Eine Stimme im Haus - Christoph Justinger - E-Book

Eine Stimme im Haus E-Book

Christoph Justinger

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Beschreibung

Eine ungewollte Schädelrasur, Fenster wie Lichtschleusen gegen das Aufblättern einer Blindheit, ein Leben, das zwischen wenige zählbare Herzschläge passt und dann doch nichts anderes als das Glück haben soll … Geschichten, fast immer aus der Perspektive eines monologischen Erzählens heraus, in einer Denksprache, die das Unmittelbare einer Hirngrammatik nutzt. '… das Schweigen vorher hatte mir eine dunkle Elektrizität an die Schläfen gesummt. Und wenn mir das passiert, dann muss ich die Haare aus dem Gesicht kriegen. Mit einer Hand versuche ich alles nach hinten zu bündeln, weg von den Schläfen, die anfangen zu pochen, gegen die Luft. Angst muss das sein, die irgendwo, vielleicht in den Fjorden des Hirns, lauert und mir in so einer Stille, rechts und links an die Schläfen rinnt. Ja, eine elektrische Flüssigkeit ist so eine Angst.'

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Printausgabe gefördert durch das Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur Rheinland-Pfalz

Die Edition Schrittmacher wird herausgegeben von Michael Dillinger, Sigfrid Gauch, Arne Houben und Gabriele Korn-Steinmetz.

© 2009 eBook-Ausgabe 2011RHEIN-MOSEL-VERLAGBrandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel.: 06542-5151, Fax: 06542-61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-89801-778-7 Lektorat: Gabriele Korn-Steinmetz Titelbild: © iStockphoto.com/Nicholas Monu

Christoph Justinger

Eine Stimme im Haus

Erzählungen

Edition Schrittmacher Band 20

RHEIN-MOSEL-VERLAG

Inhalt

Null MillimeterEine Stimme im HausBöMirandaVincentDunkelsturmtaucherDas Beste für alleProbiere mein GesichtEine Jenny

Null Millimeter

Der Montag hatte gerade erst angefangen, aber ich hatte schon eine Schneise im Schädel.

Ich wollte wieder einschlafen, nachdem Josi im Bett hochgeschreckt war. Hoch, in einer einzigen, den ganzen Körper meinenden Kontraktion. Sie schlug den Radiowecker, zwei, drei Mal. Das dritte Mal, glaube ich, mit der Faust. Ich hatte den Weck-Ton nicht gehört. Ich höre überhaupt schlecht. Das Plötzliche, diese Spitze in Josis Körper, hatte mich geweckt. Sie hatte sich zurückfallen lassen auf ihren Teil der Matratze,

Gott!,

sie machte Wind und mein Kopf wippte ein wenig, als sie ins Kissen schlug. Ich drehte mich um, weil ich den Geruch der ersten Worte nicht wollte, den ersten Atem wollte ich nicht.

Wir müssen,

sagte Josi mir sonst. In den Nacken, weil ich mich immer wegdrehe. Oder sie dreht sich um, und sagt es dann gegen die Dachschräge:

Wir müssen.

Ich halte lieber meinen Mund und spucke ins Waschbecken. Die Nacht ausspucken. Spülen und dann spucken.

Wir müssen,

sagte Josi sonst. Aber heute sagte sie nichts.

Sie hatte die Decke geworfen. Nie warf Josi die Decke, aber heute machte sie Wind wie verrückt. Ich war wach und Josi sagte nichts. Ich hörte ihr leises Auftreten, vielleicht leiser als sonst, leiser, als ich es kannte. Ich wollte wieder einschlafen. Ich wartete. Ich hörte mein eigenes Atmen und fragte mich, ob Schlafende so atmen. Ich dachte, sie denkt, ich simuliere. Ich hoffte, sie würde es gleich sagen und alles wäre wie sonst. Es war doch schon morgen und eine Nacht dazwischen, dass es ausreichen würde, hatte ich gedacht.

Ihre Schritte waren schon auf der Treppe, auf den Trittschonern, die wir damals als erstes ausgetauscht hatten, gleich nach unserem Einzug, neue Trittschoner, auf denen Josi heute Morgen kaum zu hören war und bis dahin nichts gesagt hatte außer:

Gott!,

als sie den Wecker geschlagen hatte.

Josi schlug nie den Wecker. Und auch sonst nichts. Josi hat weiche, langsame Hände. Aber heute hatte sie den Wecker geschlagen und dann noch einmal in die Kissen, kein Wort zu mir, wie sonst, und mit jedem Schritt, den ich jetzt lauter hörte als mein eigenes geschrumpftes Atmen, saugte sich ein Vakuum an meine Ohren, in dem ihre gestrigen fremden Hände wie hitzige Flügel immer lauter gegeneinander schlugen.

Sie öffnete die Badezimmertür und ich hörte ihre Schritte einen Moment zögern.

Schatz!,

rief Josi nach oben und die Lampe im Bad warf einen erlösenden Lichtkeil durch den offenen Flur an meine Decke.

Schatz!,

hatte sie gerufen, oder geflüstert, und mein Atmen blähte sich wieder, auch als eine Sekunde später das Licht wieder zusammenklappte und eine dunkle Decke zurückließ, die Dachschräge, wie schwarzer, überhängender Schiefer, vielleicht schwärzer als zuvor, ja, eine Nacht dazwischen und das Vakuum war verschwunden und Hände und Flügel, nichts weiter. Ich wollte weiter schlafen, dann aber musste ich denken, dass Josi vielleicht überhaupt nicht geschlafen hatte.

Ich hörte die Dusche und noch das Hakeln der Kabinentür. Draußen war immer noch Nacht. Es hatte geregnet. Josi hatte nicht aus dem Fenster gesehen heute Morgen, wie sonst, wenn sie mich weckte.

Schatz!,

und dann aus dem Fenster. Draußen war noch Nacht, und ich hörte das Schmatzen der Räder auf der Straße. Womöglich hatte sie wach gelegen in diesem Regen. Vielleicht, dachte ich, jetzt im Schlafzeug zu ihr in die Dusche steigen. Aber ich wollte nicht, dass es so aussah wie eine Reaktion auf etwas.

Das Haus war eine gute Entscheidung gewesen. Jahre wohnen wir jetzt in diesem Haus. Nach und nach haben wir alle Spuren der Vorbesitzer mit unseren eigenen Dingen zugelebt und so ist es längst unser Haus, mit von uns eingelaufenen Wegen, vollgeredeten Zimmern und einer von uns gesättigten Luft, wir riechen und hören nichts in diesem Haus, nichts außer uns selbst. Eine Nacht dazwischen, das sollte doch reichen, dachte ich.

Ich hatte schon im Bett gelegen, gestern Abend und Josi war länger im Bad gewesen. In der Regel ist es andersherum und Josi ist schon mit allem fertig, während ich noch am Küchenfenster stehe und es dann so aussieht, als hätte ich Wichtiges nachzudenken. Oder so, als schaute ich einfach nur minutenlang hinaus auf dieses blödsinnige blaue Reklameschild auf der anderen Seite des Radweges. Geparkte Augen habe ich dann. Die sehen überhaupt nichts. Auch weil Blau in größerer Entfernung im Auge immer eine Unschärfe hat. Eine Wässrigkeit, wie ein frisches Aquarell.

Gestern Abend also war ich vor Josie im Bett. Ich hatte sie nicht kommen hören, nicht aus dem Bad und auch keine Schritte nach oben. Manchmal schlafe ich in Sekunden ein. Sie steckte ihre Finger in meine Haare. Sie machte kleine, kreisende Bewegungen. Meine Haare waren zu lang. Ich hatte seit Tagen meinen Haarschneider nicht benutzt. Die Schnittlänge ist immer die gleiche. Josi zeichnete mit ihren Fingern Wege in meinen Nacken. Dann begann sie auf meinen Rücken zu schreiben. Oft macht sie das und immer ist es Unlesbares, Worte in Druckbuchstaben und alle Buchstaben übereinander, an einer einzigen Stelle. Meine rechte Schulter beschrieb Josi mit ihrem rätselhaften Code. Nie verrät sie mir etwas, lächelt nur und schreibt das Gleiche auf ihre Lippen, wenn ich sie frage, auf ihre Lippen, übereinander und so noch verkehrt herum, dass es schon gar nicht zu lesen ist. Oft macht sie das. Es bedeutet nichts. Und ist auch kein Vorspiel für irgendetwas, das wir dann mit unseren Körpern gemeinsam tun könnten. Es bedeutet nichts. So wie das blaue Reklameschild nichts bedeutet, und auch das darunter, wie das in blauem Samt liegende Milchglasfenster nichts bedeutet und nichts der Körper, der einmal, wie aus einem Nebel heraus, dicht an die Scheibe kam.

Ich konnte Brüste sehen. Es bedeutete nichts. Eine unscharfe, nackte Kontur. Später versuchte ich mich an die Uhrzeit zu erinnern. Es bedeutete nichts, das Reklameschild, meine Minuten am Küchenfenster.

Was denkst du?,

hatte sie manchmal gefragt, im Nachthemd und aus dem Bett noch einmal heraus, herunter in die Küche. Unsere Küchentür klemmt ein wenig und die Glasscheibe wippt dann in ihrer Einfassung, wenn die Tür sich löst. Ich höre sie immer, noch bevor sie fragt: Was denkst du?

Ich war müde gewesen und sicher hatte ich schon geschlafen. Josi schrieb, was sie mir nicht sagen wollte, auf meinen Rücken. Vielleicht würden wir im Sommer mal nach Krakau fahren. Oder nicht. Ich hatte noch nie mit ihr über Krakau gesprochen. Ich wusste nichts über Polen. Josi schrieb, malte mit ihren Fingern ein Mandala zwischen meine Rippen. Oder vielleicht ein Wort, ein einziges, polnisches Wort, das ich doch nicht verstehe. Sie hätte sagen sollen, was sie schrieb. Wir können beide nicht polnisch und nach Krakau, wer weiß, es war auch nur so eine Idee. Wenn man bei Ryanair die Liste der Flugziele abscrollt, steht da plötzlich Krakau. Und ich hatte mal gehört, Krakau sei richtig schön.

Ihre Finger schrieben. Ich dachte an die Flugzeugstriche, die ich mittags am Himmel gesehen hatte. Ungewöhnlich viele und alle durcheinandergekreuzt, wie Mikadostäbchen, wenn einer gerade losgelassen hat. Ihre Finger schrieben, was sie schreiben mussten. Ich wartete. Der letzte Buchstabe würde wie gewohnt in einen langen Strich abwärts, entlang meiner Wirbelkörper, im Nichts münden. Dann würde ihre Hand weg sein und die Linien auf meinem Rücken wären noch für wenige Sekunden in Gedanken zurückverfolgbar. Ich würde eingeschlafen sein, mit dem Bild ins Blau schmelzender Kondensstreifen, so dachte ich voraus gestern Abend, dachte an hochfliegende Sommerjets, und als Josis Hand verschwand, da hatte schon dieses tiefere Atmen begonnen.

Aber plötzlich steckte sie ihre Hand zwischen meine Schenkel. Nicht vorsichtig, oder tastend. Nein. Eine radikale, stechende Bewegung, zack, dazwischen, wie nach einem Tier, so fasste sie da hinein. Sie presste ihre Hand nach oben gegen meinen Schritt und Atmen war für Sekunden nicht möglich, als hätte sie mir im gleichen Augenblick auch eine Hand auf die Luftröhre gelegt. Josi hat weiche, langsame Hände. Teeschalenhände. Josis Hände schlagen nicht. Und wenn doch, würde das ihren ganzen Körper erfordern. Josi weiß nichts vom Schlagen. Sie hat Glashände. Josi macht Sudoku. Sie hat gläserne Sudokuhände. Sie presste ihre Hand zwischen meine Beine, fest, als müsste sie dort etwas aufhalten. Eine Blutung vielleicht. Ein fester, fremder Griff. Ich rührte mich nicht. Ich war auf nichts vorbereitet. Aufs Einschlafen, ja. Josis Finger, dieses Geschreibe auf meinem Rücken, das war doch schon beendet und dann war sie noch einmal zurückgekommen, diese Hand, mit so einem Griff zurück, dass es – vielleicht uns beide – erschreckte.

Es dauerte nur Sekunden. Ich rührte mich nicht. Josi löste ihren Griff und ihre Hand verschwand. Die Stelle pulsierte.

Jetzt war es morgen und die Dachschräge hatte schon an Schwärze verloren. Ich stand auf und ging hinunter zu Josi ins Bad. Sie stand immer noch unter der Dusche, das ganze Bad war neblig und die Scheiben der Duschkabine völlig beschlagen. Josi ließ sich den Strahl in den Nacken rauschen. Sie war in der Kabine fast nicht zu sehen, nur eine teigige Einfarbigkeit, so beschlagen war alles. Nicht einmal das dunkle Dreieck ihres Schoßes konnte ich sehen, aber ich dachte mir nichts dabei. Der Spiegel am Waschtisch war eine einzige Mattscheibe. Ich wischte mit einem Handtuch einen Streifen frei. Meine Haare waren zu lang. Josi stand regungslos. Ich hörte das Wasser von Josis Haut springen und wütend gegen die Scheibe trommeln. Ich schaltete meinen Haarschneider ein, und der erste lange Strich, quer rüber, schnitt diese tiefe, nicht gewollte Schneise. Das freie Stück Spiegel war sofort wieder angelaufen, aber dieser Schnitt, wie eine grauenhafte Verwundung, war unübersehbar. Ich wischte hektisch den Spiegel, meine Schädelhaut sah weiß und krank aus.

Verdammte Scheiße!,

fluchte ich. Josi hatte das Wasser abgestellt. Ich schaute auf die eingestellte Schnitttiefe des Rasierers. Null Millimeter. Scheiße! Josi hakelte an der Kabinentür, die immer verkantet.

Josi!,

sagte ich und meine Stimme kippte plötzlich in eine schrille Aufwärtsschräge.

Josi!

Mit dem Öffnen der Dusche hauchte eine neue Dunstwolke den Spiegel wieder zu. Josi stieg heraus, und es dauerte einen Moment, bis sich in meinem Kopf ihre völlige Nacktheit über das Bild meines verwundeten Schädels schob. Ich schaute nicht sofort auf Josis Schoß. Aber dann doch auf diese Leerstelle! Eine Ausradierung! Null Millimeter. Schaute völlige Nacktheit. Mein Haarschneider summte in meiner Hand wie eine dicke Hummel.

Eine Stimme im Haus

Die Fenster waren unverschämt groß. Hell sollte alles sein. Und das war es jetzt.

Licht kann ich nicht genug haben,

hatte Bernd doch immer gesagt und auf den Plänen des Architekten die Fenster größer gemalt.

Geben Sie mal,

und gleich nach dem Griffel des Architekten gelangt. Ich hatte bei den ersten Treffen Tomaten und Mozzarella auf den Tisch gestellt. Der Architekt hatte Augen gemacht. Ich hatte sofort gedacht, dass Architekten so etwas wohl nicht gewohnt sind. Vielleicht würde er jetzt das Atelier etwas größer zeichnen, ohne gleich mehr dafür zu verlangen. Ich hatte mir vorgestellt, dass Architekten, wenn sie für einen zu denken beginnen, sofort ein Zählwerk anstellen, dachte, sie rechnen um, Gedanken in Geld. Ich hatte ihn jedes Mal gefragt, was er trinken wolle. Ich hatte mir Mühe gegeben.

Bernd hatte den Architekten nie an der Haustür begrüßt. Er war immer in der Diele stehen geblieben, und sobald ich die Tür öffnete, fing er an mit seiner großen Hand zu wedeln und machte dabei schon eine Vierteldrehung in Richtung Wohnzimmer. Beim ersten Mal stockte der Architekt, machte aber dann einen eiligen, großen Schritt hinein. Und schon vorbei an mir, musste er dann den Kopf ein wenig zurück wenden, für einen Blick. So, wie man im Weitergehen noch schnell nach einem Apfel greift, so nahm er noch etwas mit von mir.