Eine (sehr) kurze Geschichte des Lebens - Henry Gee - E-Book
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Eine (sehr) kurze Geschichte des Lebens E-Book

Henry Gee

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Beschreibung

Der langjährige  Nature  -Chefredakteur Henry Gee erzählt die Geschichte des Lebens: Sein Buch versammelt das Wichtigste über unsere Existenz in den letzten 4,6 Milliarden Jahre auf 224 mitreißenden und höchst überraschenden Seiten.    Dieses Buch macht die komplexe Entstehung des Lebens auf unserem Planeten erstmals für alle verständlich. Dabei stand das Leben auf der Erde schon mehrfach kurz vor der Auslöschung. Es gab zwei Millionen Jahre dauernde Vulkanausbrüche und mehrfach schwere Asteroideneinschläge. Katastrophen, ohne die allerdings etwa die Ausbreitung der Säugetiere nicht möglich gewesen wäre.    Henry Gee schildert unterhaltsam und anschaulich, wie sich das Leben immer wieder durchsetzte: Schwämme filterten 400 Millionen Jahre lang das Meereswasser, bis das Meer bewohnbar war, und langwierige 20 Millionen Jahren brauchten die Pflanzen, um sich auch an der toxischen Erdoberfläche etablieren zu können. Am Ende steht die Erkenntnis: Das Leben findet immer einen Weg.      "Das Buch zur Entstehung des Lebens, das jeder gelesen haben muss!"   – Jared Diamond   

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Seitenzahl: 374

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Henry Gee

Eine (sehr) kurze Geschichte des Lebens

Aus dem Englischen von Alexander Weber

Hoffmann und Campe

In Gedenken an Jenny Clack,

Mentorin und Freundin

(1947–2020)

1Das Lied von Feuer und Eis

Er war einmal ein riesiger Stern, der im Sterben lag. Millionen von Jahren hatte er gebrannt, allmählich aber ging dem Fusionsreaktor in seinem Inneren der Brennstoff aus. Der Stern erzeugte die Energie, die er zum Leuchten brauchte, indem er Wasserstoffatome zu Helium verschmolz. Doch die bei dieser Fusion freigesetzte Energie brachte den Stern nicht nur zum Leuchten. Sie hatte eine weitere wichtige Funktion: Sie wirkte der Gravitation entgegen, verhinderte, dass er von seiner eigenen Schwerkraft zermalmt wurde. Als sein Wasserstoffvorrat zur Neige ging, begann der Stern das Helium zu Atomen schwererer Elemente wie Kohlenstoff und Sauerstoff zu fusionieren. Mittlerweile jedoch hatte der Stern kaum noch etwas, was er verbrennen konnte.

Schließlich kam der Tag, als sein Brennstoff vollständig aufgebraucht war. Die Schwerkraft gewann die Oberhand: Der Stern implodierte. Obwohl er Millionen Jahre lang gebrannt hatte, dauerte der Kollaps nur einen Sekundenbruchteil. Der Rückstoß dieser Explosion war so gewaltig, dass er das Universum erhellte – eine Supernova. Alles Leben, das vielleicht im Planetensystem des Sterns existierte, wurde ausgelöscht. Doch aus der Katastrophe erwuchs der Keim von etwas Neuem. Noch schwerere chemische Elemente, geschmiedet im Todeskampf des Sterns – Silizium, Nickel, Schwefel und Eisen –, wurden von der Explosion weit hinaus ins All geschleudert und verstreut.

Jahrmillionen später fegte die Schockwelle der Supernova durch eine Wolke aus Gas, Staub und Eis. Diese Wolke wurde von der Gravitationswelle so stark gedehnt und gepresst, dass sie in sich zusammenfiel. Während sie dichter und dichter wurde, begann sie zu rotieren. Die Schwerkraft presste das Gas im Inneren der Wolke derart fest zusammen, dass die Atome anfingen, miteinander zu verschmelzen. Wasserstoffatome wurden komprimiert und formten Helium, das Licht und Wärme hervorbrachte. Der Lebenskreis des Sternenlebens hatte sich geschlossen. Aus dem Tod eines alten Sterns war ein anderer geboren worden, jung und neu – unsere Sonne.

*

Die Wolke aus Gas, Staub und Eis reicherte sich nun mit den schwereren Elementen an, die in der Supernova entstanden waren. Zudem geronnen Teile der Wolke zu einem System verschiedener Planeten, die nun um diese neue Sonne kreisten. Einer davon war unsere Erde. Diese neugeborene Erde hatte wenig gemein mit dem Planeten, den wir heute kennen. Die Atmosphäre war ein tödlicher Nebel aus Methan, Kohlendioxid, Wasserdampf und Wasserstoff, in dem wir nicht hätten atmen können. Die Oberfläche war ein Meer glutflüssiger Lava, aufgepeitscht durch die unablässigen Einschläge von Asteroiden, Kometen und sogar anderen Planeten. Einer von ihnen war Theia, ein Planet etwa so groß wie der heutige Mars.[1] Theia streifte die Erde und brach auseinander. Ein Großteil der Erdoberfläche wurde durch die Kollision hinaus ins All gesprengt. Einige Millionen Jahre lang hatte unser Planet Ringe wie der Saturn. Schließlich jedoch verschmolzen diese Ringe und formten eine weitere neue Welt – den Mond.[2] All dies geschah vor ungefähr 4,6 Milliarden Jahren.

Jahrmillionen vergingen. Irgendwann war es so weit, die Erde hatte sich stark genug abgekühlt, dass der Wasserdampf in der Atmosphäre kondensierte und als Regen zu Boden fiel. Es regnete etliche Millionen Jahre lang, so lange, bis die ersten Ozeane entstanden waren. Und dann war alles Meer – es gab kein Land. Die Erde, einst ein Feuerball, war zu einer Wasserwelt geworden. Nicht dass es nun weniger turbulent zuging. Zu dieser Zeit drehte sich die Welt schneller um die eigene Achse als heute. Der neue Mond hing dicht und drohend über dem schwarzen Horizont. Jede auflaufende Flut war ein Tsunami.

*

Ein Planet ist mehr als ein Haufen Steine. In jedem Planeten mit einem Durchmesser von mehr als einigen 100 Kilometern bilden sich mit der Zeit verschiedene Schichten heraus. Weniger dichte Stoffe wie Aluminium, Silizium und Sauerstoff gehen eine Mischung ein und ergeben eine leichtere Gesteinsschicht nahe der Oberfläche. Dichtere Stoffe wie Nickel und Eisen sinken nach unten bis zum Kern. Heute ist der Erdkern eine rotierende Kugel aus flüssigem Metall. Die eigene Gravitationskraft und der Zerfall schwerer radioaktiver Elemente wie Uran entstanden in den letzten Zuckungen der alten Supernova, halten ihn beständig heiß. Die Drehung der Erde lässt in ihrem Kern ein Magnetfeld entstehen. Dessen Feldlinien dringen mitten durch die Erde und reichen bis weit ins All hinaus. Dieses Magnetfeld schützt die Erde vor dem sogenannten Sonnenwind, einem konstanten Strom winziger energiegeladener Partikel, den die Sonne abstrahlt. Diese Teilchen prallen entweder vom Erdmagnetfeld ab oder werden um die Erde herum ins All geleitet.

Die Erdwärme, die vom flüssigen Kern nach außen abstrahlt, hält den Planeten immerfort am Köcheln, wie einen Topf mit siedendem Wasser auf dem Herd. Die emporsteigende Wärme weicht die oberen Schichten auf, lässt die weniger dichte, aber festere Kruste bersten, treibt die Einzelteile auseinander und lässt dazwischen neue Ozeane entstehen. Diese Teile, die tektonischen Platten, sind immer in Bewegung. Sie stoßen zusammen, gleiten aneinander vorbei oder schieben sich gar untereinander. Diese Bewegung hinterlässt tiefe Gräben im Meeresgrund oder türmt riesige Gebirge auf. Sie verursacht Erdbeben und Vulkanausbrüche. Sie erschafft neues Land.

Während sich kahle Berge in die Höhe schoben, wurden große Teile der Erdkruste zurück in die Tiefe gezogen, verschwanden in Tiefseegräben an den Rändern der tektonischen Platten. Diese Krustenstücke, voll mit Wasser und Sedimenten, wurden tief ins Erdinnere gesogen, gelangten aber in veränderter Form wieder an die Oberfläche. So kann es sein, dass der Schlick vom Meeresboden eines versunkenen Kontinents nach Hunderten von Millionen Jahren durch vulkanische Ausbrüche[3] wieder an die Oberfläche gespien wird – oder sich in Diamanten verwandelt.

*

Inmitten all dieses Chaos, all dieser Katastrophen, entstand Leben. Es waren eben dieses Chaos, das es nährte, die Katastrophen, die es wachsen und gedeihen ließen. Das Leben nahm seinen Anfang in den Tiefen des Meeres, wo die Kanten der tektonischen Platten steil abfielen und wo siedend heiße, mineralreiche Wasserstrahlen unter extremem Druck aus Rissen im Meeresboden strömten.

Die ersten Lebensformen waren kaum mehr als schleimige Membranen über mikroskopisch kleinen Felsspalten. Sie entstanden, als die emporschießenden Ströme aufgewirbelt wurden, sich in verschiedene Strudel aufspalteten, immer schwächer wurden und ihre Fracht aus mineralreichen Schwebstoffen[4] in den Fugen und Poren des Gesteins abluden. Diese Membranen waren löchrig wie ein Sieb, und genau wie ein Sieb ließen sie manche Stoffe durch und andere nicht. Doch obwohl sie durchlässig waren, herrschten im Inneren der Membranen bald andere Verhältnisse als im reißenden Strudel jenseits davon: Innen war es ruhiger, geordneter. Selbst eine einfache Blockhütte mit Dach und Wänden bietet Schutz vor einem Schneesturm, auch wenn die Tür klappert und die Fenster scheppern. Diese Membranen wendeten ihre Durchlässigkeit zum Vorteil, nutzten die Löcher, um durch sie Nährstoffe und Energie aufzunehmen sowie um Abfallprodukte auszuscheiden.[5]

Vor den chemischen Turbulenzen ihrer Außenwelt geschützt, waren diese winzigen Tümpel Oasen der Ordnung. Allmählich verfeinerten sie die Erzeugung von Energie und nutzten sie, um kleine Bläschen von sich abzutrennen, jede in eine eigene Teilschicht der Muttermembran gehüllt. Anfangs geschah dies noch völlig willkürlich, doch wurde es mit der Zeit zunehmend planvoller, und zwar durch die Entwicklung einer inneren chemischen Blaupause, die kopiert und an neue Generationen membranumhüllter Blasen weitergegeben werden konnte. Damit wurde sichergestellt, dass neue Generationen von Blasen mehr oder weniger originalgetreue Kopien ihrer Eltern waren. Die effizienteren Blasen gediehen auf Kosten der weniger geordneten.

Und diese schlichten Blasen standen auf einmal an der Schwelle zum Leben, da sie, wenn auch nur vorübergehend und unter großen Mühen, einen Weg gefunden hatten, dem sonst so unaufhaltsamen Anstieg sogenannter Entropie Einhalt zu gebieten – der Nettozunahme von Unordnung im Universum. Denn genau das ist eine der wesentlichen Fähigkeiten des Lebens. Diese schaumigen Seifenblasenzellen trotzten wie geballte Fäuste ihrem Schicksal, winzige Bollwerke gegen eine leblose Welt.[6]

*

Das wohl Erstaunlichste am Leben auf der Erde – abgesehen von seiner schieren Existenz – ist die Geschwindigkeit, mit der es entstand. Es entwickelte sich gerade einmal 100 Millionen Jahre nach der Bildung des Planeten selbst, in den vulkanischen Tiefen, als die junge Erde aus dem All noch immer von Himmelskörpern bombardiert wurde, die so groß waren, dass sie die gewaltigen charakteristischen Einschlagskrater auf dem Mond hinterließen.[7] Vor 3,7 Milliarden Jahren hatte sich das Leben aus der ewigen Finsternis der Ozeane bereits bis zur sonnenbeschienenen Wasseroberfläche vorgearbeitet.[8] Vor 3,4 Milliarden Jahren hatten Lebewesen begonnen, sich billionenfach zusammenzuschließen und so große Riffe zu bilden, dass sie selbst vom Weltraum aus zu sehen waren.[9] Das Leben hatte endgültig Fuß gefasst.

Diese Riffe bestanden jedoch nicht aus Korallen – die sollten noch drei Milliarden Jahre auf sich warten lassen. Sie bestanden aus grünlichen haarfeinen Fäden und Stummeln aus Schleim, die sich aus mikroskopisch kleinen Organismen zusammensetzten, sogenannten Cyanobakterien – denselben Lebensformen, die noch heute den bläulich grünen Glibber auf unseren Gartenteichen bilden. Sie legten sich in Schichten über Felsen und Ebenen auf dem Meeresboden, um gleich im nächsten Sturm wieder unter Sand begraben zu werden, doch sie arbeiteten sich wieder empor, wurden abermals verschüttet und bildeten so kissenartige Haufen aus geschichtetem Schleim und Sediment. Diese hügelartigen Ansammlungen, die man Stromatolithen nennt, sollten die erfolgreichsten und beständigsten Lebensformen werden, die je auf unserem Planeten lebten – drei Milliarden Jahre waren sie die unangefochtenen Herrscher dieser Welt.[10]

*

Die Welt, in der das Leben seinen Anfang nahm, war warm,[11] aber – von Wind- und Meeresrauschen abgesehen – völlig still. Die vom Wind bewegte Luft enthielt so gut wie keinen Sauerstoff. Ohne eine schützende Ozonschicht in der oberen Atmosphäre tötete die ultraviolette Sonnenstrahlung alles Leben oberhalb – und auch bis sogar einige Zentimeter unterhalb – der Meeresoberfläche gnadenlos ab. Zu ihrer Verteidigung bildeten die Kolonien von Cyanobakterien Pigmente, die imstande waren, diese schädlichen Strahlen zu absorbieren. Sobald sie deren Energie aufgenommen hatten, konnten die Bakterien sie sich zunutze machen. Die Cyanobakterien verwendeten sie, um chemische Reaktionen zu befeuern. Einige von ihnen verschmolzen Kohlenstoff-, Wasserstoff- und Sauerstoffatome miteinander, um daraus Zucker und Stärke zu gewinnen. Diesen Vorgang nennen wir Photosynthese. Aus der Bedrohung war ein Segen geworden.

Bei heutigen Pflanzen nennt man dieses Pigment Chlorophyll. Es nutzt die Sonnenenergie, um Wasser in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff aufzuspalten, wobei Energie für weitere chemische Reaktionen frei wird. In der Frühzeit der Erde könnten diese Rohstoffe ebenso gut eisen- oder schwefelhaltige Mineralien gewesen sein. Der beste Rohstoff allerdings war der, der im Überfluss vorhanden war – Wasser. Doch die Sache hatte einen Haken. Bei der Photosynthese von Wasser entsteht ein Abfallprodukt: ein farbloses, geruchloses Gas, das alles in Brand setzt, womit es in Berührung kommt. Dieses Gas ist einer der tödlichsten Stoffe des Universums. Sein Name? Freier Sauerstoff oder O2.

Für das erste Leben auf der Erde, das sich in einem Ozean und einer Atmosphäre praktisch ohne freien Sauerstoff entwickelt hatte, war dies eine Katastrophe. Um diesen Vorgang ins Verhältnis zu setzen: Als die Cyanobakterien vor mehr als drei Milliarden Jahren ihre ersten Vorstöße ins Reich der oxygenen – sprich Sauerstoff freisetzenden – Photosynthese unternahmen, gab es in der Atmosphäre nur so wenig freien Sauerstoff, dass man ihn wohl gerade einmal als Spurenstoff bezeichnen könnte. Doch Sauerstoff ist eine so mächtige Substanz, dass selbst eine Spur davon für Lebensformen, die ohne ihn entstanden waren, katastrophale Auswirkungen haben kann. Dieser Hauch von Sauerstoff verursachte das erste von vielen Massensterben in der Erdgeschichte, ein Massensterben, bei dem etliche Generationen von Lebewesen bei lebendigem Leibe verbrannt wurden.

*

Bald jedoch gelangte noch mehr freier Sauerstoff in die Atmosphäre: während der sogenannten Großen Sauerstoffkatastrophe. So bezeichnet man eine turbulente Periode vor etwa 2,4 bis 2,1 Milliarden Jahren, in der aus noch ungeklärten Gründen die Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre zunächst stark anstieg (auf mehr als die heutigen 21 Prozent), sich dann aber wieder auf knapp zwei Prozent einpendelte. Wenngleich der O2-Anteil nach heutigen Maßstäben noch immer winzig war – und zu gering zum Atmen –, waren die Auswirkungen auf das Ökosystem gewaltig.[12]

Durch die Zunahme tektonischer Aktivität wurden riesige Mengen kohlenstoffreichen organischen Materials – die Überreste unzähliger Generationen von Lebewesen – unter dem Meeresgrund begraben, wo der Sauerstoff ihnen nichts anhaben konnte. Dies führte zu einem Überschuss an freiem Sauerstoff, der nun mit allem reagieren konnte, mit dem er in Kontakt kam. Er verätzte blanke Felsen, verwandelte Eisen in Rost und Kohlenstoff in Kalkstein.

Zur gleichen Zeit wurden der Luft Gase wie Methan und Kohlendioxid entzogen und von der Masse neu entstandenen Gesteins absorbiert. Methan und Kohlendioxid bilden die flauschige Daunenfüllung jener schützenden Decke, die den Planeten warm hält. Sie fördern das, was wir den Treibhauseffekt nennen. Ihr Fehlen stürzte die Erde in die erste und größte ihrer vielen Eiszeiten. Gletscher breiteten sich von Pol zu Pol aus und überzogen den gesamten Planeten für 300 Millionen Jahre mit einer Eisschicht.

Es klingt, als wäre alles zu Ende, aber dennoch erwiesen sich die Große Sauerstoffkatastrophe und die anschließende »Schneeball-Erde« als genau die Art von apokalyptischem Desaster, in der das Leben auf der Erde stets gedieh. Viele lebendige Wesen starben, das Leben selbst jedoch vollzog seine nächste große Revolution.

*

In den ersten zwei Milliarden Jahren der Erdgeschichte beruhten die komplexesten Lebensformen auf der Bakterienzelle. Bakterienzellen sind sehr einfach aufgebaut, ganz gleich ob einzeln oder in riesigen verklebten Teppichen auf dem Meeresboden oder, fein wie Engelshaar, in den langen Fäden der Cyanobakterien. Jede für sich genommen ist winzig. Auf den Kopf einer Stecknadel würden mehr Bakterien passen als Hippies einst nach Woodstock pilgerten, und das mit jeder Menge Platz zum Tanzen.[13]

Unter dem Mikroskop wirken Bakterienzellen einfach und strukturlos. Doch ihre Einfachheit ist trügerisch. Was Lebensweise und Lebensräume betrifft, sind Bakterien extrem anpassungsfähig. Sie können so gut wie überall leben. Die Anzahl von Bakterienzellen im (und auf dem) menschlichen Körper übertrifft die Anzahl menschlicher Zellen darin um ein Vielfaches. Ungeachtet der Tatsache, dass manche Bakterien schwere Krankheiten verursachen, könnten wir ohne die Bakterien in unserem Darm, die es uns erst ermöglichen, Nahrung zu verdauen, nicht überleben.

Trotz der enormen Schwankungen in puncto Säuregrad und Temperatur ist das Innere des menschlichen Körpers für Bakterien ein recht lauschiger Ort. Es gibt Bakterien, für die siedende Wasserkessel so angenehm sind wie ein lauer Frühlingstag; andere, die sich in Rohöl pudelwohl fühlen; wieder andere, die in Lösungsmitteln, die beim Menschen Krebs erregen, oder sogar in Atommüll wachsen und gedeihen. Es gibt Bakterien, die im luftleeren Weltraum, unter extremen Temperaturen oder Druck oder in einem Salzkorn eingeschlossen überleben können – und das Millionen Jahre lang.[14]

Bakterienzellen mögen klein sein, aber sie sind geradezu berühmt für ihre Geselligkeit. Verschiedene Arten von Bakterien scharen sich zusammen, um Chemikalien auszutauschen. Die Ausscheidungen der einen Art können einer anderen als Mahlzeit dienen. Die Stromatolithen – die ersten sichtbaren Anzeichen des Lebens auf der Erde – waren Kolonien verschiedener Bakterienspezies. Bakterien sind sogar imstande, Teile ihrer Gene untereinander auszuwechseln. Diesem simplen Tauschgeschäft haben wir es zu verdanken, dass Bakterien heute Resistenzen gegen Antibiotika entwickeln können. Besitzt ein Bakterium kein Resistenzgen für ein bestimmtes Antibiotikum, bedient es sich einfach am genetischen Wühltisch aller Arten in seiner Umgebung.

Diese Neigung von Bakterien, Lebensgemeinschaften mit anderen Bakterienarten zu bilden, ebnete den Weg zur nächsten großen evolutionären Neuerung. Die Bakterien, so ließe sich fast sagen, hoben das WG-Leben auf ein ganz neues Level – das der kernhaltigen Zelle.

*

Irgendwann vor mehr als zwei Milliarden Jahren gewöhnten sich kleine Bakterienkolonien an, innerhalb einer gemeinsamen Membran zu leben.[15] Alles begann damit, dass eine kleine Bakterienzelle, Archaeon[16] genannt, bemerkte, dass sie für ihre Versorgung mit lebenswichtigen Nährstoffen auf einige der Zellen ringsum angewiesen war. Diese winzige Zelle streckte ihre Ranken zu ihren Nachbarzellen aus, um leichter Gene und andere Stoffe austauschen zu können. Die einst so freiheitsliebenden Mitbewohner dieser chaotischen Zellkommune wurden immer abhängiger voneinander.

Jedes Mitglied konzentrierte sich jetzt nur noch auf einen bestimmten Teilbereich des Lebens.

Cyanobakterien spezialisierten sich darauf, die Energie des Sonnenlichts einzufangen, und wurden zu Chloroplasten – den leuchtend grünen Flecken, die man heute in Pflanzenzellen findet. Andere Bakterienarten widmeten sich der Gewinnung von Energie aus Nahrung und wurden zu den winzigen rosa Kraftpaketen, die Mitochondrien genannt werden und in nahezu allen Zellen mit Zellkernen, pflanzlichen wie tierischen, zu finden sind.[17] Doch ganz gleich, worauf sie spezialisiert waren, alle bündelten sie ihre genetischen Ressourcen im zentralen Archaeon. Er wurde zum Kern der Zelle – ihrer Bibliothek, dem Archiv sämtlicher genetischer Informationen, ihrem Gedächtnis, ihrem Erbe.[18]

Diese Arbeitsteilung machte das Leben in der Kolonie um vieles effizienter und geordneter. Was als lose Gemeinschaft begonnen hatte, wurde nun zu einer komplexen Einheit, einer neuen Ordnung des Lebens – der kernhaltigen oder »eukaryotischen« Zelle. Organismen, die aus eukaryotischen Zellen bestehen – ob einzeln (einzellig) oder zu vielen (vielzellig) –, nennt man Eukaryoten.[19]

*

Mit der Evolution des Zellkerns wurde auch die Fortpflanzung um einiges organisierter. Bakterienzellen vermehren sich in der Regel, indem sie sich in der Mitte teilen und auf diese Weise zwei identische Kopien der Mutterzelle erzeugen. Variationen durch das Hinzufügen von zusätzlichem genetischem Material sind bruchstückhaft und zufällig.

Bei Eukaryoten dagegen produziert jeder Elternteil eigens dafür konzipierte Fortpflanzungszellen, die einen hochgradig durchgeplanten Austausch von genetischem Material vollziehen. Dabei werden die Gene beider Elternteile miteinander kombiniert, um den Bauplan eines neuen eigenständigen Individuums zu entwerfen, das sich von beiden Eltern unterscheidet. Diesen eleganten Austausch von Genmaterial nennt man »Sex«.[20] Die Zunahme genetischer Variationen durch Sex hatte wiederum mehr Diversität zur Folge. Das Ergebnis war die Entwicklung einer Fülle verschiedener Arten von Eukaryoten sowie die allmähliche Verschmelzung von Eukaryotenzellen zu mehrzelligen Organismen.[21]

Die Eukaryoten entstanden heimlich, still und leise in einem Zeitraum zwischen 1850 und 850 Millionen Jahren vor unserer Zeit.[22] Vor etwa 1200 Millionen Jahren fingen sie an, verschiedene Arten auszubilden – solche, die bereits als frühe einzellige Verwandte von Algen und Pilzen zu erkennen sind, sowie einzellige Protisten, die man früher Protozoen nannte.[23] Zum ersten Mal wagten sie sich aus dem Meer heraus und besiedelten Süßwasserteiche und Bäche im Landesinneren.[24] An einst unbelebten Küsten bildeten sich Krusten aus Algen, Pilzen und Flechten.[25]

Manche dieser Eukaryoten experimentierten gar mit mehrzelligen Lebensformen, wie im Fall des 1200 Millionen Jahre alten Seetangs Bangiomorpha[26] und des etwa 900 Millionen Jahre alten Pilzes Ourasphaira.[27] Aber es gab noch merkwürdigere Lebensformen. Die frühesten bekannten Hinweise auf vielzelliges Leben sind 2100 Millionen Jahre alt. Einige dieser Lebewesen haben einen Durchmesser von bis zu zwölf Zentimetern, man kann sie also nicht mehr als mikroskopisch klein bezeichnen, muten aber für den heutigen Betrachter derart seltsam an, dass ihre Verwandtschaft mit Algen, Pilzen oder ähnlichen Organismen mehr als zweifelhaft scheint.[28] Möglicherweise handelt es sich um Formen kolonienbildender Bakterien, aber es ist nicht auszuschließen, dass einst ganze Gattungen lebender Organismen existierten – bakterieller, eukaryotischer oder völlig anders gearteter Natur –, die ausstarben, ohne irgendwelche Nachkommen zu hinterlassen, und deshalb für uns schwer als solche zu begreifen sind.

*

Das erste Anzeichen, dass sich etwas Unheilvolles zusammenbraute, war das Auf- und Auseinanderbrechen eines Superkontinents namens Rodinia. Dieser umfasste praktisch die gesamte Landmasse seiner Zeit.[29] Der Zerfall Rodinias hatte eine Reihe von Eiszeiten zur Folge, wie es sie seit der Großen Sauerstoffkatastrophe nicht mehr gegeben hatte. Sie erstreckten sich über 80 Millionen Jahre und hüllten wie bereits zuvor den gesamten Erdball in eine Eisschicht. Doch wieder nahm das Leben die Herausforderung an.

Als es in den Kampf zog, bestand das Leben auf der Erde aus kaum mehr als einem Haufen friedliebender Seegräser, Algen, Pilze und Flechten. Doch es erwies sich als zäh, wendig und ziemlich auf Krawall gebürstet.

Das Leben auf der Erde wurde im Feuer geschmiedet, gehärtet aber wurde es im Eis.

2Auftritt der Tiere

Das Auseinanderbrechen des Superkontinents Rodinia begann vor rund 825 Millionen Jahren. Er dauerte fast 100 Millionen Jahre an und ließ eine Kette von Kontinenten rings um den Äquator entstehen. Der Zerfall ging mit gewaltigen Eruptionen einher, die riesige Mengen vulkanischen Gesteins an die Oberfläche beförderten, vor allem das Magmagestein Basalt. Wenn es Sturm und Regen ausgesetzt ist, verwittert Basalt sehr leicht, und viele der neu entstandenen Landmassen befanden sich in den Tropen, wo Hitze und Feuchtigkeit diesen Prozess zusätzlich beförderten.

Doch Wind und Wetter spülten nicht nur Basalt in die Ozeane. Sie transportierten auch große Mengen kohlenstoffhaltiger Ablagerungen in Tiefen, wohin kein Sauerstoff gelangen konnte. Solange es Kohlenstoff gibt, der zu Kohlendioxid oxidiert werden kann, heizt sich die Erde durch den Treibhauseffekt auf. Wird der Atmosphäre jedoch Kohlenstoff entzogen, kommt dieser Mechanismus zum Erliegen, und die Erde kühlt sich ab. Dieser Reigen von Kohlenstoff, Sauerstoff und Kohlendioxid sollte den Rhythmus der weiteren Geschichte unserer Erde vorgeben – und des Lebens, das sich auf ihrer Oberfläche entwickelte.

Die Verwitterung der Bruchstücke von Rodinia hatte zur Folge, dass die Erde vor rund 715 Millionen Jahren von einer Reihe weltumspannender Eiszeiten heimgesucht wurde, die sich über rund 80 Millionen Jahre erstreckten.

Wie schon in der Zeit nach der Großen Sauerstoffkatastrophe über eine Milliarde Jahre vorher erwiesen sich diese Eiszeiten als Triebfedern der Evolution. Sie bereiteten den Weg für die Entstehung einer neuen aktiveren Art von Eukaryoten – den Tieren.[30]

*

Der ins Meer gespülte Kohlenstoff sank hinab in einen Ozean, der, abgesehen von einer dünnen Schicht, die an die Atmosphäre grenzte, so gut wie keinen Sauerstoff enthielt. Die Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre betrug ohnehin nur ein Zehntel ihres heutigen Wertes, und an der sonnenbeschienenen Wasseroberfläche war sie sogar noch geringer. Kein Tier, das größer war als der Punkt am Ende dieses Satzes, hätte darin überleben können.

Doch es gab Tiere, die mit diesen winzigen Mengen Sauerstoff überleben konnten: Schwämme. Die ersten von ihnen erschienen vor etwa 800 Millionen Jahren, als Rodinia begann in seine Einzelteile zu zerfallen.[31]

Schwämme waren und sind sehr einfache Tiere. Obwohl ihre Larven klein und beweglich sind, verharren ausgewachsene Tiere ihr gesamtes Leben an nur einem Ort. Ein voll entwickelter Schwamm ist denkbar simpel aufgebaut, ist er doch im Grunde kaum mehr als ein formloser, von Tausenden winzigen Löchern, Kanälen und Zwischenräumen durchzogener Zellhaufen. Die Zellen im Inneren dieser Hohlräume rudern mit haarähnlichen Fortsätzen, sogenannten Zilien, und lassen damit Wasser durch den Schwamm strömen. Andere Zellen nehmen nährstoffreiche Schwebstoffe, auch Detritus genannt, aus der Strömung auf. Schwämme haben keine ausgebildeten Organe oder verschiedene Arten von Körpergewebe. Presst man einen lebenden Schwamm durch ein Sieb und legt ihn zurück ins Wasser, fügt er sich zu einer neuen Form zusammen, die ebenso lebendig, ebenso funktional ist wie zuvor. Er führt ein einfaches Leben, das wenig Energie benötigt – und wenig Sauerstoff.

Doch auch das Einfache sollte man niemals unterschätzen. Denn nachdem die Schwämme erst mal sesshaft wurden, veränderten sie die Welt.

Die Schwämme, die inmitten der Schleimteppiche am Meeresboden lebten, siebten Nährstoffteilchen aus dem Wasser. Die Wassermenge, die an einem Tag durch einen Schwamm strömte, war zwar gering, doch Milliarden Schwämme über einen Zeitraum von zehn Millionen Jahren hatten immense Auswirkungen. Ihre langsame, beharrliche Arbeit führte zu einer noch größeren Ansammlung von Kohlenstoff am Meeresgrund – Kohlenstoff, der für eine Reaktion mit Sauerstoff nun nicht mehr zur Verfügung stand. Schwämme säuberten das Wasser um sie herum zudem von kleinsten Abfallstoffen, die sonst von sauerstoffbindenden Fäulnisbakterien verdaut worden wären. Die Folge war ein steter Anstieg des im Meer wie auch in der Luft direkt darüber gelösten Sauerstoffs.[32]

*

Weit über den Schwämmen – in der sonnigen oberen Meeresschicht des Planktons[33] – fraßen Quallen und kleine wurmähnliche Tiere noch kleinere Eukaryoten und Bakterien. Im Wasser nahe der Oberfläche gab es ohnehin mehr Sauerstoff, doch die kohlenstoffreichen Körper der Planktonlebewesen sanken, sobald sie abgestorben waren, nun schneller zu Boden, anstatt lange im Wasser umherzutreiben. Somit wurde dem molekularen Sauerstoff weiterer Kohlenstoff entzogen. Wodurch noch mehr Sauerstoff übrig blieb, der sich im Meer und in der Atmosphäre sammeln konnte.

Obwohl einige der Lebewesen, die das Plankton bildeten, durchaus groß genug waren, dass man sie mit bloßem Auge hätte erkennen können, waren die meisten so klein, dass Nähr- und Abfallstoffe einfach durch ihre Körper hindurchgeschwemmt wurden. Die etwas größeren von ihnen entwickelten eine spezielle Öffnung, in die Nährstoffe herein- und Ausscheidungen hinausgelangen konnten. Diese Öffnung war der Mund, doch in doppelter Funktion diente sie zugleich als Anus.

Die Entwicklung eines separaten Anus durch manche Arten sonst eher unauffälliger Würmer kam einer Revolution gleich: Sie veränderte die gesamte Biosphäre. Zum ersten Mal wurden Ausscheidungen zu festen Kugeln komprimiert, anstatt als Brühe aus gelösten Exkrementen ins Wasser zu gelangen. Statt sich langsam aufzulösen, sanken diese Fäkalien rasch zu Boden, was den Meeresgrund plötzlich zu einem ungemein beliebten Ort machte. Die Fäulnis vorantreibenden, sauerstofffressenden Organismen suchten ihre Nahrung nun vor allem in Bodennähe und nicht mehr im Bereich der ganzen Wassersäule. Die einst so trüben und diesigen Meere wurden klarer und reicherten sich mit zusätzlichem Sauerstoff an – so viel gar, dass es die Entwicklung größerer Lebensformen ermöglichte.[34]

Die Erfindung des Anus hatte noch eine weitere Folge: Tiere mit einem Mund an dem einen und einem Anus an dem anderen Ende haben eine eindeutige Bewegungsrichtung – vorne einen »Kopf« und hinten einen »Schwanz«. Anfangs ernährten sich diese Tiere, indem sie Fetzen von dem dicken Schleimteppich pflückten, der seit über zwei Milliarden Jahren den Meeresgrund bedeckte.

Dann begannen sie sich unter diesen Schleim zu wühlen. Schließlich fraßen sie den Schleim selbst. Die unbestrittene Herrschaft der Stromatolithen war vorüber.

Und als die Tiere den ganzen Schleim aufgefressen hatten, begannen sie sich gegenseitig aufzufressen.

*

Nun gab es aber noch ein anderes Problem, mit dem sie sich herumschlagen mussten: die weltweite Vereisung. Doch die Evolution wächst an ihren Herausforderungen. Der Seetang gedieh prächtig und lieferte den frühen Tieren gehaltvollere Kost als nur Bakterien.[35]

Womöglich waren es gerade die Widrigkeiten der eisumhüllten »Schneeball-Erde«, der wir die zunehmende Komplexität im frühen Tierreich zu verdanken haben. Frei nach dem Motto: Was uns nicht umbringt, macht uns nur noch härter, musste die Tierwelt bereits bei ihrem Entstehen enorme Widerstandsfähigkeit an den Tag legen, um zu überleben – es war die kritischste Phase ihrer Geschichte. Als die Vergletscherungen zurückgingen – wie es bislang jedes Mal in der Erdgeschichte passierte –, gaben sie eine Tierwelt frei, die härter und zäher war als je zuvor und sich alles nahm, was die Erde ihr zu bieten hatte.

*

Tierisches Leben erschien vor rund 635 Millionen Jahren auf der Bildfläche, in einem Zeitalter, das man Ediacarium nennt. Die erste Blütephase einer komplexen Tierwelt brachte eine Fülle elegant geformter, fächerartiger Lebewesen hervor, von denen sich viele jeder Einordnung entziehen.[36] Wiewohl manche sicherlich Tiere waren, könnte es sich bei anderen ebenso gut um Flechten, Pilze oder ganze Kolonien von Geschöpfen unbestimmter Zugehörigkeit gehandelt haben – oder um etwas so Fremdartiges, dass wir es mit nichts vergleichen können.

Eines davon, ein atemberaubend schönes Geschöpf namens Dickinsonia, war breit, jedoch flach wie ein Pfannkuchen und mit einem fächerartigen segmentierten Körper. Man kann sich leicht vorstellen, wie ein solches Tier anmutig über den Meeresboden gleitet, ähnlich wie heutige Plattwürmer oder Meeresschnecken.[37] Bei einem anderen Fossil, Kimberella, könnte es sich um einen sehr frühen Verwandten der Weichtiere handeln.[38] Wieder andere, wie die Rangeomorpha, sind noch schwerer einzuordnen. Sie glichen geflochtenen Broten und blieben wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang an einem Ort, wenngleich sie – ähnlich wie Erdbeerpflanzen – Ausläufer bildeten und so neue Kolonien rund um das Mutterwesen hervorbrachten.[39] Die Welt dieser seltsam schönen, fremdartigen Kreaturen war ruhig und friedlich. Sie besiedelten die flachen Meere und lebten verstreut inmitten von Seetang an den Küsten.[40]

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Die meisten frühen Vertreter dieser Ediacara-Fauna waren ähnlich weich und farnartig. Die ersten deutlich »tierartigeren« Geschöpfe erschienen etwas später, vor etwa 560 Millionen Jahren, mit dem verbreiteten Auftreten sogenannter Spurenfossilien. Spurenfossilien sind keine Rückstände der Lebewesen selbst, sondern Anzeichen ihrer Aktivitäten. Dazu zählen Fährtenabdrücke und Eingrabungen. Spurenfossilien sind ebenso faszinierend wie die Fußabdrücke eines Verbrechers, der kurz zuvor vom Tatort geflohen ist. Aus dem Abdruck lässt sich einiges über die Statur des Täters ablesen, wenn nicht gar über seine Motive. Doch verrät er uns kaum etwas über die Kleidung, die er trug, oder die Waffen, die er bei sich hatte. Dazu müsste man ihn auf frischer Tat ertappen. Selten, höchst selten, gelingt dies auch mit Spurenfossilien. Ein Fossil dieser Art ist Yilingia spiciformis, das in der Spätzeit des Ediacariums lebte. Exemplare dieser Spezies werden gelegentlich am Ende ihrer eigenen Spuren gefunden, und sie ähneln jenen segmentierten Würmern, die Angler heute gern als Köder benutzen.[41]

Diese Spuren sind von überragender Bedeutung. Sie sind ein Echo, ein Nachbild jenes Augenblicks in der Evolution, als die Tiere anfingen, sich in Bewegung zu setzen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Lebewesen in der Regel an einem Ort verwurzelt gewesen, zumindest für einen Teil ihres Lebenszyklus. Fährten und Spuren jedoch werden so gut wie immer von Tieren hinterlassen, die zielgerichtete, aus eigener Kraft vollzogene Bewegungen ausführen. Wenn die Nahrungsquellen eines Tieres überall um es herumschwirren, hat es keinen Grund, woanders danach zu suchen. Weist ein Tier, das an einem Ende einen Mund besitzt, allerdings eine eindeutige Bewegungsrichtung auf, dann sucht es für gewöhnlich etwas, und dieses Etwas ist Nahrung. Irgendwann im mittleren Ediacarium fingen Tiere aktiv an, sich gegenseitig aufzufressen. Und als dies geschah, fanden sie auch Mittel und Wege, nicht gefressen zu werden.

Ein Tier, das sich im Schlamm eingräbt, muss einen festen und widerstandsfähigen Körper entwickeln, damit es den Boden durchdringen kann. Um dies zu erreichen, gibt es verschiedene Wege. Der Körper eines wühlenden Tieres kann entweder durch ein Innenskelett gefestigt sein – wie im Fall eines Jack-Russell-Terriers – oder aber durch ein Außenskelett – wie bei einer Krabbe. Außenskelette können weich und biegsam sein (vergleichbar einer Garnele), mit der Zeit aber auch hart und durch die Einlagerung von Mineralien sehr robust werden (vergleichbar einem Hummer). Eine andere Strategie besteht darin, den Körper in einer Abfolge sich wiederholender Segmente zu strukturieren, alle mit Flüssigkeit gefüllt und vom vorhergehenden und nachfolgenden Teilstück durch eine Art Schott getrennt. Sind all diese Segmente umhüllt von einem robusten röhrenförmigen Muskel, dann kann sich das Tier in die Erde bohren, indem es Druck darauf ausübt. Und wenn es sich auf diese Weise fortbewegt, ist es vermutlich ein Regenwurm.

Die wasserlebenden Verwandten eines solchen Regenwurms tun im Grunde genau dasselbe, doch haben viele von ihnen an jedem dieser Segmente zusätzlich biegsame gliedmaßenähnliche Auswüchse, die ihnen helfen, sich einzugraben, durchs Wasser zu rudern oder an dessen Oberfläche entlangzukraulen. Einige der ältesten versteinerten Tierspuren, wie die von Yilingia spiciformis, könnten von ebensolchen Würmern stammen.

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Tiere wie segmentierte Würmer sind komplexer aufgebaut als Quallen und selbst noch als sehr einfache Plattwürmer. Der entscheidende Unterschied ist, dass sie über eine Innen- und eine Außenseite verfügen.

Quallen und simple Plattwürmer haben praktisch keinerlei Innenleben. Ihre Eingeweide sind Einstülpungen in der Oberfläche, deren Verbindungsweg nach außen sowohl als Mund als auch als Anus dient. Komplexere Tiere dagegen besitzen einen durchgehenden Darm mit einem Mund an dem einen und einem Anus an dem anderen Ende. Womöglich haben sie sogar Hohlräume in ihrem Inneren, die diesen Verdauungstrakt von der Außenfläche trennen. In diesen Räumen können sich innere Organe entwickeln.

Für gewöhnlich fehlt quallenartigen Tieren ein derartiger Stauraum. Die Existenz eines solchen Innenlebens bedeutet, dass das Wachstum von Darm und Außenfläche nicht mehr voneinander abhängen, was die Ausbildung großer, komplexer Därme und von mehr Körpergröße im Allgemeinen ermöglicht. Große Verdauungsorgane und Körper sind recht praktisch für Tiere, deren Hauptbeschäftigung im Verspeisen ihrer Mitgeschöpfe besteht.

Wer das vorhat, der braucht Zähne. Und wer vermeiden will, gefressen zu werden, braucht einen Panzer. Die Tiere im paradiesischen Ediacarium waren in der Regel weich, schwammig und wehrlos. Die Vertreibung aus dem Paradies war hart und gnadenlos – und Folge einer weiteren großen Umwälzung in der Geschichte unseres Planeten.

Diese Umwälzung ereignete sich ganz am Ende des Ediacariums, in einer Zeit gewaltiger Verwitterung. Damals setzte das Wetter der Erdkruste derart zu, dass große Teile der Landmassen erodierten, bis zum Grundgestein abgetragen wurden und ins Meer kippten. Dies hatte zwei Auswirkungen: Erstens stieg der Meeresspiegel deutlich an, wodurch die Küsten überflutet wurden und mehr Raum für Meereslebewesen entstand. Der zweite Effekt war die plötzliche Verfügbarkeit chemischer Elemente wie Kalzium in den Ozeanen, ein wesentlicher Bestandteil von Muscheln und Skeletten.[42]

Die ersten mineralisierten Skelette sind rund 550 Millionen Jahre alt und stammen von einem Tier namens Cloudina. Es sah aus wie ein winziger Turm aufeinandergestapelter Eistüten.[43] Versteinerte Cloudina finden sich überall auf der Welt, und bereits zu diesem frühen Zeitpunkt weisen manche von ihnen Spuren auf, die belegen, dass sich ein unbekanntes scharfzahniges Raubtier in sie hineingebohrt hat.[44] Etwas später, vor etwa 541 Millionen Jahren, taucht im Fossilbericht – der Gesamtheit aller Fossilienfunde – häufig ein Spurenfossil namens Trichophycus pedum auf. Bei Trichophycus pedum handelt es sich bei der Spur um eine besondere Art von Erdloch im Meeresboden, das von einer unbekannten Tierart stammt. Es markiert den Beginn des Kambriums – der zweiten großen Blütezeit tierischen Lebens auf der Erde. Doch nun waren es Tiere, die sich eingruben, die schwammen, kämpften und sich gegenseitig auffraßen. Sie besaßen harte, durch Kalziumverbindungen verstärkte Skelette. Und sie hatten Zähne.

Die wohl bekanntesten Tiere des Kambriums sind die Trilobiten. Trilobiten sind Gliederfüßer[45] – das heißt, Tiere mit segmentierten Gliedern –, die ein wenig wie Kugel- oder Kellerasseln aussahen. Sie bevölkerten die Meere vom Beginn des Kambriums bis zum Devon, in dem sie seltener wurden. Vor rund 252 Millionen Jahren, am Ende des Perms, starben sie schließlich aus.

Trilobiten sind als Fossilien überaus verbreitet. Jeder echte Steinesammler wird mindestens einen davon in seiner Sammlung haben, doch ihre Bekanntheit und Häufigkeit sollte uns nicht dazu verleiten, sie zu unterschätzen. Trilobiten waren außergewöhnlich schöne Geschöpfe und ebenso komplex wie jedes heute lebende Tier. Sie besaßen Außenskelette, die sie abstreifen konnten, wenn sie herauswuchsen, genau wie jeder heutige Gliederfüßer – von der winzigsten Mücke bis zum größten Hummer. Das Bemerkenswerteste an ihnen waren ihre Augen, jedes ein Kunstwerk aus Dutzenden, ja sogar Hunderten einzelner Facetten, wie bei einer Libelle. Jede dieser Facetten ist in den Fossilien als kristallines Kalziumkarbonat erhalten. Natürlich gab es ganz verschiedene Arten von Trilobiten. Manche hatten riesige Augen, andere waren dagegen völlig blind. Einige hatten sich darauf spezialisiert, den Meeresboden nach Nahrung zu durchwühlen, andere wiederum konnten besser schwimmen.

Doch das Leben im Kambrium hatte noch weit mehr zu bieten als nur die Trilobiten.

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Eines Tages vor rund 508 Millionen Jahren im heutigen Kanada riss eine Schlammlawine Teile des Meeresbodens mit sich in die Tiefe – und damit alles, was darin oder darüber lebte. Diese Tiere wurden fast unbeschadet und in nahezu sauerstofffreier Umgebung begraben. Dieser plötzliche Einschluss sorgte dafür, dass sie völlig intakt blieben. Selbst den feinsten Einzelheiten ihrer Weichteile konnten die kommenden fast 500 Millionen Jahre nichts anhaben. In dieser Zeit wurde das Gestein ganz langsam zu Schiefer gepresst und in den vergangenen rund 50 Millionen Jahren aus dem Meer emporgeschoben, sodass es sich nun auf den höchsten Gipfeln Nordamerikas befindet. Seit seiner Entdeckung im Jahr 1909 ist dieses Gestein unter dem Namen Burgess-Schiefer weltbekannt geworden. Die darin versteinerten Lebewesen sind eine seltene Momentaufnahme des Lebens auf dem Meeresgrund des Kambriums.

Und was für eine Tierschau dieses Bild doch bietet: ein Panoptikum stacheliger segmentierter Glieder, schnappender Scheren und fedriger Fühler, alles Teile von Geschöpfen, die entfernt mit heutigen Krebstieren, Insekten und Spinnen verwandt zu sein scheinen. Einige dieser Kreaturen sahen überaus befremdlich aus, selbst in Anbetracht der riesigen Fülle heutiger Gliederfüßer. Es gab Opabinia mit ihren fünf Stielaugen und den merkwürdigen Greifern, die sich am Ende eines biegsamen schlauchartigen Rüssels befanden.

Oder Anomalocaris, einen rund einen Meter langen Räuber, der durch die Meerestiefen streifte und nach Beute suchte, die er anschließend mit scharfen Greifern in sein rundes Maul stopfte, das an einen Müllzerkleinerer erinnert.[46]

Nicht zu vergessen Hallucigenia, ein wurmartiges Geschöpf, das an der Oberseite durch eine Doppelreihe langer sperriger Rückenstacheln geschützt war und über den Grund der Ozeane kroch.

Während die Gliederfüßer über den Meeresboden krabbelten oder schwammen, bot der Schlamm darunter ein wahres Wunderland für Würmer.

Viele der im Burgess-Schiefer verewigten Geschöpfe ähneln nur entfernt heutigen Tieren.[47] Dennoch lässt sich bereits erahnen, mit welcher der heutigen großen Tierarten jedes einzelne Fossil verwandt ist, wenn auch nur als entfernter, exzentrischer Cousin. Zu den Gliederfüßern im weitesten Sinne gehörten neben Hallucigenia auch Fossilien, die den heutigen auf tropischen Waldböden beheimateten Stummelfüßern glichen – Regenwürmern mit stummeligen Michelinmännchenbeinen. Zudem findet sich eine ganze Reihe von Kreaturen, die Ähnlichkeiten mit Würmern aufweisen, die heute in Sedimenten anzutreffen sind.

Ähnliches gilt für die Weichtiere, die so schwammig sind wie die Gliederfüßer stachelig, zumindest auf der Innenseite. Wiwaxia etwa verband den Körper eines vielgliedrigen Wurms mit der verhornten Zunge oder »Radula« eines Weichtiers – jener Raspelzunge, mit der Schnecken heutzutage unsere Salatbeete zugrunde richten. Das ganze Tier war in ein wenig schneckenartiges Kettenhemd gekleidet.[48] Ein anderes Geschöpf mit Radula, das sonst wie eine Kreuzung zwischen Luftmatratze und Kaffeemühle aussah, war Odontogriphus. Auch das war ein Verwandter früher Weichtiere.[49]

Andernorts fand man Nectocaris, ein primitives tintenfischartiges Tier ohne Gehäuse, das als erster bekannter Vertreter der Kopffüßer gilt.[50] Heute stellt diese Gruppe mit dem Kraken eines der intelligentesten und seltsamsten – und mit dem Kolosskalmar sogar das größte – aller wirbellosen Tiere. Die Fossilgeschichte der Kopffüßer ist ebenso schillernd, wie es ihre heutigen Vertreter ahnen lassen: Denn schon bald nach Nectocaris entwickelten sich die Nautiloideen, Tintenfische mit trompetenartigen, mehrere Meter langen Gehäusen, und schließlich die gewundenen Ammoniten, von denen einige so groß wie Lkw-Reifen wurden und die zur Zeit der Dinosaurier geschmeidig durch die Ozeane glitten.

Seit der Entdeckung des Burgess-Schiefers hat man ähnliche Lagerstätten vergleichbaren Alters gefunden, wie etwa die Chengjiang-Faunengemeinschaft in Südchina. Weitere Fundorte verteilen sich über den gesamten Globus von Südaustralien bis Nordgrönland. Jeder von ihnen zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Fossilerhaltung aus, die selbst kleinste Einzelheiten erkennen lässt. Das chinesische Fossil Fuxianhuia etwa, das an eine Garnele erinnert, lässt sich so genau studieren, dass man die Nervenbahnen in seinem Gehirn verfolgen kann.[51]

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Ein so erstaunlicher Erhaltungsgrad ist außerordentlich selten – er ist das Ergebnis des perfekten Zusammentreffens von geologischen Bedingungen und biochemischen Prozessen bei der Einlagerung. In fast allen Fällen, in denen man Fossilien findet, bilden diese nur die harten Bestandteile der Tiere ab, die längst von Mineralien durchsetzt sind: Muscheln, Knochen und Zähne, nicht aber Nerven, Kiemen oder Verdauungsorgane. Zwar sind schon lange Fossilien bekannt, die ähnlich alt sind wie der Burgess-Schiefer, doch handelt es sich dabei ausnahmslos um Versteinerungen der harten und schaligen Teile: ein Erbe der plötzlichen Mineralanreicherung der Meere am Ende des Ediacariums, die es Tieren ermöglichte, schützende Panzer auszubilden.

Das erstaunliche Aufblühen neuer Lebensformen im Kambrium, das sich im Laufe von nur 56 Millionen Jahren ereignete, ist noch immer unübertroffen – und fast ebenso erstaunlich wie die Entstehung des Lebens selbst. Wenngleich 56 Millionen Jahre nicht gerade wenig sind, so sind doch alle Lebensformen, die in den folgenden 485 Millionen Jahren entstanden, lediglich verfeinerte Varianten altbekannter Themen. So ist dieser Zeitraum beispielsweise kürzer als jene 66 Millionen Jahre, die seit dem Aussterben der Dinosaurier vergangen sind.

Nicht von ungefähr wird diese epochale Umwälzung in der Evolution »Kambrische Explosion« genannt. Allerdings ähnelte diese weniger einer schlagartigen Detonation als einem langsamen Grollen. Sie begann mit dem Zerfall Rodinias und der Entstehung und dem Niedergang der seltsam faszinierenden Ediacara-Fauna und endete vor rund 480 Millionen Jahren.[52]

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Am Ende des Kambriums waren bereits alle großen Stämme heutiger Tierarten ein erstes Mal im Fossilbericht in Erscheinung getreten.[53] Nicht nur die Gliederfüßer und verschiedene Arten von Würmern, sondern ebenso die Stachelhäuter (wie etwa die Seeigel) und die Wirbeltiere (Tiere mit Wirbelsäule, zu denen auch wir gehören). Eines der ersten Wirbeltiere war die fischähnliche Metaspriggina, die man im Burgess-Schiefer gefunden hat. Anstatt eines äußeren Kalzitpanzers hatte diese Gattung ein innen liegendes biegsames Rückgrat, an dem kräftige Muskeln verankert waren. Damit konnte das Tier schnell schwimmen – ideal, um riesigen Kopffüßern wie dem albtraumhaften Anomalocaris zu entwischen.

Metaspriggina war einer der ersten Fische, von dem wir aus Fossilienfunden wissen. Doch seine Geschichte gehört ins nächste Kapitel.

3Die Wirbelsäule wächst

Während in den warmen flachen Meeren des frühen Kambriums stachelige Kopffüßer mit ihren Zangen um die Wette klapperten, nahm im sandigen Schlamm aus Mineralkörnern darunter eine ganz andere Geschichte ihren Lauf. Ein kleines, gerade einmal stecknadelkopfgroßes Geschöpf namens Saccorhytus fristete sein karges Dasein, indem es Abfälle aus dem Wasser zwischen den Körnern siebte.[54] Es war keine große Neuerung, Nahrung aus dem Meer zu filtern – Schwämme taten es seit 300 Millionen Jahren, und viele andere Lebewesen, wie etwa die Muscheln, waren gerade dabei, es neu zu erfinden. Den Sedimentboden nach Essbarem zu durchsieben, ist eine wenig aufwendige, aber effiziente Art, über die Runden zu kommen, insbesondere für kleine Tiere mit recht anspruchslosem Stoffwechsel. Saccorhytus war ein solches Tier.

Geformt wie eine Kartoffel, war Saccorhytus doch viel kleiner und hatte einen großen runden Mund, in den er mit Hilfe von Reihen wedelnder Zilien Wasser hineinströmen ließ, ähnlich wie es bei Schwämmen abläuft. An beiden Seiten besaß er jeweils eine Reihe von Poren, wie Bullaugen an einem Schiff, durch die das gefilterte Wasser wieder austrat. In seinem Inneren hielten Netze aus klebrigem Schleim Detritus aus der Wasserströmung zurück. Der Großteil des Innenlebens von Saccorhytus bestand aus dieser Kombination aus Mund und Bullaugen, die Pharynx – oder einfach Rachen – genannt wird. Dieser Schleim wurde dann zu einem Strang gewunden und von einem Darm geschluckt. Der Darm war gemeinsam mit allen übrigen inneren Organen auf relativ kleinem Raum an der Hinterseite des Tieres untergebracht. Auch der Anus lag innen, und die Fäkalien wurden durch die Bullaugen herausgeschwemmt, zusammen mit Spermien oder Eizellen, die, vom Muttertier ausgestoßen, ihr Glück in der feindlichen Außenwelt versuchen mussten.

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Ansonsten jedoch war Saccorhytus völlig hilflos, seiner Umgebung ebenso ausgeliefert wie die Mineralkörner, zwischen denen er lebte. Zahllose dieser Tiere fielen mit Sicherheit anderen Filtrierern wie Schwämmen oder Muscheln zum Opfer, wenngleich sie von größeren Raubtieren wohl kaum beachtet wurden. Einige ihrer Nachkommen jedoch befreiten sich aus dieser misslichen Lage, indem sie größer, wendiger, besser gepanzert oder schlicht gefährlicher wurden – oder eine Kombination aus diesen vier Dingen.

Größer zu sein birgt einen klaren Vorteil: Es verringert die Gefahr, im Ganzen geschluckt oder gefressen zu werden, obwohl es die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass andere Tiere einen anknabbern und häppchenweise verspeisen. Um diesem Schicksal zu entgehen, legten sich nun manche Tiere Rüstungen – sprich Panzer – zu. Etliche andere Tiere hatten dies bereits getan, indem sie ihre äußeren Schichten mit Kalziumkarbonat verstärkten, das sie aus den mineralreichen Meeren gewannen. Kalziumkarbonat ist eines der häufigsten Minerale – es ist der Grundstoff von Kalzit, Kreide, Kalkstein und Marmor. Die kambrischen Meere waren reich an Kalziumkarbonat, das, von Lebewesen geformt, zu Perlmutt wird. Es bildet die Gehäuse von Muscheln und Krustentieren, die mikroskopisch kleinen Spicula der Schwämme und das Gerüst, auf dem die phantastischen Formen von Korallenriffen aufgebaut sind.

Einige der gepanzerten Erben von Saccorhytus schufen sich ganz eigene unverwechselbare Kettenhemden, bei denen jedes Glied aus einem einzigen Kalzitkristall bestand. Auf diese Weise entwickelten sie sich zu den Stachelhäutern, den Vorfahren der heutigen Seesterne und Seeigel. Heutzutage weisen alle Stachelhäuter eine charakteristische Körperform auf, die auf der Zahl fünf basiert und sich von allen anderen Tieren unterscheidet. Im Kambrium waren ihre Formen jedoch vielfältiger. Einige waren bilateral symmetrisch aufgebaut, andere dagegen triradial (das heißt, ihre Symmetrie basierte auf der Zahl drei), wieder andere hatten völlig unregelmäßige Formen entwickelt. Doch alle begannen mit dem Mund-mit-Bullaugen-Pharynx des Saccorhytus, wenngleich dieser im Laufe der Zeit durch andere Arten der Nahrungsaufnahme ersetzt wurde. Kein heutiger Stachelhäuter ernährt sich mehr auf diese Weise.

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Als Verteidigungsstrategie gegen Fressfeinde entschieden sich die Stachelhäuter für die Panzerung. Eine andere Lösung wäre Flucht gewesen – die Fähigkeit, dem Angreifer möglichst schnell davonzuschwimmen. Diese Strategie wählte ein anderer Zweig der Saccorhytus-Nachkommen. Einige von ihnen entwickelten einen peitschenden Schwanz, der aus dem hinteren Ende des Rachens ragte und es ihnen ermöglichte, jeder potenziellen Gefahr so rasch wie möglich zu entfliehen.

Die Grundform dieses Schwanzes, ein langer, fester und doch biegsamer Stab, entwickelte sich aus einem rudimentären Fortsatz des Darms. Man kann sich diese Notochord oder Chorda dorsalis genannte Struktur in etwa so vorstellen wie die wurstförmigen Ballons, aus denen Alleinunterhalter bei festlichen Anlässen so erstaunliche Formen knoten. Trotz seiner Biegsamkeit konnte das Notochord, wenn es nicht unter Spannung stand, stets wieder in seine ursprüngliche lange dünne Form zurückschnellen. Aufgrund dieser Eigenschaft eignete es sich als Ansatzpunkt für Muskelstränge auf beiden Seiten. Diese konnten sich abwechselnd zusammenziehen und entspannen, wodurch der Körper des Tieres in s-förmige Windungen versetzt wurde, die es im Wasser vorwärtsbewegten. Gesteuert wurden diese Muskeln durch eine Reihe von Nervenfortsätzen, die gleichmäßig über die Oberseite des Notochords verteilt waren – das Rückenmark.

Ein kambrischer Tierstamm, die sogenannten Vetulicolia, sieht in etwa so aus.[55] Diese Tiere, die nur ein paar Zentimeter lang sind, haben einen Saccorhytus-ähnlichen Rachen, an den sich ein vielgliedriger Schwanz anschließt. Obgleich manche Vetulicolia im offenen Meer schwammen,[56] verbrachten sie die meiste Zeit vergraben im Sand, nur das Maul schaute heraus, mit dem sie in aller Ruhe Sediment einsaugten und filterten. Drohte jedoch Gefahr, konnten sie mit dem Schwanz schlagen und blitzschnell die Flucht ergreifen, sich an einem neuen Ort niederlassen und mit ihrem Schwanz ein neues Versteck in den Sand graben. Die Yunnanozoa waren Vettern der Vetulicolia