Spur der Toten - Nevada Barr - E-Book
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Spur der Toten E-Book

Nevada Barr

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Beschreibung

Eine Frau allein in der Wildnis – ein Kampf ums Überleben! Der Spannungs-Sammelband »Spur der Toten« von Nevada Barr jetzt als eBook bei dotbooks. Drei abgründige Kriminalfälle – drei Spannungs-Highlights … In den einsamen Nationalparks Nordamerikas hofft die Rangerin Anna Pigeon, ihre düstere Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen. Doch noch ahnt sie nicht, dass ihre schlimmsten Albträume sich genau hier bewahrheiten werden: In diesem Niemandsland gilt scheinbar kein Gesetz, keine Moral, nur der Stärkste überlebt … Während einer ihrer Patrouillen stößt Anna auf die Leiche ihrer Kollegin, offensichtlich von Raubkatzen zerfetzt. Bald schon kommen ihr allerdings Zweifel – und je mehr Fragen Anna stellt, desto mehr beschleicht sie der Verdacht, nur ein Puzzleteil in einem grausamen Spiel auf Leben und Tod zu sein … »Eine außergewöhnliche Erzählerin!« Los Angeles Times Jetzt als eBook kaufen und genießen! Der fesselnde Thriller-Sammelband »Spur der Toten« vereint die ersten drei Bände der Anna-Pigeon-Reihe von Nevada Barr: »Die Spur der Katze«, »Einer zuviel an Bord« und »Zeugen aus Stein«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 1307

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Über dieses Buch:

Drei abgründige Kriminalfälle – drei Spannungs-Highlights … In den einsamen Nationalparks Nordamerikas hofft die Rangerin Anna Pigeon, ihre düstere Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen. Doch noch ahnt sie nicht, dass ihre schlimmsten Albträume sich genau hier bewahrheiten werden: In diesem Niemandsland gilt scheinbar kein Gesetz, keine Moral, nur der Stärkste überlebt … Während einer ihrer Patrouillen stößt Anna auf die Leiche ihrer Kollegin, offensichtlich von Raubkatzen zerfetzt. Bald schon kommen ihr allerdings Zweifel – und je mehr Fragen Anna stellt, desto mehr beschleicht sie der Verdacht, nur ein Puzzleteil in einem grausamen Spiel auf Leben und Tod zu sein …

»Eine außergewöhnliche Erzählerin!« Los Angeles Times

Über die Autorin:

Nevada Barr wurde 1952 in Yerington, Nevada geboren. Sie arbeitete als Schauspielerin, bevor ihre Liebe zur Natur sie als Rangerin in verschiedene Nationalparks führte. Dies inspirierte sie zu ihrer Serie über Anna Pigeon, die mehrfach preisgekrönt wurde – unter anderem erhielt der erste Band, »Die Spur der Katze«, den renommierten Agatha-Award als bestes Debüt – und international erfolgreich ist. Nevada Barr lebt heute in Mississippi.

In der Anna-Pigeon-Reihe erscheinen bei dotbooks außerdem:

»Feuersturm«, Band 4

»Paradies in Gefahr«, Band 5

»Blutköder«, Band 6

»Wolfsspuren«, Band 7

***

Sammelband-Originalausgabe Februar 2022

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Joel.bourgoin / Amanda.Reynolds / Magnus Binnerstam / Anasta_Rass / VICUSCHKA

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-760-3

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Nevada Barr

Spur der Toten

Drei Thriller in einem eBook

dotbooks.

Die Spur der Katze

Aus dem Amerikanischen von Adelheid Zöfel und Christine Strüh

Guadalupe Mountains, Texas. In den abgeschiedenen Gebirgszügen des Nationalparks kann die Parkhüterin Anna Pigeon endlich Abstand von ihrer schmerzlichen Vergangenheit gewinnen – bis sie auf einer ihrer Patrouillen ein Albtraum erwartet: die Leiche ihrer Kollegin, offensichtlich von Tieren zerfetzt. Aber hat hier tatsächlich die Wildnis ihr erbarmungsloses Gesicht gezeigt? Als der Todesfall ohne weitere Ermittlungen auf den Angriff eines Pumas zurückgeführt wird, kommen Anna Zweifel. Es gibt zu viele Ungereimtheiten – und zu viele Rancher, die darauf brennen, Jagd auf die »Bestien« zu machen. Anna beginnt zu ermitteln – und stößt auf eine Verschwörung, die grausamer ist, als jedes Tier es sein könnte …

Für meine Mutter und meine Schwester

Kapitel 1

Einen Gott gab es schon seit Jahren nicht mehr. Weder den Nachthemdpatriarchen aus dem Kindergottesdienst noch den sensiblen jungen Mann mit den unvermeidlichen goldbraunen Ringellocken aus dem Kirchenfenster, durch den Anna während der Messe hindurchgeschaut hatte, noch die vielarmigen und facettenreichen Gottheiten der Bhagawadgita, die sie während ihrer Collegezeit neben Haschisch und Dustin Hoffman angebetet hatte. Vorbei war auch der kurze, aber angenehme Auftritt der Erdgöttinnen, die sie mit Anfang dreißig an ihre üppigen Brüste gedrückt hatten. An diese Göttinnen dachte Anna allerdings lieber als an den ganzen Rest.

Gott war tot. Friede seiner Asche. Endlich gehörte die Erde ihr, ohne Himmelsmakel.

Anna setzte sich auf einen glatten Felsen, der oben eine Mulde hatte wie ein natürlicher Sessel. Die rötlich faserigen Zweige einer texanischen Madrona breiteten ein staubiges Schattendach über ihre Augen. Es war der dritte Tag ihrer Tour. Am Abend würde sie wieder die Zivilisation erreichen: Menschen. Eigentlich ein Widerspruch, dachte sie. Elektrisches Licht, Fernsehen und menschliche Gesellschaft lockten sie nicht. Aber sie brauchte eine Badewanne und einen Drink. Vor allem einen Drink.

Und vielleicht noch Rogelio. Rogelio hatte ein Lächeln, bei dem Ehefrauen schnell die Hand mit dem Ehering verbargen. Ein Lächeln, für das Frauen lügen und dem Männer in die Schlacht folgen würden. Ein Lächeln, so dachte Anna, zynisch wie immer, das die geschäftstüchtigen Händler in Juárez für die reichen Gringos aus Minnesota aufblitzen ließen.

Vielleicht Rogelio. Vielleicht aber auch nicht. Rogelio kostete viel Energie.

Eine stachelige Bergeidechse starrte Anna aus schwarzen Augen an. Mit ihren grauschwarzgefleckten Stacheln hätte man sie jederzeit für ein Häufchen vertrockneter Blätter und Zweige halten können, die in eine Felsspalte gefallen sind.

»Ich seh dich«, sagte Anna, während sie versuchte, ihren Rucksack abzusetzen. Er wog nicht mal mehr dreißig Pfund. In den vergangenen beiden Tagen hatte sie ihn von siebenunddreißig Pfund auf dieses Gewicht heruntergegessen und –getrunken. Das Poetische daran gefiel ihr. Es war sozusagen ein Naturgesetz: Je mehr man aß, desto leichter wurde das Leben. Diäten gehörten für Anna zu den ärgerlichsten Phänomenen der Überflußgesellschaft.

Vorsichtig ließ sie den Rucksack auf den Stein gleiten. Aber nicht vorsichtig genug. Ein kurzes Rascheln, und die Eidechse war verschwunden. »Meinetwegen brauchst du nicht umzuziehen«, sagte Anna in die scheinbar leere Felsspalte. »Ich bin nur auf der Durchreise.«

Sie fischte eine Plastikflasche mit Wasser aus der Seitentasche ihres Rucksacks und schraubte den Verschluß auf. Gelber Glibber schwamm auf der Oberfläche. Das nächste Mal würde sie keine Zitronenscheiben mehr beigeben; das Experiment war mißlungen. Der bittere Geschmack wurde nach ein paar Tagen ziemlich ätzend. Außerdem hatte sie immer das peinliche Gefühl, sie würde aus Fingerschälchen trinken.

Bei dem Gedanken mußte sie grinsen. Fingerschälchen, Manhattan – das war nun Lichtjahre von ihr entfernt, und Molly und das Telefon waren die einzige Verbindung.

Das Wasser hatte Körpertemperatur, wie sie es mochte. Bei Eiswasser taten ihr die Plomben so weh, daß sie innerlich fröstelte. »Wenn was Kaltes, dann lieber Bier«, sagte sie immer zur Kellnerin in Lucys Restaurant in Carlsbad. Manchmal kriegte sie warmes Wasser, manchmal ein kaltes Tecate. Es kam darauf an, wer an dem Tag bediente. Anna trank beides. In der Wüste von West-Texas trockneten die mit ihrer weichen Haut so schutzlosen Menschen sofort aus.

Keine Stacheln, sinnierte Anna. Keine grüne Wachshaut. Nichts, was uns davor bewahrt, zu verdorren und weggepustet zu werden. Sie nahm noch einen Schluck Wasser und grinste bei der Vorstellung, wie sie Hals über Kopf wie ein riesiges grüngraues Tumbleweed-Büschel über die Prärie südwärts wirbelte.

Sie schraubte die Wasserflasche wieder zu und betrachtete den eigentlichen Grund ihres Aufenthalts: das säuberliche Häufchen Kot vor ihren Füßen. Es war ihr bisher bester Fund, obwohl sie schon seit der Morgendämmerung zwischen Felsen und Kakteen herumgeklettert war. Jedes Frühjahr und jeden Herbst machten die Rangers quer durch das unerschlossene Hochland der Guadalupe Mountains von den Naturparkbiologen ausgearbeitete Touren, auf denen nach Pumaspuren gesucht wurde. Was man fand, wurde vermessen, fotografiert und genau registriert, damit das Ressourcen-Management die Pumas im Park nicht aus den Augen verlor: Wo steckten sie? War der Bestand gesund?

Anna ging in die Hocke, um ihren Fund genauer zu inspizieren. Der Kot war zwar alles andere als frisch, aber haarig und an den Enden vielversprechend gedreht. Das Tier, das diese Exkremente ausgeschieden hatte, ernährte sich auf jeden Fall von kleinen behaarten Lebewesen. Anna holte einen Tastzirkel aus der Box, in der sie ihre Ausrüstung transportierte: Fotoapparat, Karteikarten mit Rubriken für Uhrzeit, Datum, Fundstelle und Witterungsbedingungen und außerdem ein Formular, auf dem sie die Größe des Funds und die Art des verwendeten Films notieren konnte.

Der mittlere Teil der Losung hatte einen Durchmesser von fünfundzwanzig Millimetern, war also fast groß genug für eine erwachsene Raubkatze. Trotzdem – von einem Puma stammte sie nicht. Das war Annas zweite Pumatour in zwei Wochen, ohne daß sie auch nur auf ein einziges richtiges Zeichen gestoßen wäre: keine Pfotenabdrücke, keine Kratzspuren, kein Kot. Zwanzig wunderschöne Raubkatzen waren mit einem Funkhalsband ausgestattet worden, aber nach weniger als drei Jahren hatten alle außer zweien den Nationalpark verlassen oder ihre Halsbänder abgestreift – jedenfalls waren sie irgendwie aus dem Funkbereich des Parks verschwunden.

Es gab Rancher in der Gegend rund um die Guadalupe Mountains, die behaupteten, der Nationalpark sei eine Brutstätte für die »Bestien« – die Raubkatzen würden ihre Rinder anfallen. In den zwei Jahren, die Anna jetzt als Parkhüterin mit polizeilichen Befugnissen in Guadalupe arbeitete, hatte sie jedoch noch keinen einzigen Puma zu Gesicht bekommen, nicht einmal von weitem. Dabei verbrachte sie mehr als die Hälfte ihrer Zeit damit, durch das Hochland zu streifen, unter den Goldkiefern zu sitzen, die weißen Kalksteinpfade entlangzuwandern oder unter dem weiten texanischen Himmel zu liegen. Noch nie hatte sie eine Raubkatze gesehen, und wenn man mit Wünschen und Hoffen etwas bewirken könnte, dann hätten schon ganze Rudel auf leisen Pfoten ihren Pfad kreuzen müssen.

Was da vor ihr lag, war vermutlich Kojotenkot.

Weil sie es haßte, mit leeren Händen nach Hause zu kommen, fotografierte sie das kleine Häufchen sorgfältig, vermaß es und notierte die Daten. Sie wünschte sich, alle Tiere wären so anpassungsfähig wie der Kojote. »Trickster« nannten ihn die Indianer. Er mußte ja wohl auch einer sein, um so nahe bei den Menschen überleben zu können.

Neben dem Kojotenprodukt lag das unverwechselbare, rötliche, mit Beeren durchsetzte Häufchen des Katzenfretts. »Meine Schlucht«, verkündete es. »Mein Canyon. Ich war als zweiter hier.«

Anna lachte. »Dein Canyon«, bestätigte sie laut. »Ich gehe sowieso gleich nach Hause.«

Um ihre verkrampften Muskeln zu lockern, legte sie den Kopf in den Nacken. Über ihr, ein Stückchen weiter östlich, zogen Geier ihre Kreise, stiegen in engen Spiralen aus dem Bachbett zwischen den steilen Felswänden des Middle McKittrick Canyon hoch, wo Anna unterwegs war.

Elf Riesenvögel, ein träger Tanz aus Schnäbeln und Schwingen. Das, worüber sie sich hermachen wollten, war durch die steil aufsteigenden Klippen des Permian Reef verdeckt. Ein kleines Stück Aas, nicht größer als ein Gänseei, genügte schon, um einen Geier anzulocken. Aber elf? Elf, das waren zu viele.

»Verdammt«, flüsterte Anna. Vermutlich hatte sich ein Reh ein Bein gebrochen, und die Kojoten hatten es erwischt. Vermutlich.

Ein zwölftes Federvieh schloß sich dem hungrigen, erwartungsvollen Ballett an. »Verdammt.«

Anna setzte ihren Rucksack wieder auf und zog ihn zurecht. »Du kannst deinen Felsen wiederhaben«, sagte sie zu der scheinbar leeren Spalte. Dann begann sie den Abstieg in den Canyon.

Während ihrer Rast hatte der grellweiße Felsboden des Middle McKittrick Canyon eine sanfte blaßgoldene Färbung angenommen. Die Schatten wurden länger. Eidechsen krochen auf die Felsen hoch, um die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu erwischen. Eine Tarantel, die gefährlichste aller kleinen Kreaturen, kaum so groß wie eine Frauenhand, kreuzte langsam Annas Pfad.

»Als Parkranger schütze und behüte ich dich.« Sie redete aus einer Sicherheitsentfernung von drei Metern mit dem Tier. »Aber Freunde werden wir nicht. Ich hoffe, das stört dich nicht.«

Die Tarantel blieb stehen, die Vorderbeine in der Luft. Dann machte sie eine Wendung und ging bedächtig auf Anna zu, wobei sich jedes ihrer acht Beine unabhängig von den sieben übrigen zu bewegen schien.

»Offensichtlich doch.« Anna war froh, daß keine Parkbesucher in der Nähe waren und diese absurde Szene beobachteten. Sie trat einen Schritt zur Seite und ließ der Spinne mehr Raum, als die Wissenschaft und der gesunde Menschenverstand es für nötig erachtet hätten.

Knapp einen Kilometer weiter abwärts wurde der Canyon enger. Zwischen den Felswänden lagen riesige Steinbrocken, so groß wie ein VW-Käfer. Anna kletterte mühsam von einem zum nächsten. Im Middle McKittrick konnte man sich wunderbar den Knöchel oder das Genick brechen. Willkommen beim Festschmaus der Truthahngeier.

Die Sonne sank tiefer, Schatten krochen in den Canyon, und die Luft kühlte rasch ab. Eine frische Brise kam auf, die einen neuen Geruch mit sich führte. Aber es war nicht der ekelerregend süßliche Gestank von verfaulendem Fleisch, nein, es roch nach frischem Wasser – in der Wüste unverkennbar und immer verblüffend. An Wunder gewöhnte man sich nie. Mit neuer Energie ging Anna weiter.

Die Felswände wurden steiler, sie ragten am Bachrand gut zwanzig Meter empor. Über den hellen Klippen erhoben sich dunkle Hügel mit Catclaw und Agaven. Im Bachbett lagen keine Felsbrocken mehr wie im oberen Teil des McKittrick. Hier, im Herzen des Canyon, wanderte Anna über glatten Kalkstein. Im Lauf der Jahrhunderte hatte das Wasser eine tiefe Rinne gegraben, die dann vom ausgewaschenen Travertin mit einer natürlichen Zementschicht überzogen worden war.

Im Juli und August sollte man sich hier nicht von den texanischen Monsunwinden erwischen lassen. Jedesmal, wenn Anna ihre Raubkatzentour machte, ging ihr dieser Gedanke durch den Kopf. Und jedesmal empfand sie denselben verrückten Drang, vielleicht doch eines Tages diese Naturgewalt mitzuerleben, die im Vorbeistürmen halbe Berge wegfegen konnte.

Der Geruch des Wassers wurde stärker, und Anna konnte das leise Rauschen hören, vermischt mit dein Ächzen und Stöhnen des Windes. Im Bachbett tauchten Strudellöcher auf – Anzeichen dafür, daß es hier vor kurzem eine Überschwemmung gegeben hatte. Vor kurzem – nach geologischen Maßstäben. Zu lange her, um hier noch Feuchtigkeit zu erwarten. Manche der Löcher hatten einen H )Durchmesser von zehn Metern und waren über sechs Meter tief. In dem Loch, um das Anna eben herumging, lag ein H Haufen aus Laub und Knochen. Ein Tier – vermutlich ein Kitz, nach den intakten Beinknochen zu schließen – war gestürzt und hatte nicht mehr herausklettern können.

Diesen Teil des Canyon durchquerte Anna nicht gern, obwohl seine karge Schönheit sie immer wieder lockte. Die steil abfallenden, glatten Felswände machten ihr Beklemmungen. Weiter unten kam man zu weißen, kristallklaren Wasserbecken, in denen gelbe Sonnenfische blitzschnell hin und her schossen: Leben. Hier jedoch hatte der Creek den Canyon verlassen, war in den Untergrund gegangen und hatte nur diese seltsam geformten Todesfallen hinterlassen. Anna machte sich keine falschen Hoffnungen, daß sie mit ihrem Funksignal über die Klippen und Höhen hinweg um Hilfe rufen konnte, falls sie einmal den Halt verlor.

Sie krabbelte ein Stück auf allen vieren.

Obwohl der Duft und das leise Rauschen es angekündigt hatten, war sie doch überrascht, als sie das Wasser sah. In dem schroffen, knochenbleichen Canyon lag ganz unerwartet ein goldgrüner Teich vor ihr, gefüllt mit glasklarem Wasser. Das Platschen der fliehenden Kröten begrüßte sie, und einen Moment lang blieb Anna stehen, um die Szenerie zu bewundern.

Auf einmal schmerzte ihre Schulter. Sie lockerte die Träger ihres Rucksacks und ließ ihn auf den Kalkstein plumpsen. Auf das plötzliche Geräusch antwortete ein hastiges Rascheln und Rauschen, das ihr das Herz bis zum Hals schlagen ließ. Mit empörtem Kreischen erhob sich eine schwarzgefiederte Geierwolke aus dem Riedgras am südlichen Ufer des Teichs.

Die Geier flogen nicht weit, sondern ließen sich als rußfarbene Bündel auf dem Felsgesims nieder und äugten gierig nach dem Festschmaus, von dem man sie vertrieben hatte.

Anna schaute zu der Stelle, zu der die gekränkten Geierblicke wanderten.

Das Riedgras, dreikantig und spitz, wuchs am Felsenriff jenseits des Teichs fast schulterhoch. Von weitem wirkten die dunkelgrünen, zum Rand hin etwas helleren Halme weich und biegsam, aber Anna wußte aus Erfahrung, daß alles, was in dieser kargen Landschaft eßbar war, sich zu schützen wußte. Jeder Halm hatte fein gezackte Ränder, so scharf wie die Schneide einer hauchdünnen Metallsäge.

Der sandfarbene Stein darüber war feuchtdunkel, weil hier Wasser über die Klippe rann. Farnkräuter, eine Seltenheit in der Wüste, hingen in grünen Schleiern von den Felsen, und Veilchen, die so groß waren wie Annas Daumennagel, sprenkelten den Stein mit violetten Tupfern.

Dort drüben im Gras befand sich also der Leichenschmaus, auf den sie zufällig gestoßen war, geschützt von den messerscharfen Klingen des Grases. Obwohl Anna wenig Lust hatte, sich durch die abweisende Vegetation zu kämpfen, begann sie schon mal die Ärmel herunterzurollen, um die Haut an den Armen zu schützen. Aber da waren gar keine Ärmel, nur Haut. Ihr fiel ein, daß der National Park Service beschlossen hatte, jetzt sei Sommer, und seit dem ersten Mai wurden keine Uniformen mit langen Ärmeln mehr getragen, obwohl West-Texas nach Sonnenuntergang immer noch dem kühlen Zugriff des Frühlings ausgesetzt war.

Anna balancierte den Fels hinunter. Dank des Wassers war er hier nicht mehr so abschüssig. Am Teichufer bahnte sie sich einen Weg durch das Riedgras, wobei sie die Hände hoch über den Kopf hob wie ein Teenager in der Achterbahn.

Die scharfkantigen Gräser schnappten nach ihren Hosenbeinen und preßten ihr Hemd dicht an den Körper. Manchmal ragten sie ihr über den Kopf. Unter ihren Füßen bildeten die Halme eine Art Flechtmatte, aber ihre Stiefel versanken bis zu den Schnürsenkeln im Schlamm. Wasser drang ein, und ihre Socken waren im Nu klatschnaß.

Ihre Zuschauer stießen drohend ein kehliges Krächzen aus. »Ich freß euch schon nicht euer Aas weg«, beruhigte Anna die Geier. »Ich will nur sehen, ob ein Puma zugange war.« Noch während sie redete, überlegte sie, was psychologisch gesehen wohl ein schlechteres Zeichen war: sich mit Geiern zu unterhalten oder Selbstgespräche zu führen.

Sie durfte nicht vergessen, Molly danach zu fragen.

Beim nächsten Schritt schlug ihr plötzlich ein unglaublicher Gestank entgegen, den das Gras bisher abgehalten hatte. Eine Dunstwolke, die man fast mit Händen greifen konnte. Der Tod schien die ganze Luft zu verpesten.

Anna verschlug es fast den Atem.

Zwischen den dichten Halmen war das Grüngrau einer Rangeruniform zu erkennen. Da lag Sheila Drury, Ranger im Dog Canyon, halb zusammengerollt mit angezogenen Knien. Der grünschwarz schillernde Rucksack, schwer vom Wasser und von seinem übrigen Inhalt, hatte die Leiche nach hinten gezogen und so gedreht, daß der Bauch nach oben zeigte. Ein gefundenes Fressen für die Geier: Sie mußten nicht einmal nach den delikatesten Teilen wühlen.

Anna kannte Ranger Drury nur vom Sehen – Sheila hatte erst seit sieben Monaten im Park gearbeitet. Jetzt lag sie da auf dem Rücken; die von gierigen Krallen herausgerissenen Eingeweide verklebten ihr Gesicht, hingen in ihrem braunen Haar. Gott sei Dank verdeckten ihre dichten Locken die gebrochenen Augen, die untere Gesichtshälfte und den Hals.

Ein Geier, der wagemutiger war als die anderen, flog mit weit gebreiteten Schwingen vom Felsvorsprung herunter und rauschte durch die modrige Luft. Unpassenderweise fiel Anna ein Cartoon von Gary Larson ein. Geier, um ein Aas versammelt: »Uiuiuiuiui! Das Ding liegt ja schon laaaaang hier rum. Na ja – zum Glück gibt’s Ketchup.«

Plötzlich würgte Anna ein entsetzlicher Brechreiz. Sie wandte sich ab und stolperte in Richtung Teich. Wo das Riedgras einschnitt, erschienen auf Gesicht und Armen rasierklingenfeine Linien. Sie ignorierte den Schmerz und kämpfte sich frei.

Ihr Magen war längst leer, als das Würgen endlich nachließ. Sie krabbelte zum Wasserrand, wischte sich mit dem angefeuchteten Taschentuch den Mund und holte dann ihr Funkgerät aus seinem Lederbehälter am Hüftriemen des Rucksacks. Große Hoffnungen machte sie sich nicht.

»Drei-elf, drei-eins-fünf.«

Dreimal versuchte sie es. Die magische Zahl, dachte sie, wobei ihr lauter Trivialitäten einfielen: die Heilige Dreifaltigkeit, drei Wünsche, aller guten Dinge sind drei.

»Keine Verbindung. Drei-fünfzehn Ende.«

Die Geier hatten ihre unterbrochene Mahlzeit wieder aufgenommen. Schwarzer Flügelschlag lenkte Annas Aufmerksamkeit erneut auf das Riedgras. Ein dunkler Schatten stieg zum Himmel empor, etwas Glitschiges, Schlangenartiges in den Klauen. Ein zweiter Schatten folgte und versuchte, ihm die Beute zu entreißen.

Gar nicht übel, dachte Anna unwillkürlich, im Tod so geschätzt zu werden. Viele der Naturschützer hier im Park würden sich geehrt fühlen, ein so dankbares Publikum zu finden. »Entschuldige, Sheila«, sagte Anna laut. Sie wußte, daß nicht allzu viele Leute diese Einstellung teilen würden. »Ich mache, so schnell ich kann.«

Sie schnallte das Funkgerät wieder um und begann nach oben zu klettern, wobei sie nur darauf achtete, wohin sie mit den Händen griff. Spitze Agave-Dolche, die wie scharfe Messer aus dem felsigen Boden ragten, Catclaw, ein Gewirr von Zweigen mit kleinen gekrümmten Dornen, und der gezackte Sotol, das schwarze Schaf in der Familie der Lilien. Alles attackierte ihre Haut und ihre Kleidung. Diese wehrhaften Drachen waren der Grund, warum der kleine Garten Eden hier noch nicht von Menschen mit biergefüllten Kühltaschen und von eingeölten Sonnenanbetern belagert wurde.

Vierzig oder fünfzig Meter über der Talsohle des Canyon entdeckte Anna zwischen einem Felsblock und einer verkrüppelten Yucca, die sich unbeirrt an die dünne Erdschicht klammerte, eine sichere Nische. »Drei-elf, drei-eins-fünf«, wiederholte sie. Diesmal war das ermutigende statische Knistern zu hören, das entstand, wenn die Funksignale die Relaisstation auf dem Bush Mountain erreichten.

»Drei-elf«, antwortete Paul Deckers vertraute Stimme.

Zu ihrer eigenen Überraschung begann Anna zu schluchzen. Der tröstliche Klang von Pauls Stimme war eine solche Erleichterung, daß sie erst einmal völlig aus der Fassung geriet. Paul, der Frijole District Ranger, antwortete immer. Ob im Dienst oder nicht. Er nahm sein Funkgerät sogar mit aufs Klo.

»Paul – Anna«, sagte sie überflüssigerweise, um Zeit zu gewinnen. »Ich bin etwa eine Stunde nördlich von der Gabelung Middle McKittrick und North McKittrick. Wir hatten hier einen … Zwischenfall. Ich brauche eine Trage und ein paar starke Leute.« Sie wußte, daß sie nicht auf einen Hubschrauber hoffen konnte. Der nächste war in El Paso, zwei Stunden entfernt. Von einem Hubschrauber konnte man einen Leichensack herunterlassen, aber das Seil hätte in diesem Fall sehr lang sein müssen, was in einer so tückischen Landschaft viel zu gefährlich war. Man brachte grundsätzlich nie die Lebenden um der Toten willen in Gefahr.

»Das Opfer ist …« Ist was? Anna suchte blitzschnell nach dem funkgerechten Ausdruck für »tot«. »Entsorgen« war das Wort, welches die Rangers benutzten, wenn ein Lebewesen getötet werden mußte – egal, ob Mensch oder Tier. Aber was sagte man für eine tote Parkhüterin, die von Geiern verspeist wurde? »Dem Opfer ist nicht mehr zu helfen«, sagte sie. Das war die Sprachregelung im Rettungswagen.

Ein beunruhigendes Schweigen folgte. »Paul, hast du verstanden?« fragte Anna nervös.

»Ja«, kam die mechanische Antwort. Dann: »Anna, es ist zu spät, um heute abend noch jemanden zu schicken. Kannst du bis zum Morgen durchhalten?«

Anna bejahte und meldete sich ab. »Drei-eins-fünf Ende.« Während sie das Funkgerät wieder in das Lederhalfter steckte, wünschte sie sich sehnlichst, sie hätte noch mehr zu sagen gehabt, hätte den Kontakt noch länger aufrechterhalten können.

Beim ersten Tageslicht würde Paul aufbrechen. Sie konnte sich genau vorstellen, wie er den Rettungskoffer aus dem Flurschrank holte. Vermutlich schlief er genausowenig wie sie. So war Paul. An einem Abend, als der Alkohol und die Erinnerungen Anna lange wach hielten, hatte sie beobachtet, wie er morgens um drei aus dem Haus geschlichen war, um die Fahrzeuge zu zählen. Er wollte sich vergewissern, daß alle seine kleinen Saisonarbeiter wieder gut aus dem Hochland heimgekommen waren und wohlbehütet in ihren Betten lagen.

Anna atmete tief durch und lehnte sich gegen den ausgehöhlten Stein. Von dieser Höhe konnte man die Sonne im Westen noch sehen. Rund und rot glitt sie langsam auf den Guadalupe Peak zu, den höchsten Berg in Texas. Anna mochte die Texaner einigermaßen, konnte sie aber nicht ganz ernst nehmen. Sie sind solche Angeber, dachte sie. Aber was den Himmel anging, da hatten sie echt was drauf. Der Himmel von Texas war wunderbar. Purpurgoldene Sonnenuntergänge, blitzende Sterne, Wolken, höher als die berühmten Stetsonhüte.

Gewitterwolken brauten sich im Norden und Westen zusammen. In der vergangenen Nacht hatte es über dem Dog Canyon geblitzt. Anna hatte das von ihrem Lagerplatz auf dem Kamm zwischen Dog Canyon und Middle McKittrick beobachtet. Es war das erste Gewitter der Saison gewesen – nur Blitze, kein Niederschlag. Das würde bis Juli so weitergehen, dann kam der Regen. Die Brandgefahr war groß. Schon jetzt tobten in New Mexico und Arizona an einem halben Dutzend Stellen große Flächenbrände. Jeder im Park hielt die Augen offen und achtete auf Rauch.

Rotgoldene Lichtfinger drangen durch die trockenen Gewitterwolken und verwandelten die Wüste in eine grünfunkelnde Illusion – das echte Grün kam erst mit den Monsunstürmen.

»Sieben-zwei-vier Echo ist zehn-sieben.« Die kleine Stimme des Carlsbad-Cavern-Dispatcher holte Anna aus ihren Himmelsbetrachtungen. In Carlsbad machte man immer erst spät Schluß, um dann die Höhle den Fledermäusen zu überlassen.

Zum Glück war es noch hell genug, daß Anna mühelos den Weg hinunter zum Bachbett finden konnte. Sie hatte nichts zum Abendessen, aber irgend etwas hatte ihr ohnehin den Appetit verdorben.

Der Abstieg war schlimmer als der Aufstieg. Die Schwerkraft wollte unbedingt nachhelfen und zerrte bei jeder falschen Bewegung an ihr. Aber schließlich stand Anna mit beiden Füßen auf dem glatten Kalkstein, Wasser direkt vor der Nase, eine Leiche im Riedgras. Sie versuchte sich die Tote ins Gedächtnis zu rufen: Sheila Drury, 29? 30? 35?, weiblich, weiß, Parkranger, jüngst verstorben.

Sheila hatte im vergangenen Dezember ihre Stelle hier angetreten. In den sieben Monaten ihrer Dienstzeit hatte sie für relativ viel Unruhe gesorgt. Es hatte einigen Wirbel gegeben, als sie vorgeschlagen hatte, im Dog Canyon einen RV-Campingplatz einzurichten, das heißt, Stellplätze für Campingwagen und Wohnmobile zu schaffen. Und sie hatte sich heftig und lautstark gegen den Plan gewehrt, im Parkgebiet wieder die auch als Erdhörnchen bekannten Präriehunde einzuführen.

Parkpolitik und Tratsch – das war alles, was Anna über Sheila Drury wußte. Der Dog-Canyon-Distrikt war zwei Autostunden vom Frijole-Distrikt entfernt. Anna hatte nie Gelegenheit gehabt, mit Sheila zusammenzuarbeiten.

Und jetzt ist es zu spät, sie kennenzulernen, dachte Anna lakonisch. Allein der Himmel und die Geier wußten, was bei Sonnenaufgang noch von Sheila übrig sein würde. Anna wünschte sich nicht zum ersten Mal, sie hätte in Biologie besser aufgepaßt. Fraßen Geier auch nachts? Würde das Gegrummel und Gezerre sie noch in der Dunkelheit belästigen?

Sie holte ihre Kopflampe aus dem Rucksack und zurrte sie über den Brauen fest. Spuren. Das hatte sie in Polizeirecht an der Fachschule in Georgia gelernt: Suchen Sie nach Spuren. Blutige Fingerabdrücke, an ungewöhnlichen Orten geparkte Autos, weißes Pulver im Kofferraum. In den stärker besuchten Nationalparks wie Glen Canyon und Yosemite oder in Parks, die sich in der Nähe einer größeren Stadt befanden, wie Joshua Tree und Smoky Mountains, gab es häufiger Verbrechen. Aber als Anna aus Manhattan und vor ihren Erinnerungen geflohen war, hatte sie bewußt einen entlegenen Ort ausgesucht. Und bisher hatte sie bei der Erfüllung ihrer Dienstpflicht nur mit Hunden ohne Leine zu tun gehabt. Oder mit Pfadfindern, die außerhalb der markierten Bereiche campten. Trotzdem war sie eine von der Bundesregierung eingesetzte Parkhüterin mit polizeilichen Befugnissen. Sie mußte nach Spuren suchen. Egal, wie ekelhaft sie waren.

Kapitel 2

Anna fischte zwei der aufgeweichten Zitronenscheiben aus der Wasserflasche, zerdrückte sie und rieb das Fruchtfleisch in das nasse Taschentuch, das sie sich über Mund und Nase band. Hoffentlich reduzierte das den Leichengestank auf ein erträgliches Maß.

Dann nahm sie den Fotoapparat, den sie für ihre Tour gebraucht hatte, hängte ihn um den Hals, knipste die Kopflampe an, obwohl es noch nicht so dunkel war, und watete in das Riedgras.

Die Kamera war hilfreich. Sie gab ihr Distanz. Durch das Objektiv konnte Anna alles genauer betrachten. Sheila Drury wurde in kleine fotografische Einheiten zerlegt. Beim Knipsen machte sich Anna im Kopf Notizen: keine Kratzer, keine blauen Flecken, keine ausgerenkten Gelenke. Drury war also höchstwahrscheinlich nicht abgestürzt.

Manchmal gab es allerdings merkwürdige Zufälle. Anna blickte die Klippe hoch und stellte sich Drurys Sturz vor. Beim Aufprall wäre sie sofort tot gewesen: keine Prellungen. Sehr unwahrscheinlich, selbst wenn am Abgrund kein drei Meter hohes Catclaw gewachsen wäre. Warum hätte sich Sheila mit ihrem vollen Rucksack da durchkämpfen sollen?

Anna wandte sich wieder der Leiche zu.

Die Haut an Gesicht und Armen war glatt, die Zunge nicht geschwollen. An Hunger oder Durst war Sheila nicht gestorben, und erfroren war sie auch nicht. Das hatte Anna ohnehin nicht in Erwägung gezogen. Der Guadalupe Mountains National Park war zwar schroff und erbarmungslos, aber kaum zwanzig Kilometer lang. Ein Ranger, der die Gegend kannte, würde sich nie so verlaufen, daß er verhungerte oder verdurstete. Außerdem hatte Drury sicher Wasser und Proviant im Rucksack gehabt – was man eben zum Überleben brauchte. Ein Zelt und ein Schlafsack waren außen festgeschnallt.

Keine sichtbaren Pulverimprägnationen, keine Kugeleinschüsse, keine Stichwunden. Allem Anschein nach war Sheila nicht von irgendwelchen Drogenkurieren überfallen worden, die sich in der Wildnis verkrochen hatten.

Trotz der schrecklichen Situation mußte Anna grinsen. Ihre Schwiegermutter Edith, die die Bronx überlebt hatte (»Aber Schätzchen, in den vierziger Jahren war es da sehr ordentlich!«), die große Depression, den Zug Nummer zwei aus der Wall Street und den Zweiten Weltkrieg, war immer fassungslos, wenn sie hörte, daß Anna als Frau allein in der Wildnis campte (»Aber Anna, da ist doch niemand. Und überall könnte jemand sein …«).

Anna sah das anders. Ihrer Meinung nach bedeutete Alleinsein Sicherheit. Kriminelle waren faul. Sonst hätten sie einen Universitätsabschluß in Betriebswirtschaft gemacht und dann ohne jedes Strafrisiko andere ausgeraubt. Jedenfalls würden sie bestimmt keine acht Meilen durch unwegsames Gebiet wandern, um sich irgendwo zu verstecken. Sie würden sich in einem Motel an der Bundesstraße einquartieren, sich das Nachmittagsprogramm im Fernsehen reinziehen und das Beste hoffen.

Was bleibt noch? überlegte Anna, während sie wieder durch den Bildsucher schaute. Freitod? Ein bißchen komisch wäre es schon, wenn sich jemand in voller Uniform in einem Riedgrassumpf von der Welt verabschieden würde. Herzinfarkt? Schlaganfall? Ertrunken? Es gab viele Arten zu sterben. Auf einmal fühlte sich Anna sehr verwundbar.

In der Talsohle des Canyon wurde es Abend. Bald war es zu dunkel für den Film. Drei Bilder hatte sie noch. Vorsichtig, damit sie sonst nichts veränderte, zog sie den dunklen Haarschleier von Sheilas Gesicht.

Da war’s: noch eine Todesart. Ein Puma. Krallenspuren führten von Drurys Schlüsselbein zum Kinn. Die Stichwunden über dem Schlüsselbein – von Klauen oder Zähnen – wie saubere, dunkle Löcher. Anna war fest überzeugt, daß Sheilas Genick gebrochen war. Auf diese Art töteten die Großkatzen ihre Beute.

Lange stand Anna vor der toten Frau. Daß es immer dunkler wurde, merkte sie kaum. Tränen stiegen ihr in die Augen, rannen über ihr Gesicht und tropften vom Kinn.

Jetzt würde man die Pumas jagen und töten. Jeder schießwütige Texaner würde auf jeden gelbbraunen Schatten im Gestrüpp ballern. Die Prämienquote der Regierung für Rinderräuber würde hochgehen. Ein Puma nach dem andern würde sterben.

»Verdammt, Drury«, flüsterte Anna, während sie die verschiedenen Möglichkeiten durchging, wie sie die Beweise vertuschen konnte. »Was zum Teufel hattest du hier zu suchen?«

Sie wappnete sich innerlich gegen die Berührung der toten Haut. Dann tastete sie vorsichtig Drurys Kiefer und Hals ab und hob ihren Arm hoch. Die Leichenstarre war schon gewichen. Drury mußte also schon eine ganze Weile tot sein. Seit Freitag nachmittag oder abend, vermutete Anna.

Das Licht der Kopflampe auf den Boden gerichtet, ging sie um die Leiche herum. Hinter Drurys Kopf waren zwei deutlich sichtbare Pfotenabdrücke. Ein Stück weiter hinten noch zwei. Anna schätzte die Entfernung mit den Augen: ein großes Tier.

Bald würden am silbergrauen Himmel Sterne auftauchen. Ehe die Spuren in der Dunkelheit versanken, fotografierte Anna sie zweimal und dann noch einmal die Leiche.

Jetzt hatte sie keinen Film mehr; bis zum Morgen gab es nichts mehr zu tun. Anna spürte auf einmal, wie unendlich müde sie war. Sie rückte die Kopflampe zurecht, um sehen zu können, wo sie hintrat. Im Riedgras konnte sie nur mühsam einen Fuß vor den anderen setzen.

Die Geier stürzten sich nicht wieder auf ihre Mahlzeit. Offensichtlich fraßen die Riesenvögel nachts nicht. Anna war dafür sehr dankbar. Obwohl sie die Nahrungskette respektierte, hätte sie es doch nur schwer ertragen, den Kreislauf die ganze Nacht hindurch so unüberhörbar vorgeführt zu bekommen. Der Leichenschmaus wäre eine Qual gewesen, milde ausgedrückt.

Erschöpft fragte sie sich, warum der Puma nicht mehr von seiner Beute verzehrt hatte, warum er sie nicht ausgeweidet hatte, was eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Irgend etwas mußte ihn vertrieben haben. Vielleicht ein Wanderer, der nicht ahnte, daß keine fünfzehn Meter entfernt eine Leiche im Gras lag, um die ein Puma herumschlich. Der Canyon war zwar für die Öffentlichkeit geschlossen, aber gelegentlich kam doch ein Wanderer herein.

Jetzt in der Trockenzeit gab es so wenig Wild, daß der Puma bestimmt zurückkam. Vielleicht lauerte er ganz in der Nähe. Einer von Gottes geschmacklosen kleinen Scherzen: daß der langersehnte erste Anblick eines Pumas für Anna das Letzte sein würde, was sie auf Erden sah.

Sie wußte nicht recht, ob sie Angst hatte oder nicht. Vermutlich hatte sie welche, denn sie war schon dabei, ihren Rucksack zu durchwühlen und mit den Fingern den kalten Trost ihrer Dienstpistole, einer .357er Smith & Wesson, zu suchen. Es war nicht leicht, in der Dunkelheit ruhig und gelassen zu bleiben. Die Nähe des Todes war etwas, dem man sich nicht entziehen konnte.

Zu ihrer eigenen Überraschung verspürte sie Hunger. Das Leben ging weiter und beharrte auf seinem Recht. In Drurys Rucksack befand sich bestimmt etwas Eßbares, aber so groß war Annas Hunger dann doch wieder nicht. Geier, die einen Puma beobachteten, der Anna beobachtete, wie sie nach der Nahrung suchte, die ihre Nahrung bei sich trug. Die Kette wurde langsam etwas zu kompliziert.

Sheila Drury – schaute sie ebenfalls zu? Man brauchte nicht an Gott zu glauben, um sich zu fragen, wohin der menschliche Geist sich zurückzog, wenn man starb. Ob Annas Geist wohl auch einmal dort hingehen würde?

Gespenstergeschichten aus der Kindheit drängten sich ungebeten in ihre Gedanken, und Anna merkte plötzlich, daß sie nicht zum Riedgras hinüberschauen wollte – nicht aus Angst vor einem Puma, sondern aus Angst vor einem Gespenst.

Anna schüttelte sich und versuchte den Spuk zu verscheuchen. Seit Zach tot war und jede Nacht eine einsame Nacht gewesen war, hatte sie gelernt, die Angst abzuschütteln.

In jenen Nächten hatte sie sich eine Erscheinung herbeigesehnt – eine Stimme, eine Berührung, irgend etwas. Aber da war nichts gewesen. Und jetzt war auch nichts da. Außer einer hungrigen Nacht und vielleicht einem hungrigen Puma.

Die Dunkelheit legte sich über die rastlosen Gedanken. Das Meer der Sterne am Himmel wurde immer tiefer. Kühle Luft drang in den Canyon und umwehte sie. Mit angezogenen Knien saß Anna da, die Pistole neben sich, und starrte auf die matt glänzende Spiegelfläche des Sees.

Irgendwann holte sie die vier Ritz-Cracker, den letzten Schokoladenpudding und eine halbe Handvoll Granola aus ihrem Rucksack und aß. Irgendwann nach Mondaufgang, als es – sehr untypisch für die Jahreszeit – zu nieseln begann, rollte sie ihren Schlafsack auf und kroch hinein. Sie hätte es zwar geleugnet, aber irgendwann schlief sie doch.

Kapitel 3

Sie verzog das Gesicht, weil das Wasser in den feinen Schnittwunden an Händen und Armen brannte, als sie sich in die Wanne gleiten ließ. Es war keine großartige Wanne. Mit den klauenfüßigen Badewannen waren diese verschwunden. Die Vorliebe für Duschen, die dafür gesorgt hatte, daß jetzt immer gleiche Plastikwannen in nichtssagenden Kabinen eingesetzt wurden, war Anna völlig unbegreiflich.

In New York hatte sie oft stundenlang in der Badewanne gelegen, in ihrer Küche im fünften Stock eines Hauses ohne Aufzug im Stadtteil Hell’s Kitchen. Sie hatte aus den Wasserflecken an der Decke Bilder zusammenphantasiert und darauf gewartet, daß Zach nach Hause kam und ihr Warten belohnte.

Er kam immer nach Hause. Manchmal schlief er dann mit ihr und manchmal nicht.

Rogelio schlief immer mit ihr. Ob sie wollte oder nicht. Anna fragte sich, wie spät es wohl war, fragte sich, ob er kommen würde, fragte sich, ob sie das überhaupt interessierte, und trank noch einen Schluck Wein. Roter Mondavi, ihr Vin ordinaire. Er war billig, wurde in großen Flaschen verkauft, ließ sich gut im Rucksack transportieren und schmeckte außerdem gar nicht übel. Sie trank noch einen Schluck und genoß es, wie die Hitze von innen und von außen ihre Gedanken entknotete.

Piedmont saß direkt vor der Badezimmertür. Seine Augen funkelten rot im Kerzenschein. Sein dichter gelbgestreifter Schwanz lag säuberlich zusammengerollt auf den Vorderpfoten. Piedmont mochte das Geräusch von laufendem Wasser. Das kam vermutlich daher, daß er von einer wilden Mutter in der Nähe des Black River geboren war, irgendwo bei Rattlesnake Springs. Aber er hätte sich niemals in die Nähe der Wanne gewagt. Vielleicht, weil er fast in einer Überschwemmung ertrunken wäre. Nach dem schlimmen Wolkenbruch im vergangenen Juli hatte Anna ihn in einem Wirrwarr toter Zweige auf einer Baumgabel gefunden.

Der Kater schloß die Augen und versank in seine Flußmeditation.

Annas Blick folgte dem Kerzenschimmer auf der Wasseroberfläche und wanderte dann über ihren Körper. Mit ihren neununddreißig Jahren hatte sie noch immer eine knabenhafte Figur, aber ihre Haut war nicht mehr so straff wie früher. Ellbogen, Knie, Hals – alles, was gebeugt wurde, hatte Falten. Ihre Muskeln, die jetzt deutlicher ausgeprägt waren als mit zwanzig, sahen schon etwas sehnig aus. Trotzdem, sie hatte eine gute Figur. Auch wenn die einschlägigen Zeitschriften ständig neue Ideale predigten, war sie mit ihrem Körper zufrieden gewesen. Stark und robust, pflegeleicht.

Im Wasser löste sich ihr Zopf, und die kupferroten und silbergrauen Strähnen umwogten ihre Schultern wie Seegras.

Die ertrunkene Ophelia, dachte Anna, oder im Jargon der New Yorker Theateragenten, dessen sich Mollys Freitag-10-Uhr-Klient bediente: »Ein alternder Ophelia-Typ.«

Eine Tote.

Die Überreste von Sheila Drury hatte man in Mülltüten gewickelt. Der Nationalpark – gepriesen sei sein rührender Optimismus – verfügte nicht über Leichensäcke. Das schimmernde grüne Bündel, das früher einmal Dog-Canyon-Ranger Drury gewesen war, wurde auf eine Drahtbahre mit Rädern gepackt und durch den steinigen Canyon gerollt, getragen und geschoben.

Paul war betont sachlich gewesen. Anna hatte das auch versucht, aber während des langen Marsches gingen ihr mindestens hundert geschmacklose Witze durch den Kopf. Die Saisonarbeiter – zwei Naturschützer und ein Ranger –, die als Hilfspersonal mitgekommen waren, hatten sich im ganzen sehr ruhig und vernünftig verhalten. Die Naturschützer waren Männer – Craig Eastern und Manny Mankins –, der Ranger war eine Frau namens Cheryl Light.

Ein großer Prozentsatz der Angestellten im Nationalpark arbeitete nur in der Sommersaison. Im Winter reduzierte sich das Personal der Guadalupe Mountains auf ein Minimum. Die meisten Saisonarbeiter hatten eine hochqualifizierte Ausbildung, viele sogar einen akademischen Titel. Manche mußten eine Familie ernähren. Und trotzdem ließen sie ihre Jobs, ihre Familien und Ehepartner im Stich und tauschten sie gegen das Privileg, in einem Schlafsaal hausen zu dürfen und sechs Dollar vierundfünfzig pro Stunde zu verdienen, ohne Altersversicherung, ohne Krankenkasse, und die Miete wurde automatisch vom Gehalt abgezogen.

Viele hofften, eines Tages eine feste Anstellung zu bekommen, aber es gab nur wenige offene Stellen, und die waren im bürokratischen Dschungel schwer zu ergattern. Anna wußte, daß Manny schon seit vier Jahren, seit der Geburt seines Sohnes, versuchte, fest angestellt zu werden.

Craig Easterns Situation war etwas anders. Er war Herpetologe und hatte einen zweijährigen Sonderauftrag der University of Texas in El Paso. Anna war überrascht gewesen, daß Paul ihn mitbrachte. Eastern war ein nervöser, unsicherer Mann Anfang dreißig, der besser mit Klapperschlangen, Eidechsen und Kröten umgehen konnte als mit Menschen. Die Menschheit beäugte er voller Mißtrauen – sie zerstörte die Umwelt. Die Guadalupe Mountains waren die letzte Bastion unberührter Natur.

Anna mußte zugeben, daß er mit der schwierigen Situation gut zurechtgekommen war. Geradezu bewundernswert. Als Craig die Leiche auf die Bahre gehoben hatte, war Anna aufgefallen, wie muskulös er war. Weil er so nervös war, kam er einem immer viel kleiner vor, als er war. Craig Eastern machte Krafttraining – schon seit Jahren, nach seinem Aussehen zu urteilen.

Manny Mankins dagegen war drahtig und schmal – wirkte aber viel größer, als er war. »Ein Giftzwerg«, hätte Annas Schwiegermutter gesagt.

Siebzehn Tage lang hatte Anna neben diesem mageren blonden Mann gegen die Flammen gekämpft. Beim großen Foolhen-Brand in Idaho hatte er alle in Grund und Boden gearbeitet. Sie hatten zweiundzwanzig Stunden am Stück auf das Feuer eingeschlagen. Manny machte immer noch Witze und schwang seine Pulaski, als die übrige Crew nur noch matt auf den Waldboden klopfen konnte.

Das Badewasser wurde lauwarm. Anna drehte mit dem großen Zeh den Heißwasserhahn auf und goß sich aus der Flasche, die auf dem Klositz stand, noch ein Glas Wein ein. Dann lehnte sie sich wieder gemütlich zurück und ließ das Bild von Ranger Light vor ihren halbgeschlossenen Augen erscheinen.

Cheryl Light war neu im Park; erst vor zwei Wochen hatte sie angefangen zu arbeiten. Kompakt – etwa einsfünfundsechzig groß und sicher hundertvierzig Pfund schwer. Schulterlange Dauerwelle. Anna vermutete, daß Cheryl zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig war. Bei diesen Naturtypen konnte man das Alter schwer schätzen. Die Haut wurde von der Sonne und der Luft früh faltig, aber ihre Vitalität war ohne Alter.

Meistens lachte Cheryl viel. Ihr Lachen war ansteckend, und man begann zu kichern, auch wenn man noch gar nicht wußte, was es zu lachen gab. Heute allerdings hatte niemand gelacht.

Cheryl hatte Sheila Drurys Rucksack getragen und an schwierigen Stellen ein Ende der Trage übernommen. Sie war kräftig, aber nicht deswegen war sie Anna im Gedächtnis geblieben. Am meisten beeindruckt hatte sie, wie Cheryl ganz unaufdringlich alle in ihrer Umgebung beruhigte, tröstete und aufmunterte. Sie schien sich dabei nicht anzustrengen, vielleicht war es ihr nicht einmal bewußt. Ein Lächeln genau im richtigen Augenblick, eine Berührung, ein Schluck aus ihrer Wasserflasche.

Anna war neidisch. Nettigkeit – echte, ungekünstelte Nettigkeit – brachte sie nicht fertig.

Falls Cheryls Nettigkeit wirklich echt war, wandte Annas zynischer Teil ein. Ungekünstelte, altruistische Nettigkeit? Das gab’s doch gar nicht. Aber trotzdem – Cheryl war nett.

»Ich denke zuviel, deshalb kann ich nicht nett sein«, entschuldigte sie sich bei ihrer desinteressierten Katze. Hatte Cheryl schon eine Möglichkeit gefunden, über die ganze Sache zu lachen? Sie und Craig und Manny waren vor Ort zwar sehr sachlich gewesen, aber heute abend würde man nach ein paar Bier anfangen Witze zu reißen, und Craig bekam vielleicht ein paar Alpträume. Anna würde wenig davon mitkriegen und Paul überhaupt nichts. Alle taten so, als gäbe es zwischen den Festangestellten und den Saisonarbeitern keine Mauer. Dabei wußte jeder, daß diese Mauer existierte. Ein bürokratisches Jericho, und nirgendwo ein Josua mit Trompete in Sicht. Alle waren ja nur vorübergehend hier. Die Saisonangestellten kamen und gingen wie streunende Katzen. Selbst die Festen blieben selten länger als ein paar Jahre auf einer Stelle, jedenfalls nicht, wenn sie beruflich weiterkommen wollten. Leute, die sich eine »Heimstätte« einrichteten – das heißt, die zu lange im selben Park blieben –, neigten mit der Zeit dazu, ihn als ihr Privateigentum zu betrachten; sie entwickelten eigene Vorstellungen, wie das Gelände verwaltet werden sollte. Das mochte der National Park Service nicht. Solche Leute waren nämlich weniger gefügig und weigerten sich, die Anweisungen einer weit abgelegenen Behörde zu befolgen.

Karl Johnson, der Mann, der in den Guadalupe Mountains für die Reittiere zuständig war, war seit fünfzehn Jahren beim Park Service und nie über GS-5 hinausgekommen, das Anfangsgehalt eines Saisonarbeiters. Seine Liebe zu den Guadalupe Mountains hatte ihn viel gekostet, aber manchmal fragte sich Anna, ob es sich nicht doch lohnte. In persönlicher Hinsicht bedeutete das Herumziehen ein entwurzeltes Leben, beruflich gesehen hieß es, daß sich der Verwaltungskram verdoppelte und man seine Projekte nicht abschließen konnte.

Und der Tod von Sheila Drury – war der abgeschlossen? Anna war verblüfft gewesen, wie wenig Zeit die offiziellen Ermittlungen beansprucht hatten. Benjamin Jakey, ein Sheriff aus El Paso, und einer seiner Deputys – ein Typ, der aussah wie ein Musterschüler und der von dem anstrengenden Fußmarsch die ganze Zeit japste – hatten sich sehr oberflächlich umgeschaut. »Jawohl. Das war ein Puma. Ein Wunder, daß so was nicht öfter passiert«, hatte Sheriff Jakey verkündet, und der Deputy hatte bedeutungsvoll dazu gekeucht. Jakey hatte das Gras durchsucht und Annas Skizzen der Szenerie betrachtet. Der Deputy hatte zwei Rollen Film verknipst und Anna mitgeteilt, die ihren würden nicht gebraucht.

Das war alles gewesen. Jetzt kamen die Bundespolizisten an die Reihe – der Nationalpark war schließlich Eigentum des Bundes. Aber die setzten auch nur ihren Stempel drunter, vermutete Anna.

Alle würden sich wundern, daß es hier in der »Wildnis« nicht öfter solche Zwischenfälle gab. »Öfter«, sagte Anna laut. Öfter als nie? Als einmal im Jahrzehnt? Was? Sie durfte nicht vergessen, morgen früh nachzufragen. Und morgen früh mußte sie auch einen Bericht für Nina Dietz, die Bezirksgerichtsmedizinerin, verfassen.

Zu ihr hatten sie die Leiche gebracht. Nina Dietz sah eher aus wie Tante Bea als wie eine Wächterin der Toten. Sie hatte mit der Ambulanz auf dem Parkplatz des McKittrick-Besucherzentrums gewartet. Anna war mit Paul gefahren, als dieser die Leiche wegtransportiert hatte.

Nun gab es keine Sheila Drury mehr.

Eines Tages würde es auch keine Anna Pigeon mehr geben. Ein ernüchternder Gedanke. Anna trank einen großen Schluck Wein.

Die Wohnungstür öffnete sich und fiel dann leise wieder ins Schloß. Piedmont schlich davon, um sich unter dem Küchentisch zu verstecken. Anna hörte, wie eine Kassette in den Recorder geschoben wurde: Guy Clarks »Rita Ballou«.

Rogelio.

Jetzt würde sie erst mal auf andere Gedanken kommen.

»Ana.« Ein leises Klopfen an der Badezimmertür. Anna mochte die Art, wie Rogelio ihren Namen aussprach. Das spanische »Ana«, sanft, flehend. Sie mochte sein rebellisches Wesen. Sie hatte Rogelio kennengelernt, als sie für den U.S. Forest Service nach Pagosa Springs in Colorado geschickt worden war, und ihn festgenommen, weil er sich an die Schaufel eines Bulldozers gekettet hatte, der eine Straßenschneise in ein bereits verkauftes Waldstück schneiden sollte. Er hatte Anna angelächelt und ihr zugezwinkert. Er gefiel ihr. Das Kerzenlicht schimmerte in seinen dichten braunen Haaren und auf seinem breitflächigen Gesicht, so daß seine Augen tief im Schatten lagen. Roger Cooper. Rogelio. Ein entwurzelter Ire/Israeli aus Chicago, der seinen eigenen Guerillakrieg führte.

Er kam leise herein und kniete sich mit kindlicher Anmut neben die Wanne. Seine Hände glitten ins Wasser und umschlossen kühl ihre Taille.

»Keine Probleme diesmal. Es wurde nur viel Cerveza getrunken und geredet. An der Grenze haben sie mich kaum kontrolliert. Wahrscheinlich gewöhnen sie sich langsam an meinen alten Käfer.«

»Sie haben nichts dagegen, wenn weiße Mittelschichtmänner mit einer Autonummer von Illinois nach Texas reinfahren«, meinte Anna. Der Grenzposten von El Paso hatte mehr Angst vor illegalen Einwanderern als vor Drogen. Außerdem reizte es Anna, daß Rogelio so stolz auf seine Kühnheit war. Ab und zu mußte sie ihm einen Dämpfer aufsetzen. Diese Öko-Krieger hatten einfach zuviel Spaß daran, für die gute Sache zu kämpfen. Sie schauten ein bißchen zu oft in den Spiegel, um Anna übermäßig zu beeindrucken. »Und das Bier und das Gequatsche waren das Beste am ganzen, stimmt’s?« Sie lächelte und legte ihre Hände auf seine.

»Nicht ganz«, sagte Rogelio mit schmeichelnder Stimme. »Das Beste bist du.«

Die Clark-Kassette war zu Ende, und der Recorder ging automatisch zum zweiten Band über. Die Chenille Sisters sangen »I Wanna Be Seduced«. Ich will verführt werden. Anna lachte.

Es stimmte.

Oft konnte Anna nach der Liebe am besten nachdenken, wohlig zusammengerollt in der Kuhle von Zachs Schulter. Rogelios Schulter, verbesserte sie sich erbarmungslos. Der Kopf ist klarer, wenn der Körper zufrieden ist.

»Rogelio, bist du noch wach?«

»Kommt drauf an«, war die schläfrige Antwort, und Anna spürte die Wärme seiner Hand auf ihrer Brust.

Sie nahm die Hand und legte sie auf die unteren Rippen – ein weniger gefährliches Terrain. »Ich muß dauernd an den Drury-Zwischenfall denken.« Aus Selbstschutz – oder vielleicht auch aus angeborener Lieblosigkeit – hatte sie begonnen, den Tod der Frau vom Dog Canyon in Gedanken den »Drury-Zwischenfall« zu nennen. Aber irgend etwas an der Bezeichnung störte sie. »Ich wüßte gern, was sie da gemacht hat. Sie war nicht auf Tour. Middle McKittrick ist geschlossen.«

»So sind die Rangers«, meinte Rogelio, und sein Lächeln wärmte die Dunkelheit. »Sie gehen an all die schönen Orte, die uns normalen Sterblichen untersagt sind. Das weiß doch jeder.«

»Nein, im Ernst. Niemand würde einen vollen Rucksack in diesen Canyon schleppen, um etwas zu schmuggeln. Jedenfalls niemand, der einigermaßen bei Verstand ist.« Rogelio versuchte seine Hand freizukriegen. Mit den Lippen berührte er ihren Nacken.

»Mmmm«, schnurrte er. »Du kannst es nicht lassen. Lieber Gott, ich bin so scharf auf dich, Ana.«

Anna versuchte, sich auf das Riedgras zu konzentrieren, auf die Geier.

»Eins von euren süßen Kätzchen hat eine Parkhüterin verspeist«, sagte Rogelio, während seine Hand zu ihren Schenkeln wanderte. »Pumas tun so was nun mal, querida. Sie sind Fleischfresser.«

»Nein, im Ernst …«, murmelte Anna und hielt seine Hand fest.

»Im Ernst«, wiederholte Rogelio und zog sie an sich. Obwohl sie reagierte, sehnte sie sich nach Zachary, nach einem richtigen, altmodischen Gespräch.

Als erstes würde sie morgen früh Molly anrufen. Als allererstes.

»Ich muß mit dir reden«, sagte Anna. Sie preßte den Mund dicht an den Telefonhörer.

»Ich hab nur sieben Minuten, dann kommt Mrs. Claremont.«

»Ich hab eine Leiche gefunden.«

»Was ist das für ein Lärm im Hintergrund? Wo bist du?«

»Im Cholla Chateau in der Waschküche. Was du hörst, ist der Trockner. Er quietscht«, erklärte Anna. Molly wußte genau, wo sie war. Sie wollte es ihr nur schwermachen.

»Schaff dir endlich ein Telefon an. Ein richtiges.«

»Ich versprech’s.«

»Okay, gut. Also, eine Leiche. Eine menschliche Leiche oder was für eine?«

»Eine Frau. Ich hab sie gestern im Middle McKittrick Canyon entdeckt, auf meiner Pumatour.«

Kurz herrschte Schweigen. Anna wartete. Molly zündete sich hörbar eine Zigarette an. Anna wunderte sich wieder einmal, wie ihre Klienten das aushielten. Hundertfünfzig Dollar die Stunde, und dafür bekamen sie Zigarettenrauch ins Gesicht geblasen.

»Middle McKittrick«, wiederholte Molly. »Das ist eine von diesen schrecklichen Schluchten bei euch da draußen, stimmt’s?«

»Ja, genau.« Anna blickte auf ihre Taschenuhr. »Noch vier Minuten bis Mrs. Claremont.«

»Mrs. Claremont ist auch in einer Viertelstunde noch neurotisch. Erzähl weiter.«

Seit Anna fünf und ihre Schwester elf war, erzählte sie ihr alles. Jetzt berichtete sie von den Geiern, den Tränen, dem Riedgras, den Gespenstern, den Tatzenabdrücken, den Kratzspuren. Hin und wieder unterbrach Molly sie mit einer Frage, um sich ein klareres Bild machen zu können.

Mrs. Claremont wartete bereits zehn Minuten im eleganten Wartezimmer der Park View Clinic, als Anna mit ihrer Geschichte fertig war.

Wieder schwiegen beide. Anna wartete auf einen Kommentar. Aber es ging ihr schon besser, nachdem sie Molly alles erzählt hatte.

»Okay«, sagte Molly schließlich. »Diese Sheila Drury war dir eigentlich ziemlich egal. Stimmt’s?«

»Stimmt«, antwortete Anna. Sie wollte, Molly würde sie gelegentlich etwas schonen, aber das tat sie nie.

»Tod, Dunkelheit, die mampfenden Geier – das hat dich an früher denken lassen, an Zachs Tod. Das ist relativ klar. Aber was ich außerdem noch höre, ist Empörung – Empörung über irgendeine Ungerechtigkeit. Bin ich auf der richtigen Fährte?«

Anna durchsuchte ihr Gehirn, tastete sich die Speiseröhre hinunter, bog am Brustbein links ab und inspizierte ihr Herz. »Ich glaube, du hast recht.« Die Überraschung war ihrer Stimme anzuhören. Molly lachte kurz, »he, he, he«, wie in einem Comic.

»Weil immer die falschen Leute sterben?« versuchte Molly ihr Glück.

»Äh … nein.«

»Weil du nicht als Heldin gefeiert wurdest, nachdem du die Tote gefunden hattest?«

»Nein.«

»Weil ausgerechnet du eine stinkende Leiche finden mußtest?«

Anna überlegte kurz, aber das war es auch nicht. Es war zwar scheußlich gewesen, aber sie liebte Ausnahmesituationen. »Nein.«

»Ich geb’s auf«, sagte Molly. »Ich muß los. Ruf mich an, wenn du drauf kommst.«

Ein Klicken, und Molly war weg. Anna war fest davon überzeugt, daß sie Mrs. Claremont jetzt ohne jede Entschuldigung hereinbat.

Craig Eastern erschien mit einem blauen Plastikkorb voller Uniformen und weißen Baumwollunterhosen. Er sah sich nicht einmal nach Anna um, während er die Waschmaschine lud und zwei Vierteldollarmünzen in den Schlitz steckte. Vielleicht dachte er, so würde er weniger stören.

Anna merkte, daß sie immer noch den Hörer ans Ohr drückte. Sie legte ihn wieder auf die Gabel. »Ich bin fertig«, verkündete sie, und Craig startete geräuschvoll die Waschmaschine.

Empörung über eine Ungerechtigkeit.

Auf dem Weg zu ihrer Wohnung grübelte Anna weiter darüber nach. Molly hatte ins Schwarze getroffen. Genau das war das Gefühl. Sie selbst hatte es mit anderen Emotionen vermischt und gar nicht richtig erkannt. Sie war empört über eine Ungerechtigkeit. Das war ein Gefühl, das sich die Jugend leisten konnte, die immer noch an eine absolute Gerechtigkeit glaubte. Es war die Empörung der Unerfahrenen. Anna hatte diese Wut jahrelang empfunden, als sie noch unkomplizierter gewesen war und so unschuldig, daß sie die Welt schwarzweiß sehen konnte.

Im Lauf der Zeit hatte sie gelernt, daß es so etwas wie »mildernde Umstände« gab. Alles war weicher geworden, hatte interessantere, aber weniger dramatische Grautöne angenommen.

Und warum jetzt diese Empörung, diese Wut? Anna rieb sich die feinen Schnittwunden an den Armen. Sie heilten und begannen zu jucken.

Auf einmal war es sonnenklar. Der klassische Fall: ein Unschuldiger unter Anklage.

Der Täter war nicht der Puma.

Kapitel 4

»Anna, wenn du sagst, es war nicht der Puma, ist das, als würde Jimmy Hoffa sagen, es waren nicht die Teamster.«

»Paul, Sheila hatte keine Schnittwunden vom Riedgras. Nichts. Pumas kämpfen mit ihrer Beute, zerren sie herum. Selbst wenn der Puma sie nur ins Gras gejagt und dann gleich getötet hätte – sie hätte sich schneiden müssen.«

Paul seufzte – dezent, kaum hörbar. Der Seufzer eines geduldigen Menschen, der sich mühsam beherrscht. Dann lehnte er sich in seinen Sessel zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Okay, gehen wir die Sache noch mal durch.«

Anna merkte, wie sie innerlich vor Wut zu kochen begann. Sie atmete zweimal tief durch, um sich zu beruhigen. Paul wollte sie beschwichtigen. Das konnte sie nicht ausstehen. Also lehnte sie sich ebenfalls in ihren Sessel zurück und legte die Fingerspitzen aneinander, Paul bewußt nachäffend.

Sie befanden sich im Hauptquartier der Rangerdivision, dem alten Frijole-Ranchhaus. Es war ein zweistöckiges Gebäude, das kurz nach der Jahrhundertwende in der Nähe einer Quelle errichtet worden war. Selbst in der Junihitze blieben die Räume kühl. Die Steinmauern waren einen halben Meter dick, und die Pecanobäume, die in Blechkanistern aus St. Louis hergebracht und sorgfältig gepflegt worden waren, hatten inzwischen eine Höhe von fünfzehn Metern erreicht. Diese schattige Oase war ein Paradies für Schlangen, Skorpione, Mäuse und Rangers. Bis auf den ständigen Kampf zwischen dem Bezirks-Ranger und den Mäusen lebten alle relativ friedlich miteinander.

»Okay«, sagte Paul noch einmal. Er machte ein Gesicht wie jemand, der auf eine harte Geduldsprobe gestellt wird. »Du hast Tatzenspuren gesehen.«

»Ja«, gab Anna zu. »Am Morgen hatte der Regen sie in dem lehmigen Boden fast ganz weggewaschen, aber es waren welche da.«

»Klauenspuren, Bißwunden, keine anderen Spuren von Trauma.«

»Stimmt.«

»Worauf willst du hinaus?« Paul blickte über seine Fingerspitzen, die er abwechselnd gegeneinanderklopfte. Seine blaßblauen Augen betrachteten sie so freundlich, und seine Bereitschaft, ihr zuzuhören, war so überzeugend, daß Anna sich richtig idiotisch vorkam.

Es gab nicht viel zu sagen. Wie eine Dreijährige war sie mit halbgaren Vermutungen zu Paul Decker gelaufen, ohne harte Fakten. Nur mit einer merkwürdigen Beobachtung und mit einem Gefühl im Bauch.

»Ich bin nicht sicher. Vielleicht hatte sie einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall oder irgendwas, und der Puma ist erst später gekommen. Ich weiß es nicht.« Anna sprach langsam, sich schrittweise durch ihre Gedanken tastend. »Mich stört einiges. Lauter Kleinigkeiten: keine Riedgrasschnitte, die Leiche nicht ausgeweidet, warum war Sheila überhaupt in der Gegend, warum waren ihre Haare offen – niemand läuft mit wehenden Haaren dort rum –, solche Sachen.«

Anna verstummte. Ihre Augen waren ziellos durch den Raum gewandert, jetzt ruhten sie wieder auf Pauls Gesicht, gerade rechtzeitig, um noch das Ende eines Lächelns mitzukriegen, das von seinen Lippen glitt, wie der Schwanz einer Schlange, die im hohen Gras verschwindet. Anna wünschte, sie hätte die Sache mit den Haaren nicht erwähnt, denn hier machten alle Witze darüber, daß sie die Haare nie offen trug. Und wenn sie es bei den wenigen gesellschaftlichen Anlässen, an denen sie sich beteiligte, dann doch tat, riefen immer alle wie im Chor: »Ich hab dich gar nicht erkannt!«

»Das sind wichtige Punkte, Anna.« Paul blickte heimlich auf die Uhr, und plötzlich ärgerte sich Anna schrecklich darüber, daß er so fürchterlich nett, so unendlich verständnisvoll war. Sie wußte aus Erfahrung, daß er sich ihr »Problem« geduldig anhören würde, bis sie von selbst aufhörte.

»Es ist nicht mein Problem«, sagte sie heftiger, als es der Situation angemessen war, und stand auf. »Ich habe nur nachgedacht.« Anna wußte, daß sie zu heftig reagierte. Gefühle, die sie eigentlich gar nicht haben wollte, verschärften ihren Tonfall und machten sie ungeduldig.

»Setz dich wieder hin«, meinte Paul freundlich. »Es macht dir doch offensichtlich zu schaffen. Dann ist es auch wichtig.«

Anna setzte sich.

»Vielleicht kam Sheila vom Pratt, nicht vom Dog Canyon – eine Tageswanderung«, gab Paul zu bedenken.

Pratt Cabin war ein historisches Steinhaus, das vier Kilometer vom Besucherzentrum entfernt lag, dort, wo die Creeks vom North McKittrick und McKittrick zusammenflossen. Parkbesucher machten dort gern Rast, und für die Leute, die durchs Backcountry wanderten, war es der vernünftigste Ausgangspunkt.

Anna schüttelte den Kopf. »Mit einem vollgepackten Rucksack? Außerdem würde das auch nichts daran ändern, daß sie durch dichtes Riedgras mußte. Ohne sich zu schneiden.« Während sie das sagte, überlegte sie, was sie eigentlich beweisen wollte.

Paul wirkte etwas gequält. »Ich weiß auch nicht, warum sie keine Schnittwunden hatte, Anna. Ich wollte, ich wüßte es.« Sie glaubte ihm. Er hätte gern all ihre Fragen beantwortet – nicht weil er sie für wichtig oder auch nur für berechtigt hielt, sondern weil sie Anna beschäftigten, und Pauls Meinung nach mußte man sich mit solchen Gefühlen auseinandersetzen.

Sie schüttelte seine Freundlichkeit mit einem Achselzucken ab und versuchte es mit einer anderen Taktik. »In den letzten hundert Jahren gab es in Texas keinen einzigen Fall, wo ein Puma einen Menschen angegriffen hat. Keinen. Null. Nada.«

»Statistiken«, meinte Paul.

Lügen, verdammte Lügen und Statistiken, dachte Anna. Sie nickte und stand wieder auf. Sie war wütend und fühlte sich geschlagen, und beides kotzte sie an. »Und jetzt ist Sheila Drury eine Statistik.«

»Anna, das ist Sache der Bundesjustiz. Selbstverständlich wird eine Obduktion gemacht. Wenn die unbefriedigend ist, wird das FBI der Sache weiter nachgehen.«

»Kann ich den Obduktionsbericht lesen?« fragte Anna.

Schweigen. In der zwanzigjährigen Geschichte des Nationalparks hatte es noch nie einen Todesfall gegeben – weder einen Unfall noch sonst etwas. Niemand wußte genau, was man tun mußte und wer zuständig war. Da sich die Kriminalitätsrate gesteigert hatte, waren die polizeilichen Befugnisse immer wichtiger geworden. Die Parkhüter mußten einen zehnwöchigen Trainingskurs absolvieren, ihre Fingerabdrücke wurden registriert, sie wurden auf Drogenkonsum überprüft, außerdem mußten sie jetzt Handschellen und Seitenwaffen tragen. Aber in den kleineren, entlegeneren Parks gab es eigentlich keine schweren Verbrechen.

Paul notierte sich etwas auf dem kleinen gelben Notizblock, den er in der Hemdentasche trug. »Ich werde mich wegen der Obduktion erkundigen, aber ich kann mir kaum vorstellen, daß das ein Problem ist. Schließlich warst du diejenige, die zuerst an Ort und Stelle war. Aber man kann nie wissen.«

»Es ist eine Regierungsangelegenheit«, sagte Anna, und Paul lachte. Anna lachte nicht. Die bürokratischen Verzögerungen behinderten die Arbeit oft so, daß die Regierungsbehörden zum allgemeinen Gespött geworden waren. Eines Tages würden die Bürokraten es schaffen, den Nationalparks endgültig die Luft abzudrücken. Schon jetzt waren ihnen durch umständliche Vorschriften derart die Hände gebunden, daß es meistens schon zu spät war, wenn sie endlich die Genehmigung und das Geld bekamen, um eine Gegend oder ein Tier zu retten. Der Tod hatte seinen eigenen Fahrplan.

Paul steckte das Notizbuch weg, und Anna ging zur Tür. »Danke, Paul«, sagte sie, obwohl sie gar nicht recht wußte, wofür sie sich bedankte. Alle sagten dauernd: »Danke, Paul.« Und während sie die Fliegentür aufstieß und dabei alles andere als Dankbarkeit empfand, dachte sie, vielleicht fühlt man sich ihm nur verpflichtet, weil er sich Gedanken macht.

Paul Decker machte sich Gedanken darüber, ob seine Leute zufrieden und glücklich waren.

Bedauerlicherweise konnte er ihnen nur nie dabei helfen.

»Sei fair«, murmelte Anna halblaut, ihre Wut mit Worten dämpfend. Laß gut sein.

Ihre Gedanken rasten so schnell, daß sie auf dem Steinplattenweg unter den Pecanobäumen vor dem Ranchhaus stehenbleiben mußte, um nicht ins Stolpern zu geraten. Die Blätter über ihr raschelten freundlich. Hinter dem Steinwall, wo die Quelle heraussprudelte, war ein leuchtend grüner Streifen. Das Gras folgte der Feuchtigkeit, bis sie nach etwa hundert Metern in der Erde versickerte. Rechts befanden sich der kleine Heuschober und ein überdachter Schuppen für die Reittiere. Zwei große braune Hinterteile waren in der Nähe der Futterkrippe zu sehen.

Anna beschloß, den Nachmittag doch nicht damit zu verbringen, das Chaos im Erste-Hilfe-Schrank aufzuräumen. Sie sprang über den Steinwall und betrat durch das Seitentor die Pferdekoppel.