Wolfsspuren: Anna Pigeon ermittelt - Band 7: Kriminalroman - Nevada Barr - E-Book
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Wolfsspuren: Anna Pigeon ermittelt - Band 7: Kriminalroman E-Book

Nevada Barr

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Beschreibung

Ein erbitterter Überlebenskampf in eisiger Wildnis: Der spannungsgeladene Kriminalroman »Wolfsspuren« von Nevada Barr jetzt als eBook bei dotbooks. Der verschneite Nationalpark Isle Royale in Michigan: Gemeinsam mit einem Forscherteam bricht die Rangerin Anna Pigeon in die Wildnis auf. Ihre Expedition soll neue Erkenntnisse in der Wolfsforschung bringen, doch schon bald stehen sie vor einem Rätsel: Riesige Pfotenabdrücke im Schnee und Spuren einer Wolfs-DNA, die nicht zur heimischen Population auf der Insel passt. Als eine Kollegin von Anna verschwindet und kurz darauf ihre zerfetzte Leiche gefunden wird, entbrennt eine wilde Hetzjagd auf die Wolfsbestie. Doch bald schon stellt Anna mit Entsetzen fest, dass die Jäger selbst zu Raubtieren geworden sind – und einer von ihnen ein mörderisches Spiel treibt … Packend und rasant – der siebte Band der fesselnden Krimireihe um die Parkrangerin Anna Pigeon mit ihrem untrüglichen Gespür für die Abgründe menschlichen Handelns: »Barr kennt und liebt ihre Landschaft und schreibt darüber mit dem Einfühlungsvermögen einer wahren Naturfreundin.« The Washington Post »Nevada Barr ist eine der Allerbesten!« Boston Globe Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Öko-Thriller »Wolfsspuren«, Band 7 der international erfolgreichen Anna-Pigeon-Krimiserie von Nevada Barr, die Leser in die ebenso atemberaubende wie gefährliche Wildnis der Nationalparks Amerikas entführt. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 608

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Über dieses Buch:

Der verschneite Nationalpark Isle Royale in Michigan: Gemeinsam mit einem Forscherteam bricht die Rangerin Anna Pigeon in die Wildnis auf. Ihre Expedition soll neue Erkenntnisse in der Wolfsforschung bringen, doch schon bald stehen sie vor einem Rätsel: Riesige Pfotenabdrücke im Schnee und Spuren einer Wolfs-DNA, die nicht zur heimischen Population auf der Insel passt. Als eine Kollegin von Anna verschwindet und kurz darauf ihre zerfetzte Leiche gefunden wird, entbrennt eine wilde Hetzjagd auf die Wolfsbestie. Doch bald schon stellt Anna mit Entsetzen fest, dass die Jäger selbst zu Raubtieren geworden sind – und einer von ihnen ein mörderisches Spiel treibt …

Packend und rasant – der vierzehnte Band der fesselnden Krimireihe um die Parkrangerin Anna Pigeon mit ihrem untrüglichen Gespür für die Abgründe menschlichen Handelns: »Barr kennt und liebt ihre Landschaft und schreibt darüber mit dem Einfühlungsvermögen einer wahren Naturfreundin.« The Washington Post

»Nevada Barr ist eine der Allerbesten!« Boston Globe

Über die Autorin:

Nevada Barr wurde 1952 in Yerington, Nevada geboren. Sie arbeitete als Schauspielerin, bevor ihre Liebe zur Natur sie als Rangerin in verschiedene Nationalparks führte. Dies inspirierte sie zu ihrer Serie über Anna Pigeon, die mehrfach preisgekrönt wurde – unter anderem erhielt der erste Band, Die Spur der Katze, den renommierten Agatha-Award als bestes Debüt – und international erfolgreich ist. Nevada Barr lebt heute in Mississippi.

Bei dotbooks erscheinen in der Anna-Pigeon-Reihe:

Die Spur der KatzeEiner zuviel an BordZeugen aus SteinFeuersturm

Paradies in Gefahr

Blutköder

Die Website der Autorin: www.nevadabarr.com

Die Autorin im Internet: www.facebook.de/NevadaBarrFans

***

eBook-Neuausgabe März 2019

Copyright © der englischen Originalausgabe 2008 by Nevada Barr

Die englische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Winter Study bei G. P. Putnam's Sons, New York.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2009 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Published by Arrangement with Nevada Barr Paxton.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Weidmann Photography

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95520-733-5

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Wolfsspuren an: [email protected]. (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Nevada Barr

Wolfsspuren

Anna Pigeon ermittelt

Aus dem Englischen von Karin Dufner

dotbooks.

Für Mr Paxton, der sein Leben der Aufgabe gewidmet hat, andere Menschen zu retten. Wie zuletzt auch mich.

Danksagung

Die Winterstudie gibt es wirklich, und zwar seit über fünfzig Jahren. Ihre Forschungsergebnisse sind nicht nur wegen der jeden Winter erhobenen Daten von unschätzbarem Wert, sondern auch deshalb, weil man lediglich durch Beobachtungen innerhalb eines Zeitraums bestimmte Muster erkennen kann, der für Entwicklungen in der Natur lang genug ist. In den wenigen Wochen auf der ins Eis eingeschlossenen Isle Royale ist die Zeit stets knapp, und es gibt viel zu tun. Wäre die Parkaufseherin Ms Green nicht so großzügig gewesen, mir Zutritt zum Park zu gewähren und mir mit der Geduld eines Organisationsgenies zur Seite zu stehen, hätte ich dieses Buch niemals schreiben können. Danke, Phyllis.

Ich danke auch den Piloten der Forstverwaltung in Ely, Minnesota, die sich die Zeit genommen haben, mir ihre Erfahrungen zu schildern und mich und meinen Proviant im Januar auf der Insel abzusetzen.

Ganz besonders danke ich dem Team der Winterstudie: Rolf Peterson, John Vuceti, Beth Kolb und Donnie Glaser. Sie haben diesem Buch erst Leben eingehaucht. Außerdem waren sie so nett, mich trotz meines Gejammers über die Kälte nicht im Schnee auszusetzen und meine endlosen E-Mails zu beantworten, in denen ich nachfragte, wie ein Wolf riecht, wie dick eine Zecke werden kann und wer wen und was frisst. Hätte Rolf sich nicht die Zeit genommen, das Manuskript durchzuarbeiten, hätten Fachleute allerorten wegen meiner zahlreichen Fehler die Augen verdreht. Die vier haben ihr Wissen mit mir geteilt und die Inspiration für das Positive in diesem Buch geliefert.

Vorwort

Im Juli 1970, ich war damals ein unerfahrener Student und begann gerade mein Praktikum im Isle-Royale-Nationalpark, wurde ich von einem Fremden zum Mittagessen in den Windigo Inn eingeladen. Offenbar dachte er, dass ich etwas wusste. Vielleicht hielt er mich auch für so arm, dass ich eine kostenlose Mahlzeit nicht ausschlagen würde. Die Cafeteria grenzte an das Haus des ehemaligen Washington Clubs an, eines privaten Vereins, gegründet um die Jahrhundertwende, also noch vor der Ernennung der Isle Royale zum Nationalpark. (Über ein Jahrzehnt später half ich eines Winters, das Haus niederzubrennen und die Reste zu beseitigen, damit der Wald das Gebiet wieder in Besitz nehmen konnte.) Der Fremde, ein kahlköpfiger, sonnengebräunter Mann, der teure Freizeitkleidung trug, erklärte mir, er habe die ganze Welt bereist, hielte die Isle Royale jedoch für das schönste Fleckchen Erde überhaupt. Ich erinnere mich noch, dass ich fand, großes Glück gehabt zu haben, denn dieser Mann hatte mir die Mühe erspart, mich weiter auf unserem Planeten umzusehen.

Vermutlich war es ein ähnlicher Eindruck – nämlich der einer zauberhaften Wildnis –, der Nevada Barr zurück auf die Isle Royale führte, um einen einzigartigen Roman zu schreiben, der in diesem Nationalpark spielt. Ich unterstützte sie gern dabei, denn die für Nevada typische Mischung aus Kriminalroman und Naturschilderung erfreut sich einer großen Anhängerschaft.

Die Isle Royale war schon immer schwierig zu erreichen und wird von verhältnismäßig wenigen Menschen besucht, obwohl sie im Sommer frei zugänglich ist. Dass man überhaupt von ihrer Existenz weiß, ist hauptsächlich den Werken und Schilderungen verschiedener Autoren zu verdanken. Eine erfahrene Wildhüterin im Mesa Verde Nationalpark sagte zu mir, sie kenne die Isle Royale eigentlich nur aus Nevadas Roman A Superior Death aus dem Jahr 1994.

Trotz ihrer illustren und weitgehend unerforschten Vergangenheit ist die Isle Royale uns heutzutage hauptsächlich wegen der dort lebenden Wölfe und Elche ein Begriff. Während dieses Buch in den Druck geht, dauern die Bemühungen, die Entwicklung der dortigen Tierpopulation wissenschaftlich zu erforschen, bereits seit fünfzig Jahren an.

Inzwischen genießt der graue Wolf weltweit einen viel besseren Ruf als in früheren Zeiten und gilt nicht mehr als verhasster Schädling, sondern als faszinierendes Wildtier. Wölfe werden nicht länger in abgelegene Gebiete fernab menschlicher Behausungen verbannt, sondern bevölkern mittlerweile privaten und öffentlichen Grund, wie zum Beispiel den gut besuchten Yellowstone Nationalpark. Allerdings gibt es in den Vereinigten Staaten außerhalb von Alaska nur vier Nationalparks, zum Beispiel den Glacier Nationalpark und den Voyageurs Nationalpark, in denen Wölfe eine Heimat gefunden haben. Genug Freifläche für Wölfe und andere große Raubtiere zur Verfügung zu stellen, ist noch immer eine Herausforderung für Naturschützer.

Ein weiterer Mensch, für den die Isle Royale das schönste Fleckchen Erde weltweit darstellt, ist Bob Linn, ein ortsansässiger Naturfreund, der bereits an den ersten Winterstudien zur Erforschung der Wölfe und Elche auf der Insel beteiligt war. In den 1960er-Jahren wurde Bob wissenschaftlicher Leiter des Projekts und stiftete die konfliktbeladene Ehe zwischen der Wissenschaft und der Nationalen Parkaufsicht, auf die Nevada in diesem Buch anspielt. Obwohl kein Freund von Auseinandersetzungen, musste Bob dreimal einschreiten, um zu verhindern, dass Politik und Bürokratie sich in die Erforschung der Wölfe auf der Isle Royale einmischten. Eigentlich möchte man meinen, dass diese Wölfe, die in Abgeschiedenheit leben und für den Menschen und seine Interessen keine Bedrohung darstellen, keine Gegner auf der Welt haben. Doch Bob war gezwungen, die Guten hinter sich zu scharen, um den aus Habgier, Machtansprüchen, Neid oder einfach nur Engstirnigkeit geborenen Anfeindungen entgegenzutreten. Anschließend verkündete er bescheiden, man habe die Wissenschaftler nun einmal als unsichere Kandidaten betrachtet.

Die größte Herausforderung stellte sich ihm, als James Watt unter Präsident Reagan Innenminister wurde. Die Mittel für die Parkverwaltung wurden gestrichen, die Mitarbeiter während der laufenden Winterstudie des Jahres 1983 entlassen. Allerdings fand ich später in einem Gespräch heraus, dass ihn keine Schuld daran traf. Er wusste nicht einmal von der Existenz der Isle Royale, geschweige denn, dass es sich dabei um einen Nationalpark handelte, für dessen Erhalt er von Amts wegen verantwortlich war. Über manche Dinge kann man sich nur wundern.

Jedenfalls haben die Wölfe auf der Isle Royale bis heute überlebt. Sie gedeihen prächtig an einem Ort, an dem man die Ansiedlung von Wölfen früher für unmöglich gehalten hatte. Das ist ein Beweis für die menschliche Fähigkeit, die wahre und ungebändigte Kraft der Natur zu erfassen und zu verstehen, wie wir unsere Zukunft durch einen nachhaltigen Umgang mit ihr sichern können.

Und nun willkommen in der weißen und kalten Welt der winterlichen Isle Royale und des Lake Superior. Es ist eine Welt, die Nevada Barr durch ihr schriftstellerisches Talent, ihre Liebe zur Natur, ihre langjährige Erfahrung mit Nationalparks und ihre Neugier auf das manchmal seltsame Verhalten von Naturforschern zum Leben erweckt. All das, zusammen mit den Ängsten, Schwächen und Marotten ihrer handelnden Personen, sorgt für einen spannenden Lesestoff. Vielleicht lässt sich ja jemand davon überzeugen, in Zukunft auf das Mobiltelefon zu verzichten. Ach, und noch etwas: Es empfiehlt sich nicht, in der Sauna Bier zu trinken.

Rolf Peterson im Januar 2008

Kapitel 1

Die Beaver war blitzblank. Noch nie hatte Anna so ein sauberes Flugzeug gesehen. Es stand im beheizten Hangar in Ely, Minnesota, hatte die jährliche Hauptuntersuchung gerade hinter sich gebracht und strahlte förmlich im hellen Glanz. Nur der von tiefen Kratzern durchzogene Boden zeugte davon, dass dem alten Schlachtross nicht viel Ruhe gegönnt wurde. Beavers wurden seit 1962 nicht mehr gebaut, weshalb die Maschine, die der Pilot gerade für die wöchentliche Proviantlieferung und den Personaltransport zur Isle Royale im Lake Superior belud, älter war als Anna.

Aber das Flugzeug hat sich besser gehalten, dachte sie ungnädig.

Sie hatte nagelneue, noch nie getragene und mit Filz gefütterte Stiefel und Thermosocken an den Füßen. Dazu war sie mit einer Skihose und einem Parka bekleidet.

Anna beobachtete eine Frau, die etwa halb so alt war wie sie und Beine so lang und kräftig wie die eines einjährigen Elchs besaß. In ihrer dünnen Hose und der besorgniserregend leichten Winterjacke bewegte sie sich rasch und anmutig. Anna wurde von einem Gefühl ergriffen, das ihr weder vertraut noch willkommen war.

Sie war ratlos, verunsichert und außerdem nicht in ihrem Element. Die Isle Royale in Michigan war zwar einer ihrer ersten Einsatzorte gewesen, allerdings vor vielen Jahren. Außerdem im Sommer. Ein Aufenthalt bei arktischen Januartemperaturen, wenn die Insel für Besucher gesperrt war, entsprach nicht ihren Vorstellungen von einem idealen Winterurlaub. Nach den vielen Jahren im Natchez Trace Nationalpark in Mississippi, wo eine Jeansjacke und Kniestrümpfe als Wintergarderobe genügten, war sie kälteempfindlich geworden. Vielleicht würde ihre neue Position als oberste Parkpolizistin im Rocky-Mountain-Nationalpark sie ja ein wenig abhärten, aber dazu musste sie erst einmal einen Winter dort verbringen.

Unbeholfen trat sie von einem Fuß auf den anderen und spürte, wie ihre Zehen sich in den klobigen Stiefeln bewegten. Die vielen Schichten aus Daunen und Fleece machten ihren Körper steif.

Anna begegnete neuer Kleidung stets mit Argwohn und mochte auch keine Partys, für die man sich schick machen musste. Die Einladung, sich an dem seit vielen Jahren andauernden Forschungsprojekt zum Thema Wölfe und Elche auf der Isle Royale zu beteiligen, war vom Leiter des Rocky Mountain Nationalparks gekommen, und zwar in Worten, denen keine Frau widerstehen konnte: »Haben Sie keine Lust, sich in Schneeschuhen durch unwegsames Gelände zu quälen und mit Blut vollgesogene Zecken und Elchpisse einzusammeln?«

Als wahre Romantikerin hatte Anna begeistert zugestimmt. Schließlich würde sie es auch im Rocky Mountain Nationalpark bald mit Raubtieren zu tun bekommen. Nicht etwa, weil die Politiker plötzlich eine Erleuchtung gehabt hätten, sondern weil sich die prachtvollen und früher so verhassten Fleischfresser überall rasch vermehrten. Inzwischen eroberten sich Wölfe Gebiete zurück, aus denen sie vor mehr als einem Jahrhundert vertrieben worden waren.

Anna hatte Grund zu der Annahme, dass sich die erwarteten Wölfe bereits im Park aufhielten, beabsichtigte allerdings nicht, das in der Öffentlichkeit breitzutreten. Zumindest so lang nicht, bis die Welpen alt genug waren, um sich selbst durchzuschlagen. Der zukünftige Umgang mit Wölfen und Elchen stand also ganz oben auf der Aufgabenliste des Rocky Mountain Nationalparks, und wo konnte man sich besser darüber informieren als auf der Isle Royale?

»Alles fertig«, verkündete der Pilot.

Anna kletterte die zwei schmalen Stufen hinauf auf den Radkasten der Beaver, um in das hoch gelegene Cockpit zu steigen, keine Kleinigkeit in Stiefeln mit dem Ausmaß von Schneeschuhen.

»Brauchen Sie Hilfe mit dem Sicherheitsgurt?«

Der Pilot verhielt sich förmlich und schien nervös. Seine Uniform, die ihn als Mitarbeiter der amerikanischen Forstbehörde auswies, war steif von Stärke. Anna, die von ihren Einsätzen eher an verschwitzte und zerknitterte Versionen dieses Kleidungsstücks gewöhnt war, hatte sie auf den ersten Blick mit einer Militäruniform verwechselt.

»Nein«, erwiderte sie knapp.

Sie war schon häufiger auf Such- oder Rettungsaktionen sowie bei Waldbränden und Tierzählungen mit dem Flugzeug unterwegs gewesen, als sie sich erinnern konnte, und das lang vor dem Highschoolabschluss des Piloten. Verärgert wegen ihrer eigenen Gereiztheit, fummelte sie am Sicherheitsgurt herum. Weil sie so dick eingepackt war wie ein Schuljunge, der im Januar in Iowa auf einen Bus wartet, konnte sie sich kaum bewegen.

Hochmut kommt vor dem Fall, dachte sie spöttisch, während ihre in Fäustlingen steckenden Hände am Gurt zerrten.

Als sie versuchte, die Handschuhe mit den Zähnen auszuziehen, geriet ihr die schicke neue Sturmhaube in den Weg. Schließlich blieb sie still und geduldig wie der bereits erwähnte Schuljunge aus Iowa sitzen und ließ sich vom Piloten den Schultergurt in den Beckengurt haken und das Ganze einrasten.

Dann bedankte sie sich höflich.

Robin Adair, die langbeinige Forschungsassistentin, schlüpfte anmutig auf den Rücksitz und schnallte sich an wie ein Profi. Dann wurde das Flugzeug aus dem Hangar geschoben.

Der Flugplatz der Forstbehörde befand sich am Ufer des Shagawa Lake, unweit der kleinen Stadt Ely. Im Sommer diente die Wasserfläche als Startbahn, im Winter bot sie eine Piste aus hartgefrorenem, schneebedecktem Eis, die in nordöstlicher Richtung verlief. Sie wurde von in kräftigen Farben gestrichenen Fischerhütten gesäumt, die kreuz und quer herumstanden und an einen bunt zusammengewürfelten Wohnwagenpark aus den 1940er-Jahren erinnerten.

In dem Versuch, die innere Gereiztheit niederzukämpfen, ließ Anna die Schönheit des Waldes auf sich wirken, als die Beaver von der Eisfläche abhob und eine Linkskurve in Richtung Michigan flog. Die Sonne schien grell, und der Tag war so klar, wie es nur im Norden möglich ist, wo der Frost jegliche Feuchtigkeit aus der Luft vertreibt. Die Sonne stand so tief am südlichen Himmel, dass schon mittags eine Art Abendstimmung herrschte. Ein durchscheinendes bernsteinfarbenes Licht lies die Konturen weich erscheinen, und die Nadelbäume an den Ufern der mit Schnee bedeckten Seen warfen Schatten, so spitz und schwarz wie Raubtierzähne auf einer Kinderzeichnung. Selbst aus einer Höhe von über siebenhundert Metern schimmerte jeder über die funkelnde weiße Fläche verlaufende Pfad blau.

Es knisterte in Annas Kopfhörer.

»Waren Sie schon einmal auf der Isle Royale?«, fragte die Stimme des Piloten.

»Einmal.« Anna konnte das sogar mit einer Narbe beweisen, einem achtzehn Zentimeter langen glänzenden Streifen, der quer über ihren Unterleib verlief. Sie schmerzte hin und wieder noch immer.

Wenn es kalt war.

»Haben Sie dort gearbeitet?«

Die Höhenluft schien den Mann gesprächig zu machen. Anna war er zwar schweigsam lieber gewesen, doch sie riss sich von dem Anblick der schwarzen Bäume und weißen Seen los, um Konversation zu betreiben.

»Vor zehn oder fünfzehn Jahren. Damals war ich Parkpolizistin in Windigo. Bootspatrouille.«

»Wahnsinn!«, rief der Pilot. »Damals war ich in der siebten Klasse«, fügte er hinzu, bevor Anna Gelegenheit hatte, sich in seiner Ehrfurcht zu sonnen.

So viel zum Thema »Eindruck schinden bei den Eingeborenen«.

»Haben Sie auch die Leute vom Heimatschutz hingeflogen?«, erkundigte sie sich, um das Thema zu wechseln.

Die »Leute vom Heimatschutz« waren aus Washington geschickt worden, um die Winterstudie zu bewerten. Seit fünfzig Jahren war die Isle Royale nun offiziell ein Labor der Technischen Universität von Michigan in Zusammenarbeit mit der Nationalen Parkaufsicht. Die Parkverwaltung stellte Gelder und Material zur Verfügung, während die Biologen die Anziehungskraft der Insel steigerten. Die Touristen verfolgten das Anwachsen und Abnehmen der Wolfspopulation nämlich so gespannt wie Seifenopernfans die Folgen ihrer Lieblingsserie. Der Großteil der weltweit verfügbaren Informationen über Wölfe stammte aus dieser Studie.

Zu ihrer Fortsetzung waren eigentlich nur zwei Voraussetzungen nötig. Fünfzigtausend Dollar im Jahr – ein Klacks für ein Forschungsprojekt dieser Größenordnung – und eine Sperrung der Insel für Touristen von Oktober bis Mai, wenn die Wölfe sich paarten und ihre Jungen zur Welt brachten.

Nun hatte das Ministerium für Heimatschutz beschlossen, die Sicherheitsstufe in allen Nationalparks in Grenznähe zu erhöhen, und wollte deshalb die Möglichkeit prüfen, den Park ganzjährig zu öffnen, um die Grenzen besser vor Terroristen zu schützen. Falls das seit einem halben Jahrhundert andauernde Projekt zur Erforschung der Wölfe und Elche inzwischen genügend relevante Daten ermittelt haben sollte, plante das Ministerium für Heimatschutz, die Untersuchungen einzustellen und die Insel Skilangläufern und Wintercampern zugänglich zu machen. Die Ferienanlage Rock Harbor im Ostufer würde dann für eine ganzjährige Nutzung ausgebaut werden. Außerdem sollte in Windigo ein kleines Hotel entstehen.

Die Wolfsforscher – Anna und die Saisonkräfte von der Nationalen Parkaufsicht – würden sechs Wochen lang mit den Mitarbeitern des Heimatschutzes, eigens eingestellten Experten von der American University in Washington, eine Blockhütte teilen.

Anna war verwundert, dass kein aufstrebender junger Fernsehproduzent viel Geld geboten und sich um die Filmrechte für diese Realityshow beworben hatte.

Das Mikrofon knackte.

»Es waren ein Mann und eine Frau«, sagte der Siebtklässler, der die Maschine flog. »Die Leute vom Heimatschutz, meine ich. Der Typ ist von Ridley Murray empfohlen worden. Fast eine Woche saßen sie in Ely fest, hingen den ganzen Tag beim Hangar herum und regten sich auf, weil wir nichts gegen die Wolkendecke tun konnten. Die Wolken reichten praktisch bis zum Boden.«

»Ich fasse es nicht, dass die Parkverwaltung Rolf so etwas antut«, ließ sich Robin vom Rücksitz vernehmen. Ihr stimmaktiviertes Mikrofon knisterte eher vor Wut als wegen der statischen Geräusche.

»Rolf Peterson ist in Rente«, erwiderte der Pilot.

»Aber Rolf und die Studie sind ein und dasselbe«, protestierte Robin.

Aus ihrem Engagement schloss Anna, dass sie sich wie viele der jungen Naturschützerinnen in den charismatischen Forscher verliebt hatte. Es war keine sexuelle Liebe, sondern eine romantische – in dem Sinne, dass sie später einmal so werden oder wenigstens das gleiche Leben führen wollten wie er. Eine Frau in Robins Alter – schätzungsweise zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig – hatte es sicher als Verrat empfunden, dass er in den Ruhestand gegangen war. Oder als plötzliches Ableben.

»Ridley wollte diesen Typen«, beharrte der Pilot.

»Ridley Murray war früher Rolfs Student.« Wieder war Robins Stimme, untermalt von Knistern, zu hören. »Das schien das kleinere Übel zu sein. Eigentlich wollte Ridley niemanden dort haben.«

Das Mikrofon blieb eingeschaltet, als verhindere ein unausgesprochener Gedanke, dass es ausging. Dann trat, unverkennbar, eine andere, lautlose Art von Ruhe ein. Kurz fragte sich Anna, wodurch sich die stumme, aber offene Leitung von dem absoluten Schweigen unterschied, das darauf folgte. Vielleicht war es wie ein Vergleich zwischen Stille und Taubheit, ein Gefühl, das tiefer ging, als das Hörvermögen und das einem sagte, dass man allein war.

Anna ließ die Einsamkeit auf sich wirken, während sie zusah, wie die gefrorene Landschaft unter den Tragflächen der Beaver dahinglitt.

Sie dachte an Paul. Nicht nur die Hitze von Mississippi hatte sie empfindsamer gemacht. Paul Davidson war die lebendige Wärmequelle ihres Lebens. Nach dem Tod ihres ersten Mannes Zack hatte Anna, ohne es selbst zu wissen, ihr Herz an einen kalten, verlassenen Ort verbannt. In ein Zwischenreich, in dem es weiterschlug wie das Herz eines winterstarren Frosches im Schlamm, bis der Frühling es wieder auftaute. Paul war ihr Frühling gewesen.

Nichts ließ sich mit der Wärme vergleichen, die sie in Pauls Armen empfand, nichts mit dem Schlaf, den sie genoss, wenn sie den Kopf an seine Schulter schmiegte. Er schenkte ihr eine Geborgenheit, die sie vor seiner Zeit nicht gekannt hatte. Die Liebe hatte sie offener gemacht, was gleichzeitig gefährlich und wunderschön war.

Seit vier Monaten waren sie verheiratet. Zehn Tage davon hatten sie zusammen verbracht.

Während Anna vom rechten Sitz der Beaver aus beobachtete, wie die Landschaft vorbeiglitt, sehnte sie sich mit einer Wucht nach ihm, die an Panik grenzte. Parkpolizistin war ein Beruf, kein Lebensstil. Die Einsamkeit eine freie Entscheidung, kein Zwang mehr. Sie musste sich zurückhalten, um den Piloten nicht anzuschreien, dass er umkehren sollte. Einen schrecklichen Moment lang erschien ihr ihre Karriere sinnlos, vergebliche Liebesmüh für wenig Gehalt, ein grausamer Scherz, der sie von ihrem Ehemann weggelockt hatte. Nur das Zusammensein mit Paul zählte. Um Selbstbeherrschung ringend, ballte sie die Fäuste. Doch in den dicken Daunenfäustlingen wurden nur zwei weiche Kugeln daraus.

Ein Geräusch in ihren Ohren sagte ihr, dass Erlösung in Form einer Ablenkung nahte. Robin ergriff wieder das Wort. Ihr zorniger Tonfall wirkte aufmunternd auf Anna.

»Ridley hat den Typen vom Heimatschutz aus einer Liste ausgewählt, die an die Parkverwaltung geschickt wurde. Allerdings muss der Verfasser dieser Liste eine ziemliche Niete sein.«

Eine Niete. Anna hatte inzwischen genug mit Forschungsprojekten zu tun gehabt, um zu erraten, dass damit jemand von der Nationalen Parkaufsicht gemeint war.

Wissenschaft und Verwaltung verband eine seltsame und gegenseitige Hassliebe. Vor vielen Jahren hatte die Parkaufsicht ihre eigenen Forschungsprojekte in den Parks aufgegeben und Wissenschaftler von außen damit beauftragt. Inzwischen betrachteten die Forscher die Parks als ihre Privatlabors und hielten die Mitarbeiter der Parkverwaltung bestenfalls für ein notwendiges Übel oder gar für lästige Dummköpfe. Eine Tendenz zur Betriebsblindheit gehörte für Wissenschaftler zum Berufsrisiko, sodass sie häufig nur noch für das Objekt ihrer Untersuchungen lebten. Was nicht zum Gelingen ihres Projekts beitrug, wurde mit Verachtung gestraft.

Die Studie zur Erforschung der Wölfe und Elche auf der Isle Royale beschäftigte nun schon seit Jahrzehnten dieselben Wissenschaftler, die Jahr für Jahr wiederkamen, sechs Wochen im Sommer und sechs im Winter.

»Befehl aus Washington. Terroristen.« Robin schnaubte höhnisch. Anna war überrascht, dass so ein zartes Näschen ein derart kräftiges Schnauben hervorbringen konnte. »Wenn sie aus dem Nahen Osten sind und sich mitten im Winter über die kanadische Grenze schleichen, um zur Insel zu rudern, werden sie sich ganz schnell ihre kleinen Terroristenärsche abfrieren.«

Befehl aus Washington.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hatte das Ministerium für Heimatschutz die Nationale Parkaufsicht regelrecht mit Geldern überschüttet. Alle hatten Luftsprünge gemacht und sich wie an Weihnachten gefühlt, bis sie feststellten, dass die Mittel ausschließlich für Sicherheitsmaßnahmen bestimmt waren. Während die Polizeikräfte die Muskeln spielen ließen, musste der Naturschutz in die zweite Reihe zurücktreten.

Inzwischen bestimmte Washington das Naturschutzthema des Jahres. Zeltlager von den Everglades bis nach Death Valley oder der Halbinsel Kenai standen unter dem Motto Umweltverschmutzung, gefährdete Tierarten oder Bioterrorismus – abhängig davon, was man in Washington eben für wichtig hielt. Ob die Menschen sich für das jeweilige Thema interessierten oder ob es zum Park passte, war nebensächlich.

Geldgeschenke gab es nämlich nie umsonst.

»Der See ist nicht zugefroren«, verkündete der Pilot.

Anna schaute genauer hin. Was sie für funkelndes Eis auf dem näher kommenden Lake Superior gehalten hatte, war Wasser.

In einem kälteren Winter als diesem waren damals einige Wölfe über das Eis aus Kanada gekommen und hatten sich auf der Insel häuslich eingerichtet. Dass der See von der Isle Royale bis zur kanadischen Seite zufror, kam jedoch selten vor und war seit über dreißig Jahren nicht mehr geschehen.

Anna beobachtete, wie das Land unter den Tragflächen von Wasser abgelöst wurde. Die Isle Royale erschien am Horizont. In ihrer Freude, die Insel aus der Luft zu sehen, vergaß sie Paul, die Kälte und die Feindseligkeit der Erdenmenschen.

Washington Harbor hieß sie willkommen. Die Maschine flog tief und langsam. Das schillernde Blau und Bernsteingelb des Himmels spiegelten sich im Wasser, das zwischen schmalen Inselchen aus immergrünen, im Schatten schwarz wirkenden Pflanzen floss. Blau verwandelte sich in Weiß, wo die Eisschollen, die sich im flachen Wasser gebildet hatten, Beaver Island umgaben wie eine Halskette aus Diamanten. Auf Höhe der Baumwipfel und dicht am Ufer, um den schlimmsten Seitenwinden auszuweichen, steuerte der Pilot eine weiße Fläche zwischen der winzigen Hafeninsel und den Docks von Windigo an.

Die wöchentliche Ankunft von Proviant und Menschen aus der Welt draußen war offenbar ein großes Ereignis. Ein Schneemobil, umringt von vier Personen, die in ihren vielen Schichten warmer Kleidung aussahen wie prall gefüllte Wäschesäcke, parkte auf dem Eis östlich vom Bootssteg. Während sich das Flugzeug anmutig aus dem Himmel herabsenkte, drehte eines der Kleiderbündel sich um, ließ die Thermohose herunter und zeigte ihnen trotz der eisigen Temperaturen den nackten blassen Hintern. Anna lachte. Der Pilot achtete nicht darauf.

Als die Propeller stoppten und bärtige Gesichter, umrahmt von pelzgesäumten Kapuzen, zu ihnen hinaufblickten, musste Anna an die erste Begegnung der Cro-Magnon-Menschen mit dem eisernen Göttervogel denken.

Der Pilot schaltete den Motor ab, öffnete seinen Sicherheitsgurt und rutschte vom linken Sitz. Robin Adair schwebte, leicht wie eine Flocke in einer Schneekugel, vom rechten Sitz auf das Eis des Hafens. Nachdem Anna ihren Sicherheitsgurt trotz der Fäustlinge geöffnet hatte, setzte sie vorsichtig einen klobigen Stiefel vor den anderen, zwängte ihr gepolstertes Hinterteil durch die Tür und kletterte unbeholfen die winzigen Stufen am Radkasten hinunter. Neunzig Minuten Herumsitzen in der Kälte hatte nicht unbedingt zu ihrer Gelenkigkeit beigetragen, weshalb sie auf den Boden plumpste wie ein in die Tonne geworfener Müllsack.

Ein rasiermesserscharfer, gnadenloser Wind peitschte ihre Wangen, als sie sich zu dem aus Höhlenmenschen bestehenden Empfangskomitee umdrehte. Doch vor ihr erhob sich nur eine Wand aus in Parkas gehüllten Rücken.

»Heiliger Strohsack«, durchschnitt Robins Stimme die flirrende Stille. Sie sprach in dem gepressten Flüsterton eines Außerirdischen, der sein Mutterschiff entdeckt hat. Anna watschelte zum Ende der Mauer aus Menschen und Gänsedaunen. Jenseits der dicht stehenden, dunklen Bäume zappelte eine riesige schwarze Gestalt.

»Ein Windigo«, hauchte Robin.

Die Legende der Ojibwa, niedergeschrieben von Algernon Blackwood, die man sich am Lagerfeuer erzählte, um die Besucher des Parks zu Tode zu ängstigen, fiel Anna wieder ein. Ein Windigo war ein wildes und gefährliches Ungeheuer, das am nördlichen Ufer des Sees lebte, wo niemand die Schreie seiner gemarterten Opfer hören konnte, und sich vom Fleisch und den Seelen der Menschen ernährte.

Obwohl Anna eigentlich nicht abergläubisch war, hatte ihr die Geschichte in dem Sommer, den sie auf der Insel verbracht hatte, einige schlaflose Nächte bereitet. Robins bleiches, vor Angst verzerrtes Gesicht und ihr entsetzter Tonfall erinnerte sie wieder daran.

Die Gestalt zwischen den Bäumen war riesig und bewegte sich ruckartig, als litte sie Schmerzen. Sie schien auf unnatürliche Weise zu wachsen und zu schrumpfen, und Anna brauchte einige angespannte Momente, um zu bemerken, dass sie nicht in übernatürlichen Sphären schwebte, sondern immer wieder auf die Knie sank und sich mühsam aufrappelte. Schließlich kam sie aus dem schützenden Wald auf den zugefrorenen See getaumelt. Die Hufe klapperten laut auf den vereisten Steinen.

»Vorsicht«, sagte einer der bärtigen Männer. »Nicht alle Elche sind harmlos.«

Anna hielt sich wegen des grellen Lichts schützend die Hand vor Augen. Wo eigentlich das Geweih des Elches hätte sein müssen, befanden sich nur seltsam verkrümmte Hörner, bedeckt von kränklich wirkendem Fleisch und hühnereigroßen Eiterbeulen. Sie waren über zwanzig Zentimeter lang und wuchsen aus einer krebsgeschwürartigen, wild wuchernden Knochenmasse.

Das gewaltige Tier schwenkte den Kopf, als ob sich die deformierten Hörner tief in sein Gehirn bohrten und ihm den Verstand raubten, und kam weiter auf sie zu getorkelt. In dem weißen, vom Eis reflektierten Licht sahen die grotesken Auswüchse fleischig und lebendig aus.

Etwa sechzig Meter vor ihnen sank der Elch auf die Knie. Tiefer Schmerz stand in seinen dunklen Augen, als er den massigen Schädel hob und ein klagendes Blöken ausstieß wie ein neugeborenes Lamm. Dann kippte sein Kopf aufs Eis und regte sich nicht mehr.

Wenn in einem Science-Fiction-Film eine unbekannte Krankheit auf die Menschheit losgelassen wird, äußert sie sich unweigerlich in Form von Geschwüren, die durch kein Naturgesetz aufzuhalten sind. Es sind Warzen und Tumore, die jeden Maskenbildner in Verzückung versetzen. Dieser Windigo war genauso entstellt wie ein Hollywoodkomparse, nur dass er keine achtzig Dollar pro Tag dafür bekam.

»Was fehlt ihm?« Anna war selbst erstaunt über ihren zornigen Tonfall.

»Es kommt zwar nur selten vor, passiert aber manchmal, wenn ein alter, unterernährter Bulle nicht mehr genug Kraft hat, um sich für die nächste Brunftzeit ein neues Geweih wachsen zu lassen«, erwiderte der Jüngste der Bartträger. »Zumindest halten wir das für die Erklärung. Die Ojibwa dachten, diese Elche seien dem Windigo zum Opfer gefallen und deshalb vom Bösen besessen.«

»Wir sollten ihn von seinen Leiden erlösen«, meinte der Größte und Kräftigste der Cro-Magnons.

Der freudig erregte Unterton in seiner Stimme machte Anna fast ebenso zu schaffen wie das in sich zusammengesunkene Ungetüm auf dem Eis.

Kapitel 2

»Ich bin Ridley Murray«, verkündete der Mann, der die Ursache des verkrüppelten Geweihs erläutert hatte. Anna konnte nur haselnussbraune Augen mit langen dunklen Wimpern erkennen.

Seine Stimme klang eher nach Alt als nach Tenor, hörte sich jedoch nicht schwach oder weibisch, sondern eher sanft an. Anna fand ihn auf Anhieb sympathisch, was für sie stets ein Alarmzeichen war. Menschenkenntnis gehörte nämlich nicht zu ihren Stärken.

»Ich bin der Leiter des Forschungsprojekts«, fuhr er fort. »Das hier«, er wies auf den großen Mann, der den Wunsch geäußert hatte, den Windigo-Elch zu töten, »ist Bob Menechinn vom Ministerium für Heimatschutz.«

Ridleys Stimme war dabei so ausdruckslos, dass man es fast schon als beleidigend werten konnte. Aber nur fast.

»Nett, Sie kennenzulernen«, sagte Bob und hielt Anna die Hand hin. Er erinnerte sie an den Schauspieler John Goodman.

Auch ohne Daunenparka war er kräftig gebaut, gut eins achtzig groß und hatte ein fleischiges, ausdrucksfähiges Gesicht wie Goodman, der seine Züge je nach den Anforderungen der Rolle gütig oder aufgedunsen und bösartig wirken lassen konnte.

»Anna Pigeon vom Rocky Mountain Nationalpark«, erwiderte Anna.

»Er ist tot«, rief Robin.

Während sich alle einander vorstellten, war sie rasch und behände über das Eis zu dem Elch hinübergerutscht. Der vierte Cro-Magnon begleitete sie.

»Adam, könntest du die Kamera und eine Axt holen?«, fragte Ridley einen schlaksigen Burschen, gehüllt in die heruntergekommenste Winterbekleidung, die Anna je gesehen hatte.

Sein Parka, früher vermutlich khakifarben wie eine Militäruniform, war mit so vielen verschiedenen Substanzen beschmiert, dass man die Originalfarbe nur noch unter der Abdeckung des Reißverschlusses erkennen konnte. Selbst das reißfeste Nylon hatte nichts gegen das Eindringen scharfkantiger Gegenstände ausrichten können, sodass überall an Ärmeln und Torso die Daunen herausquollen. Die Manschetten erweckten den Eindruck, als wären sie in einen Aktenvernichter geraten.

»Wird gemacht«, antwortete Adam und trottete – eine Vogelscheuche in einem arktischen Land Oz – mit seltsam schlenkernden Gelenken und vollkommen geradem Rücken auf das Schneemobil zu.

Anna, Bob und Ridley schlurften über das Eis zu Robin und dem toten Windigo hinüber.

Robin war neben dem Kadaver in die Knie gegangen. Ridley fasste den Mann, den Anna noch nicht kennengelernt hatte, an der Schulter.

»Das ist ...«

»Der einzige geistig zurechnungsfähige und der bei weitem am besten aussehende Mann auf dieser Insel.« Der Mann schlug die Kapuze zurück, als wolle er Anna seine Schönheit präsentieren.

Sein Haar war schneeweiß. Dort wo die Kapuze es nicht plattgedrückt hatte, sträubte es sich in alle Richtungen. Sein kurz geschorener, ebenfalls weißer Bart schien zu leuchten. Seine Augen waren hinter der reflektierenden runden Nickelbrille nicht zu erkennen.

»Robin ist schon seit zwei Jahren hinter mir her«, fuhr der geistig zurechnungsfähige und gut aussehende Mann fort. Beim Lächeln zeigte er kleine, gerade Zähne, die zu einem niedlichen Kind oder einem Dachs gepasst hätten. »Aber die arme Kleine musste sich mit – wie war doch gleich sein Name? – zufriedengeben, richtig, Robin?«

»Gavin«, erwiderte Robin.

Anna konnte nicht sagen, ob sie sich von diesem pseudoerotischen Geplänkel geschmeichelt oder gelangweilt fühlte. Jedenfalls schien sie daran gewöhnt zu sein.

»Genau, Gavin, ein oberflächlicher Bursche und groß genug, um mein Vater zu sein. Jonah Schumann, zu Ihren Diensten«, wandte Jonah sich an Anna.

Ridley Murray schien es nicht zu stören, dass Jonah ihm ins Wort fiel und ihn zum bestenfalls zweitschönsten Mann auf der Isle Royale degradierte. Stattdessen betrachtete er ihn mit einem nachsichtigen Lächeln auf den Lippen, als hätte er seinen Lieblingsonkel vor sich.

»Möchtest du ihr erklären, was es mit dem Geweih auf sich hat, Jonah?«, meinte Ridley.

Jonah lehnte das Angebot mit anmutig geneigtem Kopf dankend ab.

»Wir wollen lieber sehen, ob du etwas von mir gelernt hast«, erwiderte er.

»Die Geweihe wachsen während des Sommers, um in der Brunftzeit im Winter die Weibchen zu beeindrucken«, sagte Ridley zu Anna. »Sie kosten das Tier sehr viel Kraft, denn sie verschlingen Unmengen von Nahrung, Mineralien und Energie.«

»Die Größe spielt also doch eine Rolle«, unterbrach Jonah mit feierlicher Miene.

Ridley lachte.

»Ältere Elche oder Männchen, die wegen eines extrem kalten Winters oder aus Nahrungsmangel zu erschöpft sind, stecken ihre letzten Kraftreserven in ihr Geweih. Wenn sie es schaffen, kriegen sie noch einmal eine ab, aber im nächsten Winter sterben sie für gewöhnlich.«

Anna dachte an alte Männer und ihre Sportwagen, war aber so klug, den Mund zu halten.

»Dieses Phänomen nennt man Perückenbildung. Aber so ein extremer Fall ist mir noch nie untergekommen. Wir müssen ihn unbedingt fotografieren. Ich habe das niemals in Natura gesehen, nur auf Abbildungen.«

»Alles, was er weiß, hat er aus meinem Buch über die lichtbedingten Verhaltensänderungen der Köcherfliege bei Huftieren«, verkündete Jonah feierlich.

Den Rücken hochmütig aufgerichtet – ein Hinweis auf Arroganz oder chronische Rückenschmerzen – kauerte sich Bob Menechinn neben den Kopf des Tieres. Als er kurz das Gleichgewicht verlor, hielt er sich an dem verkrümmten Geweih fest. Ridley zuckte zusammen.

»Vorsicht mit dem Geweih, Bob«, meinte er ruhig.

»Mann, da sind wir wirklich auf Gold gestoßen. Schaut nur«, rief die Forschungsassistentin und nahm einen Plastikbeutel aus dem Armeerucksack, den sie aus dem Flugzeug mitgebracht hatte. »Zecken. Der alte Bursche war buchstäblich ausgesaugt. Wie viele sind es deiner Ansicht nach?«, fragte sie Ridley.

Er untersuchte den Kadaver. Der Elch war so unterernährt, dass seine Rippen hervorstachen. Die Flanken waren eingesackt, und die Haut wies kahle Stellen auf, wo er sich an Bäumen gescheuert hatte, um die winterlichen Plagegeister loszuwerden.

»Herrje, mindestens fünfzigtausend, wenn nicht gar sechzig«, schätzte Ridley. »Wäre der alte Junge doch lieber als Blutspender zum Roten Kreuz gegangen.«

Robin zupfte ein dickes Haarbüschel aus. An den Haarwurzeln hing ein halbes Dutzend dicker Zecken, die sie in dem Plastikbeutel verstaute.

Dann steckte sie das Ganze in ihren Rucksack. Anna hoffte, dass es sich bei dem Beutel um einen teuren mit Doppelverschluss handelte.

Keiner sprach ein Wort, und das Schweigen senkte sich wie Schnee auf die kleine Gruppe. Das Geräusch, das gleichzeitig nah und weit entfernt klang, durchbrach die Stille nicht, sondern fügte sich eher in sie ein. Es war der Ruf eines Grauwals viele Meter unter ihnen im Wasser. Anna warf Robin einen Blick zu, um festzustellen, ob sie es auch gehört hatte. Das war eine Angewohnheit von ihr, übrig geblieben aus der schlechten alten Zeit, als sie nach einem üblen LSD-Trip jahrelang darauf achtete, eine seltsame Wahrnehmung niemals zuerst zu erwähnen, nur für den Fall, dass sie außer ihr keiner bemerkt hatte. Eigentlich hatte sie geglaubt, diese Marotte hätte sich inzwischen gelegt. Doch offenbar war sie in dieser eigenartigen schwarzweißen Welt, bevölkert von Windigos und Cro-Magnons, zurückgekehrt.

Die Kälte war so beißend und gnadenlos, als hätte sie es persönlich auf einen abgesehen.

Als Anna die Hände in die Taschen stecken wollte, stellte sie fest, dass sie wegen der dicken Fäustlinge nicht hineinpassten.

»Das Eis singt«, meinte Robin. »Es ist ständig in Bewegung und verschiebt sich. Manchmal knallt es auch wie ein Schuss. Es macht alle möglichen Geräusche.«

Anna versuchte, nicht darauf zu achten, dass Väterchen Frost ihre Knochen benagte, und öffnete sich der Musik – einem Gewirr aus Instrumenten, die erst noch erfunden werden mussten, hallende Lauten, gedämpfte Trommeln, das Trillern von stimmbandlosen Vögeln, kaum hörbar, als würde es auf einer anderen Wellenlänge ans Gehirn übertragen. In Texas sang der Wind ganz ähnlich, wenn man sich inmitten der richtigen Felsformationen befand. Die unverfälschte Musik der Erde. Anna glaubte, sie würde die ganze Wahrheit erfahren, wenn sie nur lange und angestrengt genug hinhörte.

Doch ehe die Erleuchtung sich eingestellt hatte, näherte sich quietschend das Schneemobil vom Blockhaus auf dem Hügel. Es zog einen Anhänger hinter sich her – eine sarggroße Aluminiumkiste mit Deckel und auf Kufen. Das Fahrzeug raste über den See und blieb neben der Leiche des Elchs stehen.

»Adam Peck«, sagte Ridley, als der Fahrer den Motor abschaltete. »Er hat unser Begrüßungskomitee verpasst.«

»Hallo«, meinte Adam freundlich.

Anna schätzte ihn auf Anfang Vierzig. Als er zum Sprechen den Schal herunterzog, stellte sie fest, dass er keinen Vollbart, sondern einen dichten Schnurrbart trug, wie man ihn eigentlich nur noch auf Bildern aus dem Bürgerkrieg sah.

Zackig sprang er vom Schneemobil und öffnete den Anhänger.

»Kamera«, verkündete er in dem Ton, in dem eine OP-Schwester ein Skalpell forderte.

Robin begann, den Elch von allen Seiten zu fotografieren. Währenddessen fachsimpelten die anderen wie das Publikum bei einer Kuriositätenschau und erörterten die merkwürdige Form des Geweihs, die Anzahl der Zecken und die Hinweise auf Unterernährung.

Wegen des Hungers der Elche war die Balsamtanne, ihre Lieblingsspeise im Winter, inzwischen fast von der Insel verschwunden, sodass die einst gewaltige Herde – bei Annas letztem Aufenthalt auf der Isle Royale hatte sie fast fünfzehnhundert Köpfe gezählt – auf etwa dreihundert Tiere geschrumpft war.

»Werden die Wölfe durch den Hunger aggressiver?«, fragte Menechinn.

Er hatte die ganze Prozedur beobachtet, die Arme vor der Brust verschränkt und das Kinn im Schal vergraben.

»Werden sie«, erwiderte Robin.

»Ich habe noch nie einen Zusammenhang zwischen der Aggressivität bei Wölfen mit der Nahrungsversorgung erlebt«, widersprach Ridley. »Es geht meistens um Paarung und Revierkämpfe.«

»Aber es gibt immer ein erstes Mal«, ergriff Adam Partei für die Forschungsassistentin.

Ridley zuckte die Achseln.

»Bist du bereit für die Axt?«, fragte er Robin. »Wir müssen den Kopf mitnehmen«, erklärte er Anna. »Er ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die Perückenbildung, und wenn wir ihn liegen lassen, holen ihn sich die wilden Tiere.«

Offenbar hatte sich die gute Nachricht von dem Todesfall bereits bei den Raben herumgesprochen, die mit pechschwarzen Schwingen am fahlen Himmel schwebten.

»Geben Sie her.« Bob Menechinn streckte die Hand nach der Axt aus. »Ich erledige das. Mann, so etwas wäre doch ein toller Wandschmuck.«

»Alles zurücktreten«, rief Ridley warnend, ohne auf das Angebot einzugehen. »Das wird eine ziemliche Sauerei.«

Ridley war nicht viel größer als Anna, vielleicht eins siebzig und zierlich gebaut. Doch er schwang die Axt wie ein Mann, der es gewohnt ist, Brennholz zu hacken, holte in einem weiten Bogen über die Schulter aus und brachte die Kraft seiner Beine hinter den Schlag.

Die Klinge der Axt grub sich in das Fleisch und die Knochen hinter den Lauschern des Elchs.

Eigentlich hatte Anna es sich so vorgestellt wie eine Hinrichtung mit der Guillotine im Film. Ein einziger Schlag, und schon war der Kopf vom Körper getrennt. Nur, dass er wegen des Geweihs und der langen, knollenförmigen Schnauze nicht wegrollen konnte. Elche waren offenbar weder für ein Leben in Schönheit noch für einen würdevollen Tod geschaffen.

Ridley stützte den Stiefel auf den dicken Hals und zerrte an der Axt. Als diese sich mit einem schmatzenden Geräusch löste, verteilte sich das Blut auf dem Eis wie ein Schwarm von Kardinalen.

Der Kopf sackte zur Seite. Große dunkle Augen starrten nach oben. Der Hingerichtete beobachtete, wie der Henker sein Werk vermasselte.

»Er sieht irgendwie bekifft aus.« Bob lachte. »Oder ist es eine Sie?«

Ridleys Axt traf das Tier zwischen den Augen.

»Verdammt«, stieß er leise hervor, holte tief Luft, schwang noch einmal die Axt und trennte den Kopf vom Körper. Nur ein zwanzig Zentimeter breiter Hautstreifen hing noch daran, doch Adam durchtrennte ihn rasch mit einem Messer, das er aus den Tiefen seiner zerlumpten Kleidung zutage förderte.

Noch ehe sie den Kopf des Elches in eine Plane gewickelt hatten, landeten schon die ersten Raben und hüpften schimpfend hin und her, da ihr Festmahl kalt wurde. Einige besonders Mutige stürzten sich auf die offene Wunde am Hals, die wegen der fehlenden festen Haut leicht zugänglich war. Bald würde sich das verschiedenste Kleingetier an dem Kadaver gütlich tun, eine reichhaltige Mahlzeit, die ihnen die Kraft geben würde, bis zum Sommer durchzuhalten, wenn auf der Insel wieder Überfluss herrschte.

Nachdem der abgetrennte Kopf in schwarzes Plastik verpackt und im Anhänger des Schneemobils verstaut war, stapften Anna und die anderen zurück zur Beaver und luden Ausrüstungsgegenstände und Proviant aus. Wegen der Größe des Kopfes und der seltsamen Form des Geweihs ließ sich der Deckel des Anhängers nicht mehr richtig schließen. Auf dem Weg zum Blockhaus fuhr Adam, Bob saß hinter ihm, und Ridley stand breitbeinig auf den Kufen wie ein Schlittenlenker, der ein motorisiertes Gespann steuerte.

Das Flugzeug der Forstverwaltung startete, hob erstaunlich schnell vom Boden ab und verschwand auf der anderen Seite von Beaver Island, während der Pilot die Länge von Washington Harbor ausnützte, um für die Rückkehr nach Ely ausreichend Flughöhe zu gewinnen.

Das verklingende Geräusch der Verbrennungsmotoren wirkte gleichzeitig unpassend und war eine beruhigende Erinnerung daran, dass die Mannschaft der Winterstudie nicht zur Zeit der Mastodons auf der vereisten Insel gestrandet war. Anna hätte gern noch einmal dem Singen des Eises gelauscht, doch bis auf das Kreischen der Raben war nichts zu hören.

Eine Weile standen sie, Robin und Jonah schweigend da und blickten dem Flugzeug nach. Dann machten sie gleichzeitig kehrt wie ein Vogelschwarm, der einem gemeinsamen Instinkt gehorcht, und folgten der Spur des Schneemobils. Behindert durch die dicke Kleidung und unsicher auf dem rutschigen Boden, fühlte Anna sich wie ein Kind, das Laufen lernt. Robin glitt anmutig im Zweierschritt dahin, ohne dass ihre weichen Fellstiefel den Boden verließen.

Auf halbem Wege zurück zum Dock stand eine sogenannte Supercub vertäut, ein zweisitziges Flugzeug mit stoffbespannten Tragflächen, wie es vor dem Zweiten Weltkrieg für Erkundungsflüge, Rettungseinsätze, zur Jagd und bei sonstigen Gelegenheiten benutzt worden war, die es nötig machten, tief und langsam zu fliegen und überall landen zu können, wo der Mut des Piloten es zuließ. Es handelte sich um ein klassisches Modell, bis hin zu dem auf das Heck gemalten dicken braunen Teddybären. Im Moment war es mit Kufen ausgestattet, die man im Sommer mit Rädern vertauschen würde. Mit Vierkanteisen verbundene Seile führten durch ins Eis geschlagene Löcher. Da diese wieder zugefroren waren, war das Flugzeug so gut gesichert wie mit in Beton eingelassenen Haken.

»Sie bewundern gerade mein Flugzeug«, verkündete Jonah. »Wenn Sie es zuerst auf die Nase küssen, dürfen Sie es streicheln.«

Jonah war der Pilot des Forscherteams.

Alt, dachte Anna. Hintern, war ihr zweiter Gedanke, als ihr klar wurde, dass es Jonahs blasser alter Po gewesen war, der bei der Ankunft der Beaver der eiskalten Luft getrotzt hatte.

Da sich das Licht nicht mehr in seinen Brillengläsern spiegelte, erkannte Anna die hellblausten Augen, die sie je gesehen hatte. Sie hatten die Farbe des Himmels, wenn er von zarten Schleierwolken überzogen war. Vermutlich lag das an dem jahrelangen Starren durch die Frontscheiben von Flugzeugen. Sie schätzte Jonah Schumann auf zwischen siebzig und fünfundsiebzig.

Offenbar merkte er ihr an, dass sie nachrechnete. »Normalerweise verrate ich fremden Leuten nichts über meine Freundin hier«, meinte er. »Denn das könnte sie traumatisieren. Das alte Mädchen dürfte inzwischen um die fünfzig sein und freut sich sicher über die Gesellschaft einer Altersgenossin.« Das Funkeln in seinen Augen strafte seinen ernsten Ton Lügen.

Anna lachte, und ihr fiel ein, dass sie sich noch gar nicht vorgestellt hatte.

»Anna Pigeon vom Rocky Mountain Nationalpark.« Automatisch hielten sie sich die Hand hin, doch wegen der Fäustlinge und der dicken Handschuhe erinnerte es eher an zwei Bären, die mit den Tatzen nacheinander schlagen.

»Hübscher Hintern«, meinte Anna.

»Danke«, erwiderte Jonah feierlich. »Das haben mir schon viele Frauen und auch einige Männer gesagt. Meine Verlobte kennen Sie ja schon.«

Er betrachtete Robin, deren hübsches, ebenmäßiges Gesicht von langem, glattem, braunem Haar eingerahmt wurde. Anna trug eine Sturmhaube und hatte die Kordel so fest zugezogen, dass nur Augen und Nase zu sehen waren. Außerdem hatte sie einen breiten, dicken Schal umgewickelt, damit die Kälte ihr nicht unter den Kragen des Parkas kroch. Robins einziges Zugeständnis an die Temperaturen war eine oben spitz zulaufende Wollmütze mit albernen Ohrklappen.

»Das hättest du wohl gern, Jonah«, entgegnete sie.

»Sie ist nur schüchtern«, gab er zurück. »Es ist ihr peinlich, dass sie mich nur aus sexuellen Gründen heiraten will.«

Robin drehte sich um und blickte landeinwärts.

»Ich nehme den Lehrpfad«, sagte sie. »Ich muss nach der Wetterstation schauen.« Mit diesen Worten hüpfte sie in ihrer viel zu leichten Kleidung gelenkig davon.

Anna erinnerte sich an die Zeit, in der sie zwanzig gewesen war, wie an eine Hitzewelle: Die schmeichelhaften, allerdings durch die ständige Wiederholung irgendwann anstrengenden sexuellen Anspielungen und Witze. Das Erwähnen von Körperteilen, die verstohlenen Blicke und die Zweideutigkeiten. Eigentlich hatte sie gedacht, dass diese Unsitte dem Tsunami aus Gerichtsverfahren und politischer Korrektheit in den 1990-ern zum Opfer gefallen sei. Aber vielleicht hatte sie sich nur in den Untergrund zurückgezogen und würde erst aussterben, wenn jeder Mann ihrer und der vorangegangenen Generation die Radieschen von unten betrachtete.

Sie stapfte mit Jonah auf das Dock und sein kleines Flugzeug zu. Rechts davon auf dem Eis erhob sich ein hüfthoher Schneehaufen, in dem eine Schaufel steckte.

»Eisfischen?«, fragte sie. »Ohne Fischerhütte eine ziemlich unangenehme Beschäftigung. Ich hoffe, die Teilnahme ist freiwillig.«

»Das ist unsere Quelle«, erwiderte Jonah. »Verdammter Mist!« Er rannte zu dem ins Eis geschlagenen Loch. »Der kleine Dreckskerl will uns vergiften. Das hat er schon einmal getan.«

Jonah griff nach der Schaufel. Neben dem Schneehaufen war ein kleiner gelber Fleck zu sehen.

»Ein Fuchs«, erklärte Jonah. »Ein frecher Pinkler von einem Rotfuchs, der von seiner Mutter nicht richtig erzogen worden ist.«

Vorsichtig nahm er den verschmutzten Schnee mit der Schaufel auf und warf ihn weg, so weit er konnte.

»Dieses kleine Fellknäuel hat es in sich. Vor einer Weile ist ein Tropfen seines Urins in die Quelle geraten. Ein einziger Tropfen. Unser Wasser hat zwei Tage lang nach Fuchs gestunken.«

»Er verteidigt sein Revier«, stellte Anna fest.

»Wie tolerant von Ihnen, Wildhüterin Pigeon. Warten Sie nur, bis Sie Ihr erstes Tässchen Kaffee mit Fuchspisse trinken.«

Schimpfend begann er, mit der Schaufel zu hantieren wie mit einem gewaltigen Skalpell und gelbe Flecken auszustechen. Anna blickte zurück zu dem Elchkadaver auf dem Eis. Aus der Blutlache, wo der Kopf gelegen hatte, flossen drei Rinnsale. Sie empfand den Anblick weder als grausig noch abstoßend. Die Raben waren so schwarz, dass sie wie Scherenschnitte auf dem funkelnd weißen Schnee wirkten. Das Blut hatte noch eine lebendige kirschrote Farbe. Im Hintergrund hoben sich die pechschwarzen Umrisse der kahlen Bäume vom blauen Himmel ab. Die in ihrer Schlichtheit beeindruckende Szene erinnerte Anna an ein japanisches Gemälde, das sie einmal gesehen hatte: Tod eines Samurai.

»Was werden Sie wegen des Kadavers unternehmen?«, erkundigte sie sich.

Jonah stieß die Schaufel in den Schneehaufen.

»Nichts. Wir könnten auch nichts tun, selbst wenn wir es wollten. Bevor die Tierschützer mobilgemacht haben, haben wir einen Elch pro Winter geschossen. Die Wölfe vom mittleren Rudel haben es immer gemerkt und sind sofort hier erschienen. Dann wurden eines Tages die Vorschriften geändert, aber die Wölfe kamen trotzdem zur selben Zeit, als ob ihre innere Uhr ihnen sagte, wann der Elch serviert wird. Doch da es kein Elchfleisch mehr gab, ließen sie sich nicht wieder blicken. Keine Ahnung, woher sie das wussten.«

»Meinen Sie, sie wissen auch von diesem Kadaver?«

»Sehen Sie diesen Raben da?« Jonah wies auf einen pechschwarzen Vogel, der auf die Westseite des Hafens zuflog. »Er wird der Meute mitteilen, dass es Zeit zum Essenfassen ist.«

Anna glaubte ihm aufs Wort. Nach der jahrelangen Erfahrung mit Tieren war ihr klar, dass der Mensch zwar das Gewicht des Jupiters oder die Herkunft der Sterne kannte, aber keine Ahnung davon hatte, was die Katze auf seinem Schoß dachte oder wem sein Hund seine Geheimnisse anvertraute.

Als sie hörten, dass das Schneemobil zurückkehrte, stapften sie, unbeholfen in ihrer warmen Kleidung, darauf zu.

»Wir füllen die Wasserkanister auf und fahren zum Haus«, sagte Jonah. »Wollen Sie sicher nicht mit?«

»Nein.« Da sie nun nicht mehr von toten Huftieren und Fuchspisse abgelenkt war, fiel ihr wieder auf, wie kalt ihr war. Wenn sie sich nicht bald bewegte, würde sie an Ort und Stelle festfrieren.

»Bleiben Sie weg vom Dock«, rief Jonah ihr nach. »Das Eis ist dort recht brüchig.«

Anna winkte ihm zu, um ihm mitzuteilen, dass sie verstanden hatte. Obwohl sie das Singen des Wassers mochte und fand, dass die Eisfläche einen wundervollen Hintergrund für das Arrangement aus Blut und Vögeln bildete, wollte sie so rasch wie möglich festen Boden unter die Füße bekommen. Der Gedanke, bei diesen Minustemperaturen und im eisigen Wind nass zu werden, war ziemlich beängstigend. Mit den thermodynamischen Gesetzen konnte man nicht verhandeln.

Kapitel 3

Die Uferböschung hinaufstapfend, fühlte Anna sich wie eine Alleinunterhalterin. Der Schnee, den der Wind nicht beiseitegefegt hatte, war so trocken, dass er unter ihren Stiefeln nicht knirschte, sondern quietschte wie Styroporkugeln. Fell und Fleece rauschten in ihren Ohren, und ihre Skihose aus Nylon zirpte bei jedem Schritt wie eine Zikade. Der Radau ließ sie an Robin Adair und ihre Liebe zum Winter denken.

Sie und Robin hatten einige Stunden damit verbracht, zusammen zu frühstücken und die Zeit totzuschlagen, bis der Pilot der Forstverwaltung endlich den Anruf erhielt, die Wolken über der Isle Royale hätten sich verzogen. Obwohl Ely und Washington Harbor auf demselben Breitengrad und nur zweihundert Kilometer voneinander entfernt lagen, schuf der See seine eigenen Wetterverhältnisse, sodass häufig völlig andere Bedingungen herrschten als auf dem Festland.

Bei Eiern mit Speck hatte Anna erfahren, dass Robin am St. Croix River in Minnesota aufgewachsen war. Wäre da nicht eine Knieverletzung gewesen, hätte die Langlauf-Olympiamannschaft sie aufgenommen. Von klein auf hatte Robin den Winter gemocht. Er war ihre Lieblingsjahreszeit. Entweder floss Frostschutzmittel in ihren Adern, oder die Kälte ließ sich von ihrer zarten Schönheit erweichen und erwiderte ihre Zuneigung. Wie sonst ließ sich erklären, dass sie als Einzige ohne überdimensionale Daunenjacke zurechtkam und sich wie eine Elfe – oder eine Indianerin – durch die nördlichen Wälder bewegte.

Bei Anna hingegen war jeder Schritt ein Akt der Ruhestörung.

Wo der Steg am Ufer endete, blieb sie stehen. Der damalige Stützpunkt der Parkpolizei stand nicht mehr. An seiner Stelle hatte man einen Picknickbereich eingerichtet, der den Charme einer Fertiggarage verbreitete. Anna vermisste die alte, provisorisch zusammengezimmerte Hütte, obwohl sie viel zu eng, schmutzig und von Mäusen bevölkert gewesen war. Nationalparks durften sich nicht verändern, sondern mussten Erinnerungen an schönere Zeiten erhalten und bleiben, wie sie waren. Hier schüttete niemand einen Bach zu, in dem man früher Flusskrebse gefangen hatte, oder fällte eine Schatten spendende Eiche, um einen riesigen Supermarkt zu bauen.

Die ungeteerte Straße verlief in einer Kurve nach Westen, vorbei am Treibstofflager und zu den Unterkünften der Saisonmitarbeiter. So war es wenigstens damals gewesen. Nur dass jemand inzwischen vier riesige orangefarbene Treibstofftanks an der Wegbiegung aufgestellt hatte.

Sie waren gewaltig.

Und orange!

Anna beschloss, den Weg durch den Wald zu nehmen.

Zwanzig Meter weiter sah sie, was aus der alten Nationalparkstation geworden war. Man hatte sie durch ein viel größeres Gebäude ersetzt, das auch ein Besucherzentrum beherbergte.

Trotz ihrer schlechten Laune wegen der Kälte fand Anna nichts daran auszusetzen. Die Architektur war geschmackvoll, und schließlich kamen im Sommer täglich Bootsladungen von Touristen aus Grand Marais herüber. Nun hatten die Armen bei Regen wenigstens eine Möglichkeit, sich unterzustellen, anstatt am Bootssteg zu sitzen und vergeblich zu versuchen, sich mit ausgebreiteten Karten von der Insel vor der Nässe zu schützen.

Der Laden oberhalb des neuen Besucherzentrums, ein hässliches, rechteckiges Gebäude aus Holz, wo man einen Imbiss, Mittel gegen Mücken und Angelhaken erwerben konnte, hatte sich nicht verändert. In dem Herbst, den sie auf der Insel verbracht hatte, kämpften einmal zwei Elche auf dem Picknickbereich neben dem Eingang. Ihre Geweihe waren so riesig gewesen, dass sie nicht mehr hatten tun können, als sie drohend zu schwenken, ohne sich wirklich zu berühren. Falls ein Elch die gleiche Einstellung zu seinem Geweih hatte wie die alten Männer zu ihren Sportwagen, war der Windigo vorhin auf dem Eis sicher aus Scham gestorben.

Einen halben Kilometer weiter befand sich die Lichtung, wo die Saisonkräfte untergebracht waren. Die Hütte, in der sie damals gelebt hatte – wegen der zahlreichen Mäuse und Wiesel, die von den Hinterlassenschaften der Bewohner lebten, liebevoll »Nerzburg« genannt –, war verschwunden. Dahinter hatte man Bäume gefällt und den Boden aufgegraben. War das etwa schon der Anfang der angedrohten Ferienanlage? Anna hätte es einem übereifrigen Betreiber durchaus zugetraut, der Nationalen Parkaufsicht eine Baugenehmigung abzuluchsen.

Aus dem Schornstein der Blockhütte, in der die Mannschaft der Winterstudie sechs Wochen lang wohnen sollte, quoll Rauch. Anna legte die letzten Meter im Laufschritt zurück. Das Haus war für mehrere Bewohner geplant und bestand aus einem Wohnzimmer, an dessen westlichem Ende sich ein Holzofen befand. Ständer, auf denen Socken, Stiefel und Hemden trockneten, fingen die Hitze des Feuers ab. Drei Sofas, die auch in ein ordentliches Vorstadthäuschen gepasst hätten, waren in C-Form um einen Fernseher gruppiert. An der hinteren Wand standen Computer und Funkgeräte. Ein altes Klavier diente als Ablage für zwei Laptops. Von beiden Seiten des Wohnzimmers gingen kleine Gästewohnungen mit jeweils zwei Schlafzimmern, einem Bad und einer Küche ab.

Unauffällig steuerte Anna auf das nächste Badezimmer zu und zog dabei den Parka aus. Da die Tür geschlossen war, klopfte sie leise an, bevor sie sie öffnete. Eiskalte Luft schlug ihr entgegen. Das Fenster über der Toilette stand zwanzig Zentimeter weit offen. Die Toilette selbst, die Dusche und das Waschbecken waren mit Milch, Orangensaft, Kartoffeln, Käse, Zwiebeln, Butter und weiteren verderblichen Lebensmitteln gefüllt.

Kein elektrischer Strom. Offenbar war das hier der Kühlschrank des Forschungsteams. Anna ging in das Badezimmer der gegenüberliegenden Wohnung, die das genaue Spiegelbild der ersten war. Schon von der Tür aus konnte sie drei große, runde, mit Hähnen versehene Kanister auf dem Waschbecken stehen sehen.

»Unsere Quelle«, hatte Jonah zu dem in den zugefrorenen See geschlagenen Loch gesagt. Es gab also auch kein fließendes Wasser.

Und keine Toilette mit Wasserspülung.

»Er steht neben dem Ofen«, meinte eine leise Stimme.

Anna bemerkte, dass sie nicht allein war. Vor einem der Computer kauerte eine zierliche Frau, die einen grauen Pullover und eine Cargohose trug. An den Füßen hatte sie die Hausschuhversion von Mrs Stegers,Fellstiefeln aus Elchleder. Stiefel wie diese gab es nur in Ely, und zwar ausschließlich in dem Laden, der der Ehefrau des Obermuftis Will Steger gehörte. Die Frau besaß ein unscheinbares, aber freundliches Gesicht. Offenbar war sie stark kurzsichtig, denn ihre braunen Augen wirkten hinter den dicken Brillengläsern winzig und hatten einen offenen Blick.

»Da drüben.« Sie wies auf den Ofen.

Anna schaute in die angegebene Richtung. Neben dem Ofen, halb verborgen hinter einem Ständer mit abgenützten Geschirrtüchern und dicken Winterstiefeln, lehnte ein Toilettensitz an der Wand. Jemand hatte, offenbar mit rotem Nagellack, liebevoll einen leuchtenden Kussmund darauf gemalt. Darunter prangte die Aufschrift »Winterstudie«.

»Danke«, sagte Anna und hoffte, sich mit ihrer Suche nach einer Innentoilette nicht lächerlich gemacht zu haben.

»Zum Toilettenhäuschen kommen Sie durch die Küchentür«, fügte die Frau hilfsbereit hinzu.

Bewaffnet mit dem Ring aus Porzellan – oder eher Plastik –, machte Anna sich auf den Weg zur nördlichen Küche, die von der Gruppe benutzt wurde. Der Toilettensitz war vom Ofen angewärmt. Offenbar brauchten selbst abgehärtete Menschen ein wenig Komfort.

Jonah warf den Generator an und erklärte Anna, es werde jeden Abend Strom geben, bis um zehn die Lichter ausgingen. Anna teilte sich ein Zimmer mit Robin, und zwar in der Wohnung, deren Badezimmer als Kühlschrank diente. Nachdem sie sich ihrer Kleidungsschichten entledigt hatte, schlüpfte sie in Jeans und ein altes Sweatshirt von Paul. An den Füßen trug sie den einzigen Luxus, den sie sich geleistet hatte, obwohl sie nur zwei winzige Reisetaschen hatte mitbringen dürfen: kuschelige Pantoffeln in unauffälligem Schwarz, allerdings bedeckt mit gelben und weißen Katzenhaaren. Sie gesellte sich zu den anderen in die Küche.

Bob Menechinn thronte auf dem der Wand am nächsten stehenden Stuhl an dem Resopaltisch. In der Hand hatte er ein Glas Rotwein aus dem Karton, den Tischwein auf der Isle Royale. Ihm gegenüber saß, lächelnd und schweigend, Robin. Die Frau, die Anna den Weg zur Toilette gezeigt hatte, stand zwischen Bob und der Hintertür, als schmiede sie Fluchtpläne.

Menechinn lächelte Anna freundlich zu.

»Unverpackt sehen Sie viel besser aus, Miss Pigeon.«

Die Frau hinter ihm warf ihm einen erschrockenen Blick zu, der aber nicht lange anhielt. Anna fragte sich, ob sie wohl ihr Revier in Form von Bob Menechinn verteidigen wollte.

»Haben Sie meine Assistentin Doktor Kathy Huff schon kennengelernt?«, fuhr Bob fort.

Sein Tonfall war gedehnt, sodass die Wörter in der Luft zu schweben schienen, nachdem sie längst ausgesprochen waren. Als er leutselig lächelte, warfen seine Hängebacken Falten. Er zwinkerte. Dr. Huff betrachtete ihre Füße.

Vielleicht war Menechinn stolz darauf, dass seine Gehilfin einen Doktortitel hatte. Möglicherweise war sie einfach nur schüchtern. Es konnte auch sein, dass die beiden ein Paar waren. Anna gelang es nicht, die Zeichen zu deuten. Außerdem hatte sie viel zu großen Hunger, um sich Gedanken darüber zu machen.

»Was kann ich helfen?«, fragte sie in die Küche hinein.

Adam schälte und schnipselte. Ridley kochte. Robin durfte Salat machen, aber erst, nachdem sie förmlich darum gefleht hatte. In dieser Küche drängte sich die Tradition von fünf Generationen. Niemand riss einfach eine Arbeit an sich. Die Aufgaben wurden zugewiesen.

Als Anna klar wurde, dass die Essensrituale des Forscherteams für Uneingeweihte etwa so von Fettnäpfchen strotzten wie die Küche eines koscheren Kochs am jüdischen Lichterfest, setzte sie sich und beobachtete die Szene.

Zum ersten Mal sah sie ihre Mitbewohner ohne Parkas, Kapuzen, Handschuhe und Daunenhosen. Ridley entsprach dem Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte: ein zierlicher, drahtiger Mann mit erstaunlich breiten Schultern. Seine kleinen Hände und Füße hätten gut zu einem Tänzer gepasst. Er war dreißig Jahre alt, fest angestellter Professor an der technischen Universität von Michigan, verheiratet und nun Leiter eines der angesehensten Forschungsprojekte des Landes. Sein Haar, so fein wie das eines Kleinkindes, lockte sich in einem von einem Gummiband zusammengehaltenen Pferdeschwanz zwischen seinen Schulterblättern. Ohne die schiefen Zähne und einen Mund, der zu breit für sein Gesicht war, wäre Ridley ein schöner Mann gewesen. Eine Behandlung beim Kieferorthopäden hätte ihn erst zum Traum jedes Pädophilen und später zum Objekt der Begierde seiner Studentinnen gemacht.

Mit Ausnahme von Robin war Ridley das jüngste Mitglied des Forscherteams, doch niemand – zumindest niemand aus der Winterstudiengruppe – stellte seine Autorität in Frage. Vorhin auf dem Eis hatten er und Bob einander mit imaginären Geweihen gedroht. Bob mochte das Ministerium für Heimatschutz im Rücken haben, doch Ridley war im Gegensatz zu ihm auf der Insel zu Hause. Wie Anna schien Bob unter der Kälte zu leiden, und sie hatte den Eindruck, dass er sich unter Frauen wohler fühlte als unter Männern.

Obwohl Adam ihrer Einschätzung nach das Alphatier des Rudels war, störte es ihn offenbar nicht, Ridleys Anweisungen zu befolgen. Er war jünger, als sie zunächst gedacht hatte, ungefähr Ende Dreißig. Wie Ridley hatte er langes Haar und trug es zu einem dicken braunen Zopf geflochten, durch den sich die ersten silbernen Fäden zogen.

Anna mochte Männer mit langen Haaren, vermutlich ein Überbleibsel aus ihrer Collegezeit. Für sie hatte es etwas Wildes, das ihr gefiel. Die Frisur stand Adam. Sein magerer Körper war muskulös, und seine Hände von schwerer Arbeit gezeichnet. Der Schnurrbart im Stil des neunzehnten Jahrhunderts verlieh seinem hageren Gesicht etwas Dramatisches und ließ ihn wie einen Westernhelden oder einen Soldaten beim letzten Angriff auf das Tal des Todes wirken.