Eine Tüte grüner Wind - Gesine Schulz - E-Book

Eine Tüte grüner Wind E-Book

Gesine Schulz

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Beschreibung

Eigentlich sollte Lucy mit ihrer Mutter die Sommerferien in den USA verbringen. Doch dann fällt der Trip ins Wasser und Lucy muss stattdessen ganz alleine nach Irland fliegen. Zu einer Tante, die sie gar nicht kennt und die angeblich ein bisschen verrückt ist. Ob ihr altes Haus ein Dach hat, ist auch nicht sicher. Dabei regnet es in Irland pausenlos! Außerdem sollen alle Leute dort rote Haare haben. Lucy will da nicht hin, kein bisschen. Aber sie hat keine Wahl, darum färbt sie sich trotzig die Haare (irisch-rot!) und fliegt los ... Fünf Wochen später wird sie zugeben müssen, dass dies ihre bisher allerschönsten Ferien waren!

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Gedicht aus: Emily Dickinson »Guten Morgen, Mitternacht« Ausgewählt, aus dem Amerikanischen übertragen sowie mit einem Nachwort versehen von Lola Gruenthal Copyright © der deutschen Übersetzung 1997 Diogenes Verlag AG, Zürich Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden. Veröffentlicht im Carlsen Verlag Mit freundlicher Genehmigung des Ueberreuter Verlages Copyright © 2002 Verlag Carl Ueberreuter, Wien Umschlagbild: GettyImages/Duane Rieder; shutterstock.com/Dream Master Umschlaggestaltung: Kerstin Schürmann, formlabor E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-646-92234-9 Carlsen-Newsletter: Tolle Lesetipps kostenlos per E-Mail! Unsere Bücher gibt es überall im Buchhandel und auf www.carlsen.de.

In Erinnerung an Mascha & Molly, meine irischen Musen

Herbst – sah prüfend auf mein Strickzeug –

Farben habe ich –

Sagt’ er – die hat kein Flamingo –

Zeig sie mir – sagt’ ich –

Scharlach wählt’ ich – weil ich meinte,

Darin säh’ ich dich –

Und die kleine Borte – dunkler –

Weil sie wirkt wie ich –

Emily Dickinson

»Nein, nein, nein!«, schrie Lucy. Sie hielt sich die Ohren zu.

Ihre Mutter zog Lucys Hände herunter und hielt sie fest.

»Kind, versteh doch«, sagte sie. »Es ist eine wunderbare Gelegenheit für mich, ein paar Wochen mit Kurt zusammen zu sein. Er rief vorhin an und ich musste mich sofort entscheiden.«

»Aber unsere Sommerferien? Du hast mir versprochen, wir fahren nach Kalifornien.«

»Wir fahren ein andermal nach Amerika, Lucy. Kurt würde es auch gar nicht verstehen, wenn ich diese Gelegenheit ausschlagen würde, mit ihm auf dem Schiff zu sein. Es ist ein glücklicher Zufall, dass eine Kabine frei wurde.«

Lucys Blick bohrte sich hinter der Schulter ihrer Mutter in die Tapete. Dahinter sah sie Kalifornien. Den blauen, kalten Pazifik. Breite Strände. Die hügeligen Straßen von San Francisco. Und das Weingut von Mamis Freunden, auf dem sie zwei Wochen verbringen wollten. Ein großes, altes weißes Haus mit Säulen und Terrassen. Und für Lucy ein Zimmer mit ihrem eigenen Balkon. Lucy seufzte.

»Ich habe mich aber so darauf gefreut, Mami.«

»Ich weiß, mein Schatz. Es tut mir Leid.«

»Warum kann ich denn nicht mit aufs Schiff?«

»Ich habe dir doch erzählt, es ist ein Forschungsschiff. Kurt und die anderen Wissenschaftler arbeiten dort. Es gibt nur einige Kabinen für Besucher. Kinder sind an Bord nicht erlaubt. Es wäre auch langweilig für dich.«

»Aber –«

»Es geht nicht, Lucy. Ende der Diskussion. Sei ein vernünftiges Mädchen, ja? Sonst bekommt Mami Kopfschmerzen.«

Lucy schwieg. Manchmal wünschte sie, sie könnte auch Kopfschmerzen bekommen.

Über Lucys Bett hing eine Weltkarte. Mit einem dicken roten Stift hatte sie die Reiseroute markiert. Im Flugzeug von Düsseldorf über den Atlantik, quer durch Amerika bis nach San Francisco. Lucy löste die Reißzwecken von der Wand. Sie faltete die Karte mehrmals und riss sie in kleine Stücke, die sie in den Papierkorb rieseln ließ.

»Bye-bye, California«, murmelte sie.

»Ich geh ein bisschen zu Kora, Mami.«

»Ist gut, Schatz«, rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer. »Nimm den Schirm mit, es sieht nach Regen aus.«

»Mmh«, sagte Lucy. Den Schirm ließ sie stehen. Dann würde sie eben nass werden. Ein blöder Sommer war das bisher. Kühl und nass. In Kalifornien schien bestimmt die Sonne. Jeden Tag.

»Waaas? Nicht nach Amerika? Ich glaub es nicht!« Kora machte große Augen. »Bist du nicht total sauer? Ich wäre stinksauer.«

»Och …« Lucy langte in die Riesentüte Chips, die zwischen ihr und Kora auf dem Sofa stand. »Sauer? Ich weiß nicht. Ich bin ganz leer. Als wäre ein Luftballon geplatzt.«

»Ich wäre sauer«, sagte Kora.

Sie griffen in die Tüte und kauten knisternd die Chips. Von draußen klatschten die ersten Tropfen eines schweren Schauers an die Fensterscheiben.

»Ich hab keinen Schirm mit«, sagte Lucy.

»Bleib hier. – Was machst du denn jetzt in den Ferien?«

»Was?«

»Du fährst doch nicht allein in den Wilden Westen, oder?«

»Ach«, sagte Lucy. »Ach, ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich in den Ferien machen werde.«

Die Freundinnen sahen sich schweigend an.

»Sie hat nur vergessen es dir zu sagen«, meinte Kora schließlich. »Oder? Doch, ganz bestimmt.«

»Ich muss gehen«, sagte Lucy.

»Ja«, sagte Kora. »Nimm meinen Schirm mit.«

Aber die Wohnungstür war schon hinter Lucy zugefallen.

Sie war nass wie eine Flunder, als sie zu Hause ankam.

»Aber Lucy!«, sagte ihre Mutter. »Geh sofort ins Bad. Du machst eine Pfütze aufs Parkett. Ich habe dir doch gesagt, du sollst den Schirm mitnehmen.«

Lucy blieb stehen. Tropfen um Tropfen wurde die Pfütze zu einem kleinen See. »Sag mir, was ICH in den Ferien mache.«

Ihre Mutter schloss kurz die Augen und rieb sich mit einer Hand über die Stirn. »Lucy, Kind …«

»Du hast es vergessen«, sagte Lucy.

»O Lucy«, rief ihre Mutter. »Nicht vergessen. Ich habe es nicht vergessen. Ich habe nur noch nicht daran gedacht.«

Lucy schüttelte den Kopf. Mit so einer Ausrede sollte sie mal kommen!

Lucy lag im Bett. Die blauen Vorhänge waren zugezogen. Der Regen pladderte auf die Fensterbank. Das Federbett bauschte sich um Lucy und bedeckte sie bis zur Nasenspitze. Sie hielt ihren dunkelbraunen Teddy Theodor im Arm.

»Alle wissen, was sie in den Sommerferien machen«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Nur ich nicht. Ich weiß nur, was ich nicht mache, Theodor. Ich fahre nicht nach Kalifornien.« Lucy drückte ihr Gesicht in sein Fell und seufzte. Er riecht so gut, dachte sie und schlief ein.

Beim Frühstück sagte ihre Mutter: »Ich werde heute mal herumtelefonieren und sehen, was es an Kinderferienlagern gibt. Vielleicht etwas mit Pferden und am Meer? Du bist doch gerne am Wasser. Oder lieber in die Berge? Nach Österreich vielleicht?«

»Ach Mami, könnte ich nicht mit Kora und ihrer Mutter nach Italien fahren?

»Na ja, ich weiß nicht.«

»O Mami, bitte!«

»Ich weiß nicht, ob du dort gut aufgehoben wärst, Lucy. Es hört sich äußerst … einfach an. Lass mich erst sehen, was es sonst noch gibt.«

Kora und ihre Mutter wollten mit einer Reisegruppe mit dem Bus nach Italien fahren. Sie würden in der alten Schule eines Bergdorfs wohnen. Die Erwachsenen übernahmen das Kochen. Und es gab Kurse, auch für Kinder. Schauspielunterricht! Man konnte sogar Trommeln lernen.

»Glaubst du, deine Mutter würde mich mitnehmen?«, fragte Lucy Kora auf dem Schulhof.

»Bestimmt.«

Koras Mutter erkundigte sich gleich nach der Schule telefonisch nach einem Platz für ein weiteres Kind.

»Aha«, sagte sie dann in den Hörer. »Aha. Wirklich? Ich verstehe. Auf Wiederhören.«

»Tja, Kinder. Leider ist kein Platz mehr frei. Es gibt sogar schon eine Warteliste. Tut mir Leid, Lucy. Ich hätte dich gerne dabeigehabt.«

Lucy spürte die Tränen in ihre Augen steigen. Dass kein Platz mehr für sie sein würde, damit hatte sie nicht gerechnet.

»Danke, Frau Müller«, sagte sie. »Dann geh ich jetzt mal nach Hause.«

Kora begleitete sie bis zur Wohnungstür. »Schade, du«, sagte sie und strich Lucy über die Schulter.

Lucy saß in der Küche und strickte dunkelgraue Wolle zu einem kleinen Rechteck, als ihre Mutter nach Hause kam.

»Also, Mami, wegen Italien. Du musst gar nicht mehr darüber nachdenken. Es ist kein Platz mehr frei im Bus.«

»Ach …! Schade.«

Lucy guckte ihre Mutter erstaunt an.

»Es ist nur so, Lucy. Ich habe telefoniert und telefoniert und war gerade noch in zwei Reisebüros. Bei den Kinderferien ist alles ausgebucht. Nirgends sind Plätze frei. Ich verstehe das nicht. Da heißt es, die Leute haben kein Geld.«

Lucy senkte den Kopf und strickte schneller. Keine Plätze frei, keine Plätze frei …

»Lucy! Hörst du mir überhaupt zu? Ich zerbreche mir den Kopf über deine Ferien. Was strickst du denn da schon wieder? Es macht mich ganz nervös.«

»Ist für Frau Freitag. Eine Decke für die Knie.«

»Du und deine Decken. Bist du sicher, dass sie eine haben möchte?«

»Aber ja, Mami. Ich habe sie besucht. Ihr Hund Wurzel ist doch gestorben und sie war ganz traurig. Da hab ich sie gefragt, ob sie nicht eine Decke möchte. Sie hat sich gefreut. Aber sie möchte die Decke nur aus grauen und schwarzen Stücken zusammengesetzt haben. Weil sie 87 Jahre alt ist, sagt sie, und weil sie immer nur Schwarz und Grau trägt, weil sie Witwe ist oder so ähnlich.«

»Meine Güte, wie deprimierend.«

Lucy nickte. »Dachte ich auch erst. Aber ich habe im Woll-Laden sieben verschiedene Grautöne gefunden und ich nehme nur ein bisschen Schwarz. Ich glaube, die Decke wird aussehen wie Wolken, von ganz hellgrau bis schwarzgrau. Gar nicht traurig. Willst du mal sehen?«

»Später, Lucy. Räum deine Sachen jetzt weg. Ich mache rasch Abendessen – Salat und überbackenes Baguette, das magst du doch. Und dann werden wir überlegen, was du in den Ferien machen kannst. Da wird uns doch etwas einfallen, oder?«

Lucy nickte. Sie legte das Strickzeug auf ihr Bett. In der untersten Schublade der Kommode bewahrte sie ihre Wolle auf. Zu kleinen oder größeren Bällen gewickelte Wollreste, die sie von Nachbarinnen und den Müttern von Schulfreundinnen bekommen hatte; ganz ordentlich gelegte Wollknäuel noch mit Banderole, die sie im Woll-Laden ab und zu von ihrem Taschengeld kaufte; und die Wolle von Pullovern, die sie aufgeribbelt hatte, wenn sie aus ihnen herausgewachsen war.

Die Knäuel lagen nach Farben geordnet in offenen Schuhkartons. Hunderte von Farben. Wenn man die große Schublade öffnete, konnte man glauben, jemand habe einen Regenbogen darin versteckt.

Lucy kniete sich vor die Schublade und betrachtete ihre Schätze. Sie griff nach einem kleinen Knäuel, das bei den Brauntönen lag. Milchkaffeebraun. Wie Wurzels Fell.

Rasch legte sie es zu der grauen Wolle für Frau Freitag. Die Menge würde wohl für ein Quadrat reichen. Ein kleines Überraschungsteil. Am Rand der Decke.

Ihre Hand wanderte weiter. Kora wünschte sich für ihre Barbie-Puppe eine aus winzigen rosa und weißen Rechtecken zusammengesetzte Decke. Babyrosa oder bonbonrosa? Oder –

»Lucy, kommst du bitte zu Tisch?«, rief ihre Mutter mitten in Lucys Überlegungen hinein.

»Also, Schatz«, sagte ihre Mutter. »Hier, nimm noch ein bisschen Salat … Also, es waren keine Plätze mehr frei, aber ich konnte dich auf zwei Wartelisten setzen lassen. Für Reiterferien in Dänemark und ein Kindercamp in Österreich, in den Bergen. Das ist doch etwas. Das Wetter ist so schlecht. Irgendein Kind wird sich doch vielleicht erkälten und nicht mitfahren können …«

»Hm«, machte Lucy.

»Aber mir ist da noch ein anderer Gedanke gekommen, Schatz: Wozu hat man eigentlich Verwandte?«

Lucy sprang auf. »Du meinst, ich könnte vielleicht mit Vati, Ilona und Christopher mitfahren? Nach Südfrankreich? Du hättest nichts dagegen?«

Ilona war die zweite Frau von Lucys Vater und Lucys Mutter konnte sie nicht ausstehen. Jeden dritten Samstag war Lucys Besuchstag bei ihrem Vater, aber nur, wenn er nicht gerade auf Geschäftsreise war. Dabei freute sie sich immer so darauf, Christopher zu sehen und mit ihm zu spielen.

Als sie erfahren hatte, dass Ilona ein Kind erwartete, war sie glücklich gewesen. Vor ihrer Mutter hatte sie das, so gut sie konnte, verborgen. Aber vor Kora brauchte sie sich nicht zu verstellen.

»Schon immer, immer, immer wollte ich einen Bruder oder eine Schwester haben. Und jetzt! Ja, ich weiß, es wird eine Halbschwester oder ein Halbbruder, aber das ist fast genauso gut.«

Sie hatte sofort angefangen eine Babydecke zu stricken, aus der weichsten Wolle, in Sahneweiß und Buttergelb.

Christopher war jetzt schon über ein Jahr alt und fing an zu laufen. Er war ein knuddeliger Kerl mit Grübchen in den Knien. Leider sah sie ihn nur selten. Sie hatte immer Angst, er hätte sie seit dem letzten Besuch vergessen. Aber wenn sie mit ihm die Ferien verbringen würde, wären sie wochenlang zusammen.

»Mit deinem Vater nach Südfrankreich?«, sagte Lucys Mutter. »So hatte ich das eigentlich nicht gemeint –«

»O Mamiiiiii …«

»… aber ich hätte in diesem Fall nichts dagegen, nein. Haben sie dich denn eingeladen? Du hast nichts erwähnt.«

»Nein, sie haben nichts gesagt, aber sie wussten doch, dass ich mit dir nach Amerika fahren würde. Wenn Vati jetzt hört, dass wir nicht fahren, wird er mich einladen. Vielleicht. Oder ich kann ihn am Samstag fragen, wenn ich dort bin. Oder willst du ihn fragen, wäre das besser?« Lucy war vom Sofa aufgesprungen und lief durchs Wohnzimmer.

»Komm, Lucy, setz dich wieder zu mir. Ich will dir sagen, woran ich gedacht habe.«

Lucy warf sich aufs Sofa. Ihre Mutter legte einen Arm um sie. »Was hältst du davon, wenn du zu deiner Tante Paula nach Irland fährst?«

»Waaas?!?«

»Schrei nicht so, Lucy. Und außerdem heißt es: ›Wie bitte?‹«

»Wie bitte?«, flüsterte Lucy. Sie konnte auch gar nicht mehr schreien, sie fühlte sich plötzlich ganz schwach. »Zu Tante Paula? Ich soll zu Tante Paula? Aber die ist doch verrückt!«

»Red keinen Unsinn, Lucy. Wie kommst du denn darauf?«

»Du sagst immer: Paula ist verrückt.«

»Ach so. Na ja. Das sagt man so. Das heißt nicht, dass sie wirklich verrückt IST. Nur dass sie manchmal Sachen macht, die ein vernünftiger Mensch nicht machen würde, verstehst du?«

»Nein«, sagte Lucy.

»Nun, jedenfalls ist sie NICHT verrückt. Sie würde sich gewiss über den Besuch ihrer Nichte freuen.«

»Aber ich kenne Tante Paula doch gar nicht.«

»Dann ist es höchste Zeit, dass du sie kennen lernst, nicht? Außerdem hat sie uns vor einigen Jahren besucht. Daran kannst du dich sicher erinnern.«

»Kann ich nicht.«

»Nein? Na gut. Du warst noch recht klein. Ist ja auch egal. Ein Besuch bei ihr würde dir bestimmt gefallen.«

»Aber Mami! Sie wohnt in einem Zelt, weil ihr Haus kein Dach hat.«

»Das ist lange her, Lucy. Ich gehe davon aus, dass das Häuschen inzwischen renoviert ist und auch ein Dach hat. Sie hätte es sicher erwähnt, wenn sie die Weihnachts- und Geburtstagskarten immer noch aus dem Zelt schreiben würde. Siehst du, so etwas meine ich, wenn ich ihr Verhalten verrü–, ich meine, ungewöhnlich nenne: Wenn man sich im Urlaub in eine Gegend verliebt, fährt man im nächsten Jahr vielleicht wieder hin. Man kündigt nicht gleich seine Stelle und gibt eine viel versprechende Karriere auf, kauft mit seinen ganzen Ersparnissen eine Ruine und zieht dorthin. Immerhin, ihr scheint es zu gefallen. Ich werde sie fragen, ob du kommen kannst.«

»Das Haus liegt ganz einsam, in einer gottverlassenen Gegend, hast du mal gesagt. Ich möchte da nicht hin, Mami. Bitte, kann ich nicht mit Vati fahren?«

»Ich habe schon gesagt, dass ich nichts dagegen hätte. Wenn sie dich einladen, fährst du nach Südfrankreich. Paula werde ich trotzdem schreiben. Die Zeit wird langsam knapp. Also ein Telegramm. Ein Telefon hat sie nicht.«

Kein Telefon und vielleicht kein Dach. Wer weiß, was da noch alles fehlte. Ich will nicht zu einer Frau, die ich gar nicht kenne, dachte Lucy. Und wenn sie zehnmal meine Tante ist.

Sie nahm ihre Jacke und verließ die Wohnung. Vom Spielplatz winkten ihr ein paar Mädchen aus ihrer Klasse zu. Lucy winkte zurück und ging weiter. Sie wollte jetzt mit niemandem reden. Außer mit Kora vielleicht. Sie wechselte die Richtung und fing an zu rennen. Einmal bei Rot über die Ampel, quer durch den Park und sie stand vor dem Mietshaus, in dem Kora wohnte.

Sie drückte das Signal mit dem Klingelknopf: lang, kurz, kurz, kurz. Das bedeutete: komm raus, aber schnell.

Zwei Minuten später war Kora unten. »Was ist los?«

Lucy zuckte mit den Schultern. »Kommst du mit zur Eisdiele? Ich lade dich ein.«

»Klar, wenn ich einen Kakao haben kann. Mit Sahne. Und Zimtstaub. Und Schokokrümeln. Für ein Eis ist’s mir zu kalt.«

Kora konnte sich den Besuch der Eisdiele von ihrem mageren Taschengeld nicht so oft leisten. Lucys Taschengeld war reichlich bemessen. Wenn bei Kora Ebbe in der Kasse war, lud Lucy sie ein. Ganz gleich, wie das Wetter war, Lucy mochte immer Eis. Am liebsten Erdbeereis mit gefrorenen Fruchtstückchen darin und einer Wolke frisch geschlagener Sahne darüber. Selbst im Winter aß sie Eis.

Sie hakte sich bei Kora ein. »Was für ein Rosa möchtest du für deine Barbie-Decke? So wie Erdbeereis?«