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Steven Amsterdam

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Beschreibung

Evan ist Krankenpfleger, und sein Leben ist chaotisch. Seine energiegeladene Mutter hält ihn trotz ihrer Krankheit ordentlich auf Trab. Seine Freunde Lon und Simon, mit denen er soeben eine Dreiecksbeziehung begonnen hat, wünschen sich mehr als nur ein Abenteuer, was ihn ziemlich beunruhigt. Zu alldem kommt noch sein neuer Job: Im Krankenhaus soll er Menschen, die Sterbehilfe beantragen, auf ihrem Weg begleiten. Witzig und ernsthaft, leicht und tiefgründig, mit Humor und radikaler Liebe erzählt dieser Roman vom Sterben und feiert dabei das Leben.

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Seitenzahl: 449

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Über dieses Buch

Evans Leben ist chaotisch. Seine energiegeladene Mutter hält ihn ordentlich auf Trab, seine Geliebten wünschen sich mehr als nur eine Affäre, und zu alldem kommt noch sein neuer Job: Im Krankenhaus soll er Menschen, die Sterbehilfe beantragen, auf ihrem Weg begleiten. Mit Humor und radikaler Liebe erzählt dieser Roman vom Sterben und feiert dabei das Leben.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Steven Amsterdam (*1966 in New York) lebt seit 2003 in Melbourne, wo er als Schriftsteller und Palliativpfleger arbeitet. Sein Debüt Things We Didn’t See Coming wurde von der australischen Tageszeitung The Age als Buch des Jahres ausgezeichnet und von The Guardian für den First Book Award nominiert.

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Marianne Bohn ist 1982 an der Nordsee geboren und dort aufgewachsen. Nach dem Magisterstudium in Leipzig war sie als Dozentin in mehreren arabischen Ländern und als Buchhändlerin in Hamburg tätig. Sie arbeitet im Buchhandel und als Übersetzerin in Berlin.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Steven Amsterdam

Einfach gehen

Roman

Aus dem Englischen von Marianne Bohn

E-Book-Ausgabe

Mit 3 Bonus-Dokumenten im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 2016 bei Hachette Australia, Sydney.

Originaltitel: The Easy Way Out

© by Steven Amsterdam 2016

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Menschen - Til van Loosen (photocase), Rechtecke - Naoki Kim (Alamy Stock Foto)

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-30996-8

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 27.06.2022, 10:49h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

Unsere Angebote für Sie

Inhaltsverzeichnis

EINFACH GEHEN

LebensqualitätSchmerzmanagementHeldentatenDanksagung

Mehr über dieses Buch

Steven Amsterdam: Ich wollte meinem sterbenden Freund helfen – doch das bedeutete, ihm beim Sterben zu helfen.

»Der Versuch, sein eigenes Leben zu kontrollieren, ist vollkommen absurd.«

»Ich selbst könnte den Job nicht machen - also habe ich mich gefragt, wer das wohl tun würde.«

Über Steven Amsterdam

Über Marianne Bohn

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Lebensqualität

Hier ist das Gift, über das wir gesprochen haben.«

Vielleicht halte ich ihnen den Plastikbecher etwas zu eifrig entgegen, denn der Ehefrau entweicht ein vielsagendes »Oh«.

Die drei Töchter am Krankenbett starren abwechselnd den Becher und ihren ausgezehrten Vater an. Erschüttert.

Leider sind wir heute genau deswegen hier. Der Arzt hat das Rezept ausgestellt und ist bereits auf dem Weg zu einer onkologischen Konferenz. Psychologen und Sozialarbeiter haben das Ihre getan, und das Antiemetikum bewahrt Teddy davor, das Präparat wieder von sich zu geben. Jetzt sind wir dran.

Die älteste Tochter ballt unwillkürlich die Fäuste.

»Brauchen Sie mehr Zeit?«, frage ich Teddy.

»Oh«, sagt seine Frau erneut.

Ihr Name will mir nicht einfallen. Da sämtliche Blicke auf mich gerichtet sind, kann ich schlecht in der Patientenakte blättern.

»Teddo«, sagt sie. »Ich glaube, wir lassen das heute.«

Tief eingesunken liegt ihr Mann zwischen den Kissen des Krankenhausbetts. Er ist einundvierzig, ein Zimmermann, der nicht an Sonnencreme glaubte. An seinem Körper haben kleine, aber hartnäckige Metastasen nur die Zähne verschont. Teddy reckt sich und zuckt zusammen. Ein bläulicher Fuß schiebt sich über das Metall der Bettkante. Er grinst seine Frau an. Nein, nicht sie hat hier das Sagen. Das Ganze hat etwas von einem verpassten Abschiedsgruß, wie das Winken von einem Schiff, das den Hafen bereits verlassen hat.

»Die Sache wird nur schlimmer«, sagt Teddy.

Stimmt.

Der Krebs durchdrang ihn wie Abflussreiniger – zuerst die Krankheit, dann die Behandlung –, nun ist er nur noch Haut und Knochen. Stirn und Wangen umrahmen aschfahle Augen, sein schmaler Körper stirbt von Tag zu Tag ab und wird an den Rändern immer gelber. Seine rechte Seite ist fast gelähmt. Im Vorgespräch erzählte er uns von der Band, in der er an den Wochenenden gespielt hatte. Das ist schon lange vorbei. Körperpflege war schließlich das Einzige, was seine Familie noch für ihn tun konnte. Jeder Tag ist bestimmt von wachsenden Schmerzen und schwindendem Bewusstsein.

Die Älteste, deren Feier zum Ausbildungsabschluss er nicht mehr beiwohnen kann, wollte zeigen, dass sie in der Friseurschule etwas gelernt hat. Sie hat den Flaum, der Teddy nach der Chemotherapie wie einem Küken gewachsen ist, zu einer Art Irokesenschnitt geformt und strahlend blau gefärbt. Nun sieht er aus wie ein gebrechlicher, alter Rockstar. An ihren Fingern leuchten noch die Farbspuren von diesem Blau. Was muss das für eine rührende Szene gewesen sein.

»Wir ziehen das durch«, sagt Teddy zu seiner Frau.

Sie bestätigt die Entscheidung mit einem fügsamen Nicken. Wie viele andere, weniger wichtige Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden sind auf diese einfache Art und Weise beendet worden?

Er hebt das Kinn in meine Richtung. Weiter.

Wie in den Anweisungen beschrieben, halte ich den Becher zwischen uns und spreche klar und deutlich für die Videokamera in der Ecke und den Einwegspiegel am anderen Ende des Raumes. »Wenn Sie das trinken, schlafen Sie nach kurzer Zeit ein und verlieren das Bewusstsein. Einige Minuten später hört Ihr Herz auf zu schlagen. Wiederbelebungsversuche werden nicht unternommen. Sie sterben. Ihre Familie ist die ganze Zeit bei Ihnen. Und ich auch. Wir machen Ihnen den Tod so angenehm wie möglich.« Hier habe ich einen Atemzug eingeplant, der dem folgenden Satz mehr Gewicht verleiht. »Ist dies Ihr Wille?«

Trotz der Anstrengungen des Sozialarbeiters und meiner Offenheit strömen bei der zweitältesten Tochter erneut die Tränen. Sie wirft sich aufs Bett und drückt ihren Kopf in Teddys Taille. Er windet sich, weil sie auf seine Wirbelsäule drückt, legt jedoch die Hand auf ihren Kopf und streicht ihr übers Haar. Schon gut.

Seine Tochter richtet sich auf, versucht tapfer zu sein, zupft an der leuchtend blauen Haarsträhne, doch er greift nach ihren Fingern. »Lass das.« Die Frau nimmt besänftigend seine Hand, er soll seine Tochter in den ihm verbleibenden Minuten nicht maßregeln.

Familienfoto: Drei Hände balgen sich um ein blaues Haarbüschel, miteinander verwoben, doch mit abweichenden Absichten. Die Tochter macht die Strähnen zurecht, der Vater tritt den endgültigen Rückzug an, die Mutter möchte alle beschützen.

Die Jüngste heißt Hannah, glaube ich, aber ganz sicher bin ich nicht. Je länger ihre Kabbelei dauert, desto leerer wird mein Kopf. Nächste Woche feiert sie ihren fünften Geburtstag. Daran erinnere ich mich. Ihre Party soll trotz allem stattfinden.

Die Namen der Kinder darf ich vergessen. Sie sollten gar nicht dabei sein. Nach unzähligen Gesprächen hatte die Ehefrau eigentlich entschieden, dass Teddys Tod die Mädchen überfordert, und die Großeltern gebeten, bei ihnen zu sein. Doch heute Morgen schob sie ihre Töchter ohne Vorwarnung ins Sprechzimmer B, wo sie auf ihren Vater warten sollten. Ich setzte eine wohlwollende Miene auf, als wäre ich über jeden zusätzlichen Anwesenden hocherfreut. Teddys Ehefrau meinte: »So ist es besser. Sie schaffen das.« Kurze Zeit später hatten alle drei ein eilig aufgesetztes Formular unterzeichnet, das ihnen erlaubte, beim Tod ihres Vaters dabei zu sein. Kaum Schniefen. Keine Einwände.

Ursprünglich wollte Teddy seinen letzten Drink in dem Krankenzimmer entgegennehmen, in dem er die letzten Wochen verbracht hatte – wo er die Pfleger kannte und Ausblick auf eine Ecke des Parks hatte. Allerdings entschied die Stationsleitung (noch wahrscheinlicher jemand von weiter oben) gestern Nachmittag, dass es dort nicht stattfinden könnte. Die Verwaltung beschränkt das schmutzige Geschäft lieber auf die dafür vorgesehene Abteilung, damit wir mit unserem Nembutal nicht durch die anderen Stationen schleichen.

In Sprechzimmer B herrscht nicht die typische Krankenhausatmosphäre, habe ich Teddy versichert. Hier unten ist seine Familie für sich. Blassrosa Wände, Polstermöbel und ein kaum spürbarer Luftzug lassen eine gewisse Behaglichkeit entstehen und vermitteln den Eindruck, hier würde zwar über Maßnahmen gesprochen, aber hier würden sie nicht durchgeführt. Es gibt drei Überwachungskameras und direkt nebenan einen Beobachtungsraum. Außerdem liegt es näher an der Leichenhalle. Letzteres diente natürlich nicht als Verkaufsargument.

Obwohl dies mein erster Einsatz als Sterbeassistent ist, habe ich mich heute Morgen professionell auf die unvorhergesehenen Änderungen eingestellt und den Patienten wie gewünscht vorbereitet, doch nun haben wir hier eine Familie, die kurz vor der Meuterei steht. Nettie beobachtet mich von irgendwoher.

Ich sehe Teddy in die Augen, um endlich eine Antwort auf meine Frage zu bekommen. Ist dies Ihr Wille?

Wir beide wissen, dass es so ist. Ich entspanne meine Gesichtsmuskeln, um zu vermitteln, dass er auch jetzt, nach der ganzen Vorbereitung, der Diagnostik, den Gesprächen mit den Psychologen, alle Zeit der Welt hat, es laut auszusprechen.

Sie haben Zeit. Unsere Studien beweisen, dass man das hier nur zusammen durchsteht.

Er dreht sich weg von mir, da die Zweitälteste ihn ablenkt. »Tus nicht, Dad.«

Der Wunsch abzubrechen wurde geäußert. Den Richtlinien nach dürfen wir jetzt nicht fortfahren.

Ich gebe ihnen eine weitere Minute, damit alle noch einmal in sich gehen, die Situation aus einer anderen Perspektive – aus dem Krankenbett oder von der Bettkante – betrachten, die Gedanken schweifen lassen können. Zu einem Weihnachtsfest vor einigen Jahren, als die Mädchen die Geschenke aufrissen, als glaubten sie noch immer an den Weihnachtsmann. Zu einem Nachmittag, an dem sie auf der Suche nach dem Hund durch gruselige Straßen strichen. Oder zu einem der letzten Auftritte mit Teddys Rockband, als Mutter und Töchter in der ersten Reihe standen, mitsangen und ihrem Vater zujubelten. Wenn wir danach das Gespräch neu beginnen, wird jede Reaktion durch dieses kurze gedankliche Umherwandern gefestigt sein. Wie auch immer es ausgeht, es wird sich besser anfühlen, weil sie diese Zeit gehabt hatten.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr über dem Einwegspiegel, durch den Nettie oder irgendjemand von oben, der noch immer seine Zweifel hat, uns wahrscheinlich beobachtet. Uns, sechs Weiße, die dem Tod den letzten Schliff geben. In jedem anderen Land dieser Erde wäre Teddy bereits vor Monaten dahingeschieden, ganz ohne Papierkram. Aber sein Arzt war optimistisch und ließ sechs Runden Chemotherapie in ihn hineinpumpen. Da dies nicht zum gewünschten Ergebnis führte, stehe ich nun hier, stelle die Schweißflecken auf meinem besten Hemd zur Schau und versuche, zumindest in Teddys letzten Minuten alles richtig zu machen, das Unwürdige des Unvermeidbaren zu verhindern.

»Wir machen weiter«, sagt Teddy. Seine Frau und seine Kinder senken ergeben die Köpfe. Dad entscheidet. Seine Dominanz war zwar Thema in den Vorgesprächen, wurde aber durch den Sozialarbeiter und die ewigen Gespräche verwässert.

Der Einwegspiegel zum Beobachtungsraum mag mir nicht durch ein schwaches Glühen verraten, ob wir fortfahren sollen. »Ich brauche eine klare Antwort.« Damit richte ich mich direkt an Teddy und lasse die Familie außen vor. Nicht besonders einfühlsam, aber so lauten nun mal die Vorschriften.

Er zuckt zusammen, als fühlte er sich gedemütigt, weil er in diesem Zustand meinen Anweisungen folgen muss, aber er weiß, warum ich das tue. Zweifellos wird jemand von der Ethikkommission genau verfolgen, ob alles in der richtigen Reihenfolge gesagt wurde.

»Ja. Ich möchte das trinken.«

»Ja?«, frage ich. Die Hälfte haben wir hinter uns.

Stille.

Es muss eindeutig sein.

Es darf nicht der leiseste Anschein entstehen, ich hätte Einfluss darauf gehabt, was heute passiert. Nettie hat angedeutet, dass es hilfreich ist, wenn wir die Anzahl der Aussteiger in Grenzen halten. Wir arbeiten zwar nicht auf Kommission, aber wir müssen die Existenzberechtigung des Projekts belegen.

»Sie möchten also heute sterben?«, frage ich.

Die mittlere Tochter wirft mir einen Blick zu, den weder sie noch ich jemals vergessen werden. Die Ehefrau kaut abweisend auf ihrer Lippe herum. Die Älteste, die mit der Flechtfrisur, starrt den Becher an. Hannah heftet den Blick auf mich. Sie hat die wohltuendste Methode gefunden: intensives Daumenlutschen.

Teddy sieht seine Familie an, sieht mich an und schließt die Augen.

Ich lockere mich etwas, halte den Schicksalsbecher dezent vorm Bauch und trete einen Schritt zurück, um ihnen zu zeigen, dass sie all den Raum bekommen, den sie benötigen. Hoffentlich guckt Nettie zu.

Gestern Nachmittag sagte sie: »Teddy ist ein unkomplizierter Fall. Genau das Richtige für einen Anfänger.« Sie hatte die Vorabgespräche mit Teddy und der Familie geführt, die Befunde gesammelt, die Zweit- und Drittmeinungen bezüglich Teddys Prognose eingeholt und den Psychologen konsultiert, der eine organische Depression ausschloss. Alles wie im Lehrbuch. Gestern Abend habe ich mir einige Interviewaufnahmen angesehen. Teddy erklärte ohne Umschweife: Hier gibt es nichts mehr für mich. Gar nichts.

Die Richtlinien für Maßnahme 961 lassen niemanden so leicht davonkommen. Was bedeutet es für Sie, zu sterben? Wie stellen Sie sich Ihren Tod vor? Wie fühlen Sie sich, wenn Sie an die Menschen in Ihrer Umgebung denken, die ohne Sie weiterleben müssen? Die korrekte Antwort lautet natürlich beschissen, aber nach einem Monat im Krankenhaus weißt du, wie du antworten musst, um das zu bekommen, was du haben willst. Teddy fand ein halbes Dutzend Varianten für Lasst mich gehen. Trotzdem werden die Fragen immer wieder umgestellt, wiederholt und leuchten erneut sämtliche Winkel des Sterbens aus. Nach drei Stunden Video hatte man das Gefühl, dass der leidgeprüfte Teddy einfach nur noch die Befragung beenden wollte.

Für die Konsultationen mit den Töchtern schnappte Nettie sich die Sozialarbeiterin mit dem treuherzigsten Blick, die am besten mit Kindern umgehen konnte. Feine Bluse, Clogs, ergrauende Ponyfransen. Wie eine Grundschullehrerin nickte sie sich durch das Gespräch, egal was gesagt wurde, und hörte so lange zu, bis Dads Exitstrategie als eine weitere zwangsläufige Erscheinung des großen grausamen Krebses erklärt und wegdiskutiert war.

Bei diesen Terminen war ich dabei, allerdings in meiner früheren Funktion. Ich schrieb auf, schätzte ein, hakte ab: Teddys Einstellung (verzweifelt oder pragmatisch?), die seiner Frau (unterstützend oder schicksalsergeben?) sowie die sichtlich unausgeglichenen Haltungen der Töchter. Wenn die Sozialarbeiterin mir zunickte, verschwand ich an den Schreibtisch und formte daraus einen Bericht mit dem ziemlich nutzlosen Ziel, eine Anleitung für kommende Fälle zur Verfügung zu stellen. Da Suizide so einzigartig sind wie Schneeflocken, sind meine Dokumentationen als Handlungsanweisung nicht wirklich zu gebrauchen. Ihre wahre Bestimmung ist die Geschäftsführung, Trakt C, sechster Stock. Ein Becher Nembutal – in Kombination mit der demonstrierten psychosozialen Unterstützung und der folgenden Trauerbegleitung – erfüllt nämlich nicht nur voll und ganz die Wünsche eines Patienten und seiner Familie. Er ist auch noch kostengünstiger als ein Patient, der entgegen seinem Willen und seinen Bedürfnissen ein Bett besetzt und in dem Morphium sowie Pflegekapazitäten für drei weitere, noch erbärmlichere Monate versickern. Einige Krankenhäuser haben bereits aufgezeigt, dass sie sich ebenso gut vierteljährlich ein neues MRT-Gerät anschaffen könnten. Auch kein Verkaufsargument. 

Seine Frau schüttelt die Kissen auf. »Ich will das, was du willst.«

Und dann fällt es mir ein: Sie heißt Geraldine. Ein flüchtiger Blick zum Spiegel. Siehst du, Nettie? So empfänglich bin ich für die Schwingungen hier im Raum, dass mein Gehirn sofort funktioniert, sobald die Familie es tut.

Die Mädchen schließen die Reihen um das Bett, doch Teddy rührt sich nicht. Wenn wir heute abbrechen, ist es sehr unwahrscheinlich, dass meine Station erneut Kontakt zu ihm aufnehmen wird. Soll ich ihm das sagen? Die wenigen, die es versuchten, warteten, bis ihre Schmerzen unerträglich wurden, sie gerade noch eine Woche zu leben hatten und keine Kraft mehr aufbringen konnten, um unsere Fragen durchzustehen. Der Tod erwischte sie zuerst.

Genau wie Nettie dachte auch Lena, die ursprünglich als Sterbeassistentin in diesem Fall vorgesehen war, Teddy würde in Frieden gehen. Er erzählte ihr, dass er es nicht nur wegen der Schmerzen so eilig hatte, sondern auch wegen der Schmerzmittel. Sie verursachten Albträume, in denen es meistens um eine erneute Hochzeit von Geraldine ging. Sein Nachfolger suchte ihn heim. Das machte die Besuche seiner noch-treuen Ehefrau an den noch-trüben Morgen noch komplizierter.

Lena war seit fast einem Jahr fest angestellt. Deshalb hatte niemand ihre Krankmeldung letzte Woche angezweifelt, die sie just an dem Tag einreichte, als einer ihrer Patienten seine Reise antreten sollte. Nettie sprang ein, sodass alles glattlief. Tatsächlich sieht unser Modell vor, nicht unbedingt notwendige Begegnungen zwischen dem Personal und den Familien zu vermeiden. Allerdings erfuhren wir gestern, dass Lena per E-Mail gekündigt und auf die Dialysestation gewechselt hatte. Dort gibt es nicht so große Schmerzen und nicht so viele folgenschwere Entscheidungen, die man treffen muss, da die Patienten einfach langsam in den Tod hinüberschlafen. Nettie und ich kamen gerade vom Mittagessen, als die Nachricht uns erreichte. »Nicht jeder ist für diese Arbeit gemacht, nicht wahr?«, sagte Nettie. Sie starrte aufs Telefon, wartete aber nicht auf die Antwort von der Forschungsgruppe. Innerhalb von zwanzig Sekunden hatte sie das Personalproblem gelöst. »Evan. Du hast dich zwar nicht auf diese Stelle beworben, aber dass du geeignet bist, ist ja klar. Du bist examinierter Krankenpfleger und gehörst sowieso zum Personal, also muss ich niemand Neuen einstellen und das Budget antasten. Du kennst die Eckdaten, du kennst Teddy und seine Familie. Ich könnte morgen bei ihnen sein. Oder du.« Fragend hob sie die Augenbrauen.

Teddy sieht in meine Richtung und knurrt: »Mir ist bewusst, dass ich sterbe, wenn ich das Gift trinke. Das ist mein Wille. Heute. Jetzt.«

Für niemanden, der zusieht oder -hört, ist hier Zwang erkennbar.

Geraldine überschlägt sich geradezu vor Ermutigung. »Ja. Ja, darum sind wir ja hier.« Noch besser.

»Kommen Sie her.« Er winkt mich heran, und ich werde ruhiger. Beinahe froh.

Ein Blick in die Bücher bestätigt, dass die Sterbenden den Weg besser kennen als wir alle. In Höhe seiner Körpermitte stelle ich mich neben das Bett. Die andere Seite ist für die Familie. Diese Gruppierung hat etwas von einem Tribunal, aber ich muss ja nichts weiter tun, als ihm einen Becher zu geben und dann wegzutreten. Genau das habe ich Nettie gestern gesagt: Ich kann das.

»Warten Sie, Moment noch«, sagt Geraldine. »Ich brauche noch eine Minute.«

Teddy sagt »Na klar«, als würde sie nur eben ins Haus gehen, um einen Pulli überzuziehen.

Sie sieht aus dem Fenster. Das Glas ist grünbraun getönt, um den Blick auf den (umzäunten und abgesperrten) Hof der geschlossenen psychiatrischen Abteilung zu verdecken. Aber das spielt keine Rolle. Geraldine scheint darüber hinauszuschauen, in Richtung Horizont.

Meinen sanften Gesichtsausdruck behalte ich bei. Vollkommen entspannt, vollkommen präsent und total offen für alles, was nach Geraldines Minute kommen mag.

Ohne den Blick zu senken, streicht sie das blaue Horn auf Teddys Kopf glatt, legt die Hand auf seine Stirn und lässt sie hinunter zum Hals gleiten. Keine Bewegung, kein Protest.

Nachdem sie die Videoaufzeichnung noch einmal angesehen hat, wird Nettie mir in allen Einzelheiten darlegen, wie es aus ihrer Sicht gelaufen ist. Sie wird vorschlagen, einen Kaffee zu trinken, nicht morgen – übermorgen, nur um zu sehen, wo du stehst. Wir werden uns in eine Nische in der Cafeteria setzen, weit weg von den Patienten mit den Bandagen und den Pflegern mit den Schlüsselbändern. Und ich werde mit dem Becher auf dem Tisch Kreise ziehen, während sie mir ganz genau erzählt, wo ich stehe.

Doch zuerst erkundigt sie sich sicher nach Viv. Wie gehts deiner Mutter?

Alle paar Wochen fragt Nettie ganz vorsichtig, wie ich die Situation mit meiner Mutter empfinde. Da ich eine nahestehende Verwandte mit einer degenerativen Erkrankung habe, erklang bei meiner Aufnahme in dieses Programm leises Aufjaulen in der Personalabteilung. Nettie sieht es als eine ihrer Aufgaben an, über Vivs Verfassung auf dem Laufenden zu sein, falls es mich in Konflikt bringen oder mental beeinträchtigen könnte.

Vivs Zustand hat sich weder verbessert noch verschlechtert. Sie hat Morbus Parkinson, atypisch. Viv behauptet, sie sei als junge Frau auf den Inseln, wo sie den armen Bewohnern die englische Sprache aufzwang, toxischen Substanzen ausgesetzt gewesen und die Krankheit sei das Resultat davon. Die atypische Verlaufsform macht sie stolz. Damit geht allerdings sprunghaftes Fortschreiten einher, und vorher verlässliche Medikamente sind plötzlich unberechenbar. Viv begrüßt und betont diese Ungewissheit noch, indem sie fröhlich Neurologen wechselt und für den jeweils aktuellen, wer immer es auch sein mag, in Begeisterungsstürme ausbricht. Sie ist in eine Einrichtung in der Nähe des Mercy-Krankenhauses gezogen und hat sich sehr gefreut, als ich die Stelle bekam. »Wenn meine Zeit gekommen ist, gibst du mir den Zaubertrank.« Oberflächliches Selbstmordgeplauder, eine übliche Unterhaltung an langen Nachmittagen.

»Du müsstest todkrank sein.«

Sie zwinkerte. »Du wirst es schon möglich machen.« Dieses Zwinkern, das einmal so schnell gewesen war, dass man es kaum wahrnahm, bezog inzwischen ihr ganzes Gesicht mit ein, vom Unterkiefer bis zum Haaransatz, und glich eher einer Grimasse. Doch das ist alles nicht wichtig, denn Vivs Zustand ist traurigerweise unverändert. Was stets das Einzige ist, das ich Nettie erzähle.

An Teddys Seite atme ich absichtlich lange aus, nicht etwa wegen meines wachsenden Unmuts über das holprige Prozedere, sondern um meine warmherzige Unterstützung – egal, was passiert – kundzutun. Namaste und so.

Geraldine umfasst Teddys Nacken noch fester, als wollte sie ihn von mir wegziehen. »Ich kann das nicht. Es tut mir leid, Teddo.« Man sieht, wie sie sich innerlich windet. Das reicht aus, um die Sitzung abzubrechen. Geraldine richtet sich auf, blickt mich an. »Ich glaube, die Familie könnte besser damit umgehen, wenn das hier zu Hause stattfindet. Das kann man doch einrichten, oder?«

Ich nicke sehr langsam, was bedeuten soll: Ja, einige Menschen bringen sich auch zu Hause um. Trag ihn in euer Schlafzimmer, besorg die Medikamente – online oder an der nächsten großen Straßenkreuzung. Er geht seinen Weg, und du wirst in den nächsten Jahren wahrscheinlich mit polizeilichen Ermittlungen beschäftigt sein. Wenn du nicht selbst Gesetze brechen willst, gibt es Organisationen dafür – nicht unbedingt im Telefonbuch, aber durchaus aufzufinden –, die dir helfen können, die notwendigen Präparate zu beschaffen.

Das Unbehagen in dieser Umgebung kann ich verstehen. Zu Hause ist es gemütlich, dort gibt es keine juristischen Leitlinien zu beachten, kein langer Auftakt bis zum Finale, und das Ergebnis ist sicherer als bei anderen medizinischen Eingriffen, zum Beispiel bei Hausgeburten. Es gibt keine Komplikationen zu befürchten, wenn im Endspiel der Tod wartet und alle Spieler motiviert sind. Die Frage lautet also nicht, ob man es zu Hause durchführen kann, sondern warum sie gerade jetzt damit kommt. Es sieht nicht unbedingt nach Bedenken aus, sondern eher nach Feilschen.

Teddy übernimmt wieder das Steuer. »Nicht später. Jetzt.«

»Aber was ist mit uns?«, protestiert Geraldine. »Was …«

Teddy streckt seine Unterlippe vor, setzt ihrem Einwand ein Ende. Liebevoll drückt sie seinen gesunden Arm, als könnte sie ihn so zu einer Meinungsänderung bewegen. Er dreht sein Handgelenk so lange, bis sie loslässt.

Die juristische Abteilung wird diese Szene lieben.

»Wenn Sie mehr Zeit brauchen«, sage ich, »oder ich die Sozialarbeiterin rufen soll … Wir müssen nicht …«

»Nein. Es soll heute sein«, sagt Geraldine. Sie und ihre Töchter senken den Blick auf Teddys Beine, die sich unter der Bettdecke abzeichnen, als wären es gar nicht seine. Immerhin hat sie es versucht.

Hannah wickelt einen Zipfel des Bettzeugs um den spuckefreien Daumen und zieht so lange daran, bis Teddy seine Hand nach ihr ausstreckt. Jemand muss sie knuddeln, damit sie Ruhe gibt. Sie stößt seinen gelähmten Arm in meine Richtung. Beinahe trifft er den Becher.

»Bitte, setzen Sie sich«, sagt Teddy. »Dann machen wir weiter.«

Freundlich und für alle sichtbar – für die Familie, mögliche Beobachter im Nebenzimmer oder die Videokameras an der Decke – schaue ich ihm in die Augen. »Wenn alle einverstanden sind, fahren wir fort. Keine Eile.«

»Wir stehen das zusammen durch«, sagt Geraldine. »Es soll heute sein.«

Teddy kommt direkt zur Sache. »Ich möchte das Gift trinken. Ich möchte sterben. Heute. Jetzt.«

Einige Sekunden lasse ich verstreichen und gehe dann ganz nüchtern die Litanei der letzten Einverständniserklärungen durch. Das rotwangige Engelchen Hannah bedenkt mich mit einem noch fieseren Blick als ihre Schwester, was einen doch schon aus der Fassung bringen könnte. Über die steifen Formulierungen hinweg – wir beachten und bestätigen; Sie nehmen zur Kenntnis und entbinden uns der Verantwortung – versuche ich, meine beruhigenden Schwingungen auf sie ausstrahlen zu lassen.

Teddy äußert sein letztes Ja und richtet den Blick auf meinen Arm. »Hey, was machen Sie denn?«

Während dieses ganzen Hin und Hers hatte sich meine Hand, die den Becher hielt, an irgendeinem Punkt geneigt und einen länglichen Fleck giftiger Nässe aufs Bett getröpfelt.

Nun habe ich das Fass zum Überlaufen gebracht. Der Becher ist halb leer. Halb voll hätte ein anderer wohl sagen können, aber nicht ich.

In dem schwindelerregenden Moment, in dem wir langsam begreifen, was dieser Zwischenfall, dessen Ergebnis auf dem kaum absorbierenden Bettzeug schwimmt, für den Fortgang der Show zu bedeuten hat, sprengt die Pfütze die Szene, indem sie überläuft und auf das graugrüne Linoleum hinuntertropft.

Als nicht besonders intelligente Reaktion darauf ziehe ich meine Hand hastig zurück, woraufhin eine ähnlich große Menge Nembutal auf meinem Hemd und meiner Hose landet.

Mein benommenes »Scheiße« klingt unwirklich.

Primum non nocere. Ich habe geschadet.

Nettie wird bei der Nachbesprechung gnadenlos sein und damit nicht bis übermorgen warten. Ich bleibe sitzen, versuche verzweifelt, weiterhin ungestörte Ruhe und Versöhnlichkeit auszustrahlen – auch auf mich selbst.

Teddy, der seinen Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen die ganze Zeit auf- und zugemacht hat, wirft seinen Kopf zurück. »Ihr wart alle gegen mich. Alle.« Seine Stimme versagt. »Um diese eine Sache habe ich gebeten. Nur darum.«

Die Töchter treten schuldbewusst einen Schritt zurück und gucken zu Geraldine, die gar nicht hinsehen kann. Sie bedeckt die Augen mit den Fingerspitzen.

»Es tut mir leid«, sage ich. »Ich bring das in Ordnung. Ich bestelle eine Ersatzdosis. Sobald sie fertig ist, bin ich wieder hier. Das dauert nur ein paar Minuten. Es tut mir wirklich leid.«

Teddy ist nicht bereit für Verhandlungen. »Eine letzte Gnade«, murmelt er vor sich hin. »Das war alles, was ich wollte.«

Hannah, total verwirrt, versteckt das Gesicht an der Hüfte ihrer Mutter.

Die Familie rückt näher heran, versichert Teddy, nein, sie standen voll und ganz hinter ihm.

Unmöglich zu haltende Versprechen sprudeln über meine Lippen. »Wir können die Fragen überspringen. Ich bin in zehn Minuten zurück. Maximal fünfzehn.«

In Wahrheit muss ein Fehler dieses Ausmaßes im ganzen System dokumentiert werden, was bedeutet, dass ich mindestens zwanzig Fragebögen bearbeiten muss, bevor ein weiterer Becher Nembutal verabreicht werden darf. Allein dafür brauche ich fünf bis zehn Minuten. Die Ersatzdosis herzustellen kann zusätzlich Zeit kosten, es kommt drauf an, wer gerade Dienst hat, und es erfordert Netties Unterschrift. Falls sie nicht von nebenan zugeschaut hat, wie sich die Katastrophe anbahnte, muss ich sie auch noch suchen. Sie wird schon ans Telefon gehen, egal wo sie ist, aber was soll ich ihr sagen? Waren es meine Anfängernerven? Eine Offenbarung meines eigenen, unterbewussten Urteils? Hat meine Hand als eine Art Bevollmächtigter für die Töchter agiert? Oder war es nichts Psychologisches, sondern einfach nur die erste, zeitlich ungünstige Ankündigung meines eigenen Parkinsons?

Egal warum. Selbst wenn ich Nettie fände, mit dem obligatorischen Verwaltungstanz Buße täte, der Apotheker ein Wunder vollbrächte und wir die Zeit auf unserer Seite hätten, würde es alles in allem eine halbe Stunde dauern, und bis dahin wäre hier in Sprechzimmer B sicherlich ein Aufstand ausgebrochen. Abbruch.

Geraldine drückt die Finger gegen die Stirn. »Gehen Sie einfach.«

»Verstanden. Ich gebe Ihnen noch ein wenig Zeit allein und dann …«

»Raus!«

Das Mädchen mit den blauen Händen hat Mitleid mit mir. Ich auch.

»Bin schon weg.« Als ich aufstehe, läuft das Nembutal von meiner Hose über meine Schuhe auf den Boden, was wiederum Rutschgefahr verursacht, die gemeldet werden müsste – ganz zu schweigen von der unbeaufsichtigten Familie im Sprechzimmer, ein weiterer Verstoß.

Ich habe vor, im Flur einen Verwandten in tiefer Trauer zu mimen, bis die Familie in tiefer Trauer mir sagt, wie es weitergehen soll. Draußen gehe ich an der auf Hochglanz polierten Wand in die Hocke, um die dunklen Flecken auf meiner Hose zu verbergen.

Wenigstens ist es kühler hier unten.

Auf einer Trage rollt ein belegter Leichensack auf dem Weg in die Leichenhalle an mir vorbei. Die rüttelnde Masse da drinnen scheint sich über mich lustig zu machen, lässt mich wissen, dass irgendjemand irgendwo im Krankenhaus sehr wohl weiß, wie man einen Leichnam produziert.

Erst mal Luft holen: Im goldenen Buch der Medikationsfehler heißt es, der missglückte Tod eines Patienten ist nicht das Ende deiner Laufbahn. Wenn Nettie mir wohlgesinnt ist, wird sie mich zurück in die Forschungsgruppe stecken. Wenn nicht, kann ich in die Psychiatrie wechseln, wo es ständig eine geballte Ladung an Beschwerden hagelt, sodass dieser kleine Ausrutscher niemanden interessiert. Falls entschieden wird, dass meine Unfähigkeit sogar für das Mercy zu schwer wiegt, kann ich immer noch in eins der besseren Viertel gehen und das Doppelte verdienen. Gar nicht so schlechte Alternativen.

Viv wäre nicht so begeistert von meiner Idee, als Privatpfleger zu arbeiten, denn alles, was gut bezahlt wird, ist aus ihrer Sicht moralisch nicht vertretbar (beim Sterben zu helfen oder einen Royal Flush zu halten ist davon ausgeschlossen). Nach einer Weile wird sie schon aufhören, sich zu beschweren. Schließlich trägt mein Gehalt zur Abzahlung ihrer Hypothek bei und bettet sie weich in Willow Wood.

In schillernden Farben male ich mir die Möglichkeiten aus, als Nettie um die Ecke biegt. Das heißt, zuerst höre ich ihre fürs Krankenhaus eigentlich zu feinen Schuhe. Sie hat die elegantesten Waden, die ich bei einer Fünfzigjährigen je gesehen hab, und sie sind immer zu sehen. Das Schlüsselband und ihr Namensschild sind verwegen über ihrer linken Brust platziert. Am meisten ermutigt mich der Plastikbecher in ihrer Hand. Um ihr die volle Aufmerksamkeit zu schenken, rutsche ich an der Wand wieder hoch. Mit der freien Hand segnet sie meinen Kopf mit einem freundlichen Klaps. Ich bin nicht arbeitslos.

Sie streckt mir den Becher entgegen. »Gleiches Mittel, gleiche Dosis.«

»Für mich?«

»Nein. Bist du bereit?«

»Brauchen sie mehr Zeit?«

»Du?« Sie gibt mir den Becher. »Vertrau mir. Es wird schon klappen. Du warst nervös. Das kommt vor. Nichts Neues.«

Sie hält meine andere Hand. Zuerst denke ich, sie will mir ihren Beistand ausdrücken, doch dann greift sie fester zu, formt aus meinen Fingern eine Faust und klopft damit an die Tür.

Die älteste Tochter öffnet. Ich atme tief durch und trete ein. Die Atmosphäre ist noch immer angespannt. Nettie folgt mir und schließt die Tür. Obwohl ich ein scheinbar selbstschwitzendes Hemd trage, gehe ich zuversichtlich weiter, den Becher kerzengerade haltend.

Nettie übernimmt die Einleitung. »Hallo, Geraldine. Hayley, Ruby, Hannah.« Sie sieht mich an, als sie ihre Namen nennt. »Ich bin darüber unterrichtet worden, was hier geschehen ist und …« Sie hebt die Schultern angesichts der Ohnmacht der Sterblichen und spricht uns alle damit frei. »Teddy, ich konnte eine Ersatzdosis Nembutal für Sie bekommen, wenn es das ist, was Sie möchten.« Sie deutet auf den Becher in meiner Hand.

»Ja, das möchte ich.« Mit schräg gelegtem Kopf sieht er seine Frau und seine Töchter an. »Bitte.« Zum ersten Mal bittet er sie um etwas, statt zu befehlen. Und vielleicht ist es das, worauf wir in der letzten Stunde hingearbeitet haben.

Sie willigen ein.

»Dann fahren wir an der Stelle fort, an der wir aufgehört haben.« Damit löse ich weitere Umarmungen aus.

Nur ich höre Netties zufriedenes Glucksen.

Teddy wirft dem Ersatz-Nembutal einen vernichtenden Blick zu und sagt: »Bringen Sie es her.«

Nettie signalisiert mir, dass das genug Zustimmung ist. Ich gebe ihm den Becher in die gesunde Hand, und er trinkt ihn in einem Zug aus.

Das Zeug muss tödlich schmecken, doch Teddy verzieht keine Miene. Entweder will er den anderen nicht noch mehr Beschwerden zumuten, oder er hat auf seine alten Tage schon Schlimmeres zu sich nehmen müssen. Den Becher lässt er auf die Bettdecke fallen. Träge massiert er den Hals, damit es leichter runtergeht.

Nettie berührt mich am Handgelenk und dirigiert uns in den Hintergrund. Indem ich meine Hände wie ein Bestatter vor der Brust falte, zeige ich, dass ich mich respektvoll zurückziehe, aber noch immer erreichbar bin. Falls er zum Beispiel alles wieder erbricht.

Die Töchter igeln sich neben ihm im Bett ein, um keine seiner letzten Regungen zu verpassen. Sie versuchen nicht einmal, nicht zu weinen. Die Ich liebe dichs werden angestimmt, dann auch ein paar Du wirst uns fehlen eingestreut. Geraldine steht hinter ihnen, überwacht alles. Die Familie wird nun ganz ihr gehören.

Teddy tröstet sie, guckt gierig von einem Gesicht zum anderen. »Ich werde euch Mädels so vermissen.«

Nach den ewigen Interviews und dem ganzen Mist, der passiert ist, macht mich dieser Satz jetzt fertig.

Sterbeassistenten sind angehalten, Betroffenheit zuzulassen und zu äußern. Den Tränen nahe zu sein ist erlaubt, es wird sogar dazu ermutigt, weil es Mitgefühl ausdrückt. Weinen nicht unbedingt. Aber er wird sie vermissen.

Um die Beherrschung nicht zu verlieren, zähle ich die Ich liebe dichs (bisher sind es einundzwanzig). Meiner Kehle entweicht ein winziger Schluchzer.

Teddy sagt: »Es wird alles gut – besser als gut. Es wird wunderbar.«

Geraldine lächelt, so gut sie kann, und kauert sich zu den Töchtern aufs Bett. »Es wird alles gut. Für euch, für mich.« Sie zieht Teddy an sich. »Für uns alle.«

Um nicht noch weitere Geräusche zu verursachen, versuche ich, meinen Atem gleichmäßiger fließen zu lassen. Das Einzige, woran ich denken kann, ist, dass für einige Zeit gar nichts gut sein wird, für niemanden.

Teddy versucht ebenfalls, es positiv zu sehen. »Ihr geht wieder zur Schule, und dann …« Er stolpert über das, was er sagen wollte, und für einen langen Augenblick kann er nicht weitersprechen. »Lasst uns einfach zusammen sein«, sagt er dann. Eine Minute später fallen ihm die Augen zu. Dann ist er weg. Es ging sehr schnell.

Im krampfhaften Versuch, einfach irgendetwas zu tun, stopft Geraldine ein weiteres Kissen unter seinen Kopf, wodurch Teddys flache Atmung noch deutlicher zu hören ist.

»Ist er tot?«, fragt mich Hayley.

»Noch nicht.«

»Kann er uns noch hören?«, fragt Ruby.

»Ein Teil von ihm bestimmt«, sage ich.

Hannah beugt sich über ihn und schreit »Daddy, wir lieben dich!« in sein Gesicht. Was versteht sie eigentlich von dem ganzen Geschehen?

Nettie tupft sich die Augen mit den Fingerknöcheln ab.

Hayley fragt: »Wie lange dauert es, bis er wirklich …?«

»Noch ein paar Minuten.«

Statt schockiert zu sein, beobachten sie nun neugierig jeden Atemzug, warten darauf, dass der Tod die Macht übernimmt.

Plötzlich atmet Teddy heftig ein, als hätte er sich erschreckt, gefolgt von einem Glucksen. Hayley sieht mich hilfesuchend an. Nettie bemerkt es. Sehr gut.

»Ich glaube nicht, dass er noch bei Bewusstsein ist«, versichere ich Hayley. »Das war nur ein Reflex.«

Er wird lauter, fast als würde jemand ertrinken. Ich sage ihnen, wie sie seinen Kopf hinlegen können, damit die Geräusche aus seiner Kehle nicht so beängstigend klingen. Dieser feuchte Kehllaut ist das Letzte, was sie von ihm hören.

Vorige Woche hat Nettie eine Assistenz durchgeführt, die reibungslos ablief. Gestern Abend habe ich sie mir zu Übungszwecken noch einmal angesehen. Eine ziemlich junge Frau mit amyotrophischer Lateralsklerose im fortgeschrittenen Stadium. Den Becher konnte sie noch anheben. Keine Anwesenden, die sie mit Ich liebe dichs überschütteten, nur ein leises »Danke, Nettie«, als sie die Augen schloss und wartete. Nettie massierte mit professioneller Warmherzigkeit die Hand der Frau, bis der Hals sich entspannte und der Kiefer nach unten sackte. Ein paar Minuten schwachen Röchelns, dann Stille. Für den Bruchteil einer Sekunde schien meine Vorgesetzte verunsichert. Allein mit der Leiche, suchten ihre Augen beinah panisch den Raum ab, als hätte die Frau ihr einen Streich gespielt, sich im Schrank oder unterm Bett versteckt. Der Moment ging vorbei, aber die Schauerlichkeit des Todes war für kurze Zeit greifbar.

Eine letzte Blase perlt aus Teddys Kehle, dann ist es vorbei. Auf den anderen Stationen wäre dies ein Notfall, hier entspricht es dem gewünschten Resultat.

Geraldine ist alleinerziehend.

Ich leite die Familie durch diesen Augenblick, indem ich ihnen mit aller Kraft verständige und respektvolle Gedanken sende. Geraldine, die den Göttern, die sie hierhergebracht haben, nie verzeihen wird, zieht ihre Töchter an sich. Ihre Mimik verrät, dass sie gleich in Tränen ausbrechen wird. Dann erreicht uns der Geruch. Ein Furz oder Schlimmeres von Dad. Hannah ist nicht zu traurig, um sich die Nase zuzuhalten. Dieser Stimmungskiller ist mein Stichwort. Ich greife um das Umarmungsknäuel herum und ziehe die Decke vom Fußende hoch über Teddys Brust, um die Ausbreitung des Geruchs zu begrenzen.

Durch den Mund atmend, kontrolliere ich den Puls am Handgelenk und an der Halsschlagader. Die Familie macht mir bereitwillig Platz, während ich, mit den Fingern auf Teddys trübem warmem Blut, die obligatorische Minute abwarte.

Geraldine beobachtet, wie ich exakt null Pulsschläge zähle. »Dad ist jetzt tot«, sagt sie den Kindern.

Ich bestätige das mit einem doktorhaften Nicken. »Möchten Sie mit ihm allein sein?«

»Nein, das möchte ich nicht«, sagt sie mit einer Bestimmtheit, die sie während des ganzen Vormittags nicht gezeigt hat. »Er ist nicht mehr hier.«

Im Hintergrund lässt Nettie ein Papierhandtuch auf die Nembutal-Pfütze fallen und schiebt es flink mit dem Fuß unters Bett. Dann führt sie die Töchter, die sich entschieden haben, den nun folgenden Teil zu überspringen, über den Flur in den Abschiedsraum, Sprechzimmer C.

Geraldine und ich bleiben hier, um die Leiche zu waschen. Ich fülle die Waschschüssel, bringe Handtücher aus dem Badezimmer und ziehe die Bettdecke weg. Ein ausgezehrter, fahler Leib, der in einer Stunde sogar noch lebloser aussehen wird. Ich wasche den einen Arm, sie den anderen. Sie betrachtet jede einzelne Hautfalte. »So behalte ich ihn nicht in Erinnerung«, sagt sie.

Sein Gesicht lasse ich sie waschen. Sie drückt auf den Totenflecken herum, die dort entstehen, wo der Körper auf der Matratze aufliegt. Wenn das Herz aufhört zu schlagen, gehorcht das Blut der Schwerkraft.

Wir stehen uns gegenüber und ziehen ihn bis auf seine halb volle Schutzhose aus, die ich abnehme und entsorge. Ich beginne, seinen Rumpf zu waschen. Seine Beine. »Heute Morgen hat er mir erzählt, dass er vom Sterben geträumt hat, nur dass es nicht hier stattfand. Wir saßen in einem Ruderboot auf einem See, zu dem wir mal mit den Mädchen gefahren sind. Dort wäre er wirklich am liebsten gegangen, genau in der Mitte des Sees. Sie waren auch da. Wir hatten gestern erst erfahren, dass Sie es sein würden, aber Sie haben es in seinen Traum geschafft. Sie sollten sich geschmeichelt fühlen. Ich hab letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen. Er hatte sein Morphium. Ich glaub nicht, dass er das alles wirklich geträumt hat, aber es war süß von ihm, mir das zu erzählen. Und typisch, er wollte mich damit unterstützen. Er sagte, im Traum ist alles gut gegangen.«

Lieber drücke ich schweigend den Waschlappen über dem Becken aus, statt auf die Unterbrechungen während des heutigen Eingriffs einzugehen oder mich zu fragen, ob Teddy wirklich einen Albtraum über Geraldines nächsten Ehemann hatte oder ob sich die neue Witwe mit ihrer Anekdote nicht einfach selbst unterhalten will. Zusammen heben wir sein blasses Knie an, sodass wir ihn zu Geraldine umdrehen und ich seinen Rücken waschen kann.

Sie beugt sich über seine Schulter und riecht zum letzten Mal an seiner Haut. »Riecht nicht mal mehr nach ihm.«

»Krankenhaus«, sage ich.

Sie lächelt mich höflich an. »Nun ist er endlich da, wo er sein wollte. Am Ende des Traums, meinte er, hätten wir ihn nackt ins Wasser gleiten lassen.«

Nachdem Teddy die kurze Reise in die Leichenhalle angetreten hat und die Familie nach Hause gefahren ist, schlage ich Nettie in einer ängstlichen Nachricht vor, die Besprechung vorzuziehen. Sie schreibt sofort zurück.

O ja.

In ihrem Büro warte ich auf sie. Seit der letzten Renovierung des Gebäudetrakts befinden sich dort zwei riesige Schreibtische. Da sie, genau wie die alten Computer und Bildschirme, die uns überlassen wurden, für das Zimmer einfach zu groß sind, wurden sie an gegenüberliegende Wände geschoben. Der eine gehört Nettie, der andere ist für einen Springer reserviert, der meistens ich war.

Teddys Tod wird aus mehreren Kameraperspektiven auf meinem Monitor wiedergegeben. Ich sehe es mir in zeitlupenhafter Ausführlichkeit an. In dieser Szene ist meine Haltung zu offen, also ziehen sie sich zurück. Hier schiele ich, der Verkäufer des Todes, in den Einwegspiegel und erhoffe Rettung. Und nun sehen wir, wie die Zweitälteste mir einen angeekelten Seitenblick zuwirft, weil ich mich ans Protokoll halte.

Teddys Bettwäsche verdeckt den peinlichen Bewegungsablauf, der zum Verschütten des Präparats geführt hat, also kann ich darüber nichts sagen. Die einzige Erleichterung – sofern die Ethikkommission dies bemerkt – ist, dass während der kurzen Zeit, in der ich mich nicht im Zimmer befinde, die Anwesenden zwar noch immer fassungslos und frustriert sind, aber keinen Gedanken an einen Abbruch verschwenden.

Wenn Lena assistierte, schien sie stets ganz auf sich selbst fokussiert zu sein. Eine meiner früheren Aufgaben war, die Zufriedenheit der Familie nach dem Eingriff zu bewerten und, wenn vorhanden, mit der Selbstbewertung des Helfers abzugleichen. Lena war die ganze Zeit mit ihrem eigenen Befinden beschäftigt, was sie mehrere Male unprofessionell erscheinen ließ. Entweder kämpfte sie schon mit den Tränen, während sie noch den Becher aushändigte, oder sie starrte durchgehend auf einen einzigen Punkt, als wartete sie auf einen Burger, der bald durchgebraten sein würde. Warum und für welche dieser beiden Varianten sie sich entschied, verriet sie in ihren Reflexionsberichten. Der Patient erinnerte sie entweder an einen Angehörigen oder an sich selbst. Es kam außerdem darauf an, welchen Eindruck sie ihrer Meinung nach bei den Patienten hinterließ: ob sie die große Menschenfreundin, eine Aktivistin, Söldnerin oder der Teufel war. Es traf sie am härtesten, wenn sie zuvor eine tolle Nacht gehabt hatte. Dass sie eine Waise war, spielte auch eine Rolle. Ihre Mutter hatte einen Herzinfarkt erlitten, als Lena zehn war, und zwei Jahre später stürzte ihr Vater mit dem Fahrrad und starb ebenfalls. Lena war deshalb der Ansicht, dass sie, egal ob die Ursache organischer oder zufälliger Natur war, plötzlich sterben würde und daher überhaupt nicht mit unseren bedauernswerten Patienten vergleichbar war. Bei nicht wenigen Berichten schrieb ich an den Rand: Ich stelle die Eignung dieser Pflegerin für diese Aufgabe infrage.

Na, wie war mein Auftritt, verglichen mit Lenas?

Noch einmal sehe ich mir den Snuff-Film mit den Augen eines Forschers an, dokumentiere jede Bewegung im Raum, zähle die Tränen und so weiter. Es ist eine Absicherung für meinen Job, egal, welcher mir am Ende bleibt. Ich beobachte die Familie, lasse meinen Leichtsinn links liegen und konzentriere mich auf die üblichen bangen Höhepunkte (der Assistent erscheint mit dem Becher in der Hand und trägt die bedrückenden, aber notwendigen Worte vor) und die bösen Tiefpunkte (Teddys Beharren darauf, dass es heute stattfindet). Die winzigen Dialoge zwischen den einzelnen Personen werden zu Absätzen, die unsere große Achtung gegenüber den Klienten und unsere aufrichtigen Anstrengungen betonen, nur Gutes für sie zu tun. Nettie freut sich am meisten über die Floskeln, denn ihr Ziel ist es, die Einwände des Krankenhausdirektors in Datenmaterial zu ersticken.

Wahrscheinlich wird sie irgendwo aufgehalten, denn sie kehrt nicht an ihren Schreibtisch zurück. Deshalb bin ich sehr zuversichtlich, noch einmal assistieren zu dürfen.

Ich mache mich mit dem nächsten Fall vertraut.

Uma ist Zahnärztin und genießt ihren Lebensabend. Letztes Jahr pilgerte sie auf dem Jakobsweg, davor bestieg sie den Fuji, und vor zwei Monaten begann ein Tumor an ihrem weichen Gaumen zu nagen. Als sie die Diagnose kurz vor ihrem zweiundsechzigsten Geburtstag erhielt, brauchte sie keine weitere Erklärung. Von Medikamententests kann man nur träumen, aber selbst wenn es sie gäbe, ist die Krankheit bei ihr dafür bereits zu weit fortgeschritten. Die Psychologen stufen sie als vernünftig ein, bereit zu gehen. Zwei Wanderkumpel und ihre Partnerin werden dabei sein.

Plötzlich erscheint der Selbstbewertungsbogen auf meinem Bildschirm, auf dem Teddys Akte noch immer geöffnet ist. Das Fenster ist zeitlich so programmiert, dass wer auch immer die Assistenz durchgeführt hat, danach aufgefordert wird, seine Gefühle zu dokumentieren. Ihn auszufüllen ist freiwillig, aber man steht unter einem gewissen Druck, und er hat außerdem, wie die Untersuchungen gezeigt haben, therapeutische Wirkung.

Ich ziehe den Pfeil auf den kleinen roten Punkt in der Ecke und schließe das Fenster.

Als ich um kurz nach fünf durch die Schiebetüren des Krankenhauses flüchte, frage ich mich, wie die noch nicht ganz fünfjährige Hannah wohl diesen Nachmittag beschreiben würde. Man stirbt, wenn so ein Typ dir sagt, du sollst aus einem Plastikbecher trinken. Wie wird sie damit umgehen, wenn eine Zahnarzthelferin ihr das erste Mal einen Becher mit Wasser reicht und ihr sagt, sie solle ausspülen?

Das Folgende ist zwar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, aber die erste Begegnung zwischen dem hier anwesenden Assistenten und dem Tod könnte durchaus relevant sein. Ich bin sechs und trinke irgendetwas Orangefarbenes aus einem Trinkpäckchen. Viv steht im Flur und versucht zitternd, das schnurlose Telefon auf die Ladestation zu legen. Der Hörer fällt herunter und schlittert über den Holzfußboden. Das ist kein Symptom ihres Parkinsons. Langsam hebt sie ihn hoch und legt ihn zurück. Ihre Schwiegermutter hat gerade angerufen, weil mein Vater gestorben ist. Unser tannengrüner VW verfehlte eine Haarnadelkurve im Nationalpark. Er rammte einen Baum, fiel einen Hang hinunter, landete mit dem Dach nach oben auf einer Anhöhe in einem flachen Flussbett und ging in Flammen auf. Genickbruch, Verbrennungen, Ersticken. Diese Worte lernte ich erst später.

Was vor besagter Kurve geschah, ist ebenfalls relevant. Als junger Erwachsener sah es als Klassenbester mit diversen Auszeichnungen vielversprechend für meinen Vater aus. Er erhielt ein staatliches Stipendium für den Entwurf eines Impfprogramms für die verarmte Bevölkerung, im gleichen Gutmenschen-Außenposten, in dem meine Mutter arbeitete. Mit Mitte zwanzig hatte mein Vater jedoch seinen Zenit überschritten. Es gab eine Hochzeit und idealistische Umsiedlungsmaßnahmen, die niemals fruchteten. Die Einheimischen richteten sich nicht ein, arbeiteten nicht mit, erkannten sie nicht an. Die Schuld der Weißen, ein betretener Umzug zurück aufs Festland, eine kurze Zusammenfassung der erfolglosen Versuche, die Welt zu verbessern. Stattdessen bekamen sie ein Kind. Das alles plus sieben weitere Jahre ohne richtige Arbeit unter Berücksichtigung seiner unbehandelten Depressionen, die er durch eine tägliche Dosis Marihuana direkt aus dem Labor zu bewältigen versuchte. Einem anderen Lösungsansatz, zum Beispiel, sich einen Therapeuten zu suchen, verweigerte er sich.

Wie man sich unschwer vorstellen kann, wurde der Geduldsfaden meiner Mutter immer dünner.

Am Tag bevor mein Vater starb, wurde sein Scheitern auf ganzer Linie offensichtlich. Viv legte ihm nahe, eine Weile zu seinen Eltern zu ziehen. Sie dachte – das sagte sie mir, als ich elf war und alt genug, um es zu verstehen –, dass er dann weniger kiffen würde. »Ich musste uns retten.« Sie erzählte mir nie, ob sie sich deswegen für das, was danach kam, verantwortlich fühlte. Lieber wollte ich wissen, wie sehr ein toter Vater sein Kind vermissen kann und warum er es nicht vorausgesehen hat, so wie Teddy.

Zu dem Zeitpunkt bin ich allerdings erst sechs Jahre alt. 

»Ich werd nicht um den heißen Brei herumreden«, sagte Viv und verdarb mir damit Kartoffelpüree für den Rest meines Lebens. »Dad ist tot. Er kam gestern Abend mit dem Auto von der Straße ab und ist gestorben. Jemand, der vorbeifuhr, hat den Rauch gesehen.«

Ich weiß noch, dass ich »Was?« fragte.

»Wahrscheinlich irgendwo da, wo wir letzten Sommer gezeltet haben. Da am Fluss, wo du die Enten gefüttert hast. Sie haben das Auto erst heute gefunden. Sie sagen, es ist schnell gegangen, der ganze Unfall.«

Ich fragte ebenfalls: »Kann ich mit ihm sprechen?«

»Nein. Wir können nicht mehr mit ihm sprechen. Er ist für uns nicht mehr erreichbar.«

Ich griff nach dem Telefon und reichte es ihr, weil ich dachte, dies wäre nur eine aktuelle Episode von Mum-versus-Dad. Offenbar sagte ich auch, und zwar zärtlich: »Sei nicht so stur.«

»Ich wünschte, das wäre der Grund. Er wollte fortgehen.«

Der Tod war noch immer etwas Abstraktes für mich, aber fortgehen verstand ich. Im vorigen Jahr waren einige Schildkröten fortgegangen. »Wie Molly und Milly?«

»Wie Molly und Milly.«

Der Prozess des Fortgehens wurde mir jedes Mal beschrieben, wenn wir eine der Schildkröten auf der Grünfläche zwischen unserem Gebäude und dem Parkplatz hinter der Bank beerdigten. Aber ich wollte mehr wissen. »Tut es weh?«

»Das ist bei jedem anders. Bei Dad hat es wahrscheinlich ein kleines bisschen wehgetan. Aber es war bestimmt schnell vorbei.« Erst dann erinnerte sie sich an ihre Mutterrolle und zog mich an sich. »Es tut ihm jetzt nicht mehr so weh wie vorher. Ich weiß das.«

»Woher?«

»Wenn du fort bist, dann fühlst du nichts mehr. Du atmest nicht mehr, schläfst nicht mehr, hast keinen Hunger. Kein Gehirn. Da ist nichts mehr.«

»Aber auch nichts fühlt sich an wie etwas.«

»Netter Versuch, aber der Tod trumpft alles.«

»Das bedeutet, der Tod gewinnt?«

»Immer.«

Ich ließ sie los. »Und warum spielen wir dann?«

Viv antwortete nicht. Stattdessen presste sie mich und das Trinkpäckchen schluchzend an sich. Sie weinte noch immer, als sie meine Großmutter zurückrief, um ihr von der wundervollen Frage zu berichten, die ich gestellt hatte, und dass ich die Nachricht alles in allem gut aufgenommen hatte.

So hat sie mir die Unterhaltung geschildert. Über die Jahre hat sie sie besonders vor neuen Freunden immer mehr ausgefeilt. Mein Dilemma und ich wurden so zu dem Lichtstreif am Horizont, der sie zum Weitermachen angetrieben hat. Meinetwegen war es ihr ganz einfach unmöglich, am Tod meines Vaters zu zerbrechen.

Natürlich wurden wir von mehr als meiner bemerkenswerten Frühreife gestützt. Mein Vater hatte vorausschauend eine großzügige Lebensversicherung abgeschlossen. Er wartete, bis die Karenzzeit abgelaufen war, und wählte dann – ein letztes Aufflackern seiner alten College-Gerissenheit – eine vereinsamte Straße, um gegen einen Baum zu fahren. Da seine psychischen Probleme nie dokumentiert worden waren (mit seiner Weigerung, sich behandeln zu lassen, kam sein Genie wohl das letzte Mal zum Vorschein), fand sein Tod also innerhalb der Bedingungen für eine komplette Auszahlung statt. Viv denkt, dass das alles zusammen mit ihrem Rausschmiss kein Zufall war. »Er wusste schon seit einer ganzen Weile, wohin er wollte.«

Meine Mutter und meine Großeltern entschieden über meinen hilflosen Kopf hinweg – ich, der Augapfel aller, aber gleichzeitig auch das Auge des herannahenden Sturms –, dass eheliche Streitigkeiten bei dem Gespräch mit dem Sachverständigen von der Versicherung nicht erwähnt werden sollten. Als es so weit war, wurde seine Arbeitslosigkeit ebenfalls heruntergespielt, indem die lieben Hinterbliebenen seine Hingabe für meine Erziehung anführten, während meine Mutter sich abrackerte. Interessanter Zug, denn mein Vater war in der Schule aktenkundig, weil er ständig vergaß, mich abzuholen, und meine Mutter war in Teilzeit als Beratungslehrerin und mit ihrer Doktorarbeit beschäftigt. Falls jemand trotzdem fragen sollte – wenige waren tapfer genug, mich Ärmsten damit zu belästigen –, wurde ich instruiert, zu beschreiben, wie Dad jeden Tag das Abendbrot zubereitete und Mum spät und erschöpft nach Hause kam.

Wir erhielten das Geld. Viv kaufte für sich ein französisches Bett und für uns einen braunen VW. Das Auto konnten wir allerdings so richtig erst im darauffolgenden Jahr ausprobieren. Es gab bei ihrer Arbeit eine Meinungsverschiedenheit wegen eines schwachen Schülers. Die Verwaltung rückte keinen Zentimeter von ihrer Auffassung ab, und sie auch nicht. Stattdessen rief sie mit der Zuversichtlichkeit, die ihr das Bankkonto gewährte, einen Neubeginn für uns aus. Innerhalb einer Woche kündigte sie ihrer Schule und meiner, sagte meinen Großeltern väterlicherseits, die mich jeden Tag abgeholt hatten, Bescheid und zog mit mir ans andere Ende des Landes. »Ein Neuanfang«, sagte sie.

Wir hätten auch bei ihren Eltern einziehen können, aber die waren erbärmliche Nichtsnutze, die uns Nullkommanichts zu bieten hatten. Niemals würde sie unter diesen Umständen nach Hause zurückkehren und ihnen auch noch erlauben, ihre Klauen nach mir auszustrecken. Viv hätte es sich auch leisten können, sich wieder ihrer Promotion zu widmen (eine statistische Untersuchung über den Zusammenhang zwischen der psychischen Verfassung Heranwachsender und ihrer frühkindlichen Erziehung) und sie sogar sehr gut abzuschließen, aber nein. Das Thema faszinierte sie nicht mehr.

Die besten Umzüge waren die in die Schulbezirke, in denen sie niemanden kannte. Immer wieder bei null anzufangen war eine Herausforderung. Sie stellte sich ihr vergnügt und unverbraucht. Jedes Mal.