann kam der Schaffner und meinte, er mache das schon. Er war braun und groß und sah Stacey belustigt an. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass man im Zug nicht sauberzumachen brauchte wie zu Hause. Die Dame verschwand mit dem galligen Gör, und der Schaffner sagte Wo geht’s denn hin? Stacey sagte Vancouver, und er fragte, ob sie schon eine Unterkunft habe. Lustig wie ein Sperling zwitscherte sie, aus reiner Bedürftigkeit, ich dachte, ich schau mich einfach um. Tu’s nicht, Kleines, sagte er. Geh zum Y. W. C. A.Das sag ich zu allen Prairiemädchen. Was sie dann auch tat. Mädchen vom Lande.

Staceys Kinder müssen diese Stadt doch kennenlernen. Die Domänen der Jungs sind zur Zeit nur die Gärten, der weißblühende Hornstrauch zum Klettern, die Gässchen, wo Abfalleimer kippeln und ausgemergelte Straßenkatzen schmarotzen, die Garagen, die tagsüber leer und übersät sind von Brettern und Büchsen voller Nägel und eingetrockneten Pinseln – wo Kinder ihre heimlichen Aufstände planen.

– Vielleicht wäre es das Beste, sie direkt in den Adern der Stadt großzuziehen, sie hineinzuwerfen wie in einen See und zu sagen, schwimmt, sonst passiert was. Aber das würde ich nicht über mich bringen. Allein der Gedanke – Mac würde mich für verrückt erklären, aber ich würde es ihm natürlich gar nicht erst erzählen.

Stacey geht schneller und mit Unbehagen. Dann stellt sie fest, dass sie am Hafen ist. Die Möwen wirbeln im Leerlauf hoch in der Luft. Flügel wie weiße Bögen aus Licht, sichelförmig über der Uferkante. Piratisch spottende Stimmen an den Rändern der Stadt. Doch die Stadt selber kreischt zu sehr, um die Möwen zu hören.

– Wenn sie Propheten in Vogelgestalt sind, können sie sich die Puste sparen. Sie sind aber keine Propheten. Sie kommen einem nur so vor, engelhafte Präsenzen und raue Stimmen aus dem Grab. Vögel in Prophetengestalt. Es interessiert sie überhaupt nicht. Sie plündern die Stadt nach Abfällen, mehr nicht, und die schwarzen rostigen Frachter, die mit ihrem Klappern und Ächzen da draußen sich als monumentale Geister gerieren. Gäbe es diese Stadt nicht mehr, würden sie ohne zu trauern darüber hinweg- und davonfliegen, um irgendeine andere Stadt, falls vorhanden, zu verlachen und um sie herumzuscharwenzeln. Und selbst wenn nicht, wären die Möwen nicht allzu betrübt. Frisst man halt was anderes. Schluss mit den salzig durchweichten Brotkanten und Orangenschalen.

Es war einmal, am Strand. Stacey sah wie eine Möwe immer wieder aus großer Höhe eine geschlossene Muschel fallenließ. Endlich platzte die Schale auf einem Felsen auf, und der Vogel landete und fraß in aller Ruhe. So überlebt man, dachte Stacey, bewundernswert einfach.

– Ich will das nicht mehr sehen. Was mache ich hier überhaupt? Ich will nach Hause. Die Kinder werden schon aus der Schule zurück sein und Mittagessen wollen. Was werden sie denken, wenn ich nicht da bin? Katie wird den anderen Kindern Sandwiches schmieren. Das gilt nicht. Ich darf mich nicht so auf sie verlassen. Sie ist erst vierzehn. Es ist unfair ihr gegenüber. Ian wird sich keine Sorgen machen, aber Duncan schon. Wo ist Mum? Er denkt immer, ich wäre überfahren worden oder Ähnliches. Warum ist er so geworden? Wo ist die Bushaltestelle? Hier. Jetzt komm schon, du blöder Bus – ich muss dringend nach Hause. Ladybird ladybird, fly away home – hör auf damit, Stacey. Lass es einfach. Es geht ihnen wunderbar. Alles ist gut. Ab morgen mache ich Bananendiät. Mit etwas Glück müsste ich in sieben Tagen sieben Pfund loswerden können. Da wird Mac aber staunen. Genauso wirst du’s machen, Zuckerpuppe. So wirst du’s machen, stimmt’s?

Stacey sitzt sehr ruhig im Bus, schaut aus dem Fenster in der Überzeugung, dass sie nicht angesehen wird, solange auch sie niemanden ansieht. Ihr matronenhafter Mantel, der Hut und die Handschuhe machen sie befangen. In Hosen fühlt sie sich wohler, aber sie kann sie nicht in der Stadt anziehen, denn es könnte ihren Kindern peinlich sein, wenn sie davon erfahren würden.

– Ich muss völlig durchgedreht gewesen sein, so lange durchs Hafenviertel zu spazieren. Nicht mal die Nachthemden hab ich besorgt. Geht es den Kindern gut? Verdammt, ich wünschte, ich müsste nicht immer rechtzeitig zu Hause sein. Beim Jüngsten Gericht wird Gott sagen: Stacey MacAindra, was hast du mit deinem Leben angefangen? Und ich werde sagen: Tja,mal überlegen, Sir, ich glaube, ich hab meine Kinder geliebt. Und Er wird sagen: Bist du dir deiner Sache sicher? Und ich werde sagen: Lieber Gott, ich bin mirüberhaupt keiner Sache mehr sicher. Also wird Er sagen: Dann fahr zur Hölle. Hier oben wird positiv gedacht. Andererseits, vielleicht ja auch nicht. Vielleicht würde Er sagen: Keine Sorge, Stacey, ich bin mir auch nicht so sicher. Manchmal frage ich mich sogar, ob ich überhaupt existiere. Und ich werde sagen: Ich verstehe, was du meinst, Herr.Geht mir genauso.

Der Bus kriecht dahin. Der Verkehr ähnelt zwei großen metallischen Fischschwärmen, die alle hektisch an ihre Laichplätze zurückwollen, sich aber nicht mit der zarten Stille von Fischen bewegen. Es wird gehupt. Getriebe knirschen. Starten und stoppen. Und Leute brüllen. Der Lärm schlägt Stacey aufs Gemüt.

– Ich vertrage überhaupt keinen Aufruhr mehr. Anders als früher. Wenn heute eines der Kinder kreischt, seh ich sofort rot. Das ist doch nicht normal. Ich hatte mal ein sehr robustes Nervenkostüm. Manchmal schaue ich durchs Wohnzimmerfenster in die fernen verschneiten Berge und ich wünschte, ich könnte dort sein, nur für eine Weile, ohne eine Menschenseele, und kaum Geräusche, nur das Murmeln des Windes vielleicht, und der Schnee in Form von bizarren Skulpturen und Höhlen, Stille. Einmal hab ich Jake Fogler davon erzählt, und er meinte, ich wünschte mir den Tod. Also denke ich jetzt, ich habe wohl kein Recht, das mit den Bergen zu denken. Es geht einfach nicht. Andererseits, seit wann ist Jake Psychiater?

Die Gebäude im Herzen der Stadt sind kühn, voll mit bunten Lichtern, stabil und selbstbewusst. Sie wirken beruhigend auf Stacey, bis sie einen zweiten Blick darauf wirft: Jetzt sind sie verkohlt, offen für die ungünstigen Winde, Glas und Stahl zerbrochen wie verwundbare lebende Knochen, Menschenschatten gespreizt auf dem Stein wie in jener anderen Stadt.

– Verrückt werden. Mac sagt Heute ist die Gefahr kleiner als noch vor zehn Jahren. Wahrscheinlich hat er recht. Ich sage immer, wahrscheinlich hast du recht. Dumm von mir, mal wieder, dass ich so einfach zustimme, aber lohnt sich die Aufregung, es nicht zu tun? Vorauseilende Trauer. So eine intelligente Frau – welcher Abendkurs war das noch gleich? Ach ja, Aspekte zeitgenössischen Denkens. Ich fragte sie, ob sie sich keine Sorgen mache. Ich hätte mich zwanzig Jahre lang gesorgt und könne es irgendwie nicht lassen. Und sie sagte mit dieser abgehobenen kristallinen Stimme, gegenvorauseilendes Trauern hilft nur eiserne Disziplin. Was soll ich machen? Mir einen Zettel schreiben und in der Küche aufhängen?

Ein Mädchen steigt in den Bus und setzt sich neben Stacey. Sie hat reine Haut, pickelfrei und ungepudert, und lange blonde Haare, die aussehen wie geglättet. Stacey lächelt ein wenig, da sie an Katie denken muss. Dann verliert sich ihr Lächeln vor lauter Befangenheit.

– Was sieht sie gerade? Hausfrau, vierfache Mutter, diese etwas zu kleine und fettgepolsterte Frau mit dem Mantel von anno dazumal, der falschen Rocklänge, wie ich mir ständig von Katie sagen lassen muss, dem falschen Lippenstift und zur Krönung des Ganzen der schreiend komische Hut. Mann, geht’s noch vorsintflutlicher? Ist es das, was sie denkt? Ich weiß es nicht. Dennoch hab ich dieses Gefühl, mir wird ungeheuer Unrecht getan. Ich will mich erklären. Unter diesem Hütchen lauert eine Nixe, eine Hure, eine Tigerin. Sie würde die Polizei rufen und ich käme in die Klapse.

Stacey Cameron, siebzehn Jahre. Flamingo-Tanzbar, jeden Samstag auf der Tanzfläche. Sie weiß instinktiv, wie man sich bewegt, sie liebt die Nähe des Jungen, egal, wer er war, sie liebt seinen männlichen Geruch. Stacey dreht sich wie das Licht, wie all die bunten singenden Kreisel der ganzen kreiselnden Welt, wirbelndes Lachen wirbelt über gebohnerten Boden. Fünf Minuten ist das her. Ist es? Wie kann das sein?

Am Bluejay Crescent steigt Stacey aus dem Bus. Dann das Geräusch, vor dem sie immer Angst hat. Quieetsch! Die Bremsen. Der weiße Buick bleibt ruckartig stehen und der Mann steigt aus. Sehr, sehr langsam, wie unter Wasser. Es graust ihm, nach dem Jungen zu sehen, der auf der Straße liegt. Stacey kann das Gesicht des Jungen nicht erkennen. Nur die Jeans. Er könnte sieben Jahre alt sein, oder zehn. Er gibt keinen Ton von sich. Keinen Schrei. Nichts.

Stacey geht nicht hin, um zu schauen, sie kann nicht. Stattdessen rennt sie los. Den Bürgersteig entlang, ihre Absätze schleifen auf dem Zement, sie rennt wie verrückt, bis sie das große dunkelgrüne Holzhaus mit dem Giebeldach und der Veranda mit dem Fliegendraht erreicht.

»Katie!«

»Ja? Was ist?«

»Wo sind die Jungs?«

»Woher soll ich das wissen? Vor einer Minute waren sie noch hier. Wo warst du?«

Stacey läuft durchs Haus und wieder zur Gartentür hinaus. Ian und Duncan spielen im Garten. Die beiden rotbraunen Köpfe sind über die Räder des Käfers gebeugt, den Ian gerade bastelt. Sie blicken auf und sehen sie.

»Hallo. Wo warst du denn?«

»Entschuldigt. Ich – ich hab den Bus verpasst. Ich mach euch jetzt was zu Mittag.«

Katie kommt nach unten und sieht Stacey neugierig an, die jetzt in der Küche sitzt und die Hände vors Gesicht geschlagen hat.

»Mum? Ist alles okay? He, was ist denn?«

»Alles okay. Ich dachte nur kurz – da war ein Junge – ein Unfall – ein weißer Buick – bei uns an der Ecke. Ich wusste nicht …«

»Ach, Mum. Das ist ja schrecklich. Bitte nicht weinen. Hier – nimm ein Kleenex.«

Katie steht da, unbeholfen, unerfahren im Trösten, und sieht Stacey aus großen grauen Augen an. Sie trägt ein Kleid in der erschreckenden Farbe unreifer Äpfel, und ihre langen rotbraunen Haare sehen aus wie geglättet, was auch der Fall ist. Kein Lippenstift, aber grünes Augen-Make-up. Für einen kurzen Moment erwischt Stacey ihre Hand und hält sie fest.

– Eigentlich sollte es umgekehrt sein. Wie alt ich geworden bin. Katie, du bist so verdammt schön. Ich komm mir manchmal vor wie eine abgehalfterte alte Schabracke.

»Katie, ich komm mir vor, als wär ich hundert Jahre alt.«

»Na ja, du siehst auch nicht so toll aus. Nur gerade im Moment, meine ich. Soll ich Jen mal holen? Sie spielt oben in ihrem Zimmer. Ich hab sie von den Foglers abgeholt.«

»Danke, Liebling.«

Normalität wiederhergestellt, und Stacey zieht Hut und Mantel aus und beginnt Sandwiches zu schmieren.

Stacey im Krankenhaus, mit Katherine Elizabeth, 24 Stunden alt, im Arm. Katie mit fest geschlossenen Augen, die walnussgroßen Fäuste geballt, sie hatte die Ruhe weg. Ich hab’s geschafft. Sie ist hier. Sie lebt. Wer hätte gedacht, dass ich in der Lage wäre, ein so schönes Kind zur Welt zu bringen? (Überhaupt ein Kind, eigentlich.)

– Du solltest so was nicht zur Sprache bringen. Halte dich zurück. Irgendein Klugscheißer will dir ständig weismachen, du würdest die Lebenskraft der Nation untergraben. Mit Überfürsorge. Oder sie wären dir im Grunde egal – du würdest nur den verbrecherischen Umstand kompensieren, dass du sie besitzen willst, wie in einer Hypnose. Oder so ähnlich. Steht alles in den Zeitschriften beim Friseur. Verderben Sie Ihre Tochter? Neun Tabus für moderne Mütter. Ich sollte so was nicht lesen, kann’s aber nicht lassen, und dann geh ich im Geiste durch, wie viele Tabus ich breche, um Katie zu verderben. Aber woher weiß man das? Ich seh sie vor mir, die Puppe, die das verfasst hast. Schickes Büro voller Plastikpflanzen und keine Tochter weit und breit.

Die Jungs kommen ins Haus. Stacey umarmt sie nicht. Sie beschränkt sich darauf, ihnen die Hand auf den Kopf zu legen und von der Notwendigkeit eines Friseurbesuchs zu sprechen. Ian hat exakt dieselbe Haarfarbe wie Mac, dunkelrot, und Duncans Haare sind etwas heller, rotgold.

Um Viertel vor eins gehen Katie und die Jungs zurück in die Schule. Stacey sieht ihnen nach. Ian geht voran, wie immer, schlank und drahtig, groß für einen Zehnjährigen, ungeduldig, er bewegt sich mit flinker Anmut, perfekte Körperbeherrschung. Duncan hat es selten eilig, und er nimmt die Menschen um sich herum meist gar nicht wahr. Und doch erzählt er Stacey, was ihn beschäftigt, manchmal. Ian ist auf Schritt und Tritt wachsam.

– Was hab ich getan, dass er so geworden ist? Das Durcheinander ist es, was mir zu schaffen macht. Alles passiert auf einmal, nie hintereinander, also wie zum Teufel soll man wissen, wie irgendetwas auf sie wirkt? Dieser andere Artikel, letzte Woche. Kastrieren Sie Ihren Sohn? Lieber Gott, wie soll ich das wissen? Ich trau mir ja selbst kaum noch über den Weg. Vielleicht hätte ich Ian gerade nicht die Haare zerzausen dürfen.

Stacey hebt Jen vom Boden hoch, die zwar zart aussieht, aber eigentlich ein robustes Kind ist. Wenn man sie im Arm hält, ist es wie bei einem Kätzchen, wo man weniger die Weichheit bemerkt als den Umstand, dass all seine Knochen durchs Fell hindurch zu spüren sind.

»Komm, Blümchen. Zeit für dein Schläfchen.«

Brabbel, brabbel.

»Komm mein Hase, sprich. Es ist ganz einfach, man muss es nur mal versuchen.«

– Vielleicht hat sie ja den sechsten Sinn, wie die abscheulichen Kinder aus diesem Science-Fiction-Film, die sich über Telepathie verständigen und Augen haben wie Leuchttürme. Wahrscheinlich plappert sie in diesem Moment still und heimlich mit irgendeinem mutierten Kleinkind in Samarkand oder Omsk. O Gott, das ist eigentlich gar nicht lustig. Und wenn nun wirklich irgendwas mit ihr nicht stimmt? Sollte ich nicht längst was dagegen unternommen haben? Ich sollte lieber mal rausfinden, wer dieser Junge ist und wie schlimm seine Verletzungen sind. Ich kann nicht. Was in meinen eigenen vier Wänden passiert, reicht mir voll und ganz. In meiner ach so festen Burg.

Nach der Schule sind Ian und Duncan im Garten. Der Käfer besteht aus Rädern, Brettern, Lenkung, Nägeln, Drähten, die irgendeinen Zweck haben. Ian arbeitet mit zackigen Bewegungen, er weiß genau, welchen Hammer und welchen Schraubenzieher er braucht. Duncan hat keinerlei mechanisches Knowhow, aber er gibt sich alle Mühe, es Ian recht zu machen. Dann wumms. Chaos. Gebrüll. Flüche, Drohungen, Leugnungen. Beide kommen in die Küche gestampft.

»Mum, sag Duncan, er soll meinen Käfer in Ruhe lassen!«

»Du hast gesagt, ich darf helfen. Du hast es gesagt!«

»Ich hab nicht gesagt, du sollst ihn kaputtmachen, du blöder Idiot.«

»Hab ich doch gar nicht. Hab ich nicht.«

»Du kannst die Räder nicht einfach drannageln, du Pfeife. Wie sollen die sich denn dann drehen?«

»Du tust so, als wenn du …«

»Lass die Pfoten davon …«

»Nein – das ist unfair!«

»Mach das noch einmal, dann …«

Beim Prügeln hält sich Ian etwas zurück und plant seine Angriffsstrategie. Duncan schlägt wild um sich wie jemand, der weiß, dass er keine Chance hat. Die Wut kocht hoch, bis Stacey schließlich ihr Gezank und Geschrei nicht länger ertragen kann. So müssen Kain und sein Bruder ihren Hass aufeinander geschürt haben.

»Hört auf damit! Alle beide! Hört ihr?«

Türknallen. Erst als es passiert ist, geht Stacey auf, dass sie beide an den Schultern gepackt und unter Aufbietung sämtlicher Kräfte zu Boden geschleudert hat. Ian weint nicht. Sein Stolz gesteht ihm bisweilen Bauchkrämpfe zu, aber niemals Tränen. Sein hageres Gesicht ist gebleicht vor Wut. Er steht auf und rennt nach draußen, ergreift das unvollendete Gefährt und schleudert es die betonierte Kellertreppe hinunter.

»Dann halt nicht! Ist mir scheißegal!«

Die Räder springen ab und rollen über den Kellerfußboden. Das knirschende Geräusch kommt von den genagelten Brettern. Duncan lauscht und sieht blass aus vor Verwirrung.

»Das darf der nicht. Der darf das nicht einfach kaputtmachen, Mum.«

Duncan zerstört niemals seine Arbeit. Er zeichnet Bilder von der haifischförmigen Rakete, die ihn eines Tages zum Mars oder Saturn bringen wird, und den roten Wäldern, die er dort im grellen Licht unzähliger lila Sonnen durchstreifen wird. Er legt sie weg, und hin und wieder gräbt er eines davon aus und betrachtet es mit Belustigung als das Produkt eines jüngeren Ich. Aber zerstören würde er sie niemals.

Mit betrübter Miene betrachtet Ian kurz den Scherbenhaufen. Dann dreht er sich um und rennt in die Garage, rauf auf den Garagendachboden mit seinen Zeltstangen und eingerissenen Campingstühlen und Schwalbennestern, wo Stacey mal ein zur Hälfte vollgeschriebenes Schulheft fand, Kapitän Ian MacAindra Sein Tagebuch darüber wie wir den Feint besiegt haben. Und sie hatte sich gefragt, wohin das wohl führen werde.

Stacey nimmt Duncan kurz in den Arm. Dann geht er nach draußen und schaut hinauf zum Garagendachboden, als wollte er gern, traue sich aber nicht. Er steht auf dem Rasen und sieht aus, als wäre er ratlos.

– Wenn Mac das wüsste, würde er mich für nicht ganz dicht halten. Er schlägt die Kinder niemals aus Wut. Nein, das vielleicht nicht, aber diese eisige Ruhe, die von ihm ausgeht, ist viel schlimmer. Gut, ich versuche mich rauszureden. Eben noch hatte ich solche Angst, dass mein Kind da unter dem Auto liegt. Und jetzt das. Wieso? Was, wenn ich nun irgendwann mal aus Versehen zu fest zuschlage? Bin ich deshalb ein Monster? Sie sind mein täglich Brot, und gleichzeitig verschlingen sie mich bei lebendigem Leib. Lieber Gott, wie kann ich das nur wiedergutmachen, als wenn es nie passiert wäre? Keine Antwort. Keine Erleuchtung. Als hätte ich eine erwartet. Könnte ich doch nur darüber reden. Aber wer will das schon wissen, und was könnte ich auch sagen? Diese Zeitungsmeldung geht mir nicht aus dem Kopf. Junge Mutter tötet ihr zwei Monate altes Kind durch Ersticken. Ich hab mich gefragt, wie so was überhaupt passieren kann. Aber vielleicht hat das Baby pausenlos geschrien und sie wusste nicht weiter und hatte vielleicht noch ganz andere Probleme, und plötzlich stellt sie fest, das Schreien hat aufgehört. Ich kann so nicht denken. Ich darf nicht.

Stacey schenkt sich einen großzügigen Gin Tonic ein und fängt mit den Essensvorbereitungen an. Mac ist unterwegs und kommt heute erst spät nach Hause. Die Kinder essen, machen Hausaufgaben, sehen fern. Um elf ist selbst Katie im Bett und Stacey hat Dienstschluss. Sie nimmt den aktuellen Gin Tonic mit hinauf ins Schlafzimmer. Sie schließt die Tür ab, nur vorübergehend, falls eins der Kinder wach wird, zieht sich aus und betrachtet sich nackt im Ganzkörperspiegel.

Jedes Mal, wenn Stacey aus der Wohnung über Camerons Bestattungsinstitut, ihrem Zuhause, nach unten lief, blieb sie auf halber Treppe in der Schwebe wie ein Kolibri oder Helikopter, um einen heimlichen Blick in den Spiegel zu werfen, der kreisrund und schwer war, goldfarben und mit neckischen Putten mit Traubenbündeln zwischen den Beinen. Stacey, Stacey, Eitelkeit steht dir nicht. Das leise beharrliche Maunzen von oben, die Stimme, die unermüdlich kundtat, wie andere zu sein hatten und nie waren. Und Stacey verschwand in ihr Café, um im Lärm der Musikbox so laut zu lachen und zu plaudern, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, es kümmere sie ihre Hässlichkeit.

– Meine Mutter hielt das tatsächlich für Eitelkeit. Es kommt nicht aufs Aussehen an, es kommt darauf an, wer du bist, sagte sie immer – bewundernswert, vermutlich, aber Mensch, das war ja wohl eine der dicksten Lügen, die mir je einer aufgetischt hat. Weiß ich heute genauso wenig über Katie? Dieses alte Fotoalbum – und wenn ich mal einen Schnappschuss von mir sah, vor Jahren, dachte ich, Menschenskind, ich war ja geradezu hübsch – warum war mir das damals nicht klar?

Stacey trinkt den Gin Tonic langsam, um ihn auszukosten. Sie bürstet sich die Haare, schminkt und parfümiert sich. Dann sieht sie wieder in den Spiegel. Keine Veränderung.

– Ach, Kleopatra. Du alter Klepper. Vier Kinder haben mich alt gemacht. Die Dehnungsstreifen an meinem Bauch und an den Oberschenkeln sehen aus wie ein Aufzug aus silberfarbenen Würmern. Meine Brüste sind nicht übel, und zumindest hab ich keine dicken Fesseln. Mac sagte mal, ich hätte schöne Augen, grüngrau. Aber früher war da mal eine kleine Mulde an der Außenseite meiner Pobacken, eine kleine Vertiefung, die man sehen konnte, wenn ich einen engen Rock anhatte, und die gefiel ihm auch, und die gibt es nicht mehr. Ausgefüllt mit der langsamen Akkumulation von Fleisch. Nicht Fleisch. Fett. F. E. T. T. Ich kann die Vertiefung vorübergehend wiederherstellen, indem ich die Pomuskeln anspanne. Aber wer will schon mit dauerhaft angespannten Pomuskeln durchs Leben gehen, nur um einen ansehnlichen Arsch zu haben?

Stacey nimmt noch eine Ladung Parfüm. Der Drink ist leer. Sie zieht sich den Morgenrock über und schleicht sich auf Zehenspitzen nach unten, um sich nochmal nachzuschenken. Sie kommt zurück ins Schafzimmer, setzt sich auf den Stuhl, raucht, schaut nicht mehr in den Spiegel.

– Wo steckt der Mann schon wieder? Ich will ihn. Jetzt sofort. Nein, gar nicht wahr. Ich will einen anderen Mann, irgendeinen, mit dem ich noch nicht zusammen war. Immer nur Mac, sechzehn Jahre lang. Wie sind andere Männer? Für ihn ist es genauso schlimm, wenn nicht schlimmer. Er sieht die Mädchen auf der Straße an, die leichtfüßigen jungen Sekretärinnen, die schlanken Fohlen, Sommer für Sommer, und sein Gesicht wird verschlossen und verbittert. Ich will ihn trösten, kann es aber nicht, genauso wenig wie er mich trösten kann, denn keiner von uns beiden hat so zu empfinden. Aber ich weiß, dass er es tut. Ich frage mich, ob ihm klar ist, dass ich es weiß. Manchmal denke ich, ich möchte eine ganze Armee zwischen meinen Schenkeln aufnehmen. Ich denke an all die Männer, mit denen ich niemals schlafen werde, und ich bereue es, als wäre mein eigener Tod im Anmarsch. Ich bin nicht von Natur aus monogam. Und doch bin ich es. Ich kann mir nicht vorstellen, die Frau eines anderen Mannes zu sein, für immer. Was macht Mac, wenn er auf Reisen ist? Er wird kaum jeden Abend Vanilleextrakt verkaufen, soviel steht fest. Gott, bin ich unfair. Sind die Provinznutten so glamourös? Und außerdem bin ich darauf konditioniert. Ich mache mir keine allzu großen Gedanken um das, was er da draußen treibt. Es scheint mir nichts Weltbewegendes zu sein. Du bist eifersüchtig, Baby, gib’s zu. Er darf und du darfst nicht. Na gut. Aber von diesem Aspekt mal abgesehen würde ich auch gern auf Reisen gehen. Nicht gezielt, sondern einfach nur, um unterwegs zu sein.

Mac unterwegs, er rauscht dahin, als wäre sein alter Chevy ein geflügelter Wagen, durch die Berge und die türkisblaue Luft, hinein ins Tal, wo die Flüsse Namen haben wie seidig strömendes Wasser, Similkameen, Tulameen, Coquihalla, Namen auf Landkarten, klares braunes Wasser über klackernden grünen Kieseln, wo in der Ferne Kiefern und Tamarack und Fichten stehen, blaugrüne und schwarzgrüne Nadeln in der trockenen goldenen Luft trocknen, wo die hohen stachligen Gräser nie berührt oder geschnitten werden, sondern ewig hoch bleiben mit ihren blassen haferähnlichen Fruchtständen, gebeugt im leichten Wind, der immer weht, wo es auf ganzem Wege Sommer ist auf den Feldern aus lila Feuerbusch, wo nur die Bienen ihre pelzige Musik machen.

Stacey weiß, für ihn ist es nicht so. Er ist Vertreter, klopft an eine Tür nach der anderen. Abends heißt es dann irgendein Motel am Stadtrand, kitschig verstaubte Hütten mit Namen wie Rainbow und Riverview und mit kleinen Neonschildern, die Restaurant und Zimmer frei annoncieren, wo schläfrige Schäferhunde ausgestreckt auf den Kiesauffahrten liegen und die Kinder des Besitzers sich gegenseitig mit Steinchen bewerfen und die Autos vorbeidonnern – ching! ching! ching! wie eine Uhr, die brausend die Minuten zählt, die Räume dürftig ausgestattet mit Billigmöbeln, der Tisch voll Brandnarben und nassen Bierflaschenkreisen, der Boden gewelltes Linoleum, und aus dem Duschkopf tröpfelt unregelmäßig lauwarmes Wasser. Tagsüber heißt es Türen, Türen und nochmals Türen, anklopfen und abwarten, und Weiber mit steinernen Mienen, die ihre unappetitliche Tugend in Gefahr wähnen, also wumms.

– Er erzählt nie was. Er mag nicht. Er weigert sich. Letzte Woche hat ein Mann an die Tür geklopft, ein junger Mann, die bernsteinfarbenen Augen blass und rund hinter seinen Glasbausteinen. Halb entschuldigend bot er mir ein Faltblatt dar. Sicherheit in Zeiten des Krieges. Blutrote Buchstaben wie züngelnde Flammen. Beim zweiten Blick sah ich das Kleingedruckte. Gottes Endzeitkrieg. Ach so, der Krieg. Er war von der Erlöserkirche. Fast hätte ich schnell wieder zugemacht. Dann aber besann ich mich. Anderthalb Stunden lang saß er im Wohnzimmer und ich dachte schon, der geht überhaupt nicht mehr nach Hause. Es kann nicht gut sein, wenn einem ständig jemand die Tür vor der Nase zuknallt.

Drabble’s, die sowohl Vanille-, Zitronen- und Orangenessenz, Pfefferminz- und Himbeerextrakt und ahornähnliches Aroma im Angebot haben, verfügt auch über ein breites Sortiment an Sprays – Raumspray ›Waldblüte‹, Haarspray ›Seidenbrokat‹, Fußpilzspray ›Rosa Kreuz‹, Mundspray ›Engelshauch‹, Mülleimerspray ›Honigblüte‹ und vieles mehr. Seit sieben Jahren macht Mac für Drabble’s seine Runden. Gleich nachdem er aufhörte, Enzyklopädien zu verkaufen, hat er die Stelle angenommen.

– Es lief gar nicht schlecht mit den Enzyklopädien. Er hat seinen Job nicht verloren. Er hat ihn geschmissen. Hat sich selber danach in den Arsch gebissen. Hör zu, Mac, du hast das Richtige getan. Seitdem hat er die Sache nie wieder erwähnt, aber den Abend werde ich nie vergessen, als er mir erzählte, was passiert war.

Mac, in einer Einzimmerwohnung über einem Laden am Hafen. Spielt die ganze Nummer durch. Auch Sie können nach London oder Paris oder in die frangipaniduftende Südsee reisen, und zwar mit diesen spektakulären Panoramabildern aus Einmal um die Welt, gratis mit jedem Vertrag für einen kompletten Satz Enzyklopädien, zahlbar in käuferfreundlichen Monats- oder Wochenraten. Und der Mann, der den Stift zur Hand nahm zum Unterschreiben, war ein alter pensionierter Holzfäller, der das Bild von Piccadilly sehen wollte, wo er 1917 von den Schützengräben aus mal auf Urlaub war. Dann aber schnappte sich Mac den Vertrag und zerriss ihn und sagte zu dem alten Mann, eine Enzyklopädie sei das Letzte, was er brauche, und ein paar Blocks weiter sei eine Leihbücherei. Der alte Mann wurde stinksauer und fühlte sich über den Tisch gezogen. So viel zu einer gut gemeinten Geste. Aber Mac fuhr trotzdem zurück ins Büro und kündigte.

– Und exakt in diesem Moment musste ich unbedingt schwanger werden, nicht wahr. Hätte ich das bloß mal gelassen. Es war meine Schuld. Wir waren beide ein bisschen angeschickert an dem Abend, als es passiert ist. Ich dachte, tu das verdammte Ding rein, aber am nächsten Morgen lag es auf dem Boden neben dem Bett. Als ich sicher war, sagte Mac kein Wort. Er ging für Drabble’s arbeiten, es war der nächstbeste Job. War das die Zeit, als er anfing, unterzutauchen, seine eigenen Höhlen zu bewohnen? Wenn ich ihn darauf angesprochen habe, vielleicht was anderes auszuprobieren, sich umzusehen nach einer anderen Stelle, sagte er immer nur: Hab ich mich beschwert? Ich konnte schlecht Ja sagen, aber irgendwie kam’s mir so vor. Ich hab mich tausendmal entschuldigt, was er irgendwann wohl nicht mehr hören konnte. Es tat mir ja leid, und dann auch wieder nicht. Und so geht’s mir immer noch. Wie kann ich Duncan bereuen, der wie kein anderer Mensch auf dieser Erde ist? Als Duncan geboren wurde, kam Mac mich besuchen und fragte überhaupt nicht nach dem Baby, er sagte einfach nur: Alles okay mit dir? Es war wohl schlimm für ihn. Es war ja auch schlimm. Aber es war auch sein Kind. Es war keine unbefleckte Empfängnis. Na ja, Stacey, er hat die Verantwortung übernommen. Was willst du mehr? Irgendwann ging es bergauf im Duftspray- und Aromasektor, und Jen wurde geboren, geplant.

Stacey, wieder in einem Krankenhaus. Mac überreicht ihr zwei Dutzend gelbe Chrysanthemen. Hey, ein Mädchen, was? Gut gemacht. Stacey nimmt die Blumen, lächelt ihn an, weiß auf einmal um die späte Stunde, ist außerstande, sich zu freuen über das, was er sagte oder dachte über das neue Kind. Sie sind wunderschön, Mac, die Blumen. Freut mich, dass sie dir gefallen. Ja, herrlich – tausend Dank. Keine Ursache. Alles war in Ordnung. Natürlich. Sie hielt Jen in ihren Armen und dachte an Duncan.

Weit nach Mitternacht kommt Mac nach Hause. Stacey wird wach, als sie seinen Schlüssel im Schloss hört. Langsam geht er die Treppe hoch, seine Schritte klingen wie die seines Vaters, wie Matthews Schritte sonntags auf den Stufen zum Haus, vierundsiebzig Jahre alt.

– Meine Güte, Mac, du bist dreiundvierzig.

Doch als er im Schlafzimmer Licht macht und in der Tür steht, kann Stacey keine allzu große Veränderung bei ihm feststellen nach den sechzehn Jahren. Er ist immer noch schlank wie eh und je, und auch wenn seine rotbraunen Haare dunkler geworden sind, er hat sie noch. Er sieht immer noch gut aus, findet sie. Die größte Veränderung sind die zarten Falten um die Augen und auf der Stirn.

– Macht er sich Gedanken, wie er uns ernähren soll? Könnte ich doch nur gehen und ihn allein lassen, ihm dieses Schwert vom Nacken nehmen. Würde er das wollen? Nützt ja nichts, zu sagen, er hat sich für mich und die Kinder entschieden. Er wusste nicht, worauf er sich einlässt, genauso wenig wie ich. Mac – lass es mich erklären. Lass mich erzählen, wie es für mich gewesen ist. Können wir denn gar nichts mehr zueinander sagen, um die Lügen wiedergutzumachen, die Banalitäten, die Müdigkeit, von der wir nichts geahnt haben, bis sie permanent Einzug hielt in unseren Adern?

»Na? Ganz schön spät geworden, Mac.«

»Mein Gott. Ist das meine Schuld? Ich musste erst noch was fertig machen.«

»So war das nicht gemeint.«

»Na ja, so hat sich’s aber für mich angehört.«

»Tut mir leid. Ich meinte nur, es ist spät geworden und das ist doch blöd. Für dich, meinte ich, Herrgott.«

»Schon gut, schon gut, ist doch egal.«

»Egal! Dass du jedes einzelne Wort von mir in den falschen Hals …«

»Stacey, Herrgott. Ich bin müde. Hör auf, aus allem ein Drama ein machen.«

»Ach, ich mache ein Drama. Es wäre einfach nur schön, wenn du wüsstest, was ich meine.«

– Was will ich damit erreichen? Und wenn ich wüsste, was du meinst. Ach Mac. Rede. Bitte.

»Entschuldige. Ich steh auf der Leitung – okay? Aber ich bin todmüde und ich hab keine Lust auf den nächsten …«

»Entschuldige. Das meinte ich nicht.«

»Schon gut, schon gut. Vergessen wir’s einfach, ja? Schwamm drüber. Der Tag hat mir gereicht.«

– So sieht’s aus. Genau so. Schwamm drüber. Wenn wir beide tot sind, vergessen wir’s.

Mac zieht sich aus und legt sich zu ihr ins Bett.

»Jesses, bin ich gerädert.«

»Dann solltest du lieber sofort schlafen.«

»Ich muss.«

»Schon gut, ich weiß.«

»Tja, tut mir leid.«

»Das muss es nicht.«

»Ja, aber du bist die ganze Woche allein gewesen.«

»Macht nichts – ich bin’s gewohnt.«

»Hör mal, bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht?«

»Es macht mir nichts aus. Das ist es nicht. Hör zu, es ist gut. Alles in bester Ordnung – okay?«

»Ja, na gut. Gott, der Verkehr war ein Albtraum heute Abend, auf dem Rückweg in die Stadt. Den Kindern geht’s gut?«

»Ja, hier ist alles bestens. Wie war’s denn diesmal?«

»Ach – hätte schlimmer sein können.«

»Erzähl.«

»Gibt nichts zu erzählen. Das Übliche halt.«

»Was ist denn das Übliche?«

»Ach, was weiß ich. Derselbe Mist wie immer. Hör mal, ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, alles in Ordnung.«

»Na dann, gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Stacey Cameron, zwölf Jahre alt, besucht für eine Woche eine entfernte Cousine, die auf einer Farm fünfzig Meilen vor Manawaka lebt. Sie hasst jede Minute, verkrampft sich vor Fremdheit und Einsamkeit, fürchtet sich vor Kühen und kojotenähnlichen Hunden, ekelt sich vor ungewohntem Essen, Kartoffeln und Apfelkuchen zum Frühstück, denkt an daheim, wo sie aber auch nicht sein wollte, an die Grabesstille zwischen Niall Cameron und seiner Frau. Stacey schreibt nach Hause. Wie geht es euch? Mir geht es gut.

Neben ihr stöhnt Mac leise im Schlaf, dreht sich auf die andere Seite und ist still. Stacey kann nicht einschlafen.

– Verdammt, wie kann er so unbekümmert vor sich hinschnarchen. Ich hätte Lust, ihm einen Tritt zu verpassen, damit er aufwacht und wir dann wenigstens zusammen leiden. Also gut, Gott, sag nichts, lass mich raten. Ich bin ein richtiges Ekel. Ich weiß. Aber ich frage dich, Sir, ist es fair, dass Mac schlafenderweise systematisch seine physischen und mentalen Batterien auflädt, während ich hier liege, steif wie ein verfluchtes Brett? Was sagst du? Du willst sagen, Gerechtigkeit erwarten kann nur ein Spatzenhirn? Da könnte was dran sein, Herr. Da muss ich mal drüber sinnieren.

Einer von ihnen weint. Die Spiele verpuffen. Stacey setzt sich im Bett auf. Mac ist halb wach.

– Wer? Duncan.

»Was ist denn jetzt schon wieder, Stacey?«

»Duncan. Ich glaube, er träumt schlecht.«

»Lass ihn. Du verdirbst diesen Jungen noch, Stacey. Es kann doch nicht angehen, dass seine Mutter ständig aufspringt, um ihm das Händchen zu halten, nur weil er mal wach wird, in seinem Alter.«

Das Weinen wird lauter, dünn, gedämpft, ängstlich.

»Ich kann ihn doch nicht einfach weinen lassen, Mac.«

»Na los, dann geh. Aus dem wird mal ein ganz toller Kerl.«

Stacey stolpert aus dem Bett und den langen Flur hinunter, durch die Dunkelheit, Lichtmachen ist unnötig, jede Verwerfung des Teppichs ist ihren bloßen Füßen vertraut. So ist es immer schon gewesen mit den Jungs. Früher hatte Ian Albträume, und jetzt hat Duncan sie.

– Das ist der eine Gedanke, den Mac nicht ertragen kann, die unzureichende Männlichkeit einer seiner Söhne. Er fragt sich, was sein wird, wenn sie aus dem Haus gehen, welche kranken Blüten sie treiben werden. Er quält sich (glaub ich zumindest) mit dem Gedanken herum, und dann geht er auf sie los und spielt den Oberfeldwebel, das Abhärtungsspiel, wie er jedenfalls glaubt. Manchmal seh ich’s genauso und denke, Wie kann ich je wiedergutmachen, was ich ihnen angetan habe? Wie kann ich mich je rechtfertigen oder Buße tun? Und doch renne ich immer wieder hin, wenn sie wach werden und aufschreien. Es ist wie ein innerer Zwang. Ich kann den Gedanken nun mal nicht ertragen, dass einer von ihnen in seinem Albtraum gefangen ist, ganz allein. Dann wiederum denke ich, es könnte ihnen weitaus Schlimmeres passieren, als schwul zu sein und dass es mir, wenn sie mal aus dem Haus und auf sich gestellt sind, in gewisser Weise völlig egal wäre, wen sie im Arm hielten, solange überhaupt jemand da wäre, und sie es über sich bringen würden, zu weinen. Würde ich genauso denken, wenn sich Katie als lesbisch entpuppte? Völlig ausgeschlossen, bei Katie. Ah ja? Da siehst du mal, Zuckerpuppe – Wirrungen allenthalben.

Duncan ist halb wach, reibt sich die Augen und versucht in die Welt zurückzufinden.

»Mum?«

»Ist ja gut, mein Schatz. Du hast nur schlecht geträumt, glaub ich.«

»Da waren lauter Nägel, die kamen durch mein Bett.«

»Ist ja gut – jetzt bist du ja wach.«

»Es war nur ein Traum, stimmt’s, Mum?«

»Ja. Es war nur ein Traum. Kannst du jetzt wieder einschlafen?«

»Ich glaub schon.«

Duncan dreht sich auf die andere Seite und ist sofort weg.

– Hat die Falle ihn entlassen? Es war meine Schuld, nicht wahr? Wegen heut Nachmittag, weil ich wollte, dass der Lärm aufhört.

Stacey küsst ihm die Stirn, berührt sein verschwitztes Haar. Dann wendet sie sich zum Gehen. Im anderen Bett auf der anderen Zimmerseite wird sich gerührt.

»Mum?«

»Ian? Bist du wach? Hat Duncan dich geweckt? Schade.«

»Macht nichts. Gute Nacht.«

Ian streckt die Hand aus. Für ihn ist das etwas Besonderes. Stacey hält ihm kurz die Hand, versucht zu deuten, dann steckt sie seine Bettdecke fest.

»Gute Nacht, Schatz. Schlaf gut.«

»Gute Nacht, Mum.«

– Hat er mir verziehen? Oder will er nur um jeden Preis beruhigt werden?

Als sie wieder ins Schlafzimmer kommt, sitzt Mac im Bett und raucht.

»Wenn du einen Schlappschwanz aus deinem Sohn machen willst, Stacey, bist du auf dem richtigen Weg.«

»Finde ich nicht.«

»Ich schon.«

»Ist deine Mutter nie nachts aufgestanden, wenn du schlecht geträumt hast?«

»Ich hab meines Wissens nie schlecht geträumt.«

»Das glaub ich dir nicht. Du hast es nur vergessen.«

»Ich habe nicht die Angewohnheit, Dinge zu vergessen. Duncan würde sich’s schleunigst überlegen mit seiner Träumerei, wenn ihm klar wäre, dass du nicht jedes Mal angelaufen kommst.«

»Er macht das nicht mit Absicht. Er hatte Angst.«

»Was du nicht sagst. Er hat sich aber verdammt schnell wieder eingekriegt, kaum war Mum da.«

»Mac – sei nicht böse.«

»Ich bin nicht böse.«

»Bist du wohl.«

»Stacey, ich bin nicht böse. Ich versuche dir einfach nur klarzumachen, dass du diesen Jungen bemutterst und dass es ihm nicht guttut. Kapierst du denn nicht mal das?«

– Nicht mal das. Neben all dem anderen Nichtkapierten? Nein, ich kapiere nicht mal das. Aber wenn er recht hat, wie steh ich dann da? Als Kindsverderberin. Und dann seine unterdrückte Wut. Aber die Kinder merken sie auch mir an. Mum, sei nicht böse. Ich bin nichtböse, sag ich dann zu ihnen. Todsicher.

»Ich will ihn nicht bemuttern. Ich werde mir Mühe geben, es nicht zu tun. Ehrlich, Mac, ich geb mir Mühe.«

»Tja, Schatz, du solltest es wirklich versuchen. Seinetwegen.«

»Das werde ich, Mac. Ehrlich.«

– Das werde ich. Werde alles, egal was. Ich drehe mich auf links. Ich tanze auf einem Stecknadelkopf. Ich jodle aus dem nächstbesten Baumwipfel. Ich verspreche dir alles, nur um des lieben Friedens willen. Danach werde ich mich dafür verfluchen, und dich gleich mit. Ach, Mac.

»Ehrlich, Stacey, es ist doch nur, weil ich …«

»Ja, ich weiß.«

Sie legt sich wieder ins Bett. Dann ist Mac nicht zu müde, gerade als sie es ist. Er zieht sie zwischen seine Beine, und sie berührt ihn verführerisch, damit er nichts merkt. Als er in ihr ist, packt er ihren Hals, wie er es hin und wieder ohne Vorwarnung tut. Er drückt sehr fest gegen ihr Schlüsselbein.

»Mac, bitte …«

»Das kann doch nicht wehtun, doch nicht so sehr. Ich mach doch fast gar nichts. Sag, dass es nicht wehtut.«

»Es tut weh.«

»Kann nicht sein. Nicht mal ein bisschen. Sag, dass es nicht wehtut.«

»Es tut nicht weh.«

Dann kommt er, und schläft ein. Die Ränder des Tages verschwimmen jetzt in Staceys Kopf.

– Gott, Sir, weiß ich warum? Gut, ich habe diesen Mann alt gemacht. Ich hab ihm meine Kinder angehängt. Ich rede und rede auf ihn ein, und irgendwann hat er die Nase voll und sucht sich einen Ausweg, wo ich nicht folgen kann und nichts verstehe. Es sind zu viele Leute in diese Situation verwickelt, weißt du das, Herr? Du weißt es nicht. Stacey, schlaf endlich, in Gottes Namen. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Optimistin.

In den Hügeln brennt es. Wer hat eine brennende Zigarette fallenlassen? War sie das? Immergrün fängt schrecklich leicht Feuer. Im Fall eines Waldbrands müssen alle Männer der Umgebung losziehen und löschen. So ist das Gesetz des Landes. Alle müssen dem Gesetz des Landes Folge leisten. Aber nur die Männer werden gezwungen. Die Kinder haben da nichts verloren. Ist ihnen nicht klar, dass sie da nichts zu suchen haben? Es gibt nur einen Weg zu ihnen hin. Ein schwarzer umgestürzter Baum über dem Graben. Eine Hängebrücke über der schroffen Felsschlucht. Baum-Brücke. Die Schlucht ist so tief, dass kein Mensch jemals gewagt hat, nach unten zu schauen. Alles wird gut, sie darf nur nicht nach unten schauen. Komm, Stacey, nur noch ein kleines Stück. Die Hände. Einem davon hält sie die Hände. Welchem? Sie darf nicht nochmal zurück. Nur dieses eine kann sie mitnehmen, raus aus dem knisternden Rauch, zurück in die grüne Welt. Sie darf nicht hinschauen, welches es ist. Sie darf nicht hinschauen, nie wieder, um zu sehen, welches es ist. Sie darf nie erfahren, wer zurückgelassen wurde. Sie muss es wissen. Nein. Nicht geboren zu werden. Nicht geboren zu werden, würde heißen, nicht sterben zu müssen. Doch das wäre sinnlos. Philosophie, meine Liebe, ist unter bestimmten Umständen sinnlos. Ihre Stimmen? Oh ja – keine Frage. Ihre Stimmen würde sie immer erkennen. Sie muss die Stimmen zählen. Aber sie darf nicht. Sie wissen, dass sie ihre Stimmen hören kann. Sie wissen nicht, warum sie nicht zu ihnen kann. Kann sie es erklären, hat sie noch einen Moment Zeit? Keine Zeit

BR R R R RING

– Wo ist der verdammte Wecker? Ah, hier. Schnauze, du blödes Ding. Na also. Schon wieder ein neuer Tag. Verdammt.

ZWEI

Das Haus der MacAindras am Bluejay Crescent ist nicht stilvoll, aber auch nicht heruntergekommen. Seit zwölf Jahren wohnen Mac und Stacey in diesem großen eckigen Kasten mit dem hohen Giebel und dem grauen Dach, der Fassade mit den moosgrün gestrichenen Zedernschindeln und der nur leicht abgesackten Veranda mit dem Fliegengitter. Stacey hängt daran, teils, weil sie vor neuen Häusern Angst hat und teils, weil ihre Adern und Hautzellen mit diesem Haus verbunden zu sein scheinen.

– Mac hasst es Jahr für Jahr mehr, weil es so unelegant ist und auf ihn abfärbt, oder so denkt er zumindest. Oder so denke ich, dass er denkt. Eines schönen Tages wird er den Sprung schaffen, und wir werden in ein teures neues Terrassenhaus im Westteil der Stadt ziehen, mit diesen aalglatten Teakholzmöbeln, bei dem ich das Gefühl haben werde, weniger wert zu sein als mein eigener Wohnzimmertisch.

Jen krabbelt auf der Veranda herum. Der Nachmittag hat die fiebrig feuchte Wärme des Frühsommers, und Stacey schaukelt in der braunweiß gestreiften Hängematte mit den Troddeln, die Mac als Unseren Anachronismus