Einer zuviel an Bord: Anna Pigeon ermittelt - Band 2: Kriminalroman - Nevada Barr - E-Book
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Einer zuviel an Bord: Anna Pigeon ermittelt - Band 2: Kriminalroman E-Book

Nevada Barr

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Beschreibung

Faszinierende Landschaften und abgründige Verbrechen: Der Krimi „Einer zuviel an Bord“ von Nevada Barr jetzt als eBook bei dotbooks. Isle Royale, Michigan: Ruhe und Frieden in der Natur ist alles, was die Parkrangerin Anna Pigeon sucht. Aber bereits in ihren ersten Tagen im Nationalpark am Lake Superior machen Taucher eine grausige Entdeckung – in den Tiefen des Sees liegt ein Schiffswrack, in dem sich sechs Tote befinden. Fünf gehören zur Mannschaft, die damals mit dem Schiff sank, doch woher stammt die sechste Leiche? Ein Abenteuertaucher, dem die Schatzsuche im Wrack zum tödlichen Verhängnis wurde? Warum aber kehrt zur gleichen Zeit die Frau eines Rangers von ihrem Spaziergang am See nicht zurück? Anna beschleicht der Verdacht, dass sich im Totenschiff ein Geheimnis verbirgt, für das jemand bereit ist zu morden … und sie ist nun mitten in sein Visier geraten! Fesselnd und atemlos spannend – der zweite Band der packenden Krimireihe um die Parkrangerin Anna Pigeon mit ihrem untrüglichen Gespür für die Abgründe menschlichen Handelns: „Barr kennt und liebt ihre Landschaft und schreibt darüber mit dem Einfühlungsvermögen einer wahren Naturfreundin.“ The Washington Post Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Einer zuviel an Bord“, Band 2 der international erfolgreichen Krimiserie von Nevada Barr, die Leser in die großartigen Nationalparks Amerikas entführt. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 556

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Über dieses Buch:

Isle Royale, Michigan: Ruhe und Frieden in der Natur ist alles, was die Parkrangerin Anna Pigeon sucht. Aber bereits in ihren ersten Tagen im Nationalpark am Lake Superior machen Taucher eine grausige Entdeckung – in den Tiefen des Sees liegt ein Schiffswrack, in dem sich sechs Tote befinden. Fünf gehören zur Mannschaft, die damals mit dem Schiff sank, doch woher stammt die sechste Leiche? Ein Abenteuertaucher, dem die Schatzsuche im Wrack zum tödlichen Verhängnis wurde? Warum aber kehrt zur gleichen Zeit die Frau eines Rangers von ihrem Spaziergang am See nicht zurück? Anna beschleicht der Verdacht, dass sich im Totenschiff ein Geheimnis verbirgt, für das jemand bereit ist zu morden … und sie ist nun mitten in sein Visier geraten!

Fesselnd und atemlos spannend – der zweite Band der packenden Krimireihe um die Parkrangerin Anna Pigeon mit ihrem untrüglichen Gespür für die Abgründe menschlichen Handelns: »Barr kennt und liebt ihre Landschaft und schreibt darüber mit dem Einfühlungsvermögen einer wahren Naturfreundin.« The Washington Post

Über die Autorin:

Nevada Barr wurde 1952 in Yerington, Nevada geboren. Sie arbeitete als Schauspielerin, bevor ihre Liebe zur Natur sie als Rangerin in verschiedene Nationalparks führte. Dies inspirierte sie zu ihrer Serie über Anna Pigeon, die mehrfach preisgekrönt wurde – unter anderem erhielt der erste Band, »Die Spur der Katze«, den renommierten Agatha-Award als bestes Debüt – und international erfolgreich ist. Nevada Barr lebt heute in Mississippi.

***

eBook-Neuausgabe Dezember 2018

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1994 by Nevada Barr

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel A Superior Death bei G. P. Putnam's Sons, New York.

Copyright © der deutschen Ausgabe 1995 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Published by Arrangement with Nevada Barr Paxton.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Mark Baldwin

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95824-474-0

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Nevada Barr

Die Spur der Katze

Anna Pigeon ermittelt

Aus dem Amerikanischen von Adelheid Zöfel und Christine Strüh

dotbooks.

Ein besonderer Dank an Daniel Lenihan

Für Peter, der immer den Täter kennt, ohne ihn unbedingt für einen schlechten Menschen zu halten.

Kapitel 1

Diese Fischkiller sind zu allem fähig, dachte sie. Durch die beschlagene Windschutzscheibe konnte Anna eine helle Form ausmachen, die auf den zwei Meter hohen Wellen tanzte, grau wie Schiefer und genauso unnachgiebig. Ein giftgrüner Echoimpuls auf dem Bildschirm bestätigte ihr die unwillkommene Existenz des Boots. Einen halben Kilometer nordöstlich zeigte ihr ein weiterer Echoimpuls, daß noch ein Idiot in irgendeiner Idiotenmission unterwegs war.

Irritiert drehte sie an dem Radargerät herum, als könnte sie den Nebel über dem See lichten, indem sie den Bildschirm scharf stellte. Plötzlich mußte sie an einen alten Bekannten denken, einen Typen namens Lou, mit dem sie einmal über Hemingway gestritten hatte. Völlig frustriert über Annas eher ablehnende Haltung hatte Lou irgendwann zum letzten, vernichtenden Schlag ausgeholt: »Du bist eine Frau. Du verstehst Papa Hemingway nicht.«

Anna kurbelte das Seitenfenster herunter. Der Regen klatschte ihr ins Gesicht und lief ihr in den Jackenärmel. »Wir verstehen auch nichts vom Fischen!«, schrie sie in den Wind.

Der Rumpf der Bertram klatschte hart auf eine sich zurückziehende Welle. Einen Moment lang blockierte der Bug die Sicht durch die Windschutzscheibe, dann sank er wieder – ein künstlicher Horizont, der einen schwindlig machte, weil man nie wußte, wo genau er zur Ruhe kommen würde. Unter einem donnernden Wasservorhang setzte das Boot wieder auf. Anna fluchte, besann sich aber eines Besseren. Ein Meinungsaustausch mit den Elementen war wohl keine so gute Idee. Womöglich biß sie sich beim nächsten Aufprall die Zunge ab.

Vor fünf Wochen, als sie zum ersten Mal auf den Lake Superior hinausgefahren war, den Bootsschein noch nagelneu in der Brieftasche, hatte sie sich mit den technischen Daten der Bertram zu trösten versucht. Die Bertram war eines der robustesten Sechsundzwanzig Fuß-Schiffe, die es gab. Wenn man ihren Anhängern und der einschlägigen Fachliteratur glauben wollte, hielt die Bertram ungefähr allem stand – abgesehen vielleicht von einem feindlichen Torpedoangriff.

Auf einem freundlicheren Gewässer hätte dieser Gedanke Anna sicher getröstet. Auf den stahlgrauen Wellen des Lake Superior jedoch schien ihr ein feindlicher Torpedo beinahe das kleinere Übel zu sein. Torpedos unterlagen menschlichen Berechnungsfehlern. Männer schossen sie ab, also konnte eine Frau ihnen ausweichen. Lake Superior dagegen wartete. Er hatte jede Menge Zeit und jede Menge Fische, die gefüttert werden wollten.

Die Belle Isle pflügte durch den Kamm einer Dreimeterwelle, und in den Sekundenbruchteilen, in denen man zwischen den zusammenschlagenden Wassermassen und den Scheibenwischern hindurchspähen konnte, sah Anna die Fahrtlichter eines kleinen Schiffs, rechts von ihr, etwa fünfzig Meter entfernt.

Anna zwängte sich zwischen das Armaturenbrett und die Steuerbank, die ihr genau bis zum Po reichte, und griff zum Mikro. »Low Dollar, Low Dollar, hier spricht die Belle Isle. Hören Sie mich?« Durch das statische Rauschen und Knistern antwortete eine Männerstimme: »Ja, ja! Sind Sie das da drüben?«

Nicht zum ersten Mal wunderte sich Anna, daß so viele Bootsfahrer jeden Sommer den Lake Superior überlebten. Es gab keinerlei Vorschriften über Bootsscheine oder sonstige Fahrprüfungen. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, alle, die ein Schiff in die Finger bekamen, konnten hinausfahren und sich zwischen den Riffen und Sandbänken, den Linienfrachtern und Wochenend-Fischerbooten herumtreiben. Die Warnschilder der Küstenwache – ACHTUNG TAUCHER, UNTIEFE, BOJE, LANGSAM, KIELWELLE VERMEIDEN – waren für die Hälfte aller Bootsfahrer einfach hübsche Dekorationen am Wegesrand. »Gehen Sie auf sechs-acht.« Anna stellte ihr Funkgerät von der Ruf- und Meldefrequenz auf den Betriebskanal. »Richtig, ich bin es. Ich werde jetzt backbord an Sie ranfahren. Wiederhole: backbord. Links«, fügte sie zur Sicherheit hinzu.

»Ähm ... zehn-vier«, kam die Antwort.

In den folgenden Minuten konzentrierte sich Anna ganz auf das Boot, versuchte es zu spüren, die Kraft der Maschinen, die Wucht des Winds, das Aufbäumen der Wellen. Auf der Insel gab es Leute, die zur Not mit einem Rennboot sogar an einem Wirbelsturm anlegen konnten, beispielsweise Holly Bradshaw von der Besatzung des Tauchboots 3rd Sister oder auch Chief Ranger Lucas Vega und die ganzen alten Seebären von Fisherman's Home und Barnums' Island, die noch kommerzielle Fischereirechte aus der Zeit innehatten, bevor die Isle Royale zum Nationalpark erklärt worden war. Anna jedenfalls gehörte nicht zu dieser Elite.

Sie vermißte Gideon, ihr Reitpferd in Texas. Selbst wenn er widerspenstigster Laune war, konnte sie ihn ohne größere Blamage in die Koppel hinein und wieder heraus manövrieren. Für die Belle Isle war wesentlich mehr Geschicklichkeit erforderlich, und außerdem, dachte Anna verdrießlich, war sie längst keine so angenehme Gesellschaft.

Jetzt kam die Low Dollar wieder in Sicht, auf einer grauschimmernden Welle schaukelnd. Anna langte aus dem Seitenfenster und ließ einen Fender hinunter, um die Seite des Boots zu schützen. Der Heckfender war schon draußen; beim Verlassen der Ranger-Station in Amygdaloid hatte sie nämlich vergessen, ihn einzuholen, und er hatte die ganze Zeit über aufs Wasser geklatscht.

Aus mir wird nie ein richtiger Seebär, sagte sich Anna. Mit einem lautlosen Seufzer ging sie rechts auf Vollgas, drosselte links ein wenig und machte sich so von hinten an das kleine Boot heran. Zusammen versanken die beiden Schiffe in einem Wellental.

Die Low Dollar schlingerte und torkelte wie eine dicke Frau, die versucht, sich von einem Wasserbett zu erheben. Sie lag gefährlich dicht an der Wasseroberfläche, und Anna entdeckte einen Eimer, eine Scheuerbürste mit Holzgriff und eine leere Flasche Heaven Hill Bourbon, die in ihrem eigenen kleinen See auf dem überfluteten Deck ertranken.

Zwei Männer kämpften sich durch das Schlagwasser und versuchten, sich mit bloßen Händen und Bootshaken an der Belle Isle festzuklammern, die Gesichter starr vor Angst und Kälte. »Bleibt mir bloß weg, ihr Nulpen«, schimpfte Anna vor sich hin. Zu schreien wäre reine Zeitverschwendung gewesen, selbst wenn sie sich gegen das Heulen des Windes hätte durchsetzen können. Diese Männer konnten ihre Finger genausowenig von der Belle Isle lassen wie ein Ertrinkender vom sprichwörtlichen rettenden Strohhalm.

Schiffsrumpf knallte gegen Schiffsrumpf, während sie die beiden Boote zusammenzogen und damit Annas ganzes sorgfältiges Manöver zunichte machten.

Der Mann im Bug, windzerzaust in einem übergroßen billigen Regenmantel, zog ein gelbes Nylonseil heraus und begann, die beiden Schiffe zu vertäuen, als hätte er Angst, Anna könnte sich doch wieder auf und davon machen.

Sie schaltete auf Leerlauf und stieg die beiden Stufen aus der Steuerkajüte hinauf. Der Fischer im Achterschiff steuerbord fing jetzt an, die Hecks zu vertäuen. »Hey! Hey!«, rief Anna. Befestigt mein Boot bloß nicht an dieser – »Schrottmühle«, wäre das logische Ende des Satzes gewesen, aber da kam ihr eine Lektion in den Sinn, die Lucas Vega vor ziemlich kurzer Zeit erteilt hatte. Es war darum gegangen, wie wichtig es sei, einen positiven Kontakt zu den Touristen aufzubauen und gute Beziehungen auch mit den Sportfischern zu pflegen, die jeden Sommer die Insel überschwemmten.

»Binden Sie das los!«, schrie sie gegen den Wind. »Binden Sie es los!« Der Mann, der etwa Mitte Vierzig war, in seinem unförmigen Sweatshirt und seiner Mütze mit Ohrenklappen aber älter aussah, sah sie verständnislos an. Er hörte zwar auf, mit dem Tau zu hantieren, machte aber keine Anstalten, es aufzuknoten. Statt dessen sah er zu seinem Kumpel hinüber, der das Seil unermüdlich weiter um die Bugklampen wickelte.

»Hal?«, blökte der Mann mit klagender Stimme. Offenbar brauchte er den Rat einer echten Autoritätsperson.

Anna wartete, die Hände auf der Reling der Low Dollar. Der alte Kahn war noch einigermaßen gut in Schuß, da kam es auf ein paar Minuten nicht an. Und nach den schlaffen Wangen und den erweiterten Pupillen zu schließen, stand Annas Gegenüber vor Angst und Kälte am Rand eines Nervenzusammenbruchs.

Hal vollendete seine Serie von Pfadfinderknoten und kam auf der Längsseite des Boots zurück. Er war jünger als der Mann, der weiterhin die Heckleine umklammerte – ungefähr fünfunddreißig. Auch ihm war die Angst ins Gesicht geschrieben, und er wirkte alles andere als gelassen, aber er machte wenigstens den Eindruck, als könnte er zuhören.

»Hi«, begrüßte Anna ihn. »Ich bin Anna Pigeon. Sie sind Hal, hab ich das richtig verstanden?« Der Mann nickte stumm. »Sind Sie der Kapitän der Low Dollar, Hal?« Wieder ein Nicken. »Sie haben ein bißchen Wasser abgekriegt, wie's aussieht.«

Die alltäglichen Worte zeigten den gewünschten Effekt. Allmählich wich der Es-geht-um-Leben-und-Tod-Ausdruck aus seinen blaßblauen Augen. Er wischte sich mit dem Ärmel über den Mund, als wollte er einen Schalter anknipsen, der seine Lippen wieder funktionsfähig machte. »Ja«, brachte er schließlich heraus. »Wir sind in Little Todd auf irgendwas aufgelaufen, haben uns aber weiter keine Gedanken drüber gemacht. Und als wir dann hier waren, war schon mehr Wasser reingelaufen, als wir ausschöpfen konnten. Da haben wir angefangen zu funken. Ich glaube, die Schiffsschraube hat nen Schlag abgekriegt, und das Wasser dringt an der Welle ein.«

Jetzt, da die Normalität mehr oder eher weniger wiederhergestellt war– angenommen, die Welt hörte nicht plötzlich auf, in diesem farblosen Panorama von stürmischen Wolken und brausenden Wogen zu schaukeln –, redete Anna weiter: »Ich erkläre Ihnen, was Sie tun müssen, Hal. Zuerst einmal ziehen Sie Ihre Schwimmwesten an. Haben Sie überhaupt welche?«

Der Mann angelte zwei nicht sehr vertrauenerweckende orange Schwimmwesten unter einem Sitz hervor, und die beiden schnallten sie um.

Als sie die Hände wieder frei hatten, fuhr Anna fort: »Jetzt schneiden Sie die Bugleine durch. Sie ...« Fragend blickte sie zu dem zweiten Mann, der allmählich ebenfalls wieder zum Leben erwachte.

»Ich bin Kenny. Ken.«

»Ken, Sie binden das Heck los. Hal, ich gebe Ihnen mein Schlepptau. Befestigen Sie es am Bug. Dann kommen Sie beide zu mir an Bord. Die Low Dollar liegt zu tief im Wasser. Mir wäre es lieber, wenn niemand auf ihr bleibt. Alles klar?«

Kenny begann, sein Tau abzuwickeln, und Hal ging zurück zum Bug, wo er anfing, an den Knoten, die er vorhin so sorgfältig geknüpft hatte, zu ziehen und zu zerren. Die beiden Schiffe stiegen einen glitzernden kalten Wellenberg hinauf, wippten auf dem Kamm einen Moment hin und her und glitten dann wieder hinunter. Kenny schrie auf: Seine Hand hatte sich zwischen den beiden Schiffen verklemmt. Aber der Schreck war wohl schlimmer als die Verletzung.

Der Schrei hatte durchaus einen positiven Effekt, denn Hal sah endlich ein, daß es die 1,59 Dollar wert war, wenn er Zeit sparte und das Tau einfach durchschnitt, statt sich mit den Knoten abzumühen.

Eine Minute später waren beide Männer an Bord der Belle Isle, und Anna brachte ihr Boot langsam wieder in Gang.

Das Schlepptau straffte sich und wurde über dem brodelnden Kielwasser der Belle emporgezogen. Als die Maschinen das volle Gewicht der lecken Low Dollar zu spüren bekamen, hörte Anna sie kurz angestrengt aufheulen; dann gruben sie sich kraftvoll ins Wasser. Sicher, die Bertram hatte nicht die Persönlichkeit eines guten Reitpferds, aber dafür war sie stark wie eine ganze Herde. Anna war dankbar, daß sich zwischen ihr und dem Grund des Lake Superior ein gutes Stück hochwertige Technik befand – und froh, daß sie sich allmählich von der ozeanartigen Mitte des Sees entfernte und den geschützteren Einfahrten und Buchten des Nordufers näherte.

Rechterhand, zwischen den Wellen, konnte sie die felsigen Ausläufer von Kamloops Island sehen. Wäre weniger Seegang gewesen und die Low Dollar nicht ganz so vollgelaufen, hätte sie das beschädigte Boot zur Nordseite der kleinen Insel schleppen können, zur Ranger-Station in Amygdaloid, wo sie Werkzeug hatte. Oder vielleicht sogar nach Rock Harbor, wo es überhaupt alles gab, inklusive Telefon und stets verfügbarer Wasserflugzeuge. Dem Gefühl beim Schleppen nach zu urteilen, konnte sie von Glück sagen, wenn das beschädigte Boot bis zur nächsten Landemöglichkeit durchhielt.

Hal hatte sich auf Deck postiert und betrachtete traurig sein Boot. Kenny hockte auf der hohen Bank gegenüber der Steuerbank, die Finger um die Haltegriffe am Armaturenbrett geklammert. Anna hatte ihn zum Aufwärmen in die Kajüte geschickt. Er war so kreidebleich und durchgefroren, daß Anna sich Sorgen um ihn machte. Vorhin, als sie ihm beim Umsteigen geholfen hatte, war sie richtig erschrocken, wie kalt seine Hände waren. Sie selbst stand mit leicht gebeugten Knien auf Deck, wie auf einem Surfbrett, den Schwerpunkt über den Zehen ausbalancierend.

Allmählich hob sich der Nebel, und im Dunst sah man jetzt ein ganzes Stück Küstenlinie. Die dreißig Kilometer Klippen und Buchten zwischen Little Todd Harbor und Blake's Point waren Anna inzwischen genauso vertraut wie die Wüstenpfade in den Guadaloupe Mountains. In der Hoffnung, ihre Angst zu besiegen, indem sie sich Wissen aneignete, hatte sie ihre ersten zwei Wochen als North Shore Ranger damit verbracht, mit der Seekarte in der einen und dem Steuerrad in der anderen Hand herumzuschippern, den Kopf aus dem Fenster gestreckt wie ein Hund auf einem Pick-up-Truck. Die Form jeder Steilklippe, jeder Einbuchtung hatte sie sich eingeprägt, die Lage jeder Untiefe und jedes Unterwasserstrudels.

An stillen, sonnigen Tagen, an denen der See eher bereit war, bei einem Fehler Nachsicht walten zu lassen, hatte sie die Fensterscheiben mit alten Landkarten verhängt und sich so von einem Ort zum nächsten gepirscht, die Augen auf den Radarschirm geheftet, die Ohren gespitzt auf das Geklapper des Tiefenmessers. Wie die meisten Landratten hatte auch Anna im seichten Wasser – beispielsweise in einer der Buchten voller Steine und halbüberschwemmter Baumstämme – weniger Angst als im tiefen. Obwohl der eiskalte Lake Superior sie vierhundert Meter vor der Küste genauso erbarmungslos ertränkt hätte wie fünfzehn Kilometer weiter draußen, hatte Anna, wenn sie zurückkehrte, fast immer das Gefühl, endlich wieder in Sicherheit zu sein. Der »sichere Hafen«, von dem sie seit frühester Kindheit hatte reden hören, hatte in dem Moment eine ganz neue Bedeutung angenommen, als der Lake Superior ihr den ersten grimmigen Blick zuwarf.

»Sie sind neu, stimmt's?«, sagte Kenny, als könnte er Gedanken lesen. »Letztes Jahr waren Sie noch nicht hier.«

Anna konzentrierte sich wieder auf ihren Fahrgast. »Verirrte Wüstenratte«, antwortete Anna. »Seit ich Texas verlassen habe, war mir kein einziges Mal mehr warm – und durchnäßt bin ich auch andauernd.«

»Es ist nicht mehr wie früher«, fuhr Kenny fort, als hätte Anna nichts gesagt. »Früher haben sich die Leute auf dem See umeinander gekümmert. Niemand wäre an einem Schiff in Seenot einfach vorbeigefahren. Niemals. Aber heute hätten wir da draußen untergehen können, und keiner hätte uns auch nur nen Rettungsring zugeworfen. Den Leuten ist alles egal. Jeder denkt nur dran, wie er dem andern den besten Campingplatz wegschnappen kann.«

»Ist denn jemand an Ihnen vorbeigefahren?«, fragte Anna, und ihr fiel plötzlich das zweite Blinksignal auf ihrem Radar wieder ein. Bei dermaßen wildem Seegang war das zwar sonderbar gewesen, aber doch nicht ungewöhnlich. Die brüderliche Verbundenheit unter Sportfischern war inzwischen größtenteils ins Reich der Legende verwiesen, falls sie je existiert hatte – ein weiteres Glied der Erinnerungskette, die in den mystischen guten alten Zeiten geschmiedet worden war.

»Nein, keiner ist vorbeigefahren«, antwortete Kenny. »Aber wir haben ein weißes Schiff gesehen, weiß und grün. Den Namen konnte ich nicht lesen, und wir haben es auch nicht bei der Küstenwache gemeldet. Es war draußen auf dem See, ganz in der Nähe der Stelle, wo die Kamloops gesunken ist, unterwegs in Richtung Osten.«

»Vielleicht hat die Besatzung Sie nicht gesehen. Es war ja schon den ganzen Tag so neblig. Sind Sie denn sicher, daß das Boot nicht rot und weiß war? Die 3rd Sister war nämlich in dieser Richtung draußen. Sie wollen morgen bei der Emperor tauchen.«

»Das Schiff war grün. Und die haben uns genau gesehen. Die mußten uns sehen. Aber die Mistkerle haben sich nicht gemuckst, sondern uns einfach weiter kniehoch im Schlagwasser herumpatschen lassen. Wahrscheinlich haben sie gehört, daß die Regenbogenforellen in Siskiwitt auf Laichwanderung sind, und wollten nicht warten. Als mein Dad mich damals mit rausgenommen hat – das ist jetzt gut zwanzig Jahre her ...«

Anna ließ ihn quasseln, vergaß dabei aber nicht, hin und wieder zu grunzen oder zu seufzen – Zuhörgeräusche, die sie von ihrer Schwester gelernt hatte. »Das gibt den Leuten ein Gefühl von Sicherheit«, hatte Molly gesagt. »Außerdem geht es mir auf die Nerven, alle fünf Minuten ›Anna, bist du noch dran?‹ in das blöde Telefon blöken zu müssen.«

Die Geräusche waren tausendmal das Geld wert, das Molly der Telefongesellschaft für die Anrufe hatte zahlen müssen, bei denen Anna sich als gelehrige Schülerin erwiesen hatte. Ein Ranger konnte mit ein paar wohlplatzierten »Ach, wirklich« und »Mhms« einem Gesprächspartner mehr Informationen entlocken als mit einer stundenlangen Befragung nach dem Lehrbuch. Die meisten Leute hatten ja ein großes Bedürfnis zu reden. Treubrüche, Enttäuschungen und nicht verwirklichte Hoffnungen durchzukauen, erfüllte bei den Menschen offenbar den gleichen Zweck wie bei Tieren das Wundenlecken: Man reinigte die Wunde von eventuellen Giftstoffen und linderte den Schmerz.

Anna ließ Kenny also weiterreden und gab dabei Mollys Therapeutengeräusche von sich, aber sie hörte ihm nicht zu. Sie hatte ihre eigenen Wunden, ihre eigenen Träume und Enttäuschungen. In diesem Moment hätte sie ein ganzes Wochengehalt für einen schönen, heißen, trockenen Tag gegeben, für den Anblick einer kleinen Eidechse, für den Geruch von Salbei im Wind.

Aber sobald sie merkte, daß sich solche Gedanken in ihrem Kopf auszubreiten drohten, verscheuchte Anna sie energisch. Der See gestattete keine Träumereien, nicht bei drei Meter hohem Wellengang, und schon gar nicht, wenn einem ein kaputter Treibanker am Heck hing. Zum Träumen gab es die Wüste mit ihrer Hitze und ihrem blankpolierten, sternklaren Himmel. Aber hier im Nebelland, in diesem Land der finsteren Gewässer, mußte man permanent auf Draht sein, wenn man am Leben bleiben wollte.

Im Windschutz von Kamloops Island beruhigte sich das Wasser tröstlicherweise. Trotzdem zog die Low Dollar das Heck der Belle inzwischen bedrohlich in die Tiefe. Anna drosselte die Geschwindigkeit und ging in den Leerlauf; sofort stockte jede Bewegung. Sie ging auf Deck, wo Hal stand und trübsinnig das triefende blaue Etwas anstarrte, das sein Boot war.

»Wir schaffen es nicht bis zum Dock in Todd«, sagte Anna.

»Aber Sie können das Boot doch nicht einfach sinken lassen«, sagte er jämmerlich. »Es ist noch nicht mal abbezahlt.«

Einen Augenblick standen sie schweigend auf dem leise schaukelnden Deck. Hier war es fast windstill, nur die dünnen Schaumstreifen hinter der Low Dollar erinnerten unerbittlich daran, daß sie nur vorübergehend in Sicherheit waren.

»Ich kann Ihr Boot nicht weiterschleppen«, sagte Anna. »Ich hab meine Ausrüstung und mein Glück ohnehin schon mehr strapaziert, als vernünftig gewesen wäre. Wir ziehen Ihre Low Dollar in eine Bucht und machen das Schlepptau los.« Dabei zeigte sie auf den zerklüfteten Küstenstreifen, von dem sich parallel zur Isle Royale – der Hauptinsel – eine schmale Felszunge ins Wasser hinauszog. Im Nebeldunst konnte man sie kaum vom Grün der Klippen und vom Grau des Wassers unterscheiden. »Dahinter liegt eine kleine Bucht mit sandigem Untergrund. Ich glaube, ich könnte Ihr Boot da reinschubsen. Im flachen Wasser wird es steckenbleiben, und bei Tageslicht können Sie es dann bergen.«

Nachdem sie das Tau losgemacht hatte, fuhr Anna die Bertram hinter die Low Dollar und bugsierte sie Bug an Heck in die Bucht, so, wie ein Schwein einen Eimer durch den Schlamm schubst. Leicht zur Seite gekippt blieb die Low Dollar schließlich im Sand liegen. Anna schickte Hal an Land. Er sollte das Boot an einem Baum vertäuen, damit der See es in der Nacht nicht wieder hinaus ins tiefe Wasser schaukeln konnte.

Anna sah ihm zu, wie er durchs eiskalte Wasser watete, aber sie hatte kein bißchen Mitleid. Schließlich war es sein Boot, da konnte er sich ruhig selbst Schuhe und Socken naß machen. Sie sah hinaus auf den See, wo hinter Kamloops Island die Wellen in Richtung Kanada rollten, blickte über das Wasser, das sie noch durchqueren mußte, bevor sie endlich »zu Hause« war.

»Ich bin nicht dran gewöhnt, daß soviel Wasser um mich rum ist«, sagte sie zu Kenny, der sich inzwischen endlich auch an Deck gewagt hatte.

Er würdigte Anna keines Blicks, sondern kehrte wortlos in die Kajüte zurück.

Mit einer Ladung Konservendosen kam Hal an Bord zurückgeklettert. Die Campingausrüstung lag allerdings unter knapp einem halben Meter Wasser im Frachtraum. »Sie werden heute nacht schon nicht erfrieren«, versprach Anna. Auf der Belle Isle gab es ein halbes Dutzend Reserveschlafsäcke und ebenso viele Wolldecken aus Armeebeständen. Im Land der Untertemperatur war das nicht übermäßig viel.

Als sie den Landhöcker etwa halb umschifft hatten, der zwischen der Bucht und Todd Harbor Camp lag, erwachte Kenny plötzlich aus seiner Starre und verlangte, sie sollten umkehren, damit er noch ein paar »persönliche Sachen« von Bord der Low Dollar bergen könne. Da man davon ausgehen konnte, daß es sich weder um Medikamente noch um Essen, noch um Decken und ähnliches Zubehör handelte, vermutete Anna, daß er irgendwelchen Schnaps zurückgelassen hatte. Obwohl sie den Wunsch nach einem guten hochprozentigen Drink durchaus verstehen konnte, weigerte sie sich, durch den Regen und die hereinbrechende Dunkelheit zurückzufahren, um den Wunsch zu erfüllen.

Mit dieser Weigerung brachte sie sich um das Wohlwollen, das sie eigentlich für ihre Rettungsaktion verdient hätte. Als die beiden Männer sich schließlich in der Schutzhütte von Little Todd Harbor niedergelassen hatten und Anna ihnen versicherte, sie würde am nächsten Morgen mit einer Pumpe, zurückkommen, waren sie regelrecht grantig.

Anna ließ sie mit ihrem angeschlagenen Ego allein und ergriff die Flucht. Es war schon Viertel nach neun; es würde ein spätes Abendessen werden. Dabei hatte sie vollkommen vergessen, daß sie hungrig war. Hier im Norden ging die Sonne jetzt erst unter. Es würde mindestens noch eine halbe Stunde dauern, bis es richtig dunkel war – ohne Wolken sogar noch länger. Im Juni schienen die Tage überhaupt kein Ende zu nehmen.

»Drei-null-zwei unterwegs nach Amygdaloid von Todd Harbor«, funkte Anna auf gut Glück. Die Zentrale in Rock Harbor hatte zwar um sieben Dienstschluß, aber Annas Funkspruch wurde aufgenommen, und falls sie über Bord ging, wußte man wenigstens, wo man nach ihrer Leiche tauchen mußte.

Sie fröstelte. Ihre Leiche wäre nicht allein dort unten, es lagen genügend Schiffe auf dem Grund des Lake Superior. Fast ein Dutzend dienten dem Park als Attraktion für Sporttaucher: die America, die Monarch, die Emperor, die Algoma, die Cox, die Congdon, die Chisholm, die Glenlyon, die Cumberland, die Kamloops. Steuerbord voraus schaukelte eine Boje, die das am tiefsten liegende Wrack anzeigte: die Kamloops. Ihr Heck lag gut fünfzig Meter unter der Wasseroberfläche, ihr Bug achtundsiebzig Meter. Für gewöhnlich riet man Tauchern von diesem Schiff ab: zu tief, zu kalt, zu gefährlich.

Im Maschinenraum hielten noch immer fünf Matrosen Wache. Anna hatte eine Unterwasserfotografie von ihnen gesehen. In der Tiefe war es kalt, es gab keine Strömung und auch keine gefräßigen Kreaturen, und so schwammen die ertrunkenen Schiffsleute wie Geister in dem alten Schiff. Fünfzig Jahre lang waren sie allein in der Dunkelheit gewesen. 1977 hatten Taucher das Wrack gefunden. Durch den jahrelangen Aufenthalt im Wasser waren die Leichen fast körperlos – durchsichtig wie Gespenster.

Denk an was anderes, befahl sich Anna. Als sie auf die vertraute Hafeneinfahrt zwischen Amygdaloid Island und Belle Isle zusteuerte und die Ranger-Station sah, die sich schutzsuchend an den Fuß der moosbedeckten Klippe kauerte, erlaubte sie sich einen kurzen Traum von Cholla-Kakteen, einem Himmel ohne milchigen Feuchtigkeitsschleier, einer glühendheißen Sonne und einem Essen, von dem einem noch heißer wurde.

Nach dem Vorfall mit dem Puma im Guadaloupe Mountains National Park hatte Anna das Bedürfnis gehabt, weiterzuziehen und von vorn anzufangen. Letztlich war der Park Service auch nichts anderes als eine Bürokratie, und im Anschluß an die damaligen Enthüllungen hatte es große Worte gegeben, denen wenig Taten folgten. Trotzdem war Anna lang genug in West Texas gewesen. Aber wenn die nächste Veränderung anstand, würde sie zurückgehen in den Südwesten, zurück in die Wüste – das schwor sie sich, während sie die Bertram zum Dock manövrierte. Und zwar mit einer Beförderung; es wurde nämlich immer schwieriger, von zweiundzwanzigtausend Dollar im Jahr zu leben.

Die 3rd Sister, ein hübsches Vierzig-Fuß-Kajütboot mit einer hohen Steuermannskajüte und einer rot-weiß gestrichenen Laufbrücke, lag am Dock vertäut. Auf den groben Holzplanken des Piers stand unbeaufsichtigt ein kleiner Holzkohlegrill. Der Duft von gegrilltem Fisch stieg Anna in die Nase.

Als sie, das Tau in der Hand, ausstieg, sprang eine geschmeidige Gestalt, warm eingepackt in ein dickes Wollhemd und eine Fischermütze, vom Deck des Tauchboots und übernahm die Heckleine, um die Bertram am Dock zu vertäuen.

Anna machte den Bug fertig, zog die Knoten fest an und wickelte das Tauende auf, damit niemand darüber stolpern konnte. »Danke, Holly!«, rief sie zum anderen Ende des Boots hinüber. Der Wind trieb die Worte hinaus auf die Hafeneinfahrt, was Anna ganz recht war. Als die hilfsbereite Seele sich nämlich umdrehte und das letzte Abendlicht aus dem Westen ihr ins Gesicht schien, erkannte Anna, daß es nicht Holly, sondern ihr Bruder Hawk war, das dritte Besatzungsmitglied der 3rd Sister.

Viele Leute erlagen diesem Irrtum. Die Zwillinge sahen sich so ähnlich, als wären sie zwei Seiten einer Münze; Männliches und Weibliches waren in einer Weise verschmolzen, daß sie ausnahmsweise einmal derselben Spezies angehörten.

Hawks Schwester Holly war zweiunddreißig, groß, mit einem klaren, aber nicht harten Gesicht und braunen Haaren, die weich, aber nicht fein waren. Sie war schlank, muskulös und breitschultrig. Jemand, der sich sexuell unsicher fühlte, hätte sie vielleicht als Mannweib bezeichnet.

Hawk besaß die gleichen Eigenschaften und war trotzdem ein Inbegriff von Männlichkeit. Der Umriß seiner Schultern, die rauhe Geschicklichkeit seiner wettergegerbten Hände vermittelten eine andere Botschaft als bei Holly. Während sie schnell, klug und stark war, handelte er kontrolliert, überlegt und exakt.

Jetzt ließ er das Tau in perfekten Ringen übereinanderfallen und kam über die Planken auf Anna zu.

Die Augen mögen vielleicht dem Irrtum erliegen und Hawk für Holly halten, dachte Anna, aber nicht die Sinne. Niemals. Man müßte schon ein Neutrum sein wie eine Schnecke, um den Unterschied nicht zu spüren.

Hawk blieb neben ihr stehen, so, daß er den scharfen Wind in den Rücken bekam. »Denny hat wie üblich zuviel Salat gemacht. Und wir haben jede Menge Hecht«, meinte er mit einer Kopfbewegung in Richtung Grill. »Leiste uns doch beim Essen Gesellschaft.«

Aus nächster Nähe konnte Anna die dunklen Stoppeln auf seinem Kinn sehen. Sein Atem roch irgendwie wohltuend warm nach schottischem Whisky. Anna zögerte. Sie war so erleichtert, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren, daß ihr plötzlich bewußt wurde, wie müde sie war.

»Heute sind keine Kunden da«, fügte Hawk als besonderen Anreiz hinzu. »Wir sind zur Cox runtergetaucht und ein bißchen um den Bug rumgeschwommen, um die Füße zu baden. Für Touristen ist es viel zu unangenehm da unten. Außerdem wollten wir auch mal wieder allein tauchen.«

»Abendessen wäre toll«, sagte Anna. »Bringt ihr es zu mir hoch? Ich mach schnell ein Feuer und stelle ein angemessenes Trankopfer bereit.«

Hawk nickte und schwang sich über die Reling der 3rd Sister, während Anna, den Wind im Rücken, über das Dock und aufs Ufer von Amygdaloid Island trabte. Zu Hause, dachte sie säuerlich, aber sie war trotzdem froh, hier zu sein.

Die North Shore Ranger-Station hätte man beinahe zauberhaft nennen können. Sie stand quer zum Dock, und mit ihrem spitzgiebeligen Dach und den Wänden aus rotbraunen Planken und Leisten sah sie richtig pittoresk aus. Allerdings war der Anstrich so verwittert, daß die Hütte fast die gleiche Farbe angenommen hatte wie der Fels hinter dem Gebäude. Eine Eingangstür, flankiert von zwei Fenstern, die in kleine Scheiben unterteilt waren, verliehen der Station die Aura altmodischer Rechtschaffenheit. Dazu kamen noch zwei Ofenrohre, gegen den Wind gebogen und mit blechernen Schutzkappen versehen, die das ihre zur verwegenen Exzentrizität des Häuschens beisteuerten.

Im Innern merkte man an vielen ungemütlichen Kleinigkeiten, wie alt das Gebäude schon war. Es gab zwei große Räume. Der vordere diente als Büro des National Park Service. Unter einem Fenster stand Annas Schreibtisch, ein Funkgerät und ein Safe Jahrgang 1919, in dem die Einkünfte aus den Fischereilizenzen des Staates Michigan aufbewahrt wurden, zusammen mit Annas .357-Dienstrevolver, wenn er sich nicht gerade an Bord der Belle Isle befand. Gegenüber dem Schreibtisch scharten sich drei Sessel im Adirondack-Stil um den gußeisernen Holzofen. In einer Lattenkiste daneben wurden Brennholz und Anzündematerial aufbewahrt. Karten und Diagramme teilten sich den Platz an den Wänden mit Erinnerungsstücken, die sich im Lauf der Jahre angesammelt hatten: ein Ruder mit den eingravierten Namen zweier längst verstorbener Fischer, die in der Fischerei Edison im Süden der Insel gearbeitet hatten; Eisenteile, deren Bedeutung nur für Seefahrtsexperten auszumachen war, verwitterte Holzstücke und drei gerahmte, vergilbte Fotografien.

Auf der einen war die America zu sehen, das Vergnügungs-Post-Versorgungsschiff, das die Insel in ihrer Blütezeit als Urlaubsort mit dem Festland verband. Auf dem zweiten Bild ragte der Bug der America aus dem Eis: eine traurige Trophäe, die der See mit winterlichem Griff umklammert hielt, noch lange nachdem das Schiff auf eine Sandbank aufgelaufen und im North Gap vor Washington Harbor gesunken war. Das dritte Foto war eine glänzende Unterwasseraufnahme des ehemals so eleganten Schiffsrumpfs, der sich im Dunkel des Sees verlor.

Der Bug der America lag kaum einen Meter unter der Wasseroberfläche, aber das Heck ruhte vierundzwanzig Meter in der Tiefe. An windstillen Tagen sah Anna manchmal hinunter auf das alte Wrack, und dann wurde ihr ganz schwindelig. Das dritte Foto fing es ganz gut ein, dieses seltsame Gefühl, als würde man ins Leere stürzen.

Der ganze Schnickschnack war mindestens ein Jahr lang nicht mehr abgestaubt worden, wahrscheinlich sogar noch viel länger. Mäuse- und Rattendreck, der während des langen Winters, wenn der Frost die Isle Royale fest in seiner Gewalt hatte und jede Besiedlung unmöglich machte, vom Speicher herunterrieselte, hatte den Deckenbalken eine graue Färbung verliehen. Im Luftzug bewegten sich träge die Spinnweben.

Der hintere Teil des Hauses war Annas Wohnraum. In einer Ecke stand ein Ofen, der ungefähr halb so groß war wie der im Büro. Gegenüber, an der Wand unter einem Fenster mit Blick zum Felsen, war eine klapprige Küchenzeile aus Resopal mit einem Spülbecken und einer Handpumpe. Ein Gasherd mit zwei Kochstellen, ein gasbetriebener Kühlschrank und eine Duschkabine aus Aluminium füllten den Platz an der schmalen Nordwand. Am Propantank vorbei führte eine schmale Holztür hinaus zum Plumpsklo.

Annas Bett, Kommode und Schrank standen an der Innenwand. Neben dem Bett, wo das rissige, blau-rot-melierte Linoleum aufhörte und sich am Rand nach oben bog, lag ein abgetretener ovaler Flickenteppich. Als Annas Hausgenossin Christina aus Houghton zu Besuch gekommen war, hatte sie sich auf diesen Teppich gestellt wie auf eine Insel mitten in einer Flut von Müll und bemerkt: »Wie hübsch. Der große Salon, den man in Konversationsbereiche aufgeteilt hat.« Aber sie hatte dabei gelacht, und ehe sie mit Alison – ihrer fünfjährigen Tochter – wieder gegangen war, hatte sie für Anna ein Zuhause geschaffen.

Eine Patchworkdecke und selbstgenähte Kissen verschönerten das Bett. Mexikanische Teppiche wärmten die Wände und schützten vor Durchzug. Alisons Beitrag – das hieß, Allys Geschmack und das Geld ihrer Mutter – war ein durchsichtiger Duschvorhang mit saxophonspielenden, smokingtragenden Alligatoren.

Sie kannten sich seit knapp einem Jahr. Als Anna Guadalupe verlassen hatte, waren Christina und ihre Tochter mitgekommen. Im Sommer lebte Anna auf der Insel und im Winter im Park-Hauptquartier in Houghton, Michigan, wo sie ein Haus mit Chris und Ally teilte. Als Anna im Mai auf die Insel gekommen war, hatte sie sich gewundert, wie sehr sie die beiden vermißte. Sie hatte sich immer für eine Einzelgängerin gehalten.

Jetzt zündete sie die Öllampen an und heizte die beiden Öfen ein, wobei sie die Ofenklappe und den Abzug weit öffnete, damit das Feuer rasch in Gang kam. An diesem feuchten Junitag roch es durchdringend nach Feuchtigkeit und Rattendreck.

Die Wärme und das Licht machten Anna allmählich wieder munter und verliehen den schäbigen Räumlichkeiten eine Spur Romantik. Schutz vor dem Sturm, dachte Anna, während sie sich aus etlichen Schichten grauer und grüner Klamotten schälte und in eine trockene weiche Hose und einen Kapuzenpulli schlüpfte. Wenn man ihr ein bißchen Zeit gab – und einen anständigen Rotwein dazu –, konnte sie sich fast vorstellen, daß sie diese Behausung liebgewann.

Ein lautes Klopfen an der Tür kündete die Besatzung der 3rd Sister an, und Anna rief ein vollkommen überflüssiges »Herein!«, als Hawk, Holly und Denny Castle bereits ins vordere Zimmer stürmten. Der Wind, den sie mitbrachten, roch nach Süßholzrauch und Whisky.

Holly war ein wenig betrunken – nicht besoffen, sondern high. Ihre Augen leuchteten fiebrig vom Alkohol, und ihre Wangen waren röter, als man es dem Wind zuschreiben konnte. In ihrer Jackentasche trug sie eine Flasche Black & White, das Etikett deutlich sichtbar, wie eine Herausforderung, falls jemand eine Bemerkung darüber fallenlassen wollte. Ihre dunklen Locken waren feucht vom Nebel und klebten fest an der Stirn. Sie sah aus wie ein Wind-und-Wasser-Wesen, eine Sirene, die sich vorgenommen hatte, einen modernen Odysseus ins Verderben zu singen.

Hawk lehnte zwar nicht ab, als Holly ihm ein Glas Scotch aufdrängte, aber er trank wenig. Er behielt seine Schwester im Auge, als machte er sich Sorgen wegen des Feuers, das so unverkennbar in ihr loderte.

Denny, Kapitän der 3rd Sister und verantwortlich für ihre Tauchkonzession – ein privates Projekt des National Park Service –, war älter als die Bradshaw-Zwillinge. Anna schätzte, daß er ungefähr so alt sein mußte wie sie selbst, aber er hätte ebensogut schon fünfundvierzig oder erst fünfunddreißig sein können. Das Leben auf und unter dem Wasser hatte sein Gesicht gleichzeitig alt und alterslos gemacht, wie verwittertes Holz, das beinahe vollkommen glatt wird. In seinen Haaren waren noch keine grauen Strähnen zu erkennen, aber sie waren ohnehin so blond, daß es höchstens eine Schattierung heller geworden wäre. Er trug sie lang, wie General Custer. Doch damit hörte die Ähnlichkeit mit dem legendären Indianerkämpfer auch schon auf. Kein Schnauzer, kein Bart. Denny Castle wirkte immer sehr konzentriert und aufmerksam. Diese Aura zog Frauen an wie Motten das Licht, und genau wie diese verbrannten auch sie – an seiner Gleichgültigkeit. Dennys Interesse galt dem Wasser; es war eine unerschütterliche Liebe zum Lake Superior mit all seinen Launen.

Eine Legende erzählte, daß es in den Stürmen des Lake Superior manchmal drei Wellen hintereinander gebe, eine immer höher als die andere. Die dritte sei es, die die Schiffe in den Tod schicke. Diese Wellen nannte man die Drei Schwestern. Wie die Einheimischen sich erzählten, hatten sie die Edmund Fitzgerald auf dem Gewissen. Denny sagte immer, er sei der dritten Schwester begegnet und habe sie geheiratet. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte, hatte er in den vergangenen elf Jahren mehr Zeit auf der 3rd Sister verbracht als am Frühstückstisch einer Frau.

Castle trank nicht, und er redete auch nicht. Während er durch die Nacht zurückrannte, um nach dem Essen zu sehen, schenkte sich Anna ein Glas roten Mondavi ein und ließ sich am Ofen nieder. Sie überlegte, was eigentlich los war. Die Atmosphäre war gespannt, als wäre sie elektrisch aufgeladen, und der Grund dafür waren die Wechselströme zwischen den drei Tauchern. Anna fragte nicht nach, denn sie war überzeugt, daß schon bald erhellende Funken fliegen würden.

Wenig später kam Denny aus dem Nieselregen herein, eine Platte mit gegrilltem Fisch in den Händen. Im Lampenlicht glitzerten die Tropfen auf seinen Haaren wie ein orangefarbener Heiligenschein. »Abendessen«, verkündete er.

»D'Artagnans letztes Abendmahl. Darauf trink ich«, sagte Holly. Trotz des Alkohols klang ihre Stimme leise und klar, aber Denny zuckte zusammen, als hätte sie ihn angeschrien.

»Hab den Salat vergessen«, brummte er und verschwand wieder in die Nacht hinaus.

Hawk beugte sich vor und steckte ein paar Zweige in den Ofen. Anna vermutete, daß das, was Holly auf der Seele lag, auch ihm zu schaffen machte. Einmal mehr hatte sie das Gefühl, daß die beiden wie zwei verschiedene Teile ein und derselben Person waren. Heute abend zeigte sich der Holly-Teil. Hawk hielt sich im Hintergrund, als Kraftreserve, auf die Holly bei Bedarf zurückgreifen konnte.

»Porthos und Aramis«, sagte Anna laut. Während sie die beiden Gesichter musterte, die sich so ähnlich waren, setzte sie die Anspielung im Kopf zusammen. »Wie lange taucht ihr drei eigentlich schon gemeinsam?«

Auf Hollys Wange glitzerte eine Träne, rot wie Blut im Feuerschein. Holly klatschte mit der Hand danach, als wäre es eine Fliege. »Schon ewig«, antwortete sie.

»Sieben Jahre«, erläuterte Hawk das »ewig«, aber es klang, als bedeutete es für ihn das gleiche.

»Seit wir wissen, was Tauchen ist. Seit die Drei Schwestern ganz klein waren. Seit wir aufgehört haben, rumzuspinnen«, ergänzte Holly scharf. »Eben ewig.«

Anna wartete, aber es kam nichts mehr. Denny brachte den Salat. Anscheinend war es für ihn selbstverständlich, die anderen zu bedienen: Er machte Platz auf Annas Schreibtisch und verteilte Teller und Besteck darauf. Anna war zu müde, um zu helfen; Hawk und Holly schienen nicht geneigt, ihm die Arbeit abzunehmen. Als Denny fertig war, ließ er sich auf dem Hocker nieder, den er sich herangezogen hatte; als einziger saß er jetzt am Tisch, als einziger zeigte er erkennbares Interesse am Essen.

»Das ist ein festlicher Anlaß«, sagte er, und statt die anderen anzusehen, starrte er dabei auf seinen leeren Teller. »Ich heirate morgen.«

»Eine richtige Frau?«, fragte Anna verblüfft.

Holly fing an zu lachen.

Hawk wandte die Augen von Denny und seiner Schwester ab. In seinem Blick lag genausoviel Schmerz wie in Hollys Lachen.

Anna stand auf, leerte ihr Glas und schüttelte den Kummer der beiden ab. Sie war müde. Und hungrig. Vielleicht waren die drei zu lange auf Tauchstation gewesen. Wenn man allzuoft allzutief unter Wasser war, wurde man konfus. Sie nahm ihre Weinflasche mit zum Schreibtisch und ließ sich auf dem hölzernen Drehstuhl nieder. Das Abendessen stand bereit, und niemand brauchte dafür zu bezahlen.

»Herzlichen Glückwunsch, Denny«, meinte sie unparteiisch. »Reich mir doch bitte mal den Salat rüber.«

Kapitel 2

Nebel lag über der Hafeneinfahrt von Amygdaloid. Hellgraue Schwaden trieben träge über den See, als schwämmen Gespensterwale zwischen Luft und Wasser. An manchen Stellen riß der Dunst auf, und silbern reflektiertes Licht glänzte auf, bis sich eine Nebelhand ausstreckte und die Herrschaft wieder an sich riß. Im Osten, über den grünen Hügelketten der Belle Isle, färbte sich der Morgenhimmel blau. Es versprach ein schöner Tag zu werden.

Warm eingepackt saß Anna auf den Stufen vor der Ranger-Station. Der achtundvierzigste Breitengrad konnte nicht einmal im Juni auf ein bißchen Kälte verzichten. Den Saum ihres weiten karierten Bademantels hatte sie sich unter die Füße gestopft, damit sie auf den taudurchweichten Planken nicht erfroren. Mit dem Feldstecher beobachtete sie das gegenüberliegende Ufer: ein schmaler Streifen Sand und Stein, mal deutlich sichtbar, mal dunstverhangen. Neben ihr schickte eine heiße Tasse Kaffee dünne Dampfschwaden in die kühle Morgenluft; ein kleines Dankopfer an die Seegötter.

»Na los«, sagte Anna leise. »Kommt schon raus. Ich weiß, daß ihr da seid. Und ich weiß, daß ihr das Baby habt. Zeigt euch doch endlich.«

Durch die Stille der Einfahrt rief ein Seetaucher; ein zweiter antwortete. Die Sonne drang durch die Zweige der Kiefern auf der Felsspitze und färbte den Nebel rosarot. Das offene Wasser glitzerte wie ein neues Pennystück. Wieder stieß der Seetaucher sein durchdringendes Trillern aus, diesmal gefolgt von einem heftigen Flügelschlagen über dem Wasser.

Jetzt kommen sie, dachte Anna. »Ich hab eure Spuren gesehen«, flüsterte sie. »Ich weiß, daß ihr da seid.«

Eine rote Schattengestalt tauchte auf, pfeilschnell, zwischen ihr und dem Dock, wo die leise schaukelnden Boote die Fischer im Schlaf wiegten. Rasch stellte sie den Feldstecher wieder scharf. Die schwarze Schnauze einer kleinen Füchsin wurde sichtbar. Mit schiefgelegtem Kopf, die rosarote Zunge weit aus dem Maul hängend, hockte sie weniger als zwanzig Meter von den Stufen der Ranger-Station entfernt, bereit, sich ihr Frühstück zu erbetteln wie ein Haushund. »Dich hab ich doch nicht gemeint, Knucklehead«, murmelte Anna und stellte das Glas wieder aufs gegenüberliegende Ufer ein.

Irgendwo im Norden heulte ein Motorboot auf, und der morgendliche Zauber war durchbrochen. Jetzt würden sie nicht mehr kommen. »Verdammt.« Anna ließ den Feldstecher sinken. Die Wölfe der Isle Royale gehörten zu den scheusten Kreaturen der Welt. Manche Rangers arbeiteten schon jahrelang auf der Insel und hatten noch nie einen zu Gesicht bekommen. Kot, Spuren, Geheul, konfuse Schreckensberichte von Wanderern – mehr erfuhren die meisten nicht über die Wölfe im Sommer.

Im Winter, wenn das Laub von den Bäumen fiel und der tiefe Schnee die Verfolgung der Spuren leichtmachte, kam eine Exkursionsgruppe auf die ISRO – das war beim Park Service die Abkürzung für die Isle Royale – und blieb ein paar Wochen, um die Wölfe zu beobachten. Es gab nur noch zwei Rudel, insgesamt zwölf Tiere; im letzten Jahr war nur ein Junges geboren worden. Die Wölfe starben, und die Wissenschaftler hatten keine Erklärung dafür. Zwar gab es Hinweise darauf, daß ein von Haushunden übertragenes Virus mitschuldig am Rückgang der Wolfspopulation sein könnte, aber im Moment favorisierte man eher die Theorie, daß man es mit dem Problem der Inzucht zu tun hatte.

Der Park Service tat alles in seiner Macht Stehende, um die Wölfe zu erhalten, und man scheute auch nicht vor unpopulären Maßnahmen zurück: Besuchern und Mitarbeitern war nicht nur verboten, Haustiere auf die Insel mitzubringen, die Tiere mußten sogar außerhalb der Parkgrenzen bleiben – sieben bis acht Kilometer im Umkreis. Trotzdem ging es den Wölfen bisher nicht besser; sie pflanzten sich einfach nicht fort.

Wenigstens liegt es ausnahmsweise mal nicht daran, daß wir sie umbringen, jedenfalls nicht direkt, dachte Anna und genoß das Gefühl, zu den Guten zu gehören, ein Verbündeter zu sein und kein Zerstörer. Ein stolzes Gefühl. Und selten wie ein Hühnerzahn, fügte die Zynikerin in ihr hinzu.

»Dann bis morgen«, sagte sie zu dem leeren Stück Strand jenseits der Hafeneinfahrt. »Bei Sonnenaufgang. Kneift bloß nicht wieder. Und bringt das Baby mit.«

Das Brummen des Motorboots wurde lauter und machte auch den letzten Rest der Stille kaputt. Ein glänzender weinroter Bug pflügte durch den Nebel des Kanals. Anna sammelte ihre Tasse ein und verkroch sich wieder ins Innere der Hütte. Als Ranger sollte man sich in der Öffentlichkeit lieber nicht im Pyjama sehen lassen. Außerdem war heute ihr freier Tag. Wenn sie nicht das Weite suchte, bevor ein Tourist sie erwischte, würde sie garantiert für irgendeine Aufgabe herhalten müssen, für die der NPS wieder mal keine Überstunden bezahlte.

Während der sechs Monate, in denen der Park mit Personal bestückt war, sah Lucas Vega es nicht gern, wenn seine Rangers an ihren freien Tagen die Insel verließen. Die plötzlichen Unwetter am Lake Superior hatten nämlich die Tendenz, ein freies Wochenende in einen bezahlten Urlaub zu verwandeln. Demzufolge verbrachte Anna jede Menge freier Tage damit, Angellizenzen zu verkaufen, Haken aus ungeschickten Fingern herauszuoperieren und sich irgendwelche Anglergeschichten anzuhören.

»Was ist das denn für eine Einstellung, Anna«, schalt sie sich, während sie in lange Unterwäsche und Thermohose schlüpfte. Aber sie war fest entschlossen, durch die Hintertür zu verschwinden, wenn das herannahende Schiff nicht irgendwelche Probleme vorzuweisen hatte, bei denen es um Leben und Tod ging.

Für Dienstag und Mittwoch hatte sie sich eine Kajaktour versprochen, ein schönes Dinner im Restaurant der Lodge – der Ferienanlage in Rock Harbor – und einen Anruf nach New York. So konnte sie die Arbeit mit dem Vergnügen verbinden. Anna packte das Zelt und Ausrüstung für mehrere Nächte ein. Auf dem Rückweg würde sie ein paar der abgelegeneren Zeltplätze ausprobieren.

Als sie vom Dock ablegte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Für Annas Maßstäbe wurde es hier nie wirklich warm – jedenfalls keine Bruthitze wie in den Transpecos, die einem die Knochen wärmte und alles Gift aus dem Körper brannte –, aber die Luft war glasklar. Eine vom gerade mal vier Grad »warmen« Wasser gekühlte Brise wehte um den Bug, als Anna ihr Kajak ins offene Wasser um Blake's Point an der Nordspitze der Insel lenkte, und trotz der Isolierung war ihr Hintern kalt. Sie paddelte kräftig, um sich wenigstens einigermaßen warm zu halten.

Die Wellen, die bei den Untiefen, an denen sie sich brachen, gefährlich werden konnten, plätscherten achthundert Meter weiter draußen sanft dahin. Anna hielt den Bug in die Dünung gerichtet und genoß das Gefühl, ein Teil des Sees zu sein und kein motorisierter Störenfried, kein lärmender Eindringling, den der Lake Superior am liebsten abgeschüttelt hätte wie ein Pferd die lästige Fliege.

Nordöstlich lag Passage Island mit seinem historischen Leuchtturm. Im Süden erstreckten sich schmale Landzungen in den See: von fünfzehn Jahrhunderten sich vorschiebender und wieder zurückziehender Gletscher zerbröckelter Fels. In der Frühlingssonne erstrahlten die Halbinseln in sattem Grün, und das Wasser in den Buchten glitzerte tropenblau. Goldfarbene Felsen, drei bis sechs Meter breit, schimmerten durchs Wasser. Auf dem Grund des Sees lagen Baumstämme, kreuz und quer wie Mikadostäbchen; teils waren sie vom Festland hierher geschwemmt worden, teils stammten sie von der Küste der ISRO. An manchen Stellen erinnerten die zerklüfteten Steine und die ausgebleichten Holzstücke an versunkene Ruinen: Schlösser, in denen Fische umherschwammen, Türme, die ins Wasser gestürzt waren, um den Ottern als Spielplatz zu dienen.

Anna ließ das Kajak gemächlich die geschützte Fahrrinne neben Porter's Island hinuntertreiben. Mit eingezogenen Rudern genoß sie ein Mittagessen aus Tortillas und Bohnen. Sie lehnte sich zurück, zog die Beine aus dem beengenden Bug und ließ sich von der Sonne Muster auf die Augenlider malen, während die Wellen ihre Melodie gegen die Seiten ihres Boots plätscherten.

Als sie schließlich in das Getümmel von Rock Harbor hineinpaddelte, war es schon nach fünf Uhr nachmittags.

Rock Harbor war ein fünfzehn Kilometer langer Wasserstreifen, der durch eine Inselkette vor Stürmen geschützt war: Raspberry, Amithwick, Shaw, Tookers, Davidson, Outer Hill, Mott, Caribou. Die Büros der NPS-Verwaltung befanden sich alle auf Mott Island, der größten Insel der Kette. Die Mehrzahl der Angestellten von ISRO waren dort in Wohnbaracken oder Apartments untergebracht. Die etwas gruselige Vorgeschichte der Insel – sie war nach Charlie Mott benannt, der in einem besonders langen und kalten Winter versucht hatte, seine Frau zu verspeisen – vergaß man rasch angesichts der alltäglichen Anforderungen des Bürokratenlebens.

Der Teil von Rock Harbor, der als der »wirkliche« Rock Harbor galt, lag fünf Kilometer von Mott entfernt in Richtung Blake's Point, doppelt geschützt in einem Uferknie. Dort befanden sich die zur Lodge gehörigen Gebäude, das Besucherzentrum, ein Bootsverleih und ein fensterloser Schindelbau, in dem die Naturliebhaber des National Park Service gern die Touristen einsperrten, um ihnen – fern von Elch und Fuchs und Schwarzhimbeere, geschützt vor Regen, Wind und Moskitos – Dias von Mutter Natur vorzuführen.

In Rock Harbor gab es Benzin und Lebensmittel und auch eine Pumpstation für die Schiffe. In der sommerlichen Hochsaison legte dreimal pro Woche die Voyageur aus Grand Marais, Michigan, hier an, montags und freitags brachte die Queen Touristen aus Copper Harbor, Michigan, und die Ranger III lieferte Verpflegung und Vorräte aller Art aus Houghton. Die Lodge war gewöhnlich mehrere Wochen im voraus ausgebucht, und Wanderer, die mit ihren Rucksäcken aus den Schiffen stiegen, mußten oft zwölf Kilometer oder noch mehr marschieren, ehe sie einen Lagerplatz für die Nacht fanden.

Unter den Parkangestellten und den Geschäftsleuten hatte der Hafen sich mit seinen Menschenmassen, der geschäftigen Atmosphäre, der Kleinkriminalität und den medizinischen Problemen den Spitznamen Rock Harlem eingehandelt. Obwohl Anna gelegentlich einen Ausflug ins Herz des Kommerzes genoß, fand sie nach der Abgeschiedenheit von Amygdaloid den Trubel immer ziemlich nervenaufreibend.

Während sie ihr Kajak zwischen den Docks hochschleppte, die den Hafen säumten, entdeckte sie eine blonde Frau in der grünen und khakifarbenen Uniform der Student Conservation Association. Die Mitglieder der SCA waren Freiwillige, oft Collegestudenten, die im Sommer ihre Zeit dafür nutzten, Erfahrungen zu sammeln und die Freuden des Parklebens zu genießen.

Anna kannte die Frau flüchtig von den Trainingskursen, die in der ersten Juniwoche für die Saisonarbeiter abgehalten wurden. Sie hieß Tenner oder Tinkle. Nein, Tinker. Sie war mit einem Mann verheiratet, der zehn Jahre jünger war als sie – vierundzwanzig. Ein oder zwei Tage hatte jeder darüber getratscht. Der junge Mann nannte sich Damien und hatte eine Vorliebe für schwarze Capes und kryptische Bemerkungen.

Tinker war versponnen und ein bißchen weltfremd, als hielte sie wie Liza Minnelli die Realität für etwas, über das man sich hinwegsetzen mußte. Gegenwärtig führte sie eine Gruppe von zwanzig Touristen über einen gut anderthalb Kilometer langen gepflasterten Naturlehrpfad.

Anna wandte der Gruppe den Rücken und verstaute die Paddel im Kajak. Wenn dies eine von Tinkers ersten Führungen war, wollte Anna sie lieber nicht ablenken. Selbst nach einunddreißig Jahren erinnerte sich Anna noch an den gräßlichen Moment, als sie bei ihrem großen Auftritt in der Rolle des Jack Frost von der Bühne hinuntergesehen und ihre Großmutter entdeckt hatte, die ihr aus der zweiten Reihe begeistert zuwinkte.

Auf dem kurzen Weg vom Ufer überlegte Anna, ob ihr der Sinn nach einem Drink stand oder ob sie eher Lust auf das Telefongespräch hatte. Der Anruf gewann. ISRO war per Funktelefon mit dem Festland verbunden, und jeder, der die richtige Frequenz hatte und sich auch nur im geringsten für die Unterhaltung interessierte, konnte den Anruf mithören. Aber es war die einzige Verbindung zur Außenwelt, und Anna war froh, daß es überhaupt eine gab.

Die Telefonzelle für die NPS-Angestellten war aus vermodertem Zedernholz, und nach all den Jahren roch sie wie ein Aschenbecher. Sie stand auf einer kleinen Lichtung mitten zwischen Fichtenbäumen, hatte auf allen vier Seiten ein Fenster und sah aus wie die Kommandobrücke auf einem Schlepper. Ein paar Meter entfernt, gleich neben einem Metallpfosten mit einer Sechzig-Watt-Birne, stand eine Bank, auf die man sich setzen konnte, wenn die Kabine besetzt war.

Bitte rechts anstellen, dachte Anna, aber sie hatte Glück: Es war niemand im Häuschen, und sie schlüpfte rasch hinein. Nachdem sie eine Spinne vertrieben hatte, wählte sie die vertraute Nummer. Knistern und Flüstern drang an ihr Ohr, dann hörte sie endlich das leise Tuten des Telefons im vierzehnten Stockwerk eines Gebäudes in der Park Avenue, Ecke Seventy-sixth Street.

»Park View Clinic«, meldete sich eine tonlose Stimme. Ohne ihre zwölfjährige Erfahrung mit dieser Stimme hätte Anna auf den Pfeifton des Anrufbeantworters gewartet.

»Ist Dr. Pigeon da?«, erkundigte sich Anna förmlich. »Hier spricht ihre Schwester.«

»Einen Moment bitte.« In der ganzen Zeit hatte diese Stimme sich nie auch nur das kleinste Zeichen des Wiedererkennens anmerken lassen, ganz zu schweigen von einem freundlichen »Ach, hallo, Anna!«. Hazel – ein Name, den Anna für diese distanzierte Telefon-Persönlichkeit seltsam unpassend fand – war nach Mollys Ansicht die ideale Vorzimmerdame. Eine Frau mit Einfühlungsvermögen hätte es wahrscheinlich keine Woche in dem Job ausgehalten.

»Bleiben Sie bitte am Apparat«, übertönte die Stimme das statische Geknister.

»Ich bleibe dran.« Musik – Yo Yo Ma auf dem Cello – rauschte durch die Leitung.

Ein junger Mann setzte sich auf die Wartebank. Er hatte dichte dunkle Haare, die wild und gleichzeitig gepflegt wirkten. Jedes Mädchen hätte ihn darum beneidet. Über den ausgeprägten Wangenknochen weit auseinanderliegende Augen. Anna beschloß, ihn zu ignorieren. Ihre Telefongespräche waren zu wertvoll und zu selten, da durfte sie sich nicht von den Blicken irgendeines viel zu hübschen Knaben stören lassen. Aber bevor sie dazu kam, ihn aus ihrer Wahrnehmung zu tilgen, schenkte er ihr ein strahlendes Lächeln, und jetzt erkannte sie ihn: Tinkers Ehemann, heute ohne Cape.

»Ich kann nicht lange reden. Sag mir schnell das Neueste.«

Mollys Stimme kam ganz plötzlich und erschreckte Anna so, daß sie das Gefühl hatte, die Worte kämen aus ihrem eigenen Kopf. Molly klang so leise, so gehetzt, und auf einmal spürte Anna ihre Isolation noch deutlicher als sonst. Ihr wurde schwer ums Herz. Sie hatte keine Neuigkeiten zu berichten, sie wollte nur Kontakt aufnehmen, mit einem Ferngespräch ein Fenster aus ihrer Einsamkeit öffnen. »Du machst mal wieder Überstunden«, stellte sie fest.

»Die Patientin um vier hatte heute eine Menge auf dem Herzen. Sie hat immer noch Angst, daß ihr Mann sie verläßt. Seit elf Jahren kommt sie jede Woche zweimal deswegen zu mir. Ich muß schon eine tolle Seelenklempnerin sein.«

»Du tust ihr gut.«

»Vielleicht. Ohne mein Honorar hätte sich ihr Mann schon 1986 eine Scheidung leisten können. Die Verbindung ist entsetzlich, Anna. Hast du einen Ort gefunden, der noch gottverlassener ist als West Texas? Aber ihr habt doch bestimmt Klos mit Wasserspülung.«

Anna lachte. »Nein, da muß ich dich leider enttäuschen.«

»Sieben Minuten, Anna.« Man hörte ein saugendes Geräusch. Das bedeutete, daß Molly sich eine Zigarette anzündete.

»Die werden dich noch umbringen«, meinte Anna.

»Und das sagt eine Frau, die einen Revolver mit sich rumschleppt«, konterte Molly.

»Nicht mehr. Hier würde ein Schießeisen eher dafür sorgen, daß man ertrinkt, als daß man die Gangster damit abschreckt. Ich bewahre die Pistole in einer Aktentasche auf wie jeder anständige Drogendealer in Manhattan.«

Molly lachte, beinahe ein Gackern. »Sechs Minuten ... nee. Vier.«

»Warum? Was ist denn los?«, zwang sich Anna zu fragen, obwohl sie plötzlich genau wußte, daß sie nichts hören wollte von irgendeinem glamourösen gesellschaftlichen Ereignis oder einem intimen Treffen.

»Ich hab versprochen, bei einer Veranstaltung in Westchester zu erscheinen. Eine politische Weinprobe.«

»Du trinkst doch gar nicht so gern Wein.«

»Jedenfalls nicht so gern wie du.«

Anna zog es vor, diese Bemerkung zu ignorieren.

»Zwei Gründe: Einer meiner Patienten drängt mich dazu. Ich kann jetzt keine Namen nennen, aber du findest seinen auf der Mädchen-Sport-Spalte in der Sonntagsausgabe der ›Times‹.« Anna lachte – so nannte Molly immer den Mode-Teil. Molly fuhr fort: »Man hat mehrere Flaschen eines sehr teuren, lange verloren geglaubten Jahrgangs wiederentdeckt. Angeblich wurde er während der Prohibition eingekellert, in einem Jahr, als das Wetter in Kalifornien absolut perfekt war. Als sich die Sonne, die Trauben und der Boden in mystischer Harmonie verbanden. Zwanzig Kisten wurden damals abgefüllt und sind dann auf mysteriöse Weise verschwunden. Letzten Monat sind ein paar Flaschen wieder aufgetaucht. Mein Patient ist furchtbar aufgeregt, er schwört, es ist ein abgemachter Schwindel. Wie du wahrscheinlich inzwischen erraten hast, hat er das Zeug nicht selbst wiederentdeckt.

Zweitens: Die Veranstaltung findet in Westchester County statt, und da war ich schon eine ganze Weile nicht mehr. Ich hab gedacht, ich mach in Valhalla halt –«, Molly unterbrach sich mit einem prustenden Gelächter. »Valhalla. Ein guter christlicher Friedhof. Ich schau mal bei Zachary vorbei. Seh nach, ob das ewige Licht noch brennt, oder wie man das nennt.«

»Meine Schwiegermutter kümmert sich darum«, entgegnete Anna.

»Glaubt Edith immer noch, daß seine Asche unter diesem gräßlichen Marmorklotz ruht? Apropos geistige Gesundheit«, fuhr Molly fort, ohne Anna Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, »hast du sie immer noch? Verstreu sie, Anna. Tu es. Lake Superior, sagt man, gibt seine Toten niemals her. Tu es.«

»Mußtest du nicht dringend weg?«, fragte Anna irritiert.

»Stimmt. Und halt dich möglichst fern vom Grund des Sees.«

Damit war die Verbindung tot.

Anna legte den Hörer auf die Gabel. Der Druck auf ihrer Brust war noch schlimmer geworden. Vielleicht hatte sie sich doch zu lange in der Wildnis versteckt. Vielleicht war es an der Zeit, in die Zivilisation zurückzukehren. Es würde ihr sicher guttun, sich die Beine zu rasieren, sich irgendeinen Seidenfummel anzuziehen und mit Lippenstift und schwarzen Strümpfen zu einer schicken Party zu gehen.

Sie sah aus dem Fenster. Damien saß noch immer auf der Bank. Aber er wirkte nicht wie jemand, der ungeduldig – oder auch geduldig – aufs Telefonieren wartete, sondern eher, als wüßte er momentan gar keinen besseren Aufenthaltsort. Seine weit auseinanderliegenden Augen fixierten einen Haubenspecht in den Ästen einer Espe. Er beobachtete das Tier hingebungsvoll und völlig unaffektiert, wie ein Kind.

Eine rote Feder segelte durch die goldgrünen Blätter und landete einen Meter vor seinen Turnschuhen. Er hob sie auf und lächelte sein strahlendes Lächeln. Diesmal galt es nicht Anna, sondern dem edlen Spender des Geschenks: dem Specht.

Anna machte die Tür des Telefonhäuschens auf, und der Vogel flatterte erschrocken davon. »Ich bin fertig«, verkündete sie unnötigerweise.

»Du bist Anna Pigeon, stimmt's?« Damiens Stimme klang weich und hoch. Am Telefon hätte man ihn für einen Jugendlichen halten können. Wenn man ihm gegenüberstand und seine klaren grünlichen Augen und die gepflegten dunklen Haare sah, kam sie einem aber auch nicht unangemessen vor.

»Und du bist Damien«, erwiderte Anna.

»Es gibt heute abend eine Party im Hotel, für Denny Castle von der 3rd Sister. Kannst du kommen? Tinker und ich wollten dich gern was fragen.« Dabei senkte er geheimnisvoll die Stimme und blickte mit einer melodramatischen Geste, die Anna unwillkürlich bewunderte, über die Schulter.

Sie verkniff sich das Lachen, obwohl es ihr schwerfiel. »Ich werde da sein«, versprach sie. »In offizieller Mission.«

Falls Damien merkte, daß Anna ihn aufzog, brachte es ihn wenigstens nicht aus dem Konzept. »Gut«, sagte er, und dann noch einmal, als hätte er sich zu einer Entscheidung durchgerungen: »Gut. Es ist nämlich wichtig.«

Als er sich abwandte, zum Telefonhäuschen ging und dabei die Schultern bewegte, als wallte ein Phantasie-Cape von ihnen herab, gestattete sich Anna endlich ihr Lächeln.

Offiziell sollte die Party um halb neun anfangen, wenn Denny Castle seine Braut in den Speisesaal führte. Inoffiziell brachte Anna kurz nach dem Telefonat mit ihrer Schwester den ersten Toast auf das Brautpaar aus. Und sie versuchte, damit den Druck auf ihrer Brust wegzuspülen und ihre Einsamkeit im Wein zu ertränken.

So saß sie auf der Holzterrasse der Lodge, von der man einen Blick über den Hafen hatte, schlürfte einen mittelmäßigen Beaujolais und ließ den silbernen Abend in ihre Seele sinken. Traurigkeit war nur halb so schlimm, wenn man keinen menschlichen Spiegel vor sich hatte, aus dem sie zurückstarrte.

»Auf Piedmont«, sagte sie und hob ihr Glas zum erblassenden Himmel empor. Der Beaujolais hatte eine wunderschöne Farbe, die das Licht auffing, ohne es zu dämpfen.

»Piedmont?«

Die Stimme war so weich und angenehm, daß sie Annas Einsamkeit kaum durchbrach. »Meine Katze«, antwortete sie schlicht und blickte von ihrem Liegestuhl auf, um zu sehen, wer sie angesprochen hatte.