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Der Fall:
Bereits drei Tote – abgelegt im Moskauer Umland – scheinen auf das Konto eines Serientäters zu gehen. Alle Opfer waren ältere Männer, deren Identifizierung der Mörder durch Schläge ins Gesicht erschweren wollte. Die Polizisten um Michail Sokolow, genannt „Der Falke“, kommen erst weiter, als sich eine Frau an die Miliz wendet, um ihren Vater als vermisst zu melden. Mit ihm verschwanden auch die Familienersparnisse. Also simpler Raubmord?
Gleichzeitig ist Leutnant Koroljow verzweifelt auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung. Der Chef der Wohnungsverwaltung, der den jungen Polizisten abblitzen lässt, gerät auch in das Visier der Ermittler, weil alle Opfer Mieter seiner Gesellschaft waren. Aber welches Motiv könnte sich dahinter verbergen?
Die Ereignisse spitzen sich dramatisch zu, als „Der Falke“ begreift, in welch tödlicher Gefahr sich sein Kollege Koroljow befindet. In letzter Sekunde treffen die Kriminalisten am Ort des Geschehens ein ...
Die Reihe:
Rau ist das Moskauer Pflaster, rau ist auch die Schale, die Michail Sokolow, genannt „Der Falke“, umgibt. Gemeinsam mit seinem Team und unter Leitung von Oberst Boris Kusnezow von der Abteilung für schwere Gewaltkriminalität kämpft Hauptmann Michail Sokolow für etwas mehr Sicherheit in Russlands Hauptstadt in den frühen 2000er Jahren.
Seine Fälle führen den „Falken“ in alle Teile der Gesellschaft: Er ermittelt im Rotlicht-Milieu oder unter Obdachlosen genauso wie in scheinbar gutbürgerlichen Verhältnissen oder unter Neureichen und Mafia-Paten. Was er dabei sieht, geht oft unter die Haut. Mitri Suchoj (vermutlich das Pseudonym eines ranghohen Beamten des Moskauer Innenministriums) schildert in der Reihe "Michail Sokolow - Mörderische Gefahr" packende Kriminalfälle aus Putins Russland.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Das Klingeln riss ihn aus seiner Lethargie. Er durchquerte den kleinen Flur und schaute durch den Spion. Im schwachen Licht der Hausbeleuchtung erkannte er die Umrisse eines mittelgroßen Mannes mit leicht gebeugter Haltung. Ein breitkrempiger Hut und eine große Hornbrille ließen das Gesicht des Besuchers in den Hintergrund treten. In der Hand hielt der Mann eine Ausgabe der Moskowski Komsomolez, das verabredete Zeichen.
Er setzte ein Lächeln auf und öffnete die Tür einen Spalt.
„Porfirij Timofejewitsch?“, fragte der Besucher.
Der Gastgeber lächelte ihn an und nickte mit dem Kopf. Dann trat er einen halben Schritt zurück und ließ den Besucher eintreten. Der Gast schaute sich verlegen um. „Sind wir auch ungestört?“, fragte er leise.
Der Andere nickte und bedeutete dem Mann, näher zu treten. „Haben Sie es dabei?“
Der Besucher nickte ebenfalls.
Der Schlag kam hart und überraschend. Blut spritze bis an die Decke. Ein weiterer Schlag folgte, danach noch einer. Das Opfer lag völlig reglos inmitten einer riesigen Lache aus Blut und Hirnmasse in dem kleinen Flur. Der Mörder lächelte. Dann begann er mit dem Reinemachen.
„Ich muss heute früher weg. Hab ´nen Termin für eine Wohnungsbesichtigung.“ Der knapp fünfundzwanzig Jahre alte Leutnant Wladimir Koroljow griente über alle Backen. „Drückt mir die Daumen, dass ich die Wohnung kriege“, fügte er hinzu.
„Wird ja auch Zeit, dass du aus dem Zimmer deiner Schwester ausziehst“, frotzelte Hauptmann Michail Sokolow.
„Das sagt der Richtige!“, mischte sich dann auch Pjotr Denissow ein. „Du hast doch auch bis vor drei Jahren bei deiner Mutter gewohnt!“
Der Ermittler, ebenfalls im Rang eines Hauptmanns, hockte seit einer halben Stunde über einer seiner geliebten Statistiken und grinste: „Geh nur, Wolodja, soll keiner sagen, wir seien Schuld, wenn du eine ewige Jungfrau bleibst.“
Der Leutnant wurde rot wie das Fahnenmeer auf dem Roten Platz im Mai und verließ fluchtartig das Büro.
„Das wäre aber nicht nötig gewesen, Petja“, kritisierte Wera Belajewa, die, angetan mit einer ihrer gefürchteten Rüschenblusen, ein Tablett dampfender Teetassen abstellte.
„Er wird es schon vertragen.“ Sokolow nahm dankend eine Tasse und setzte sich wieder an seinen Arbeitsplatz. Er war froh, die kleine Wohnung seiner Mutter geerbt zu haben, als diese vor knapp drei Jahren nach schwerer Krankheit verstorben war. Eine Mietwohnung nahe der Twerskaja Ulitsa hätte er sich bei seinem Gehalt gleich gar nicht leisten können.
„Was gibt es Neues bei den unbekannten Leichen vom Terletski Park und aus Weschnjaki? Hat die Miliz mit den Befragungen etwas erreicht?“ Hauptmann Sokolow sah Wera über den Tassenrand hinweg fragend an.
Oberleutnant Belajewa schüttelte den Kopf. „Nichts. Seit drei Tagen keine neuen Ergebnisse. Es haben sich keine Zeugen gemeldet. Die Auswertung aller verwertbaren Spuren hat keine weiteren Anhaltspunkte ergeben.“ Sie seufzte. „Der oder die Täter haben sich auch alle Mühe gegeben, die Identifizierung zu verhindern. Die Gesichter beider Opfer wurden durch Schläge total zerstört, das Gebiss wurde entfernt. Bei der Leiche aus Weschnjaki wurden sogar die Fingerkuppen versengt. Wenn wir keine passenden Vermisstenmeldungen bekommen, haben wir es schwer.“
„Ich weiß“, meinte Michail leise. „Wenn wir wenigstens ein Motiv hätten. Der Kleidung nach entstammen beide Opfer eher einfachen Verhältnissen. Dies und der Aufwand, die Identität zu verschleiern, sprechen eher gegen einen Raubmord.“
„Aber wer ermordet zwei harmlose, ältere Männer einfach so?“, ließ sich Denissow aus seiner Zimmerecke vernehmen.
„Ob sie harmlos waren, wissen wir nicht“, warf Michail ein. „Der Eine kann auch ständig seine Frau geschlagen oder der Andere sich an kleinen Kindern vergangen haben.“
Das Auftauchen eines breiten, schweren Mannes in Uniform unterbrach den Diskurs in der Abteilung für Schwerkriminalität der Moskauer Kriminalpolizei. Wera Belajewa trat zur Seite und ließ den Chef der Abteilung, Obert Boris Romanowitsch Kusnezow, eintreten. Der „Alte“, wie er in seiner Abwesenheit gern genannt wurde, hielt eine dünne Akte in seinen großen Händen. „Novorjasanskojer Chaussee, in einem Waldstück wurde eine Leiche entdeckt. Die Begleitumstände lassen darauf schließen, dass es einen Zusammenhang zu den beiden nicht identifizierten Leichenfunden der letzten Zeit geben könnte. Wir übernehmen den Fall von den Kollegen aus dem östlichen Bezirk. “ Die letzten Sätze waren an Michail Sokolow gerichtet, der als dienstältester Ermittler der inoffizielle Leiter des Kollektivs war. „Hier steht das Wenige drin, das wir haben. Macht euch mit dem Fall vertraut! Ich muss nicht sagen, dass das Ministerium langsam ungeduldig wird.“
Minuten später saßen die Hauptleute Sokolow und Denissow gemeinsam mit Wera Belajewa am Konferenztisch und breiteten die Akten und die Tatortfotos aus. Auf den Bildern vom Fundort war Wald zu sehen. Versteckt hinter einem alten Holzstapel lag der nackte Leichnam eines vielleicht sechzigjährigen Mannes. Der Körper war mit zahlreichen Wunden übersät, das Gesicht durch die Wucht der Schläge regelrecht zertrümmert.
„Kein schöner Anblick“, stellte Wera Belajewa fest. „Fast, als wollte der Täter auch hier eine Identifizierung erschweren.“
Mischa Sokolow nickte. „Richtig beobachtet. Was haben wir noch im Bericht?“
Sein Kollege Denissow nahm den dünnen Hefter und referierte: „Heute Vormittag wurde der Tote von einem Arbeiter gefunden, der an dem Stapel eine Zigarettenpause machen wollte. Der Waldweg grenzt an das Gelände einer kleinen Tischlerei. Die Befragung der Miliz hat nur eine Sache ergeben: Ein Angestellter der Tischlerei hat vor drei Tagen auf dem Waldweg einen Mann gesehen, genauer: Der Mann verschwand gerade im Unterholz und reagierte auch nicht auf das Rufen des Tischlers. Ob es einen Zusammenhang zur Tat gibt, ist unklar.
Die Spurensicherung geht davon aus, dass ein Kleintransporter in circa zehn Meter Entfernung geparkt hat. Die Reifenspuren sind allerdings zu schwach, um ein genaues Profil oder gar das Fabrikat zu ermitteln. Dr. Polian legt sich vorerst in Bezug auf die Todeszeit soweit fest, dass der Tod des Mannes gestern zwischen zwei und vier Uhr nachmittags eingetreten ist. Vermutlich nachts wurde die Leiche dann an den Fundort verbracht, denn Blut oder sonstige Spuren eines Kampfes waren nicht feststellbar. Todesursache sind laut Polian mehrere kräftige Schläge mit einem stumpfen Gegenstand gegen die rechte Schläfe.“ Pjotr Denissow legte die Akte beiseite und rieb sich die Augen. „Ich mach mal ´nen Kaffee“, murmelte er und verließ den Raum. Kurz darauf stand Michail Sokolow neben ihm in der Teeküche und rührte schweigend in seinem heißen Getränk.
Denissow räusperte sich und fragte vorsichtig: „Es sind jetzt zwei Jahre, seit du zu uns in die Abteilung gekommen bist. Wir sind so etwas wie Freunde geworden. Aber eins liegt mir doch auf der Seele: Stimmt es, dass du früher beim KGB warst?“
„Hm.“
„Du redest nicht gern über diese Zeit?“
„Hm.“
„Wirst deine Gründe haben.“
„Hab ich.“
Der dunkelhaarige Polizist ließ den Blick nicht von seinem Gegenüber, als er nachhakte: „War es spannend?“
Sokolow gab nach. „Nun ja, nicht sonderlich. Viel Bürokram halt“, log er.
„Und warst du viel unterwegs?“ Pjotr Denissow drückte seine Zigarette aus.
„Erst Kuba, dann Deutschland beziehungsweise DDR. Dresden.“ Michail starrte reglos auf die qualmende Kippe.
Sein Kollege runzelte die Stirn. „Dresden, da war doch auch Putin?“
Sokolow nickte und bemerkte mit beiläufiger Stimme: „Genau, daher kenne ich Wladimir Wladimirowitsch persönlich.“
Denissow hätte sich beinahe verschluckt. „Was du nicht sagst. Kennt er dich auch?“
„Ich glaube, er will mich nicht mehr kennen“, entgegnete Sokolow trocken. „Weißt du, wie er dort genannt wurde?“
Denissow schüttelte das volle Haar.
„Genosse Stasi“, erklärte Sokolow. „Weil er so pedantisch genau die Akten führte wie unsere deutschen Musterschüler vom MfS.“
Denissow grunzte: „Genosse Stasi! Haha, das ist gut! Genosse Stasi.“
„Was haben wir?“ Oberst Boris Romanowitsch Kusnezow blickte fragend in die Runde. Der etwa sechzigjährige, schwergewichtige Mann mit den listigen Augen leitete die Abteilung in der Moskauer Petrowka 38 seit vielen Jahren und hatte alle Zeitenwenden scheinbar unbeschadet überstanden. Wera Belajewa sah von ihren Papieren auf und referierte die Kurzfassung der bisherigen Ermittlungsakte.
Der „Alte“ nickte. „Gibt es etwas bei den Befragungen in der Umgebung?“, fragte er dann Pjotr Denissow. Dieser wiegte den Kopf hin und her: „Wie man es nimmt. Es scheint keine Zeugen zu geben, die etwas über ein fremdes Fahrzeug zur fraglichen Zeit wissen. Die Baracken der Tischlerei werden in der Regel nur bis um sieben Uhr abends genutzt. Danach schaut lediglich ein Nachtwächter sporadisch vorbei. Der wird später vor Ort befragt.“ Denissow schaute auf seine Papiere. Dann setzte er fort: „Allerdings will ein Arbeiter wenige Tage zuvor einen Mann im Wald, unmittelbar am jetzigen Fundort, beobachtet haben, der sich die Gegend anschaute. Als er den Mann anrief und fragen wollte, was er auf dem Gelände zu suchen habe, verschwand er im Unterholz. Der Beschreibung nach war der Unbekannte zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, mittelgroß und mit einem alten, verwaschenen Arbeitsanzug bekleidet. Der Zeuge konnte den Mann leider nicht genauer beschreiben. Ein Phantombild wird gerade angefertigt.“
Oberst Kusnezow wollte gerade eine weitere Frage stellen, als die Tür zum Besprechungsraum geöffnet wurde und eine blonde Schönheit das Zimmer mit einem freundlichen Lächeln betrat. Die langen Haare hatte Tatjana Schirajewa wie üblich zu einem um den Kopf gewundenen Zopf geflochten. „Ich bitte um Entschuldigung, Kollegen, dass ich hier so hereinplatze“, begann die Untersuchungsführerin und schaute in die Runde. Eine lange Sekunde blieb ihr Blick auf Michail Sokolow haften, dem ganz warm ums Herz wurde. Dann setzte sie sich auf einen freien Stuhl links von Kusnezow und sagte: „Bitte fahren Sie fort. Ich höre nur zu.“
Der „Alte“ räusperte sich, verärgert über die Unterbrechung, und wandte sich an Sokolow: „Habt Ihr die Identität des Opfers klären können?“
Der Hauptmann schüttelte den Kopf. „Leider noch nicht. Wir gehen gerade die Vermisstenmeldungen durch. Die Fingerabdrücke des Opfers waren nicht in der Kartei. Da wir keine Kleidungsstücke gefunden haben, gibt es auch hier keine Ansatzpunkte.“
Der Oberst nickte nachdenklich mit dem Kopf. „Wenn es nichts weiter gibt ...“, begann er, wurde allerdings von Tatjana Schirajewa unterbrochen: „Eine Frage habe ich, Boris Romanowitsch.“ Die Untersuchungsführerin blickte in die Runde: „Wie nahe liegt der Verdacht, dass es sich um einen Serientäter handeln könnte, der es auf ältere Männer abgesehen hat? Weist etwas auf einen homosexuellen Aspekt hin?“
„Nun ja.“ Michail überlegte. „Es gibt ein paar Gemeinsamkeiten, z.B. das Alter der Toten, das Ablegen im Wald, Tod durch Erschlagen und der Versuch, eine Identifizierung zu erschweren. Allerdings können das auch Zufälle sein. In Moskau geschehen im Durchschnitt dreißig Tötungsverbrechen täglich.“
Die Untersuchungsführerin erhob sich. Das maßgeschneiderte, marineblaue Kostüm brachte ihren wohlproportionierten Körper besonders zur Geltung. „Ich möchte, dass Sie diesen Aspekt nicht aus den Augen verlieren. Vielleicht ist es eine Serie, vielleicht auch nur Zufall. Wenn es eine Serie ist, stoppen Sie sie schnell. Der Minister befürchtet eine schlechte Presse und Angst unter der Bevölkerung. Und die nächsten Duma-Wahlen stehen an ... Ansonsten haben Sie freie Hand.“ Sie nickte in die Runde und verließ den Raum.
Als Sokolow das Büro betrat, war er ein wenig enttäuscht darüber, dass Tanja nicht auf ihn gewartet hatte. Sicher, ihr Verhältnis war geheim und musste es bleiben, schon weil Untersuchungsführerin Tatjana Schirajewa verheiratet war und eine solche Beziehung in der Petrowka in keiner Weise geduldet werden würde. Trotzdem ... Das Klingeln des Telefons riss Michail aus seinen trüben Gedanken. Es war der Pförtner, der eine aufgebrachte Bürgerin meldete, die sich nicht abwimmeln ließ und behauptete, man hätte ihren Vater ermordet, obwohl es dafür keinen Beleg gab. Der erfahrene Ermittler wurde hellhörig und wies den Polizisten an, die Frau vorzulassen.
Wenige Minuten später saß eine junge, nicht unbedingt hübsche, aber dafür resolute Frau auf dem harten Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch. Larissa Leonidowna Nikiforowa machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube. Sie erklärte ohne Pause und Atemholen, dass sie kurzfristig aus Deutschland zurückgekehrt sei, wo sie an einer Sprachenschule als Lehrerin arbeite, weil sie ihren Vater, der zur Untermiete in einer Gemeinschaftswohnung lebt, seit drei Tagen nicht erreicht habe. Die Vermieterin hatte behauptet, ihr Vater hätte das Zimmer am Dienstag mit einem geheimnisvollen Lächeln gekündigt und erklärt, er würde künftig besser wohnen. Mit ihm waren auch die gesamten Ersparnisse der Familie, vermutlich etwas mehr als 5.000 US Dollar, verschwunden. Es sähe ihrem Vater, Leonid Iljitsch Nikiforow, überhaupt nicht ähnlich, seiner einzigen lebenden Verwandten kein Lebenszeichen zukommen zu lassen, zumal er ihre Telefonnummer in München kannte. Ihre Tirade endete mit einer Beschimpfung der untätigen Miliz, die ihre Vermisstenmeldung nicht bearbeiten wollte.
Michail hörte sich alles schweigend an und wartete, bis die Nikiforowa für zwei Sekunden Luft holte, um sich schließlich zu äußern. Er machte ihr klar, dass er ihre Sorgen ernst nahm und erbat ein Foto ihres Vaters sowie eine Beschreibung. Die besorgte Frau kramte ein leicht sepia schimmerndes Porträtfoto aus ihrer Handtasche und beschrieb Leonid Nikiforow so gut es ging. Michail starrte nachdenklich auf das Bild in seiner Hand und nickte bedächtig mit dem Kopf.
„Lassen Sie uns gehen“, meinte er leise.
Die Formalitäten waren schnell erledigt. Larissa Leonidowna erkannte in dem Toten aus Weschnjaki ihren Vater Leonid Iljitsch Nikiforow, 65 Jahre alt, Rentner.
Eine Durchsuchung der kleinen Kammer, welches das Opfer in einer Mehrfamilienwohnung nahe der Metrostation Wychino bewohnte, ergab das Bild eines einsamen alten Mannes ohne besondere Eigenschaften. Die wenigen wertlosen Habseligkeiten passten in eine Bananenkiste und wurden der Tochter kurzerhand übergeben. Nikiforow dürfte während seines Berufslebens als Eisenbahnschaffner kaum Gelegenheit gehabt haben, sich Todfeinde zu machen. Seit er vor drei Jahren wegen eines schweren Rückenleidens berentet worden war und seine einzige Tochter sich beruflich im Ausland aufhielt, hatte der alte Mann nach Auskunft der Vermieterin still und zurückgezogen gelebt.
„Aber eines war merkwürdig ...“, die Wirtin brach ab und starrte auf einen Fleck an der grauen Wand.
„Was denn?“, hakte Mischa Sokolow nach.
„Er wirkte am letzten Tag vor seinem Verschwinden anders, irgendwie heiter vielleicht.“ Sie strich sich über den Damenbart und entblößte beim Lächeln einige fast schwarze Zähne. „Ja, heiter, gelöst. Ich habe ihn noch gefragt, „Leonid Iljitsch“, habe ich gefragt, „was haben Sie?“ Aber er lächelte nur und meinte verschmitzt; „Sie werden schon sehen, und Larissa wird erst Augen machen!“ Dann ging er seiner Wege.“
Hauptmann Sokolow bedankte sich und stieg nachdenklich die Treppe aus dem vierten Stock hinab. Im Erdgeschoss des Altbaus hätte er beinahe einen jungen Mann in farbbeflecktem Holzfällerhemd und Jeans umgerannt, der dabei war, eine Leiter unter der flackernden Deckenlampe aufzustellen. Sokolow entschuldigte sich, der Mann lachte und winkte ab: „Schon in Ordnung. Was mache ich das auch um diese Zeit. Da herrscht hier Hochbetrieb.“ Ein jungenhaftes Lächeln erschien auf dem hellen, bartlosen Gesicht. Pjotr musterte den Mann, der inzwischen auf die Leiter gestiegen war und fragte: „Sind Sie hier der Hauswart?“
Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Nicht direkt. Pawel Wolkow, ich arbeite für die Wohnungsverwaltung ‚Vorwärts’. Kleinere Reparaturen, Ordnung schaffen, was so anfällt.“ Er wischte sich die linke Hand an seiner blau leuchtenden Hose ab und setzte den Schraubendreher an einer Schraube an.
„Kennen Sie die Mieter hier im Haus?“
„Nun ja, alle nicht, aber viele. Immerhin mache ich den Job hier schon fast ein Jahr. Ist was passiert?“ Der Mann schaute jetzt interessiert zu Sokolow herunter. Dieser wich der Frage aus: „Und Leonid Nikiforow? Kannten Sie den?“
Der Handwerker setzte sein Werkzeug ab und starrte den Hauptmann an. „Wieso fragen Sie? Ist ihm ..., ist er ...?“ Er sprang von der Leiter und stand direkt vor Sokolow. „Ist ihm was passiert?“
Michail trat einen Schritt zurück. „Ja. Seine Tochter hat ihn identifiziert. Er ist tot.“
Wolkow schluckte. „Wieso Tochter? Ich meine, hat sie ihn gefunden?“
Sokolow schüttelte den Kopf. „Nein. Wann haben Sie Leonid Iljitsch zuletzt gesehen? Und ist Ihnen etwas aufgefallen?“
Während Wolkow die Handflächen an der Jeans rieb, schien er zu überlegen. „Das muss am Dienstag gewesen sein, nein, da hatte ich frei. Montag war es, im Keller tropfte es aus der Wasserleitung und ... Ja, da traf ich Leonid Iljitsch hier im Treppenhaus.“
„Ist Ihnen etwas aufgefallen? War Nikiforow anders als sonst? Fühlte er sich bedroht?“
Der Handwerker kratzte sich am Kinn: „Nein, er war wie immer. Wissen Sie, ich kannte ihn nicht so gut. Hier und da ein Guten Tag und Guten Weg. Er grüßte immer freundlich. Und wie ... wie ist er?“ Wolkows Blick war intensiv auf den Ermittler gerichtet. Doch Michail drehte sich um. „Darüber kann ich momentan keine Auskunft geben“, meinte er im Gehen. „Und vielen Dank! Ach“, er wandte sich zu dem jungen Mann um. „Wo ist denn Ihre Wohnungsverwaltung? Falls wir noch Fragen haben.“
Wolkow nannte eine Adresse an der Großen Poljankastraße. „Fragen Sie nach Melnikow, das ist der Chef. Der kann Ihnen sicher weiterhelfen.“ Er lächelte Sokolow nach, als dieser das Gebäude verließ.
Als der Hauptmann in der Petrowka eintraf, fand er einen schweigsamen Wladimir Koroljow vor. Der Leutnant hockte auf seinem klapprigen Bürostuhl und starrte auf die Schreibtischunterlage.
„Hat nicht geklappt mit der Wohnung?“, folgerte Michail und versuchte, mitfühlend zu klingen.
„ Das wäre es gewesen“, meinte Wolodja nachdenklich. „Zwölftausend kalt für zwei Zimmer und Bad, Blick ins Grüne. Achtzig Interessenten haben sich gemeldet, sagt der Verwalter. Keine Chance.“ Koroljow seufzte und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Was sind das für Zustände, wenn eine Wohnung monatlich soviel kostet wie mein halbes Gehalt und ich trotzdem keine Chance habe, sie zu bekommen?“
„Bei wem hast du keine Chance?“, frotzelte Pjotr Dennissow, der gerade eintrat und nur die letzten Worte Koroljows aufgeschnappt hatte.
„Macht Euch nur lustig!“, beschwerte sich der junge Kollege missmutig. „Ihr habt eine Wohnung.“ Er wedelte mit der Zeitung, die bis dato auf dem Tisch vor ihm gelegen hatte. „Alles Halsabschneider. Für zwei Zimmer in normaler Lage wollen die 20.000 Rubel und mehr! Aber dieser Melnikow meinte nur, diese Preise seien nicht ungewöhnlich. Alles Verbrecher!“ Plötzlich wurde er still. Interessiert las er zum wiederholten Male die Anzeige.