Blutköder: Anna Pigeon ermittelt - Band 6: Kriminalroman - Nevada Barr - E-Book
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Blutköder: Anna Pigeon ermittelt - Band 6: Kriminalroman E-Book

Nevada Barr

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Beschreibung

In der unbarmherzigen Wildnis Montanas werden Jäger zu Gejagten: Der packende Kriminalroman »Blutköder« von Nevada Barr jetzt als eBook bei dotbooks. Glacier Nationalpark, Montana: Gemeinsam mit dem Umweltaktivisten Rory und der Biologin Joan bricht Parkrangerin Anna Pigeon in die Wildnis auf, um das Leben der Grizzly-Bären zu erforschen. Doch aus der Expedition wird schon bald ein erbitterter Überlebenskampf. Das Lager wird nachts von Bären angegriffen und am nächsten Morgen ist Rory spurlos verschwunden. Auf der Suche nach ihm machen die beiden Frauen eine grausame Entdeckung – handelt es sich bei der verstümmelten Leiche etwa um Rory? Die Verletzungen scheinen nicht von den Klauen eines Grizzlys zu stammen, sondern von einem Raubtier in Menschengestalt, das in der Wildnis auf Beutejagd ist … Packend und rasant – der sechste Band der fesselnden Krimireihe um die Parkrangerin Anna Pigeon mit ihrem untrüglichen Gespür für die Abgründe menschlichen Handelns: »Barr kennt und liebt ihre Landschaft und schreibt darüber mit dem Einfühlungsvermögen einer wahren Naturfreundin.« The Washington Post »Nevada Barr ist eine der Allerbesten!« Boston Globe Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Öko-Thriller »Blutköder«, Band 6 der international erfolgreichen Anna-Pigeon-Krimiserie von Nevada Barr, die Leser in die ebenso atemberaubende wie gefährliche Wildnis der Nationalparks Amerikas entführt. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 585

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Über dieses Buch:

Glacier Nationalpark, Montana: Gemeinsam mit dem Umweltaktivisten Rory und der Biologin Joan bricht Parkrangerin Anna Pigeon in die Wildnis auf, um das Leben der Grizzly-Bären zu erforschen. Doch aus der Expedition wird schon bald ein erbitterter Überlebenskampf. Das Lager wird nachts von Bären angegriffen und am nächsten Morgen ist Rory spurlos verschwunden. Auf der Suche nach ihm machen die beiden Frauen eine grausame Entdeckung – handelt es sich bei der verstümmelten Leiche etwa um Rory? Die Verletzungen scheinen nicht von den Klauen eines Grizzlys zu stammen, sondern von einem Raubtier in Menschengestalt, das in der Wildnis auf Beutejagd ist …

Packend und rasant – der neunte Band der fesselnden Krimireihe um die Parkrangerin Anna Pigeon mit ihrem untrüglichen Gespür für die Abgründe menschlichen Handelns: »Barr kennt und liebt ihre Landschaft und schreibt darüber mit dem Einfühlungsvermögen einer wahren Naturfreundin.« The Washington Post

»Nevada Barr ist eine der Allerbesten!« Boston Globe

Über die Autorin:

Nevada Barr wurde 1952 in Yerington, Nevada geboren. Sie arbeitete als Schauspielerin, bevor ihre Liebe zur Natur sie als Rangerin in verschiedene Nationalparks führte. Dies inspirierte sie zu ihrer Serie über Anna Pigeon, die mehrfach preisgekrönt wurde – unter anderem erhielt der erste Band, Die Spur der Katze, den renommierten Agatha-Award als bestes Debüt – und international erfolgreich ist. Nevada Barr lebt heute in Mississippi.

Bei dotbooks erscheinen in der Anna-Pigeon-Reihe:

Die Spur der KatzeEiner zuviel an BordZeugen aus SteinFeuersturm

Paradies in Gefahr

Wolfsspuren

Die Website der Autorin: www.nevadabarr.com

Die Autorin im Internet: www.facebook.de/NevadaBarrFans

***

eBook-Neuausgabe März 2019

Copyright © der englischen Originalausgabe 2001 by Nevada Barr

Die englische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel Blood Lure bei G. P. Putnam's Sons, New York.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Published by Arrangement with Nevada Barr Paxton.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/nomadkate, Galyna Andrushenko

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95824-478-8

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

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Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Nevada Barr

Blutköder

Anna Pigeon ermittelt

Aus dem Englischen von Karin Dufner

dotbooks.

Danksagung

Beim Schreiben dieses Buches hatte ich eine Menge Hilfe nötig, die mir die Mitarbeiter des Waterton-Glacier National Peace Parks großzügig zur Verfügung gestellt haben. Besonders danke ich Dave Mihalic, meinem Vorbild und meiner Inspiration, Butch Farabee, meinem Vermieter und Freund, und Kate Kendall, die meine zahlreichen Fragen beantwortet hat. Jack Potter, Steve Frye, Gary Moses und Larry Fredrick, ich danke euch für eure Zeit, eure Schlagfertigkeit und euer Fachwissen. Fred Van Horn, vielen Dank für die Informationen; sowie Barry Wollenzien und Ron Goldhirsch dafür, dass sie mir die alltägliche Arbeit im Park gezeigt haben. Dank auch an Joan und Geoffrey, die mir ihre Aura geliehen haben, und an Bob, weil er Bob ist.

Hier zu Hause danke ich Dave Wetzel vom Jackson Zoo, der mir erklärt hat, wie man Grizzlybären betreut und ernährt.

FÜR BOBBI,

einen einfühlsamen und treuen Freund

Kapitel 1

Mit Ausnahme eines neun Wochen alten australischen Schäferhundwelpen, der schnupperte und jaulte, als habe er eine Schatztruhe entdeckt und suche nun einen Weg hinein, waren alle so höflich, über Annas Geruchsnote hinwegzusehen.

Unter der Aufsicht von Joan Rand, der leitenden Biologin des bahnbrechenden Bären-DNA-Projekts im Glacier-Nationalpark, hatte Anna den Vormittag mit einer Tätigkeit verbracht, die derart ekelhaft war, dass selbst Müllmänner einen großen Bogen um sie gemacht und sich ehrfürchtig die Nase zugehalten hätten.

Unweit der Kläranlage des Parks, hinter einem zwei Meter hohen, mit Elektrodrähten versehenen Maschendrahtzaun und außerdem geschützt von einem mit sechs weiteren Elektrodrähten ausgestatteten Aluminiumschuppen von der Größe eines altmodischen Doppelplumpsklos, wurden die Köstlichkeiten gelagert, die der aufgeregte schwarz-weiße Welpe nun witterte: zwei Zweihundert-Liter-Fässer, gefüllt mit einer Mischung aus Kuhblut und Fischabfällen, die erhitzt und dann zweieinhalb Monate lang zum Gären in den sogenannten »Brauschuppen« gestellt worden waren.

Joan, offenbar von Geburt an frei von Würgereiz, hatte Anna fröhlich gezeigt, wie man mit einer Hand die Fischstückchen heraussiebte, während man mit der anderen die dunkelrote Flüssigkeit in Ein-Liter-Plastikflaschen schöpfte.

»Mit den Fingern klappt es am besten«, hatte Rand erklärt. »Forschung pur, glamouröser kann es überhaupt nicht mehr werden.« Bei diesen Worten bedachte sie Anna mit einem Grinsen, das kleine, schiefe, sehr weiße Zähne sehen ließ und unter gewöhnlichen Umständen ansteckend gewesen wäre.

Als Anna nun im Büro des Labors stand und der Welpe anfing, an ihren Schnürsenkeln zu lecken, war sie froh, dass sie der Versuchung, das Lächeln zu erwidern, nicht erlegen war. In diesem Fall hätte sich der üble Gestank, den sie nur als Eau de Cadavre,den typischen Geruch des Todes oder Teufelskotze beschreiben konnte, vermutlich auch über ihre Zähne gelegt.

»Mit der Zeit lässt es nach.« Eine freundliche Frau mit schulterlangem braunen Haar blickte von ihrem Computer auf, als würde Anna ihre Gedanken ebenso freigiebig verbreiten wie den Gestank. »Es dauert eben ein wenig. Hast du schon mit Stinktierködern gearbeitet?«

»Das wird der Nachtisch«, entgegnete Anna mit finsterer Miene, worauf die Frau lachte.

»Das ist der beste Köder. Joan sagt, sie wälzen sich darin und spielen wie zu groß geratene Hunde. Das Zeug stinkt so erbärmlich, dass man es in Schraubdeckelgläser abfüllen muss, weil der Geruch Plastik durchdringt.«

Anna dachte an die Köder aus Blut und Stinktiersekret. Beide waren gründlich erforscht worden, und man hatte die verschiedensten Duftnoten erprobt und wieder verworfen, bis man die gefunden hatte, die für Grizzlybären am unwiderstehlichsten waren. Bald würde Anna, Behälter mit diesen Gerüchen auf dem Rücken, ins Herz des Bärenlandes marschieren, in den zu Montana gehörenden Teil des Waterton-Glacier International Peace Parks, und zwar nur bewaffnet mit einer Dose Pfefferspray, zur Abwehr der größten Allesfresser in diesen Breitengraden.

Der Welpe bellte und stützte tapsige große Pfoten auf Annas Oberschenkel. Sein schwarz abgesetzter Schwanz beschrieb kurze, kräftige Bögen. »Du würdest dich wohl am liebsten in mir wälzen, was?«, meinte Anna. Als er wieder bellte, musste sie das Bedürfnis unterdrücken, ihn hochzuheben, um sein weiches Babyfell nicht mit ihren schmutzigen Händen zu verunreinigen. Deshalb wandte sie sich von seinen flehenden braunen Augen ab, um die Farbkopien zu betrachten, die den Ursus horribilis darstellten und mit Heftzwecken an der Pinnwand über dem Konferenztisch befestigt waren. Der dicke Muskel zwischen den Schulterblättern diente nach allgemeiner Auffassung dem Zweck, die wichtigste Funktion der zwölf Zentimeter langen Krallen zu unterstützen – das Graben. Das Fell war grau und mit silbrigen Fäden durchzogen. Die runden, plumpen Ohren erinnerten an die eines Teddybären. Das Gebiss wirkte weniger friedlich, denn die Eckzähne waren etwa drei Zentimeter lang und ausgezeichnet an die Ernährungsgewohnheiten des Bären angepasst. Grizzlys fraßen Aas, Pflanzen, Eichhörnchen, Insekten – und manchmal auch Menschen.

Anna dachte über den letzten Punkt nach und hielt sich vor Augen, dass sie Lockstoffe bei sich tragen, damit hantieren und nachts daneben schlafen würde.

Sie trat näher heran und musterte die gewaltigen Schädel und die kräftigen Kiefer auf den Fotos. Tatzen, die einen starken Mann umwerfen, und Krallen, die ihm mühelos die Gedärme aus dem Leib reißen konnten. Dennoch empfand sie keine Angst.

Mitglieder der Einsatzgruppe, die die Bären im Park überwachte und Auseinandersetzungen zwischen den Tieren und Besuchern schlichtete, beklagten sich ebenso wie die hiesigen Parkpolizisten regelmäßig darüber, wie verblödet die Amerikaner seien, weil sie die Bären als Kuscheltiere betrachteten. Ein Mann musste sogar daran gehindert werden, seinem fünfjährigen Sohn Eiscreme ins Gesicht zu schmieren, um zu fotografieren, wie ein Bär es ableckte.

Anna kannte sich zu gut mit den Lebensgewohnheiten wilder Tiere aus, um Bären für harmlos zu halten. Allerdings gehörte sie zu einer zweiten und nicht minder gefährlichen Art von Dummköpfen, zu den Leuten nämlich, die sich wilden Tieren, ganz gleich ob nun mit Flügeln, Fell oder Zähnen ausgestattet, spirituell verbunden fühlten. Die Überzeugung, dass sie sie als Fürsprecherin erkennen und sie nicht angreifen würden, verhinderte die notwendige und lebenserhaltende Angst davor, zerrissen und verschlungen zu werden. Allerdings erstreckte sich diese Wahnvorstellung nicht auf afrikanische Löwen. Von ihnen konnte man nun wirklich nicht erwarten, dass sie ausländische Touristen verschonten, denn schließlich hatte jeder hin und wieder Lust auf eine Abwechslung auf dem Speisezettel. Aber amerikanische Löwen und Bären ...

Anna musste über sich selbst lachen. Zum Glück war sie nicht so leichtsinnig, die Kameradschaft zwischen den Arten auf die Probe zu stellen. Außerdem hätte sie diese Gefühle niemals einem anderen Menschen gestanden. Am allerwenigsten Joan Rand, ihrer Aufseherin, Ausbilderin und Begleiterin während der neunzehn Tage, die sie sich mit dem Bären-DNA-Projekt im Glacier-Park vertraut machen würde. Das hier erworbene Wissen würde ihr helfen, die Tierwelt an ihrem Arbeitsplatz, dem Natchez Trace Parkway in Mississippi, besser zu betreuen.

»So, meine stinkende kleine Freundin, dein Urlaubsgepäck ist fertig«, verkündete Joan, die gerade aus dem Allerheiligsten kam. Rand war zwar von Geburt Amerikanerin, lebte allerdings schon lange an der Grenze zum französischsprachigen Teil Kanadas und konnte, wenn sie wollte, genauso klingen wie Pepé Le Pew, das Pariser Comic-Stinktier. Anna lachte. Joan erinnerte sich gewiss noch an Pepe, denn sie war etwa in Annas Alter, befand sich also irgendwo in dem fruchtbaren Tal der mittleren Lebensjahre zwischen fünfundvierzig und fünfundfünfzig.

Anna hatte Joan auf Anhieb sympathisch gefunden. Rand war mit ihren einssechzig ziemlich kurz geraten und pummelig. Sie hatte die schmalen Schultern eines Menschen, der nicht viel tragen konnte, und den breiten Hintern und die kräftigen Oberschenkel einer Person, der es ohne Weiteres gelingen würde, einen Ausbilder bei der Armee in Grund und Boden zu marschieren.

Anna mochte ihren scharfen Verstand, ihre raue Stimme und ihre Schlagfertigkeit, auch wenn sie die beiden Tage, die sie nun schon zusammenarbeiteten, nicht als ungezwungen erlebt hatte. Sie wurde das Gefühl nicht los, ständig nach einem Gesprächsthema suchen zu müssen. Meistens wurde das Schweigen mit Arbeit überspielt. War das nicht möglich, breitete sich rasch Beklommenheit aus, aber Anna hatte noch Hoffnung.

Inzwischen hatte die Bärenforscherin den Stinktier-Akzent abgelegt und rückte ihre gewaltige Brille zurecht. »Setz dich. Das ist Rory Van Slyke, unser Sherpa von Earthwatch und Mädchen für alles. Er hat versprochen, im Fall eines Bärenangriffs seinen knackigen jungen Körper zu opfern, damit wir beide überleben und unser wichtiges Werk vollenden können.«

Rory, den Joan gerade vorgestellt hatte, lächelte schüchtern. Während ihrer Jahre als Mitarbeiterin eines Nationalparks war Anna nur einmal Angehörigen der Organisation Earthwatch begegnet. Als sie vor einiger Zeit als Parkpolizistin im Isle Royale National Park Bootspatrouillen auf dem Lake Superior gefahren war, hatten Mitglieder von Earthwatch – eines unabhängigen, mit Spenden finanzierten und von ehrenamtlichen Mitarbeitern betriebenen Umweltverbandes – gemeinsam mit der Nationalen Parkverwaltung die Lebensgewohnheiten der Elche erforscht. Die freiwilligen Helfer hatten die undankbare Aufgabe gehabt, die unwegsamsten Gebiete eines unwirtlichen Nationalparks zu durchstreifen, nach toten und verwesenden Elchen zu suchen, die Zecken an den Kadavern zu zählen und die ansehnlichsten Exemplare der Parasiten für eine spätere Untersuchung mitzunehmen. Das taten sie nicht nur gern, sondern bezahlten sogar für dieses Privileg, was hieß, dass Uneigennützigkeit doch kein Mythos war. Alle Earthwatcher, die Anna bis jetzt kennengelernt hatte, waren jung wie Rory Van Slyke. Wahrscheinlich lag das daran, dass ein Erwachsener diese Plackerei nicht überlebt hätte.

»Wie geht es dir?«, sagte Anna, ohne nachzudenken.

»Gut, vielen Dank. Und dir?«

Es war schon lange her, dass jemand diese altmodische Begrüßungsformel zu Ende gebracht hatte. Offenbar war Rory gut – oder streng – erzogen worden.

»Ausgezeichnet«, entgegnete sie. Der Junge – der junge Mann – hatte eine leise, helle Stimme, die klang, als hätte er den Stimmbruch noch vor sich, obwohl seine Pubertät gewiss schon ein paar Jahre zurücklag. Er wirkte zwar nicht kräftig genug, um als Sherpa viel herzumachen, doch als Bärenköder würde er schon genügen: zierlicher Körperbau, zarte Haut, dichtes blondes Haar und dunkelblaue Augen mit Wimpern, die so farblos waren, dass man sie fast nicht sah.

»Der Plan lautet wie folgt.« Joan breitete eine topografische Karte auf dem Tisch vor Anna aus und beugte sich dann über ihre Schulter, um mit dem Finger zu zeigen. Sie stank ebenfalls zum Himmel. Es war schön, sich einer Gruppe zuordnen zu können.

»Wir haben den Park in acht Kilometer lange und acht Kilometer breite Sektoren unterteilt«, erklärte Joan, legte eine Schablone aus durchsichtigem Plastik auf die Landkarte und richtete sie anhand von Koordinaten aus, die sie auswendig wusste. »Jeder Sektor ist nummeriert und mit einer Haarfalle ausgestattet. Damit wollen wir nicht den ganzen Bären fangen, sondern nur sichergehen, dass durchziehende Tiere Proben ihres Fells für die Studie hinterlassen. Die Fallen befinden sich so nah wie möglich an den natürlichen Wanderrouten der Bären: Bergpässen, der Mündung von Lawinenrinnen und so weiter. Also reden wir hier von Gewaltmärschen querfeldein, wie ihr sie noch nicht erlebt habt. Diese Sternchen«, sie deutete mit einem kurzen, gebräunten Zeigefinger auf die Filzstiftmarkierungen auf der Schablone, »stehen für die zuletzt aufgestellten Fallen. Sie sind jetzt seit zwei Wochen vor Ort. Wir drei werden uns fünf Sektoren vornehmen: Nummer dreihunderteinunddreißig, dreiundzwanzig, zweiundfünfzig, dreiundfünfzig und vierundsechzig. Hier in der Mitte und am Westhang des Flattop Mountain. Unsere Aufgabe besteht darin, das Fell aus den alten Fallen einzusammeln, die Fallen zu demontieren und sie anderswo wieder aufzubauen.«

Sie legte eine zweite Plastikschablone auf die erste, sodass eine weitere Anordnung von Sternchen zu sehen war. »Zumindest so nah, wie wir an die entsprechenden Orte herankommen können. Punkte in einem gemütlichen Büro zu markieren hat nur wenig mit dem zu tun, was man in felsigem, bergigem oder mit Unterholz bewachsenem Gelände tatsächlich vorfindet.

Nachdem der Draht der Falle gespannt ist, gießen wir den Nektar der Götter – das ist das Parfüm aus Blut und Fischgedärmen, das du an uns zu ignorieren versuchst, Rory – hinein und lassen das Ganze ein paar Wochen lang stehen. Während wir dort herumlaufen, werden wir auch den Flattop Mountain Trail unterhalb des Fifty Mountain Camps bis zur Mitte des Waterton-Tals und den West Flattop Mountain Trail zwischen der Kontinental-Trennlinie und dem Dixon-Gletscher unter die Lupe nehmen. Bären sind wie wir: Sie entscheiden sich wenn möglich für den einfachsten Weg. Deshalb haben wir einige Bäume entlang der Wanderwege markiert, an denen sie sich gerne scheuern. Dort sammeln wir Haarproben und auch Kotproben ein, falls wir welche finden.«

Der Vortrag war für Rory bestimmt. Anna hatte ihn bereits gehört, als Joan und ihre Vorgesetzte Kate ihr die herausfordernde Aufgabe erklärt hatten, die es bedeutete, Daten für das DNA-Projekt zu gewinnen. Die Idee dazu stammte von Kate Kedal, einer Wissenschaftlerin, die im Auftrag des USGS – des amerikanischen geografischen Forschungsinstituts – und der Nationalen Parkaufsicht tätig war.

Aus dem sichergestellten Fell und dem Kot würde man die DNA einzelner Bären extrahieren. Dank moderner, vom Labor der University of Idaho eingesetzter Techniken war es möglich, Geschlecht und Spezies zu bestimmen und einzelne Bären zu identifizieren. Anhand dieser Informationen hoffte man, die genaue Anzahl der Bären sowie die Entwicklung der Population, Wanderwege und Bewegungsmuster ermitteln zu können. Die Fallen dienten dem Zweck, jedem einzelnen Bären im Park die Möglichkeit zu geben, sich mitzählen zu lassen.

»Wir werden fünf Tage lang unterwegs sein«, fügte Joan hinzu. »Morgen in aller Früh geht es los.«

Eine Weile betrachteten die drei wortlos die Karte, als würde sie jeden Moment ihre Geheimnisse preisgeben.

»Hey«, brach Joan das Schweigen. »Vielleicht treffen wir ja deine Leute, Rory.«

Das Schnauben des jungen Mannes, ein kleiner Luftschwall aus geblähten Nüstern, sprach Bände, was seine – offenbar nicht sehr positive – Einstellung zu einem Treffen mit seinen Eltern anging. Anna musterte ihn aus dem Augenwinkel. Der Flaum auf seinen Wangen war anscheinend erst vor Kurzem einem Bart gewichen, der so hell war, dass er abends eher funkelte als Schatten warf. Sie schätzte Rory auf siebzehn oder achtzehn. Wahrscheinlich war es sein erstes großes Abenteuer fern von zu Hause. Und nun hatten Mom und Dad einen Weg gefunden, sich an seine Fersen zu heften.

»Was machen deine Eltern denn hier?«, erkundigte sich Anna, um festzustellen, ob sie mit ihrer Vermutung richtig lag, und lauschte mit einer Miene, die Uneingeweihte als harmlos eingestuft hätten.

»Mom und Dad zelten eine Woche lang im Fifty Mountain Camp. Mom hatte das plötzliche Bedürfnis, zur Natur zurückzukehren.«

»Was für ein Zufall«, stichelte Anna, neugierig, wie er reagieren würde. Wenn man schon teuflisch stank, konnte man genauso gut teuflisch gemein sein.

»Mom ist irgendwie ...« Rorys Stimme erstarb. Anna konnte keine Böswilligkeit heraushören. Er wirkte eher genervt. »Sie hat einen Familientick und möchte, dass alle zusammen sind. Sie weiß nämlich, dass sie mich sonst kaum zu Gesicht kriegt. Wenn überhaupt. Aber ihr fällt ja immer etwas ein, sich zu amüsieren. Und Les musste natürlich hinterhertrotten.«

Inzwischen klang er gehässig. Für einen so jungen Menschen sogar sehr.

»Les?«, hakte Anna interessiert nach, weil es ihr nun einmal im Blut lag.

»Mein Dad. Carolyn ist meine Stiefmutter.«

Hätte Anna aus irgendeinem unerklärlichen Grund beschlossen, die Welt mit ihrem Nachwuchs zu bevölkern, wäre es sehr kränkend für sie gewesen, wenn ihre Kinder in einem Ton über sie gesprochen hätten wie Rory über seinen Dad. Und dass er für seine Stiefmutter freundlichere Worte fand, hätte noch zusätzlich Salz in die Wunde gerieben.

»Ich bezweifle, dass wir sie auch nur aus der Ferne sehen werden«, meinte Joan. »Diese winzige Karte hier bildet ein ziemlich großes Gebiet ab, wenn man zu Fuß unterwegs ist.« Dass Joan das Familienthema beendete, indem sie gewissermaßen eine eiserne Tür zuschlug, weckte in Anna den Verdacht, sie könnte in ihrem anderen Leben Mutter sein. Sofern sie ein anderes Leben hatte. In den achtundvierzig Stunden, die Anna Rand nun kannte, hatte sie sich abgerackert wie eine Frau, die sich von einem Erpresser freikaufen muss. Das hieß nicht, dass ihr Humor und Lebensfreude gefehlt hätten. Aber sie forderte sich, als hätte jemand ihr Sicherheitsgefühl als Geisel genommen, um es nur im Austausch gegen harte Arbeit wieder herauszugeben.

Eine klassische Arbeitssüchtige.

Annas Schwester Molly hatte die gleichen Symptome gezeigt, bis sie es beinahe mit dem Leben bezahlt und sich dann, im hohen Alter von fünfundfünfzig Jahren, vielleicht zum ersten Mal, verliebt hatte. Molly war Psychiaterin. Sie hätte Joan erklären können, dass die Menge der Arbeit nie genug sein würde. Doch falls Joan tatsächlich arbeitssüchtig war, würde sie nicht einmal die Zeit zum Zuhören haben.

Persönlich hatte Anna eine Schwäche für Arbeitssüchtige. Insbesondere, wenn sie ihre Untergebenen waren. Im Grunde genommen erwiesen Menschen, die sich abmühten, um einen Quadratzentimeter Wildnis zu bewahren oder eine Larve der Köcherfliege vor Umweltgiften zu retten, der Gesellschaft einen Dienst. Und falls besagte Gesellschaft dank einer göttlichen Gnade endlich aufwachte, würden diese Retter, Spezies um Spezies, Korallenriff um Korallenriff, Wasserscheide um Wasserscheide, die Welt vor dem Untergang bewahren.

Anna hatte schon so oft einen Rucksack gepackt, dass sie nicht länger brauchte als ein erfahrener Pilot, um sich auf einen viertägigen Ausflug vorzubereiten. Die fünf Liter Blut und Gedärme waren ordentlich in einem Behälter aus Hartplastik verstaut, den Rory tragen würde. Anna und Joan teilten den Rest der Ausrüstung unter sich auf: Heftklammern zum Befestigen von Drähten, Hämmer, Röhrchen mit Ethanol für die Kotproben, Umschläge für Haare, ein Logbuch, um wichtige Angaben zu den Fallen festzuhalten – zum Beispiel, wo genau in dem viele Tausend Quadratkilometer großen Nationalpark sich jede der hundert Quadratmeter umfassenden Fallen befand, damit das nächste Forscherteam sie nicht suchen musste. Die Stinktierköder, insgesamt fünf, wogen nahezu nichts. Wolle, getränkt mit aus einem Katalog für Jägerbedarf bestelltem Duftstoff, wurde erst in Filmdosen und danach in ein Schraubdeckelglas gesteckt und wanderte dann in Annas Rucksack. Es dauerte keine zwei Stunden, alles zu Joans Zufriedenheit zu erledigen.

Den restlichen Abend verbrachten die beiden Frauen an dem zerkratzten Eichentisch in Joans Essecke und studierten Berichte, die Zusammentreffen mit Bären dokumentierten. Joan wohnte in einem Haus auf dem Parkgelände, in dem Anna sich merkwürdig heimisch fühlte. Unterkünfte wie diese ähnelten sich auf eine Weise, die in ihr ein seltsames, unwirkliches Déjà-vu-Gefühl auslöste.

Das lag nicht nur an dem typischen Grundriss aus dem Jahr 1966: drei Schlafzimmer, ein L-förmiges Wohnzimmer und eine lange, schmale Küche, geplant zu einer Zeit, als die Nationale Parkaufsicht zum letzten Mal nennenswerte Mittel für den Bau von Wohnraum für ihre Mitarbeiter erhalten hatte. Der Grund war eher die Einrichtung. Wildhüter, Forscher und Umweltschützer hatten unweigerlich Poster vom Park an den Wänden, ein oder zwei Indianermasken im Regal, Navajo-Läufer auf dem strapazierfähigen Teppichboden und nicht zusammenpassendes, unzerbrechliches Plastikgeschirr in der Küche.

Dass die Umgebung so sehr ihren Erwartungen entsprach, hatte Annas angeborene Neugier gedämpft. Nun erinnerte sie sich wieder an ihre Vermutungen, was die Familienverhältnisse ihrer Gastgeberin betraf, nahm die Lesebrille aus dem Drugstore ab, zu der sie sich inzwischen bekannte, um Dinge aus der Nähe sehen .zu können, und blickte sich in dem kleinen Wohnzimmer um.

Auf dem Fernseher, zwischen einer Kokopelli-Puppe auf einem ojo de Dios und dem Schädel eines großen Nagetiers, entdeckte sie die gerahmten Schulfotos zweier Jungen, entweder zweieiige Zwillinge oder fast im gleichen Alter. Beide waren ungewöhnlich schön, der lebendig gewordene Traum jedes Pädophilen.

Es erschreckte Anna, dass sie so über Kinder dachte. Finstere Grübeleien, düstere Vorahnungen und die Neigung, die Welt als schmutzig und gefährlich zu betrachten, war bei Gesetzeshütern eine Berufskrankheit – selbst bei Parkpolizisten, die ihre Tage in einer wunderschönen Landschaft inmitten von gutartigen, wenn auch manchmal irregeleiteten, Touristen verbrachten.

Ihre Beförderung zur Bezirksleiterin der Parkpolizei im Natchez Trace Parkway forderte ihren Tribut. Da eine Straße durch den Park verlief, hatte Anna hauptsächlich polizeiliche Aufgaben, denn Asphalt übte eine magische Anziehungskraft auf Verbrecher aus.

Die Jungen auf den Fotos waren jedoch keine potenziellen Opfer, sondern verkörperten die Zukunft. »Sind das deine Söhne?«, fragte Anna, nachdem sie ihre innere Einstellung dementsprechend justiert hatte.

»Luke und John«, erwiderte Joan.

Bewährte biblische Namen. Anna schmunzelte. »Was ist aus Matthew und Mark geworden?«

»Fehlgeburten.«

Annas Verstand kam schliddernd zum Stehen. Ein schlechter Witz hatte einen Nerv getroffen. »Mist«, sagte sie.

»Stimmt.«

Schweigen entstand, nur dass es diesmal seltsam angenehm war, was Anna angesichts des Auslösers umso mehr erstaunte.

»John schließt in diesem Jahr die Highschool ab. Luke ist im dritten Jahr. Ich bin in der Stillzeit gleich wieder schwanger geworden. Wieder ein Ammenmärchen dahin. Sie wohnen bei ihrem Dad in Denver.«

Eine weitere Erklärung erübrigte sich. Die Arbeit in einem Nationalpark, so wundervoll sie auch sein mochte, war die Hölle für jede Ehe. Anna kannte die traurigen Fotos, die versprengte Familien zeigten, nur zu gut.

Begleitet von einem besorgniserregenden Knirschen – Anna hoffte, dass es die hölzerne Stuhllehne und nicht Joans Bandscheiben waren – erhob sich die Forscherin, holte die Fotos vom Fernseher und stellte sie zwischen die Berichte und die Röhrchen für die Stuhlproben auf den Tisch.

»Hübsche Jungen«, meinte Anna, um ihre schwarzen pädophilen Gedanken wiedergutzumachen.

»Ihr Vater war ein wahrer Adonis. Ist er immer noch. Und er weiß es auch. Macht die kleinen Mädchen nach wie vor verrückt.«

Ein weiteres Kapitel derselben alten Geschichte.

»Aha«, sagte Anna.

»Falls ich je wieder heirate, dann einen reichen alten Buckligen mit schlechten Zähnen.«

Anna nahm eines der Fotos und betrachtete es, einfach nur deshalb, weil sie glaubte, dass Joan die Bilder geholt hatte, um sie eingehend bewundern zu lassen.

»John?«

»Luke. Er ist zwar der Jüngere, aber größer.«

Die braunen Augen, die wegen der leicht nach unten gebogenen äußeren Augenwinkel ein wenig melancholisch wirkten, waren die seiner Mutter. Ansonsten war er ganz und gar nach dem Adonis geraten. »Er sieht ein bisschen aus wie Rory Van Slyke«, stellte Anna fest. Allerdings war »aussehen« nicht ganz das richtige Wort. Die beiden Jungen ähnelten sich zwar oberflächlich, doch es waren vor allem die Augen, die diesen Eindruck erweckten. Sie blickten so eindringlich drein, wie es bei einem derart jungen Menschen eigentlich nicht sein sollte. So, als hätte er in der Zeit, die für andere eine unbeschwerte Kindheit war, schon genug vom Leben gesehen, um davon enttäuscht zu sein.

»Das ist mir auch schon aufgefallen«, antwortete Joan.

Ihr Tonfall hatte etwas Wehmütiges. Joan vermisste ihre Söhne und hatte den jungen Van Slyke vielleicht aus den Mitgliedern von Earthwatch herausgepickt, weil er sie an Luke erinnerte. Offenbar hatte Joan bemerkt, dass sie sich eine Blöße gegeben hatte, und empfand das als peinlich. Jedenfalls war der Moment der Vertrautheit vorbei.

»Berichte über Begegnungen mit Bären«, verkündete sie gekünstelt fröhlich. »Da wird einem nie langweilig. Ich lese dir einen vor.« Die Formulare waren ein Versuch, jedes Zusammentreffen mit einem Bären im Park zu dokumentieren. Touristen und Parkmitarbeiter füllten sie aus, um das Verhalten und den Aufenthaltsort der Grizzlys und ihrer weniger beängstigenden Cousins, der Schwarzbären, nachzuvollziehen. Die Formulare hatten Spalten, in die man den Ort der Beobachtung, das Datum, die Uhrzeit, den eigenen Namen, die Farbe des Bären und was man gerade getan hatte eintragen konnte. Am unterhaltsamsten, wenn auch nicht immer am aufschlussreichsten, war die Spalte für die Kommentare, in der das Verhalten des Bären geschildert wurde.

Joan kramte in den Berichten. Anna bemerkte, dass sie dabei unauffällig die Fotos ihrer Söhne in die andere Richtung drehte. »Hier haben wir es. Hör dir das an: ›Großer Bär. Gewaltig, ein wahrer Riese, ein richtiger Brocken. Fünfhundert bis sechshundert Kilo.‹«

»Zu groß?«

»Bei Weitem. Im Glacier werden die Grizzlys nicht so groß wie in Alaska, wo sie Zugriff auf eiweißreiche Lachse haben. Hier wiegt ein durchschnittliches Männchen hundertfünfundsiebzig bis zweihundert Kilo, die Weibchen ein bisschen weniger. Wir bekommen viele übertriebene Berichte. Aber ich mache es den Leuten nicht zum Vorwurf. Wenn man allein im finsteren Wald ist und plötzlich vor einem Bären steht, verdoppelt das Biest meistens seine Größe.«

Joans gute Laune wirkte aufgesetzt. Das Gleichgewicht war noch nicht wieder hergestellt. Die Geister von Matthew, Mark, Luke und John schwebten weiterhin über den Röhrchen für die Kotproben. Anna fragte sich, ob es mit den Jungen Probleme gab oder ob es an Joan lag.

»Ich habe hier einen guten«, versuchte sie, die Situation zu überspielen. Sie blätterte zurück, bis sie ein mit fliederfarbenem Tuschestift ausgefülltes Formular vor sich hatte. »5. August. Kein Ort. Keine Uhrzeit. Kein Name. Spezies: Grizzly. Alter: sechsundzwanzig. Farbe: blond. Keine Ahnung, was das heißt. War der Bär sechsundzwanzig und blond oder der Beobachter?«

»Blond kommt bei unseren Bären selten vor.«

»Das ist aber noch nicht das Komische. Hör zu.« Anna las die Spalte für die Kommentare vor. »›Verhalten des Bären: jonglieren mit etwas, das wie ein Igel aussah. Verhalten des Beobachters: dastehen und staunen.‹«

Als Joan lachte, legte sich die Anspannung wieder. Anekdoten über die Albernheiten der Touristen waren ein zuverlässiges Mittel, um Normalität in den Parkalltag einkehren zu lassen. »Solche Berichte bestätigen mir immer wieder, dass Timothy Leary noch lebt und mit Elvis Drogen einwirft«, sagte die Forscherin.

Es war nach zehn in Joans Gästezimmer, das wie jedes Gästezimmer in einer Unterkunft für Parkmitarbeiter, in dem Anna je übernachtet hatte, mit einer eigenartigen Mischung aus Möbeln mit starker Tendenz in Richtung Fünfzigerjahre und Wal-Mart eingerichtet war. Der Wandschrank enthielt die üblichen Rucksäcke, Wintermäntel und für Minustemperaturen geeignete Schlafsäcke. Anna lag, eine alte, schon oft gelesene Ausgabe von The Wind Chill Factor auf der Brust, wach im Bett. Wie damals als Kind erkannte sie die Umrisse von Tieren in den Wasserflecken an der Decke und dachte an die anstehende Wanderung.

Es war schon Monate her, dass sie etwas Anstrengenderes unternommen hatte, als auf ihrem Allerwertesten im Streifenwagen zu sitzen. Die schwersten Gegenstände, die sie für gewöhnlich hob, waren der Block mit den Bußgeldformularen und ein Kugelschreiber aus Behördenbeständen. In ihrer Verzweiflung hatte sie sich sogar für einen Aerobic-Kurs im baptistischen Gesundheitszentrum in Clinton, Mississippi, eingeschrieben, war jedoch nur zweimal hingegangen. Eine Voraussetzung für die Teilnahme an der Fortbildungsmaßnahme war die Fähigkeit, einen fünfundzwanzig Kilo schweren Rucksack zu tragen. Anna hatte nicht gelogen. Sie konnte fünfundzwanzig Kilo tragen. Nur wie weit, das würde sich noch zeigen.

Sie hoffte, dass sie die anderen nicht aufhalten würde. Außerdem hoffte sie, dass Rory Van Slyke, der Joans abwesenden Söhnen auf so unheimliche Weise ähnelte, für die Forscherin nur einen Transporteur des Blutes geopferter Kühe verkörperte – nicht die Geister tot geborener Apostel.

Auch eine Begegnung mit ein paar Bärenjungen wäre schön gewesen.

Solange die Bärenmama sie nicht entdeckte.

Kapitel 2

Da Joan Rand eine kleine Frau mit großem Verstand war, bewegte sich das Gewicht der Rucksäcke eher im Bereich zwanzig als fünfundzwanzig Kilo, eine Tatsache, für die Anna, wie sie wusste, im Laufe des Tages zunehmend dankbar sein würde. Die ersten viereinhalb Kilometer Fußmarsch führten geradeaus durch verhältnismäßig ebenes Terrain. Bei der zweiten Etappe ging es über steile Serpentinen achthundert Meter bergauf.

Rorys Rucksack war ein wenig schwerer, wie es sich für ein jüngeres, stärkeres, höher gewachseneres und vor allem untergeordnetes Mitglied einer Expedition gehörte. Achthundert Meter waren eine Strecke, die Anna in ihrer Zeit im Guadalupe Mountains National Park zweimal pro Woche zurückgelegt hatte, um von ihrem Stützpunkt aus das Hochland zu erreichen. Obwohl sie damals jünger, kräftiger und durchtrainierter gewesen war, hatte sie die Kletterpartie als mörderisch empfunden.

Ein Mitarbeiter des Teams, dessen Aufgabe es war, bei Auseinandersetzungen zwischen Bären und Touristen zu vermitteln, nahm sie mit dem Auto ein Stück die berühmte Going to the Sun Road hinauf mit, die durch den malerischsten Teil des Nationalparks führte. Die Straße war in den Zwanziger- und Dreißigerjahren erbaut worden, als Arbeitskräfte noch genauso billig gewesen waren wie Wildnis wertlos. Er setzte sie in Packer's Roost ab, einer Station für Reiter und Wanderer am Fuße des Flattop Mountain.

Anders als einige Parks, in denen Anna gearbeitet hatte, war der Glacier eine ursprüngliche, keine wiederhergestellte Wildnis. Der Großteil des Gebiets war von Holzwirtschaft, Bergwerksgesellschaften und Viehzucht verschont geblieben. Die Bäume waren alt, und das Land trug nur die Narben von Naturphänomenen wie Waldbränden, Überschwemmungen und Lawinen. Lediglich die alte Brandschutztrasse, der sie am Anfang des Berghangs folgten, war eine der seltenen Ausnahmen.

Da man sie damals von Bäumen befreit und anschließend sich selbst überlassen hatte, hatte sie etwas Märchenhaftes an sich. Ein breiter Streifen aus zartgrünem Moos bildete den Rand des ausgetretenen schmalen Pfades und ähnelte einem mit winzigen, sternförmigen Blüten bewachsenen natürlichen Teppich. Über ihren Köpfen sperrten die fedrigen Kronen von Föhren und Zedern das Sonnenlicht aus. Ein kräftiger, berauschender Duft, wie man ihn nur in den Bergen des Westens findet, lag in der Luft. Mit jedem Atemzug fühlte Anna sich in eine andere Welt versetzt und schwelgte beim Gehen in angenehmen Erinnerungen an die südlichen Cascades in Lassen Volcanic und dem Zipfel der Rocky Mountains in Durango, kurz bevor das alpengleiche Grün an den roten Tafelbergen von New Mexico endete.

Die Einheimischen in Montana beschwerten sich über eine ungewöhnliche Hitzewelle, dank derer die Quecksilbersäule auf um die dreißig Grad gestiegen war. Doch Anna, die gerade einem August in Mississippi entronnen war, genoss die Kühle und den Schatten.

Joan marschierte, gefolgt von Rory, voran. Anna bildete die Nachhut. Im Laufe der Jahre hatte sie die Erfahrung gemacht, dass es möglich war, sich aus der Gesprächszone herauszuhalten und sich am Alleinsein zu erfreuen, wenn man einfach langsamer wurde und ein wenig zurückblieb. Hier kam auch noch die Stille hinzu.

Nichts rührte sich. Kein Vogel flatterte in den Baumkronen und brachte Nadeln und Laub zum Rascheln. Kein Insekt summte. Kein Eichhörnchen schnatterte im Geäst und beschwerte sich über die Ruhestörung. Anna fragte sich, ob in den Wäldern im Westen schon immer ein so ungewöhnliches Schweigen geherrscht hatte. Oder waren ihre Ohren inzwischen an das ständige Konzert des Lebens gewöhnt, das in den Wäldern des tiefen Südens aufgespielt wurde?

Möglicherweise hatte ja auch ein riesiges Raubtier mit spitzen Zähnen die Geschöpfe des Waldes vorübergehend zum Verstummen gebracht.

Anna wartete auf den wohlig-gruseligen Schauder, der eigentlich auf einen solchen Gedanken folgen musste, doch diesmal ausblieb. Ihre Todesangst vor Feuerameisen erstreckte sich offenbar nicht auf Grizzlys. Sie merkte Rory an, dass er ihre Gelassenheit nicht teilte. Auf der Fahrt hierher hatte der Parkmitarbeiter sie mit der Schilderung eines Bärenangriffs unterhalten, mit dem er vor zwei Sommern zu tun gehabt hatte. Im Gebiet Middle Fork am südlichen Rand des Parks waren drei Wanderer verwundet worden.

Joan, die zwar Mitleid mit den bedauernswerten Touristen hatte, jedoch eindeutig für den beschuldigten Bären Partei ergriff, hatte daraufhin ihre Version der Ereignisse zum Besten gegeben. Nur in den seltensten Fällen kämen Menschen zu Tode. Grizzlys, erklärte Joan, griffen normalerweise nicht in der Absicht an, den Betreffenden aufzufressen. Sie behielten ihre Jungen zwei oder sogar drei Jahre bei sich und seien deshalb neben Menschen und Menschenaffen die Lebewesen, die die längste Zeit mit der Aufzucht ihres Nachwuchses verbrächten. Sie zeigten den Kleinen, wie man überlebte, wo man in trockenen Jahren Wasser fand, welche Pflanzen essbar waren und wo sie wuchsen. Eine Grizzlybärin sei erst mit sechs Jahren fortpflanzungsfähig und brächte im Laufe ihres Lebens nur fünf bis zehn Junge zur Welt. Die Folge daraus sei ein stark ausgeprägter Beschützerinstinkt. Wenn sie jemanden – sei es ein anderer Bär oder ein Mensch – als Bedrohung wahrnähme, habe sie also nicht die Absicht, ihn zu fressen, sondern nur, ihm ordentlich Angst einzujagen.

Ganz selten griffe sie eine Gruppe von vier oder mehr Personen an, da sie die Gefahr für sich und ihre Familie als übermächtig einschätze und sich deshalb für die Flucht entschiede. Deshalb empfehle die Parkverwaltung Besuchern, sich niemals allein auf den Weg zu machen.

Der fragliche Bär war von zwei Wanderern überrascht worden, hatte sich auf sie gestürzt und sie verletzt – »So schlimm war es offenbar nicht«, fügte Joan hinzu. »Sie konnten noch gehen.« – und war dann auf seiner Flucht mit einem dritten Pechvogel zusammengestoßen.

»Es ist niemand ums Leben gekommen«, betonte Joan. »Wenn der Bär sie hätte umbringen wollen, wären sie jetzt tot. Wenn er Lust gehabt hätte, sie aufzufressen, hätte er sie weggeschleppt, es getan und die Reste für später in einer flachen Grube versteckt. Ergo hatte der Bär weder vor, sie zu töten, noch, sie zu verspeisen.«

Nach Rorys Miene zu urteilen, war »sie zu töten und zu verspeisen« das Einzige, was von dem Vortrag hängen geblieben war. Seit sie unterwegs waren, spähte er immer wieder in den Wald wie ein Mann auf der Flucht.

Anna war überzeugt, dass sie es nicht bemerken würden, falls ein Bär sie beobachten oder verfolgen sollte. Da im Glacier im Winter tiefer Schnee lag und es im kurzen Sommer jeden Nachmittag regnete, hatten die Wälder hier nicht die offene, an eine Kathedrale erinnernde Gestalt wie die an den östlichen Hängen der Sierra oder am Südzipfel der Cascades. Im Glacier war der Boden dick mit toten und umgestürzten Bäumen bedeckt, die nie verbrannt oder fortgeschafft worden waren. An manchen Stellen lagen sie, geschichtet wie Mikadostäbchen, übereinander. Farne, Heidelbeeren, Bärentrauben, Elsbeeren, die schulterhohe schwarze Himbeere mit ihren breiten Blättern und eine Vielzahl weiterer Pflanzen, die Anna nicht beim Namen nennen konnte, rankten sich zwischen dem verrottenden Holz.

Und ein Bär, der sich verstecken wollte, würde das auch tun.

Als Anna ihren Gedanken in den Wald folgte, wurde ihr zum ersten Mal klar, was für eine Plackerei es werden würde, sich querfeldein durchs Unterholz zu kämpfen, um die Fallen zu kontrollieren und zu versetzen. Insgeheim war sie erleichtert, dass das Hochland ihr Ziel war, das zum Teil oberhalb der Baumgrenze lag. Dass ein gutes Stück außerdem dem Waldbrand von 1998 zum Opfer gefallen war, würde das Vorwärtskommen auch ein wenig erleichtern.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie, als sie um eine Kurve bog, beinahe mit Rory Van Slyke zusammengeprallt wäre. Auf der von den Wildhütern herausgegebenen Liste von Verhaltensweisen zur Gefahrenabwehr im Land der Bären stand »Sei immer aufmerksam« gleich hinter »Gehe niemals allein los«. Bis jetzt hatte Anna in beiden Punkten kläglich versagt.

»Hier hätten wir einen«, stellte Joan gerade fest, als Anna angestolpert kam. »Das ist einer der Scheuerbäume, die wir markiert haben. Ihr müsst nach einer gelben Raute wie dieser Ausschau halten.« Sie wies auf ein Stück reflektierenden Kunststoff, der in einer Höhe, die ein Durchschnittsmensch gerade mal mit dem Hammer erreichen konnte, an den Stamm genagelt war.

»Wir nummerieren sie auch, damit wir genau wissen, an welchem Baum eine Probe sichergestellt wurde. Die Nummern stehen auf der Rückseite des Baums unten am Stamm. Wir wollen die Bäume zwar im Auge behalten, aber nicht jeden Wanderer im Park darauf aufmerksam machen.«

»Wofür ist der Stacheldraht?«, fragte Rory. Im gleichen Moment bemerkte Anna die Stückchen, die in unregelmäßigen Abständen an den Baum geheftet waren.

»Das kratzt sie ein bisschen tiefer und zieht die Unterwolle heraus, an der mit größerer Wahrscheinlichkeit ein wenig Haut hängt, sodass wir leichter an die DNA-Proben herankommen.«

»Macht sie das nicht wütend?« Rory stand die Furcht vor einem aufgebrachten Grizzlybären, der sich womöglich in der näheren Umgebung herumtrieb, ins Gesicht geschrieben.

»Nein«, beruhigte ihn Joan. »Sie mögen das. Das haben wir daran festgestellt, dass sie die mit Draht versehenen Bäume nicht meiden. Sie scheinen sie sogar vorzuziehen. Siehst du die Spuren?«

Das Moos wies die Tatzenabdrücke vieler Bären auf, die den Weg vom Scheuerbaum zum Pfad genommen hatten. Zwei Abdrücke waren vom Hinundhertreten auf der Stelle größer als die anderen.

»Spitze, was?« Anna musste zustimmen.

»Funktioniert das mit dem Pfefferspray wirklich?«, erkundigte sich Rory.

»Es ist das gleiche Spray, das wir auch in der Polizeiarbeit benutzen«, erwiderte Anna. »Es besteht aus einem Extrakt aus superscharfen Chilischoten. Wahrscheinlich klappt es also auch bei Bären. Außer sie haben Geschmack an mexikanischem Essen gefunden. Dann könnte es appetitanregend wirken.«

Joan warf ihr einen Blick zu, der zwar einerseits belustigt war, aber andererseits klarstellte, dass Rory zu ärgern als Zeitvertreib eindeutig ausschied. »Wir werden gar nicht erst in eine Situation geraten, in der wir die Probe aufs Exempel machen müssen«, verkündete sie mit Nachdruck.

»Rory, du bist wirklich eine Ausnahmeerscheinung. Die meisten Jungen lieben Bären. Ich bekomme sogar Fanpost, weil ich die Bärenfrau vom Glacier-Nationalpark bin.« Joans Tonfall war zwar freundlich wie immer, dennoch konnte man nicht überhören, dass die Forscherin gekränkt war. Schließlich machte Rory mit seiner Angst die Bären schlecht. »Ein Junge schickt mir alle paar Tage eine Mail. Er zeichnet eine Karte und möchte wissen, wohin die Bären zum Fressen ziehen.«

»Ich mag Bären«, verteidigte sich Rory.

»Das wirst du schon noch«, versprach Joan.

»Sie würden dich sicher mögen«, fügte Anna unheilverkündend hinzu.

Um dem kindischen Gezänk ein Ende zu bereiten, machte Joan den Fehler, Anna auf die Heidelbeeren hinzuweisen, die zusammen mit schwarzen Himbeeren und Eisbeeren überall wild im Park wuchsen. Im Spätsommer und Herbst, wenn sie reif waren, waren sie die Lieblingsspeise der Grizzlys und Schwarzbären. Sie verschlangen sie tonnenweise, um so viel Zucker und Fett wie möglich für den langen Winter anzusammeln, den sie zusammengerollt in Berghöhlen verbrachten.

Die nächsten anderthalb Kilometer blieb Anna immer wieder zurück, pflückte die leckeren dunkelvioletten Beeren und lief dann den anderen nach, wobei ihr der Rucksack kräftig gegen Hüfte und Kniegelenke schlug, die längst nicht mehr so viel Nachsicht zeigten wie früher.

Joan konnte zwar selbst den Beeren nicht völlig widerstehen, nahm ihre berufliche Verantwortung aber ernster als die Bedürfnisse ihrer unsterblichen, beerensüchtigen Seele.

Auch Rory machte sich eifrig über die Beeren her, bis Anna der Versuchung erlag und sich laut fragte, ob Bären einen nach Heidelbeeren duftenden Atem wohl als unwiderstehlich verlockend empfinden würden. Die Bemerkung brachte ihr einen entnervten Blick von Joan Rand und die bereits von Rory gepflückten Beeren ein.

Als sie den Kipp Creek überquerten, der glitzernd über leuchtend rote, grüne und goldene Steine plätscherte – ein himmelweiter Unterschied zu den schlammbraunen, von Wasserschlangen bevölkerten Bächen, die in Annas neuer Heimat im Süden vorherrschten –, wurde der Beerenhunger von Atemnot abgelöst.

Ohne dass Rory es ahnte, hatte er nun seine Rache, denn er war stärker, als er aussah – und außerdem jünger als viele von Annas Handtüchern. Während des Aufstiegs, der zum Großteil einen freiliegenden Südwesthang hinauf führte, brannte die Sonne vom Himmel. Nach anderthalb Kilometern tat Anna jeder Knochen im Leibe weh. Schweiß rann ihr in die Augen, und ihre gequälte Lunge brannte. Ihr Atem pfiff durch einen vom Offenstehen ausgedörrten Mund, und sie schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Hin und wieder legte Joan im Schatten einer der vereinzelten hohen Tannen eine Rast ein. Anna hätte ihr dafür am liebsten die Füße geküsst, wusste allerdings, dass sie es in diesem Fall nie wieder geschafft hätte, vom Boden aufzustehen. Während dieser Pausen schlug Anna nach den Bremsen, die offenbar versessen auf die Rückseite ihrer Oberschenkel waren, und beschäftigte sich ansonsten zu gleichen Teilen damit, die Aussicht zu genießen und ihre körperliche Unterlegenheit vor ihren Begleitern zu verbergen.

Von ihrer erhöhten Position aus hatten sie sieben Berge im Blick. Vier erhoben sich entlang der Kontinental-Trennlinie und bildeten eine Mauer, die' sie von Westen nach Osten umgab. Die Berge waren nicht grün, sondern blau, mit noch von Schnee bedeckten Gipfeln. Lange Wasserströme, die Tausende von Metern durch Gestein und Wälder führten, ergossen sich über die Felswände.

Die Schlucht, aus der sie sich mühsam herausarbeiteten, war keine Ausnahme. Ein weiß schäumendes Band, abwechselnd Wasserfall, Stromschnellen und Fischteich, war immer wieder zu sehen, als der Berg seine Zauberkräfte spielen ließ.

Anna schwitzte, täuschte Kondition vor und versprach in Gedanken Amy, ihrer Aerobic-Lehrerin, in Zukunft brav zum Kurs zu kommen, falls sie diesen Gewaltmarsch überleben sollte. Deshalb nahm sie nur am Rande wahr, dass links und rechts von ihr zahlreiche Wildblumen wuchsen, die sie eigentlich hätte bewundern sollen.

Um die Mittagszeit erreichten sie den Gipfel. Von einem Gletscher abgeflacht, unterschied sich der Flattop Mountain von seinen spitz zulaufenden Nachbarn. Im Osten erhoben sich die aus Tonerde bestehenden Klippen des Mount Kipp in der Lewis Range über Bergwiesen. Neun Kilometer im Norden fiel die Hochebene des Flattop Mountain steil ins kanadische Waterton River Valley ab.

Auf dem Flattop Mountain verließen sie den bequemen Pfad und gingen durch die Hitze nach Westen in Richtung Trapper Peak. Zwischen den beeindruckenden Felswänden des Flattop Mountain und des Trapper Peak befand sich eine tiefe Schlucht, ähnlich der, der sie beim Aufstieg gefolgt waren. Dort floss der Continental Creek hinunter bis zum tausend Meter tiefer liegenden McDonald Creek, um dort das Schmelzwasser aus dem Gletscher abzuladen. Die erste Haarfalle befand sich in einer kleinen, von einer Lawine geformten Rinne oberhalb der Schlucht, eine Stelle, die Bären nicht minder anzog als die größeren Gewässer, da es hier auch in trockenen Jahren mehrere Quellen gab.

Der Waldbrand im Jahr 1998 hatte sich langsam und schleichend vorangearbeitet und alles verschlungen, was sich ihm in den Weg stellte. Schwarzblaue Baumstümpfe ragten wie Klauen in den Himmel. Da Schatten, Grünpflanzen oder Feuchtigkeit fehlten, lastete die Sonne ebenso gnadenlos auf Annas Rücken wie ihr Rucksack. Bei jedem Schritt knirschten verkohlte Holzstückchen unter den Sohlen ihrer Stiefel. Schwarzer Staub wirbelte auf und vermischte sich mit ihrem Schweiß und dem Insektenmittel, mit dem sie sich die Beine eingesprüht hatte. Trotz des Gifts hefteten sich Pferdefliegen, Bremsen und Moskitos an ihre Fersen. Und da das Zeitfenster, um ihren Durst zu stillen, nur klein war, kannten die Insekten keine Furcht.

Trotz Asche und Ruß war Anna dankbar für das Feuer, das etwa viertausend Hektar von Amerikas schönster Naturlandschaft vernichtet und den Mut des Leiters dieses Nationalparks auf eine harte Probe gestellt hatte – ganz zu schweigen von seinem Glauben an die Vernunft des Direktors der Nationalen Parkaufsicht, da er tatenlos hatte zusehen müssen, wie seine vorgesetzte Behörde dem Brand einfach seinen Lauf ließ, sodass sich die Feuerwalze unaufhaltsam dem kanadischen Teil des Waterton-Glacier International Peace Parks näherte. Es war der einzige Park seiner Art, dessen eine Hälfte in Kanada, die andere in den Vereinigten Staaten lag, weshalb wichtige Entscheidungen in Sachen Umweltfragen und Vorschriften von beiden Ländern gemeinsam getroffen werden mussten.

Der kanadische Behördenchef war in der Frage, ob man der Natur gestatten sollte, einfach nach Lust und Laune weiterzubrennen, weniger optimistisch eingestellt als sein amerikanischer Kollege. Doch dieser war unbeugsam geblieben. Also hatte man abgewartet, bis das Feuer von selbst verlosch, worüber Anna sehr froh war, denn sie war keine große Freundin von Bäumen, die einem den Blick auf den Wald verstellten. Außerdem beseitigte ein Brand das tote Holz, sodass der Boden wieder Licht und Luft bekam. Nur so hatte das strotzende Leben die Chance, auf die notwendige reinigende Wirkung eines Feuers einen Neuanfang folgen zu lassen.

Die verkohlte Erde wurde von einem Teppich aus Gletscherlilien bedeckt, die im goldenen Schein der untergehenden Sonne in einem so leuchtenden und kräftigen Grün erstrahlten, wie Anna es nur von veränderten Bewusstseinszuständen in den Sechzigern und Bildern von Andy Warhol kannte.

Gletscherlilien waren zarte gelbe Blumen, kleiner als eine Vierteldollarmünze, deren hängende, spitze und eingerollte Blütenblätter rote, von Pollen strotzende Stempel umschmiegten wie ein anmutiger Rock. Ihr Laub setzte unten am Stängel an und war, grün und schmal zulaufend, so hoch wie die Blume selbst. Unter all dieser Pracht verbargen sich laut Joan stärkehaltige Zwiebeln. Diese wurden von den Grizzlys im Spätsommer ausgegraben, wenn sie dem Heidelbeerbestand in größere Höhen folgten. Am Höhepunkt der Saison wühlten die Bären gewaltige Gebiete auf, die anschließend aussahen wie umgepflügt.

In diesem Jahr waren die Blumen ein atemberaubender Anblick. Im Glacier war beinahe doppelt so viel Schnee gefallen wie gewöhnlich und oberhalb von zweitausend Metern bis Juli liegen geblieben. Nun fanden Frühling, Sommer und Herbst gleichzeitig statt, da die verspätet aus dem Winterschlaf erweckten Pflanzen im Eiltempo ihre verschiedenen Lebensphasen durchliefen, um vor den ersten kalten Septembernächten ihre Samen zu verbreiten.

»Hey«, meinte Joan. »Wir haben Gesellschaft.«

Widerwillig löste Anna den Blick von den grüngoldenen Blumen.

Auf einem niedrigen Felsgrat, der wie alles andere von der heiß lodernden Feuersbrunst geschwärzt worden war, stand ein einsamer Wanderer. Hinter ihm ragte eine nackte Felswand empor. Vermutlich war sie ursprünglich hellbraun gewesen, wirkte aber nun dort, wo der Regen Ruß und Kohlestaub teilweise weggespült hatte, gräulich wie ein fauler Zahn.

Es war im Park nicht verboten, von den Pfaden abzuweichen. Auch nicht, fernab davon zu campieren, obwohl man dafür eine Sondergenehmigung brauchte. Dennoch kam es nur selten vor und war, wenn man sich allein auf den Weg machte, sträflicher Leichtsinn. Bären stellten beim einsamen Umherstreifen durch die Wildnis die geringste Gefahr dar. Unachtsamkeit und Übermut waren da um einiges bedrohlicher. Ein Ausrutschen, ein Sturz, ein schwer verstauchter Knöchel oder eine zerschmetterte Kniescheibe konnten dazu führen, dass man erfror oder verdurstete, ehe überhaupt jemand auf die Idee kam, einen Suchtrupp loszuschicken.

Rory, der offenbar von einer zwischenmenschlichen Begegnung – sprich, Ruhepause – ausging, ließ sofort den Rucksack fallen und kramte seine Wasserflasche heraus, ein hochmodernes Modell mit eingebautem Filter. Anna gestattete sich kurz, ihn darum zu beneiden.

»Hallo!«, rief Joan fröhlich, denn sie war nun einmal ein freundlicher Mensch.

Ein nettes »Hallo« von einer Frau mittleren Alters war wohl kaum der Stoff, aus dem Albträume gemacht sind. Dennoch hätte Anna selbst aus zwanzig Metern Entfernung schwören können, dass der Mann zusammenzuckte und, offenbar unsicher, ob er die Flucht ergreifen sollte, über die Schulter blickte. Wie ein Hund, der das Jagdhorn hört, war Anna plötzlich hellwach, und ihr Argwohn meldete sich.

»Was mag er wohl im Schilde führen?« Sie bemerkte erst, dass sie laut gesprochen hatte, als Joan und Rory sie erstaunt ansahen. »Was habt ihr?«, fragte sie.

Joan kicherte. Nur wenige Menschen kicherten noch, das leise, perlende Geräusch, frei von Zynismus oder Vorurteilen, das die Vorstufe der Erheiterung ist.

Anna wandte sich wieder dem Mann zu, der sich inzwischen näherte. Ziemlich widerstrebend, wie sie fand. Diesmal jedoch ließ sie sich ihr Misstrauen nicht anmerken. Anfangs hatte sie die geschärfte Aufmerksamkeit, eine zwangsläufige Begleiterscheinung ihrer Tätigkeit im Polizeidienst, als störend empfunden. Im Laufe der Zeit jedoch hatte sie gelernt, diese Seite an sich zu mögen, so als wäre die ständige Suche nach Problemen etwas Erstrebenswertes.

Der Fremde war ihrer Schätzung nach noch ein Jugendlicher, konnte aber auch ein wenig älter sein. Er hatte zwar keinen Bart, doch die Schmutzschicht um seinen Mund hatte eine alternde Wirkung. Offenbar hielt er sich schon eine Weile in der Wildnis auf. Seine auffälligen haselnussbraunen Augen blickten unter wunderschön geschwungenen Brauen hervor. Im Schatten einer Basketballkappe mit einem aufgestickten Delfin auf dem Schirm huschten sie unruhig hin und her, als befürchte er, hinter ihrer kleinen Gruppe könnte sich Verstärkung verbergen, die sich jeden Moment auf ihn stürzen würde. Sein Rucksack war groß und zu schwer für einen Tagesausflug, allerdings auch nicht für eine Übernachtung gepackt. Nach den Dellen im reißfesten Nylon zu urteilen, enthielt er weder Schlafsack noch Zelt. Also hatte der Junge anscheinend irgendwo hier draußen sein Lager aufgeschlagen. Warum schleppte er dann den Rucksack mit Rahmen mit sich herum? Und weshalb der verängstigte Ausdruck in den Augen?

»Du hast dich ziemlich weit in die Wildnis gewagt«, stellte Joan fest und hielt ihm die Hand hin.

Nach kurzem Zögern griff er danach. Arbeiterhände, wie Anna bemerkte. Schwielig, voller Narben und mit abgebrochenen schmutzigen Nägeln. Offenbar war seit seinem letzten Bad eine Weile vergangen. Seltsam für einen so jungen Mann. Sein Hemd hatte Rußflecken, und er trug eine Kette zweimal um die Taille gewickelt.

»Wollen Sie hier zelten?«, erkundigte er sich. Die Frage, die in Annas Ohren nicht sehr freundlich klang, schien Joan überhaupt nicht zu stören, denn sie begann, das Greater Glacier Bären-DNA-Projekt in für einen Laien verständlichen Worten zu erklären. Anna stellte den Rucksack ab und nahm die Wasserflasche aus der seitlich angebrachten Netztasche. Joan missionierte wieder einmal, um bei den Massen für mehr Respekt vor Bären zu werben. Währenddessen versuchte Anna, anhand des Akzents zu ermitteln, woher der Junge stammte. Doch anscheinend war Henry Higgins, der Sprachwissenschaftler aus Pygmalion,der Einzige, dem es gelang, seine Mitmenschen mehr als nur grob nach ihrem Dialekt einzuordnen. Amerikaner machten es durch ihr ständiges Umherschwimmen im Schmelztiegel noch schwieriger. Kindergarten in Milwaukee, Grundschule in San Diego, Highschool in Saint Louis. Anna tippte auf den Süden, irgendwo zwischen Virginia und Texas.

Einer alten Gewohnheit folgend, prägte sie sich sein Äußeres ein. Er war kräftig gebaut, allerdings nicht groß, höchstens eins fünfundsiebzig, und gedrungen, ohne dick zu sein. Seine Figur wies darauf hin, dass er vermutlich um einiges stärker war, als man ihm zutraute. Von einem wohlgeformten Hals gingen breite Schultern ab. Das Haar, das unter der Baseballkappe hervorlugte, war seidig, braun und gewellt. Eines Tages würde sein Gesicht klassisch-markante Züge aufweisen. Das erkannte Anna an der Adlernase und dem abgerundeten, kräftigen Kinn.

Sie trank wieder einen Schluck und setzte sich auf einen Felsen.

Der Junge nahm weder den Rucksack ab, noch machte er es sich wie Anna und Rory gemütlich. Nachdem Joan am Ende ihres Vortrags angelangt war, fragte er sie, wo sich ihre Fallen befanden. Joan zeigte es ihm sofort auf der Karte. Anna ertappte sich bei dem Wunsch, dass sie das nicht getan hätte. Er schien sehr neugierig zu sein, und zwar nicht auf das Projekt, sondern darauf, ihren zukünftigen Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen.

»Ich bin Anna Pigeon«, unterbrach sie nicht sehr höflich. »Und das sind Joan Rand und Rory Van Slyke.« Sie trat auf ihn zu und streckte die Hand aus wie Joan vorhin. Es gab keinen' besseren Weg, um jemanden buchstäblich und im übertragenen Sinne abzutasten. Trotz des heißen Nachmittags war seine Handfläche feuchtkalt. Entweder hatte er Angst oder einen ziemlich niedrigen Blutdruck. Außerdem verströmte er einen scharfen Geruch. Nicht nur den von mangelnder Körperpflege, sondern auch etwas Moschusartiges und Animalisches. »Wie heißt du denn?«

Wieder zuckte er zusammen. »Geoffrey ... äh ... Mic... Mickleson.

»Nicholson?«, hakte Joan hilfsbereit nach.

»Nicholson.«

Nun stand für Anna fest, dass der Junge nicht koscher war. »Woher kommst du denn, Geoffrey?« Im Trace-Nationalpark und in Uniform hätte sie ihn aufgefordert, mit dem Führerschein in der Hand aus dem Auto zu steigen, und zwar schneller, als eine Schwalbe die Flugrichtung ändern kann.

»Oh. Sie wissen schon. Von überall her. Am besten gehe ich jetzt wieder. Es ist ziemlich weit zum Camp.« Als er zum ersten Mal lächelte, widerstand Anna der Versuchung, sich davon einwickeln zu lassen. Sein Lächeln war nicht nur hübsch – die ebenmäßigen weißen Zähne waren vermutlich das Sauberste an ihm –, sondern hatte auch etwas Entschuldigendes an sich. Außerdem eine Unschuld, die an Arglosigkeit grenzte. Da das Lächeln nicht zum Gesamteindruck passte, beschloss Anna, nicht darauf zu achten.

»Wir sehen uns noch«, sagte sie, während er kehrtmachte und den Weg zurückging, den er gekommen war. Es klang eher wie: »Wir werden dich im Auge behalten«, und Anna meinte es auch so. Einige Leute musste man beobachten, und sie war überzeugt, dass dieser Bursche dazugehörte. Allerdings war sie nicht sicher, ob sie ihm wieder begegnen würden. Nicht, wenn er sie zuerst bemerkte.

Ein perlendes Geräusch holte sie in die Gegenwart zurück. Joan grinste, und ihre Augen funkelten eindeutig viel zu belustigt. »Du warst kurz davor, den Kleinen abzutasten und ihm seine Rechte vorzulesen. Das mit dem Abtasten kann ich ja verstehen. Dieses Lächeln war zum Niederknien.«

Rory starrte auf ein verkohltes Holzstück. Offenbar war es ihm peinlich, dass Frauen, die so alt wie seine Mutter – oder sogar älter – waren, anzügliche Gedanken hatten.

»Der Typ ist ein falscher Fuffziger«, rechtfertigte sich Anna.

»Ach, er war sicher nur schüchtern.«

»Er hat einen halb leeren Tramperrucksack mit sich herumgeschleppt.«

»Vielleicht hat er ja seinen Tagesrucksack verloren.«

»Der Rucksack war zu voll für einen Tagesausflug.«

»Möglicherweise fotografiert er ja und hatte Kameras, ein Stativ und Filme dabei.«

»Kann sein«, erwiderte Anna, obwohl sie das nicht glaubte. »Warum hat er sich so dafür interessiert, wo wir hinwollen und wo wir unser Lager aufschlagen werden?«

»Weil er ein netter junger Mann ist und nette junge Männer so tun, als interessierten sie sich für das, was Erwachsene ihnen erzählen. Richtig, Rory?«

»Richtig.« Rory klang so aufrichtig überzeugt, dass Anna am liebsten laut gelacht hätte. Aber sie verkniff es sich, um ihn nicht zu kränken.

»Siehst du? Das ist der Beweis«, stellte Joan fest.

Anna schwieg. Anscheinend steigerte sie sich wirklich in etwas hinein. »Sind wir bald da?«, erkundigte sie sich in klagendem Tonfall.

Kapitel 3

Als sie in der Nähe der ersten Haarfalle ankamen, reichten die Lichtverhältnisse und ihre Kräfte gerade noch, um das Zelt aufzubauen.

Nach Sonnenuntergang wurde es kalt am Berg, da die dünne, trockene Luft die Hitze nicht speicherte. Pferdefliegen und Bremsen machten sich bei Dunkelheit in ihre Verstecke davon, während die Moskitos blieben und, rasend vor Gier, in einer Wolke über dem Lager schwebten.

Trotz ihrer blutdürstigen Übergriffe holte Anna Wasser an einem beeindruckend schönen Bach, der sich, gesäumt von einem Farbenmeer aus Wildblumen, wie ein grünes Band durch die verkohlte Landschaft schlängelte. Sich in der Wildnis sauber zu halten war eine mühsame Angelegenheit, wobei die Anstrengungen nur selten mit einem befriedigenden Ergebnis belohnt wurden. Doch für Anna stellte es eine Notwendigkeit dar, wenn sie nur annähernd bei guter Laune bleiben wollte. Allerdings fielen ihre Waschungen an diesem Abend recht kurz aus, da jedes Stück nackte Haut sofort von fliegenden Plagegeistern attackiert wurde.

Zu müde für kulinarische Experimente oder geistreiche Konversation verspeisten die drei ihre gefriergetrocknete Lasagne und krochen dann in ihre Schlafsäcke. Rory, der im Nachbarzelt schlief, wälzte sich, unruhig und von Geräuschen begleitet, herum. Anna lag neben Joan, kratzte ihre Insektenstiche und fragte sich, ob wohl alle Paradiese auf Erden einen Haken hatten und ob es die Suppe ohne das sprichwörtliche Haar darin überhaupt gab. Dennoch fühlte sie sich ungewöhnlich glücklich. Im Laufe der Zeit waren Wände aus Stoffbahnen und ein harter Boden für sie zu Symbolen der Freiheit geworden, die sie geistig entspannten und ihre Seele beruhigten, wie es ein warmes Bett nie vermocht hätte.

Der Schlaf senkte sich über sie, und sie ließ bereitwillig los.

Die Falle, die sie am nächsten Morgen überprüfen mussten, befand sich an dem wohl ungünstigsten Ort, den die Natur und Wissenschaftler sich hatten erdenken können. Der Glacier National Park war von Lawinenrinnen durchzogen. Diese waren im Laufe vieler Jahre entstanden, wenn der Schnee im Frühjahr weich wurde und, gezogen von seinem eigenen Gewicht, diese natürlichen Rutschbahnen hinunterglitt. Da Schnee und Eis die Rinnen von größeren Pflanzen befreiten, gab es nur wenig, das die von Geröll durchsetzte Erde an den steilen Felswänden gehalten hätte. Regnete es dann, folgte auf die Lawinen meist ein Erdrutsch.

Nur schnell wachsende und anpassungsfähige Pflanzen, die sich ständig erneuerten, konnten unter diesen unwirtlichen Bedingungen überleben. Aus der Entfernung wirkten die Rinnen wie hellgrüne Falten im dunkelgrünen Gewand des Berges: fast kahl und höchstens kniehoch bewachsen. Aus der Nähe waren sie von einer mannshohen, bunten Pflanzenwelt erfüllt: rote Wucherblumen, lavendelfarbenes Flohkraut, grellrosa Feuerkraut, weißer Bärenklau, zartgrüner Nieswurz, kräftig rote Traubenkirschen, weißes Christuskraut mit perlenförmigen Beeren, dunkelviolette Heidelbeeren, leuchtend gelbe Butterblumen und Arnika. Die Bären hatten eine Vorliebe für die Beeren sowie für Bärenklau und Nieswurz. Eine wahre Salatbar also und deshalb der optimale Platz für die Falle.

Die Falle selbst war genial einfach. Fünfundzwanzig Meter Stacheldraht wurden in einer Höhe von fünfzig Zentimetern über dem Boden zwischen mehrere Bäume oder, wie hier, zwischen einem Baum, einem Felsen, einem Baumstumpf und einem weiteren Baum gespannt. In diesem angedeuteten Pferch, in dem ein einzelner sieben Meter hoher Schössling wuchs, verstreute man willkürlich verrottete Holzstückchen.

»Was hältst du davon?«, fragte Joan.

Ihr Tonfall war so stolz, dass Anna sich das Hirn nach einer anerkennenden Bemerkung zermarterte. »Es stinkt nicht«, setzte sie an.

»Genau!«, rief Joan aus, als wäre Anna eine außergewöhnlich begabte Schülerin. Die Forscherin ließ sich auf einen Felsen plumpsen, stützte das Gewicht des Rucksacks darauf und schlüpfte aus den Schulterriemen. »Der Geruch des DNAmits ...«

»DNAmit? Soll das ein Witz sein?«, entsetzte sich Rory.

»So nennen wir den Blutköder«, gestand Joan.

»Mir würden da ein paar drastischere Bezeichnungen einfallen«, merkte Anna an.

»Seid dankbar für DNAmit«, meinte Joan. »Wir haben es mit Honigschleim – eine Mischung aus Blut, Fisch und Bananen – und mit Blinkies Untergang – eine Kombination aus Fischblut und Fenchelöl – versucht. Mein Lieblingsrezept namens Schlachtplatte, flüssig, setzt sich aus Blut, Käseextrakt und zermahlenem Schilf zusammen. Außerdem gab es da auch noch Vicks VapoRub aus Blut, Anis und Pfefferminze.«

»Mir gefällt DNAmit zunehmend besser«, stellte Anna fest.

»Wie dem auch sei«, kehrte Joan zu ihrem ursprünglichen Thema zurück. »Der Geruch legt sich nach einer Woche bis zehn Tagen. Der Liebesduft hält noch kürzer vor.«

»Der Stinktiergeruch in der Filmdose«, sagte Rory. Auch er legte den Rucksack ab. Anna folgte seinem Beispiel.

»Richtig!«, begeisterte sich Joan. Zwei gelehrige Schüler an einem Tag. »Nur, dass das hier Kirschduft ist. Alle zwei Wochen ändern wir die Duftnote. Bären sind hochintelligent. Sie brauchen nur einen einzigen Anlauf, um etwas zu lernen. Und sie bringen es ihren Jungen bei, normalerweise in einer Lektion, die sie sich ein Leben lang merken. Die Bären werden vom DNAmit angelockt und wälzen sich ordentlich, werden aber nicht mit Futter belohnt, weil wir nicht wollen, dass sie sich an die Fallen als Nahrungsquellen gewöhnen. Also zeigen sie sich, wenn sie das nächste Mal Blut und Fisch riechen, möglicherweise nicht so interessiert. Deshalb haben wir den Liebesduft, eine kleine Neuerung, um ihre Aufmerksamkeit wieder zu wecken. Wir haben mit Rizinusöl, dann mit Fenchelöl, Räucherschinken – ein echter Renner – und Kirschduft experimentiert. Jetzt, bei der letzten Fallenrunde, denn die Geschmacksnerven der Bären sind abgestumpft, kommt unser Meisterstück zum Einsatz: Stinktier.«

Endlich ihres Rucksacks ledig, stand Joan auf und schüttelte jedes Körperteil – Füße, Beine, Hände, Arme und Torso – aus, als wolle sie ein Zauberkunststück vorführen. Nach Beendigung des Rituals wandte sie sich der Falle zu. »Der Liebesduft wird hoch oben aufgehängt, damit der Wind ihn verteilt – und damit der erste Bär ihn nicht herunterholt ...« Sie hielt kurz inne. »Himmelkreuzdonnerwetter«, murmelte sie.

Anna lachte. Diesen Ausdruck hatte sie noch nie bei jemandem gehört, sondern ihn nur ein paarmal bei alten Autoren gelesen.