Einführung in den Kinderschutz - Kathinka Beckmann - E-Book

Einführung in den Kinderschutz E-Book

Kathinka Beckmann

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Beschreibung

Viele Kinder sind auf Erwachsene angewiesen, die ihre oft unbewusst ausgesandten Alarmsignale in Kita, Schule usw. erkennen und dann adäquat handeln. Doch Inhalte zum Kinderschutz sind bislang weder im Studium der Sozialen Arbeit, der Erzieher:innenausbildung noch im Lehramtsstudium integriert. Das Buch will diese Lücke schließen und (angehenden) Fach- und Lehrkräften Grundlagen zum Kinderschutz an die Hand geben. Das Verstehen und Einordnen kindlicher Verhaltensweisen als Alarmsignale für Formen von Gewalterleben wird an erfahrungsbasierten Beispielen erläutert. Zudem wird der Schutzauftrag entlang der rechtlich gerahmten Rolle im pädagogischen Berufsfeld vorgestellt, zu der auch die Implementierung eines institutionellen Schutzkonzepts gehört.

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Seitenzahl: 400

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Kathinka Beckmann / Thora Ehlting / Sophie Klaes

Einführungin den Kinderschutz

Gefährdungslagen erkennen und professionell handeln

VANDENHOECK & RUPRECHT

Prof. Dr. Kathinka Beckmann ist seit 2010 Professorin an der Hochschule Koblenz, wo sie die Professur für Kinder- und Jugendhilfe mit Schwerpunkt Kinderschutz innehat. 2018 hat sie den Gerd-Unterberg-Preis für besonderes Engagement im Kinderschutz erhalten.

Thora Ehlting, M.A., arbeitet als Lecturer/Lehrkraft für besondere Aufgaben (Konzepte und Methoden in Sozialen Professionen) an der Hochschule Koblenz und lehrt dort in den Bachelor- und Masterstudiengängen u. a. Kinderschutz.

Sophie Klaes, M.A., arbeitet als Lecturer/Lehrkraft für besondere Aufgaben (Kinder- und Jugendhilfe) an der Hochschule Koblenz und lehrt dort in den Bachelor- und Masterstudiengängen u. a. Kinderschutz.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2025 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill BV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill BV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Adobe Stock Nr. 464136837

Umschlaggestaltung: siegel konzeption | gestaltung, Stuttgart

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

EPUB-Erstellung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

E-Mail: [email protected]

UTB-Nr. 6397 | ISBN 978-3-8252-6397-3 | eISBN 978-3-8385-6397-8 | EPUB-ISBN 978-3-8463-6397-3

Inhalt

Vorwort

… mit der Tür ins Haus!

1Kinderschutz hat eine Geschichte

1.1Von der Kinderarbeit zum Kinderrecht

1.2Vom Tierschutz zum Kinderschutz

1.3Von der Wohlfahrt zur Unterstützung

2Gefährdungslagen in Ihrem Berufsalltag erkennen

2.1Risikofaktoren im Überblick

2.2Gewalt als Erfahrung traumatischer Qualität

2.3Formen von Gewalt und wie Sie ein betroffenes Kind im (pädagogischen) Alltag erkennen können

2.3.1Versorgungsdefizite … und wie Sie sie erkennen können

2.3.2Misshandlung … und wie Sie sie erkennen können

2.3.3Sexualisierte Gewalt … und wie Sie sie erkennen können

2.4Recht auf Mitwirkung und Beteiligung

3Kinderschutz rechtlich gerahmt

3.1Schutzauftrag und Ihre eigene Rolle

3.2Gefährdungseinschätzung als zentrales Element

3.3Beteiligung in der Gefährdungseinschätzung

3.3.1Beobachtung von Kindern

Basis-Methoden, Ziele und Leitfragen

3.3.2Gesprächsführung mit Kindern und Jugendlichen

3.3.3Gesprächsführung mit Sorgeberechtigten

4Prävention, Intervention und Nachsorge durch institutionelle Schutzkonzepte

4.1Gewalt durch Fachkräfte

4.2Gewalt unter Gleichaltrigen

4.3Bausteine im Schutzkonzept

4.4Beteiligung bei der Schutzkonzeptentwicklung

5Kinderschutz spart Geld

5.1Das Jugendamt als Fachamt der Kommune

5.2Auswirkungen der Verwaltungs»modernisierung«

5.3Beteiligung in kommunalen Prozessen

5.4Politik und Kinderrechte

Was es sonst noch braucht …

Literaturverzeichnis

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Netzwerkkarte im Kinderschutz

Abbildung 2: Ablaufschema zur Traumatisierung

Abbildung 3: Beobachtungsdokumentation

Abbildung 4: Körperschema Kind

Abbildung 5: Verbrühungen

Abbildung 6: Verteilung Hämatome »eher unbedenklich«

Abbildung 7: Verteilung Hämatome »bedenklich«

Abbildung 8: Typische Verletzungsmuster bei körperlicher Misshandlung

Abbildung 9: Rollen im Schutzauftrag

Abbildung 10: Sozialpädagogisches Fallverstehen

Abbildung 11: Sozialraumkarte als Instrument im Fallverstehen

Abbildung 12: Muster für einen Schutzplan

Abbildung 13: Ablaufplan der Gefährdungseinschätzung

Abbildung 14: Baum der Erkenntnis

Abbildung 15: Basis-Methoden, Ziele und Leitfragen

Abbildung 16: Netzwerkkarte

Abbildung 17: Gesprächsführung basierend auf humanistischen Grundhaltungen

Abbildung 18: Auswahl Genogrammsymbole

Abbildung 19: Beispielgenogramm einer Familie im Hilfesystem

Abbildung 20: Die Friedenstreppe

Abbildung 21: Sexuelle Handlungen unter Kindern

Abbildung 22: Bausteine im Schutzkonzept

Abbildung 23: Partizipationspyramide

Vorwort

In § 1 des Kinder- und Jugendhilfe-Gesetzes heißt es: »Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Person.« Die Kinder- und Jugendhilfe soll zur Verwirklichung dieses Rechts beraten, unterstützen, beitragen und Kinder und Jugendliche vor Gefährdung des Kindeswohls schützen.

Um eine friedvolle, demokratische und inklusive Gesellschaft zu erhalten und weiter wachsen zu lassen, bedarf es einer frühen Demokratiebildung und der Umsetzung der Rechte von Kindern und Jugendlichen. Die Beteiligung, die Selbstbestimmung und die Schaffung von Beschwerdemöglichkeiten sind entscheidend für die Herstellung sicherer Orte für Kinder, Jugendliche und der Sorgeberechtigten.

Kinderschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und gelingt nur in einer Verantwortungsgemeinschaft. Kinderschutz fängt bei der Unterstützung der Familien an. Es ist von enormer Bedeutung, diese frühzeitig zu beraten und ggf. die Hilfen zur Erziehung rechtzeitig einzusetzen.

Im Kinderschutz sollten Fachkräfte mit dem gesamten Familiensystem arbeiten, da ein gutes Fallverstehen eine Voraussetzung für einen hilfe- und beteiligungsorientierten Kinderschutz ist und untrennbar mit systemischer Beratungskompetenz verbunden ist. Ein wirksamer Kinderschutz kann nur gelingen, wenn die Fachkräfte über ein umfängliches Wissen im Umgang mit Kindeswohlgefährdungen verfügen und somit zu mehr Handlungssicherheit gelangen. So können frühzeitig belastende Situationen erkannt werden. Die Einschätzung von Gefährdungs- und Risikofaktoren kann dadurch differenzierter, nicht stigmatisierend und wertfrei vorgenommen werden.

Für einen gelingenden und demokratischen Kinderschutz in Deutschland werden Zeit, Geld, Wissen und Erfahrung benötigt. Dafür haben die politisch Verantwortlichen zu sorgen. Es reicht nicht aus, wenn die Politik seit Jahren behauptet: »Die Kinder sind unsere Zukunft.« Den Worten müssen Taten folgen.

Die Autorinnen leisten mit diesem Buch einen wichtigen Beitrag für den Kinderschutz. Einen großen Dank dafür.

Kerstin Kubisch-Piesk, Vorsitzende der BAG ASD

(Bundesarbeitsgemeinschaft der Allgemeinen Sozialen Dienste der Jugendämter)

… mit der Tür ins Haus!

Jede Woche sterben in Deutschland zwei bis drei Kinder jünger als 14 Jahre durch häusliche Gewalt, jeden Tag sind im Jahr 2023 durchschnittlich zwölf Fälle von Misshandlung und 51 Fälle von sexualisierter Gewalt bei der Polizei gemeldet worden (s. BKA 2024a). Hinzu kamen mehr als 45.000 Fälle von Kinderpornografie. Schon im sogenannten Hellfeld bildet sich dementsprechend ab, dass für Tausende von Kindern das eigene Zuhause kein sicherer Ort ist. Im Dunkelfeld vermutet das Bundesforschungsministerium allein im Bereich der sexualisierten Gewalt 2,7 Mio. betroffene Minderjährige (s. BMBF o. J.). Jedoch sind Gewalterfahrungen nicht die einzige Gefahr für das Kindeswohl. Jährlich sind rund 110.000 Kinder und Jugendliche von der Scheidung ihrer Eltern und den damit oft einhergehenden Konflikten betroffen; hinzu kommen die geschätzten drei bis sechs Millionen, die mit suchtbelasteten und/oder psychisch erkrankten Eltern aufwachsen (s. Statistisches Bundesamt 2024a, s. Deutscher Bundestag 2023).

In Deutschland sind also irritierend viele junge Menschen auf Erwachsene angewiesen, die sie bzw. ihre oft unbewusst ausgesandten Alarmsignale in ihren sozialisationstypischen Lebenswelten wie Kita, Schule, Ganztag, Jugendtreff, Spielmobil, Sportverein etc. erkennen und dann adäquat handeln. Doch genau an dieser Stelle klafft eine problematische Lücke des Wissens und der Handlungssicherheit, die sich in der Statistik der Kinderschutzmeldungen abbildet: Nur 13 % von zuletzt 211.700 sogenannten 8a-Fällen (Meldung bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung) sind aus der Kinder- und Jugend- oder Erziehungshilfe heraus gemeldet worden, von Schulen gingen lediglich 12 % der Meldungen aus (Statistisches Bundesamt 2024b).

Ein Erklärungszugang für diesen Umstand könnte sein, dass weder in der Erzieher:innenausbildung noch im Lehramtsstudium bislang Inhalte zum Kinderschutz verpflichtend integriert sind, und selbst im Studium der Sozialen Arbeit kann das nur für ein Drittel der Standorte angenommen werden (vgl. Wazlawik/Kopp 2019, 413). Vor diesem Hintergrund ist der Jugend- und Familienministerkonferenzbeschluss aus Mai 2022 zu begrüßen, den Kinderschutz zum Pflichtbestandteil »relevanter Studiengänge sowie beruflicher Ausbildungsgänge« (JFMK 2022) zu machen. Doch bis dieser Beschluss in hoffentlich vielen und idealerweise in allen Bundesländern umgesetzt oder in eine juristische Muss-Vorschrift überführt worden ist, verlassen weiterhin pädagogische Fachkräfte ihren Ausbildungsort, ohne auf die Ausübung ihres gesetzlich gerahmten Schutzauftrags angemessen vorbereitet zu sein, und stoßen vor Ort auf Kolleg:innen, die das ebenfalls nicht sind.

Die vorliegende »Einführung in den Kinderschutz« will dazu beitragen, die konstatierte Lücke des Wissens und der Handlungssicherheit aufzufüllen, und richtet sich an Studierende der Fachrichtungen Soziale Arbeit, Kindheitspädagogik, Gesundheits- und Heilberufe, Erziehungswissenschaft, Psychologie und Lehramt1, an alle Fachschüler:innen im Bereich Gesundheit und Soziales sowie an alle Erwachsenen, die in ihrem beruflichen Umfeld mit Kindern, Jugendlichen und Familien arbeiten bzw. ihnen dort begegnen oder sich ehrenamtlich in der Jugend- und Familienarbeit engagieren.

Da der Schutz vor Gewalt ein (inter-)national verbrieftes Recht der Kinder ist, startet das Buch mit dem Blick in die Entwicklung der Kinderrechte (Kapitel 1). Welche Formen von Gewalt gegen Kinder es gibt und wie man betroffene Kinder mit und ohne Beeinträchtigung2 erkennen kann, steht im Mittelpunkt des zweiten Kapitels. Die rechtlich vorgeschriebenen Handlungsschritte bei der Gefährdungseinschätzung und die sich daraus ergebende eigene Rolle bilden den Kern des dritten Kapitels; hier liegt der Schwerpunkt auf der Gesprächsführung mit den Kindern und Jugendlichen, die erfahrungsgemäß für viele Fachkräfte eine Herausforderung darstellt. Da Gewalt nicht nur im häuslichen Umfeld ausgeübt wird, sondern auch im institutionellen Kontext durch Gleichaltrige und Fachkräfte selbst, beschäftigt sich Kapitel 4 mit zentralen Bausteinen im gesetzlich vorgeschriebenen Schutzkonzept und berücksichtigt hier den Aspekt der Selbstfürsorge. Kinderschutz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe hat auch eine politische Dimension, die vor allem auf der kommunalen Ebene gestaltet wird und sich in der finanziellen und personellen Ausstattung der Jugendämter zeigt (Kapitel 5).

In den Kapiteln 2, 3, 4 und 5 wird die seit Jahrzehnten rechtlich vorgeschriebene Beteiligung von Kindern »an allen sie betreffenden Entscheidungen« (§ 8 SGB VIII) als Leitperspektive berücksichtigt und herausgearbeitet. Neben der Wissensvermittlung ist die Vergrößerung der Handlungssicherheit im Umgang mit Kindeswohlgefährdungen ein zentrales Anliegen der Autorinnen, weswegen konkrete Methoden in der Arbeit mit potenziell gewaltbelasteten Kindern und Jugendlichen vorgestellt werden.

Alle von uns verwendeten Beispiele sind pseudonymisierte Fälle aus unserer beruflichen Praxis in den Jugendhilfesettings Kita, stationäre Mädchen- bzw. Intensivgruppe, ASD3 im Jugendamt sowie der psychosozialen Prozessbegleitung.

1Diese Aufzählung orientiert sich an den in den § 4 KKG und § 8a SGB VIII genannten Berufsgruppen, die im Rahmen ihrer Tätigkeit mit der Notwendigkeit zur Gefährdungseinschätzung konfrontiert werden.

2Im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention gelten diejenigen Menschen als behindert, »die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können« (UN 2006, Art. 1). Diese Definition fokussiert die gesellschaftliche Ebene und deren Barrieren für Betroffene. Der Begriff der Behinderung ist demnach umfassender, da er die soziale Ebene mit einschließt im Gegensatz zu der rein körperlichen Seite der Beeinträchtigung. In unseren Ausführungen beziehen wir uns in Anlehnung an die Disability Studies vor allem auf die individuelle, körperliche Ebene der Beeinträchtigung und nicht auf die gesellschaftliche Ebene, mit der das soziale Modell der Behinderung beschrieben wird (vgl. Köbsell 2016, 90).

3Der ASD (Allgemeiner Sozialer Dienst) ist die Abteilung im Jugendamt, die neben der Trennungs- und Scheidungsberatung, den durchzuführenden Inobhutnahmen und der Bearbeitung aller eingehenden Kinderschutzmeldungen alle ambulanten und (teil-)stationären Hilfen gemäß §§ 27 ff. SGB VIII in der Fallfederführung verantwortet. In einigen Regionen wird der ASD auch als KSD (Kommunaler Sozialdienst) bezeichnet, aber die Betitelung ASD überwiegt deutlich.

1Kinderschutz hat eine Geschichte

»Kindheit bildet die erste Phase im menschlichen Lebenslauf. Erst seit zwei Jahrhunderten wird sie als eigenständiger Abschnitt der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen wahrgenommen. Es hat lange gedauert, bis Kindern eigene Rechte und ein hohes Maß an Freiheit bei der Gestaltung ihres Lebens zugesprochen wurden. Heute ist das weitgehend der Fall« (Rathmann/Bründel/Hurrelmann 2024, 7).

Die Einsicht, dass Kinder besonderen Schutz benötigen, hängt eng mit der Entdeckung der Kindheit als eigenständige Lebens- und Entwicklungsphase zusammen. Lange Zeit galten Kinder in der Geschichte als unfertige Erwachsene. Damit waren sie Erwachsenen in allen Belangen unterlegen und faktisch wie auch rechtlich nicht gleichgestellt. Kinder hatten somit in der Gesellschaft die geringsten Rechte. In der Antike galten Kinder als nicht vollwertige Menschen, was sich auch darin zeigte, dass das Töten von Kindern gesellschaftlich akzeptiert war. Diese Haltung gegenüber Kindern wird durch die lateinischen und griechischen Bezeichnungen für Kinder deutlich. Die Begriffe »puer« bzw. »pais« sind gleichbedeutend mit Sklave und Diener. Im römischen Recht entschied der Vater, ob ein neugeborenes Kind angenommen oder dem Tode ausgesetzt wird.

Erst das aufkommende Christentum hat die Haltung gegenüber Kindern verändert und diese zumindest vor Gott den Erwachsenen gleichgestellt. Damit erhielten Kinder ein Recht auf Leben. Die aufkommende Caritas sorgte dafür, dass Kinderaussetzungen verboten und erste Schutzeinrichtungen für Kinder gegründet wurden. Das erste Kinderheim wurde 787 in Mailand eröffnet (vgl. Maywald 2021, 23).

Es gab im Mittelalter noch keinen Begriff für Kindheit, da diese noch nicht als eigenständige Lebensphase wahrgenommen wurde. Dementsprechend gab es auch keine Abgrenzung zwischen der Welt der Kinder und der der Erwachsenen. Mit dem Begriff »Kind« wurde eher das Verwandtschaftsverhältnis bezeichnet (vgl. Rathmann et al. 2024, 9 f.). Kinder waren lange wie kleine Erwachsene. Das heißt, sie kleideten und verhielten sich wie Erwachsene, und alles (Lebens-)Notwendige wurde von einer Generation an die nächste weitergegeben. Dementsprechend hielten sich Kinder dort auf, wo sich auch die Erwachsenen aufhielten: auf Märkten, bei der Arbeit oder auch in Lokalen und Herbergen (vgl. Deutsches Kinderhilfswerk o. J.). Somit lebten Kinder und Erwachsene »in denselben Lebensbereichen, ernährten und kleideten sich ähnlich und verrichteten nahezu dieselben Tätigkeiten« (Rathmann et al. 2024, 10). Ab ca. dem 14. Jahrhundert begannen Erwachsene mit Kindern zu spielen und gemeinsame Aktivitäten auszuüben – vor allem in den oberen sozialen Schichten. Man setzte sich mit den Eigenschaften der Kinder auseinander und es entstand nach und nach ein Interesse an Kindern und daran, sie auf das Leben in der Gesellschaft vorzubereiten (vgl. Rathmann et al. 2024, 10 f.).

Erste Gedanken zu Kinderrechten finden sich bei Comenius. Er stellte die Bedeutung von Freiheit, Verantwortung und Identität heraus und forderte einen zwangsfreien Unterricht und eine allgemeine Schulpflicht – für Jungen und Mädchen! Rousseau gilt als Entdecker der Kindheit. Für ihn war der Verzicht auf Macht elementar. Dabei sollte Notwendigkeit durch einen Bezug zur eigenen Lebenswirklichkeit (natürliches Lernen) den Zwang ersetzen. Kernelement war für ihn dabei die Selbstbestimmung im Kontext von Sozialisation.

In der Aufklärung entstanden erste Ideen dazu, dass die Kindheit eine eigene Lebensphase ist, an die sich die des Erwachsenen anschließt – die Jugend als eigenständige Lebensphase gab es zu dieser Zeit noch nicht. Grundlegend dafür war die Vorstellung, dass Kinder andere Bedürfnisse haben als Erwachsene und dass eben diese Bedürfnisse in besonderer Weise beachtet werden müssen. Dahinter steht auch die Vorstellung, dass Kinder noch keine vollwertigen Menschen sind und sich erst dahingehend entwickeln müssen (vgl. Liebel 2017, 33). Das Bild vom Kind hat sich also erneut gewandelt, und zum Recht auf Leben kam nun die Auffassung, dass Kinder der Förderung bedürfen (vgl. Maywald 2016, 31). »Kinder [wurden] als Menschen wahrgenommen, die noch nicht mit ihrer Entwicklung fertig sind und erst durch Bildung und Erziehung geformt werden müssen« (Rathmann et al. 2024, 11). Leitend war dabei jedoch kein Interesse am Kind als Rechtssubjekt, sondern der gesellschaftliche Nutzen des Kindes. So entstand beispielsweise die Pflicht der Eltern, ihre Kinder zur Schule zu schicken, anstatt ein Recht auf Bildung. Der Staat hatte also für das Wohlergehen und die Entwicklung der Kinder zu einem arbeitsfähigen und damit für die Gesellschaft vollwertigen Erwachsenen zu sorgen (vgl. Liebel 2017, 33). Die Kindheit als eigenständige Lebensphase bildete sich dann im 19. Jahrhundert zunächst in den adligen und bürgerlichen Familien, später im gesamten Land aus. »Zugespitzt kann man sagen, dass sich durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht in allen sozialen Schichten die Lebensphase Kindheit etabliert hat« (Rathmann et al. 2024, 12). Neben der Schule kam in dieser Zeit auch der Kindergarten als Ort der Erziehung hinzu (vgl. Maywald 2016, 31).

Die Geschichte des Kinderschutzes und der Kinder- und Jugendhilfe ist also eng mit der der Kindheit und Jugend sowie den sozialen Bedingungen des Aufwachsens in modernen Gesellschaften verknüpft. Es waren vor allem Maßnahmen der Machtausübung gegenüber Kindern, Jugendlichen und deren Familien, wie beispielsweise Kontroll- oder Sozialdisziplinierungsmaßnahmen. Es ging aber auch immer darum, die Lebensverhältnisse von Kindern, Jugendlichen und deren Familien durch Reformbemühungen zu verbessern (vgl. Rätz/Schröer/Wolff 2014, 17). »Das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen ist asymmetrisch: Erwachsene tragen Verantwortung für Kinder, nicht jedoch umgekehrt Kinder in gleicher Weise für Erwachsene« (Maywald 2016, 29). Die Entwicklungen von der Kinderarbeit zum Kinderrecht, vom Tierschutz zum Kinderschutz sowie von der Wohlfahrt zur Unterstützung werden im Folgenden näher beleuchtet.

1.1Von der Kinderarbeit zum Kinderrecht

Durch die aufgeführten gesellschaftlichen Entwicklungen verwundert es auch nicht, dass die ersten Kinderrechte keine Rechte für Kinder im engeren Sinne, sondern Rechte zum Schutz von Kindern waren. Wie bereits aufgeführt, galten Kinder lange Zeit als unfertige Menschen und hatten keine eigenen Rechte. Sie führten somit das gleiche Leben wie Erwachsene, wozu selbstverständlich gehörte, dass jede:r seinen Beitrag zum Lebensunterhalt der Familie beisteuerte. Kinderarbeit war somit selbstverständlich und wurde weder als schädlich für die Kinder (und deren Entwicklung) betrachtet noch war diese gesellschaftlich geächtet. Es gab auch keine Gesetze, die Kinderarbeit regelten oder gar verboten.

Durch die Industrialisierung kam es weniger auf Muskelkraft an, und Kinder waren günstige Arbeitskräfte, die klein und wendig teilweise Arbeiten ausführen konnten, die für Erwachsene aufgrund ihrer Größe nicht ganz so »leicht« zu erledigen waren. Sie arbeiteten unter widrigen Umständen in Fabriken, Bergwerken u. ä. und hatten die gleichen Arbeitszeiten wie Erwachsene, auch Nachtarbeit war nicht ausgeschlossen. Als Lohn erhielten Kinder neben einigen Kartoffeln oder Brot nur ein paar Pfennige (vgl. Fischer 2023, 328). 1833 wurde in Großbritannien der »Factory Act« erlassen, nachdem bereits 1819 in Baumwollspinnereien Kinderarbeit für Kinder unter neun Jahren verboten worden war. Der Factory Act schränkte erstmals in Europa in einem größeren Rahmen Kinderarbeit ein. Er enthielt ein Verbot der Kinderarbeit in der Textilindustrie für Kinder unter neun Jahren. Im Alter von neun bis zwölf Jahren durften Kinder maximal acht Stunden pro Tag und zwischen 13 und 18 Jahren maximal zwölf Stunden pro Tag arbeiten. Auch Nachtarbeit war für Personen unter 18 Jahren untersagt – das bedeutet, zwischen 21:30 Uhr und 05:30 Uhr durften Kinder- und Jugendliche nicht arbeiten (vgl. Dörr 2004, 146; Fischer 2023, 329).

In Deutschland galt Kinderarbeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in großen Bevölkerungsteilen als anerkanntes Mittel und sozialpolitische Maßnahme. Die Kinder wurden so an harte Arbeit gewöhnt, und Armen- und Waisenkinder wurden gleichzeitig vom Stehlen und Betteln abgehalten. Somit galten Unternehmer, die Kinder einstellten, als pädagogische Wohltäter (vgl. Dörr 2004, 142). 1839 regulierte das Preußisches Regulativ über die Beschränkung jugendlicher Arbeiter in Fabriken auch in Deutschland erstmals die Arbeitszeiten von Kindern und Jugendlichen nach dem Vorbild des britischen Factory Acts. Hintergrund war die Feststellung des preußischen Unterrichtsministers von Altenstein aus dem Jahre 1824, dass bereits unter 14-jährige Kinder zehn bis teilweise vierzehn Stunden täglich arbeiten mussten.

Zum Umdenken in der preußischen Politik kam es jedoch erst, nachdem 1828 der Generalleutnant von Horn den mangelnden Rekrutennachwuchs beklagte (vgl. Fischer 2023, 331). »Das preußische Regulativ verbot die Arbeit von Kindern, die das neunte Lebensjahr noch nicht zurückgelegt hatten, in Fabriken, im Bergbau, sowie in Hütten- und Pochwerken (§ 1). Ein Verbot der Beschäftigung von Arbeitern unter 17 Jahren bestand, wenn diese noch keinen dreijährigen Schulbesuch oder die Lese- und Schreibkenntnis der Muttersprache durch ein Zeugnis des Schulvorstands nicht vorweisen konnten (§ 2)« (Dörr 2004, 146). Dabei wurde die Arbeitszeit für Kinder und Jugendliche zwischen neun und sechzehn Jahren auf zehn Stunden pro Tag begrenzt. Außerdem durften diese nicht mehr an Sonn- und Feiertagen sowie nachts (zwischen 21:00 Uhr und 05:00 Uhr) arbeiten (§ 5) (vgl. Rohlfing/Schraut 1944, 10). 1853 wurde das Preußische Regulativ geändert und brachte eine weitere Verbesserung für den Kinderschutz. Kinderarbeit wurde für Kinder unter zehn Jahren verboten und in den Jahren 1854 auf Kinder unter zwölf bzw. 1855 auf Kinder unter 13 Jahren ausgeweitet (vgl. Dörr 2004, 147).

Die Idee der Kinderrechte wurde zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts fortgesetzt und weiter ausgeführt. Vor allem engagierte Frauen aus der sozialistischen und bürgerlichen Frauenbewegung wiesen energisch auf die soziale Lage vieler Kinder, vor allem aus Arbeiterfamilien, aber auch der Landbevölkerung hin. Sie forderten umfassendere sozialpolitische Unterstützung der Frauen sowie weitreichende gesundheits- und sozialpädagogische Einrichtungen, um insbesondere die Lebensbedingungen der Kinder zu verbessern (vgl. Rätz et al. 2014, 88). Wichtige Vertreter:innen waren z. B. Jane Addams (ab 1889) – Begrenzung der Arbeitszeit von Kindern; Kate Douglas Wiggin (1892) – Children Rights; Ellen Key (1900) – respektvolle Behandlung; keine Schläge und das Ausrufen des Jahrhunderts des Kindes; Eglantyne Jebb (1919) – Gründung der Kinderschutzorganisation »Save the Children«; Genfer Erklärung der Rechte des Kindes (1924) sowie Janusz Korczak (1912) – Demokratische Erziehung in Heimen. Vor allem Janusz Korczak gilt heute als »Vater der Kinderrechte«, da die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) maßgeblich auf seinen Ideen und Prinzipien aufbaut.

Aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen während der Industrialisierung und deren Folgen stand in den ersten Bestrebungen zu Kinderrechten der Schutzgedanke im Vordergrund (vgl. Engelhardt 2015, 21). Umfassende Rechte für Kinder wurden dann mit Beginn des 20. Jahrhunderts eingefordert. Ellen Key markierte den Beginn mit ihrem Buch »Das Jahrhundert des Kindes«. Sie forderte u. a. ein Recht auf körperliche Unversehrtheit für jedes Kind sowie gleiche Rechte für eheliche und uneheliche Kinder (vgl. Maywald 2016, 31). Sie prangerte den Verlust von Individualität in pädagogischen Anstalten an und propagierte das freie Spiel, da nur dies nach ihrer Auffassung Kinder bilde (vgl. Rätz et al. 2014, 89). Der erste Weltkrieg und seine Folgen führten dazu, dass Eglantyne Jebb sich für die Belange der verwahrlosten und hungernden Kinder einsetzte. Die englische Grundschullehrerin gründete 1920 die erste Kinderschutzorganisation »Save the Children« und formulierte 1923 ihre fünf Punkte umfassende Erklärung über die »Rechte der Kinder«. Diese wurde 1924 vom Völkerbund aufgenommen und als »Genfer Erklärung« verkündet. Sie enthält grundlegende Schutzverpflichtungen der Erwachsenen gegenüber Kindern. Somit richtet sie sich nicht an einzelne Staaten, sondern an die Männer und Frauen aller Nationen. Im Vordergrund stehen für Jebb die kindlichen Bedürfnisse und Hilfe in Notlagen. Kinder sollten Hilfe und Schutz erhalten, um sich normal entwickeln zu können. Empfehlungen für eine Erziehung zur Mitmenschlichkeit bilden den Abschluss dieser Erklärung. Somit enthält diese Erklärung keine Kinderrechte im engeren Sinn (vgl. Engelhardt 2015, 21 f.; Maywald 2021, 24). »Die Genfer Erklärung reagierte zwar auf die Not der Kinder in den Nachkriegsjahren, wurde jedoch zugleich von der wachsenden Überzeugung getragen, dass man allen Kindern zu einer guten Kindheit verhelfen müsse, für die auch die Staaten Verantwortung trügen« (Krappmann 2020, 38).

Auch Janusz Korczak proklamierte zu Beginn der 1920er Jahre mit der Magna Charta Libertatis ein »Grundgesetz für das Kind«. Darin formuliert er drei Grundrechte: »Das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist4«; »das Recht des Kindes auf den heutigen Tag5« sowie »das Recht des Kindes auf den Tod6« (vgl. Sämtliche Werke 1999, Bd. 4, 45). Dabei reklamierte Korczak für sich keine Vollständigkeit. »Ich fordere die Magna Charta Libertatis, als ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt es noch andere, aber diese drei Grundrechte habe ich herausgefunden: […] Man muß sich mit den Kindern vertraut machen, um bei der Verleihung dieser Rechte möglichst wenig Fehler zu machen. Irrtümer müssen sein. Wir sollten sie nicht fürchten: Das Kind selbst wird sie mit erstaunlicher Wachsamkeit korrigieren, wenn wir nur diese wertvolle Gabe, seine starke Abwehrkraft nicht schwächen. […] Es ist keine leere Phrase, wenn ich sage: Welches Glück für die Menschheit, daß wir die Kinder nicht dazu zwingen können, den erzieherischen Einflüssen und didaktischen Angriffen auf ihren gesunden Menschenverstand und ihre gesunde Willenskraft zu erliegen« (ebd.). Damit war Korczak der Erste, der auch umfassende Beteiligungsrechte für Kinder forderte und so die Vorstellung einer von Förderung und Schutz geprägten Sichtweise zugunsten eines Bildes vom Kind als gleichwertiges Subjekt verbreitet, das von Respekt gegenüber Kindern geprägt ist. Er vertrat die Auffassung, dass Kinder nicht erst zum Menschen werden müssen, sondern bereits Menschen sind. Damit vertrat er eine Haltung, die seiner Zeit weit voraus war (vgl. Maywald 2021, 25).

1918 wurde die Moskauer Deklaration der Rechte des Kindes als eine der ersten Erklärungen formuliert. Sie ging zum damaligen Zeitpunkt weit über das hinaus, was in Europa unter Kinderrechten verstanden wurde. Entstanden nach der Oktober-Revolution ist diese von dem Grundgedanken geleitet, die gesellschaftliche Stellung der Kinder und unabhängig von deren Alter die Gleichberechtigung mit den Erwachsenen zu stärken. Da diese Deklaration jedoch nie offiziell anerkannt wurde, ist sie auch schnell wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden (vgl. Liebel 2017, 37 ff.).

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Idee von gesonderten Kinderrechten weitergeführt. Bereits 1948 entwarf die International Union for Child Welfare die Erklärung über die Rechte des Kindes. Diese Erklärung basierte auf der Genfer Erklärung und erweiterte diese um zwei Punkte – Schutz von Kindern unabhängig von »Rasse«, Nationalität und Glauben sowie eine Fürsorgeverpflichtung, die für die Familie einen gebührenden Respekt thematisiert. Im weiteren Verlauf nahmen sich der UN-Menschenrechtsausschuss wie auch der Sozialrechtsausschuss 1950 dieses Themas an und fertigten einen Entwurf einer Erklärung über die Rechte des Kindes an, der 1959 einstimmig verabschiedet wurde. Auch wenn diese noch nicht rechtlich bindend ist, können daraus Kinderrechte zu materiellen und immateriellen Bedürfnissen der Kinder abgeleitet werden. Leitmotiv waren eine glückliche Kindheit und eine normale, gesunde Entwicklung (vgl. Engelhardt 2015, 24). Jedoch wurden hier Kinder nur aus dem Blickwinkel der Eltern angesprochen. Die Absätze des Originaltextes werden zudem nicht als Artikel, sondern als Prinzipien aufgeführt. Es darf jedoch nicht unterschätzt werden, dass auch diese Erklärung den weiteren Weg der UN zu justiziablen Kinderrechten entsprechend vorbereitet hat (vgl. Krappmann 2020, 43). »Vielleicht zählte 1959 zu den letzten Jahren, in denen man noch glaubte, die soziale Stellung der Kinder auf eine von Empfängern von Wohltaten und Anweisungen reduzieren und ihre wachsenden Fähigkeiten übergehen zu können. Nicht erst ab 18, sondern von jungen Jahren an werden sie zunehmend fähig, eigene Meinungen und Ansprüche vorzubringen und für sie einzutreten« (ebd.).

Die heutige UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) geht auf eine polnische Initiative anlässlich des Internationalen Jahres des Kindes zurück. 1979 wurde eine Arbeitsgruppe der Menschenrechtskonvention damit beauftragt, eine Konvention über die Rechte des Kindes zu erarbeiten. Gemeinsam wurde eine umfangreiche Vorlage erarbeitet, die 1989 im März von der Menschenrechtskonvention verabschiedet wurde. Anschließend folgte der Rat für Wirtschaft und Soziales der Vereinten Nationen im Mai des gleichen Jahres. Am 20. November 1989 (der heutige Tag der Kinderrechte) wurde die UN-KRK dann vor der 44. UN-Vollversammlung einstimmig verabschiedet (vgl. Maywald 2021, 25). Völkerrechtlich ist diese am 2. September 1990 in Kraft getreten und in 196 Staaten7 ratifiziert. Wobei sie in Deutschland erst am 5. April 1992 mit einer Vorbehaltserklärung in Kraft getreten ist. Die Vorbehaltserklärung wurde erst 2010 durch die Bundesregierung zurückgenommen.

Die UN-KRK enthält 54 Artikel, unterteilt in die Verpflichtung zur Achtung (respect), zum Schutz (protect) und zur Gewährleistung der Kinderrechte (fulfill). Dabei bilden die Artikel 1 (Geltung für Kinder; Begriffsbestimmung), 4 (Verwirklichung der Kinderrechte), 42 (Verpflichtung zur Bekanntmachung) sowie 44 (Berichtspflicht an den UN-Ausschuss) das Fundament der UN-KRK. Die Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte bilden die 3 Säulen der UN-KRK und markieren damit den größten Anteil der Kinderrechte. Die Schutzrechte (Schutz vor Ausbeutung, Schutz des Kindeswohls etc.) waren wie bereits ausgeführt dabei die ersten Kinderrechte in der Geschichte der Kinderrechte und bilden damit auch einen tragenden Bestandteil der UN-KRK. Die Förderrechte kamen nach und nach infolge der Schutzrechte und des gewandelten Bildes vom Kind hinzu. Die Beteiligungsrechte sind historisch betrachtet die »jüngsten« Kinderrechte und erst mit der UN-KRK aufgekommen. Als Dach steht Artikel 3 über allem. Dieser besagt, dass bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, deren Wohl als Gesichtspunkt vorrangig zu berücksichtigen ist. Noch prägnanter wird dies in der Originalfassung, in der ein Handeln »in the best interest of the child«, also im besten Interesse des Kindes, gefordert wird.

Somit besteht heute die »Übereinstimmung, dass Kinder als Subjekte zu achten und ernst zu nehmen sind. Dabei geht es nicht nur um das Subjekt im rechtlichen, sondern auch im soziologischen und psychologischen Sinn. Aus der Anerkennung der Kinder als Subjekte ergibt sich die Schlussfolgerung, nicht das zu betonen, was Kinder noch nicht können, sondern den Blick auf ihre bereits vorhandenen oder entstehenden Fähigkeiten zum eigenen Urteil und selbstbestimmten Handeln zu richten« (Liebel 2023, 21; H. i. O.).

Literaturempfehlung

Neben der Geschichte der Kinderrechte findet sich im Kinderrechtebuch von Jörg Maywald vor allem eine Anleitung zum praktischen Handeln in konkreten Situationen, die sich in der täglichen Arbeit ergeben: Maywald, J. (2012): Kinder haben Rechte: Kinderrechte kennen – umsetzen – wahren. Weinheim, Basel: Beltz-Verlag.

Material zum Thema Kinderrechte:

Für Kinder ab ca. 9 Jahren empfehlen wir »Das große Kinderrechte-Spiel«. Mit diesem Tischspiel kann die Rechtslage spielerisch vermittelt und im Alltag diskutiert werden: https://haensel-gretel.de/projekte/das-grosse-kinderrechte-spiel.

Die STARKE KINDER KISTE! richtet sich an Kita-Fachkräfte und Eltern, um frühzeitig mit Prävention und Ich-Stärkung der Kinder beginnen zu können. Die Kinder werden spielerisch mit den eigenen Grenzen und Gefühlen vertraut und sprechfähig gemacht. Das Präventionsprogramm ist ein Projekt der Kinderschutzstiftung Hänsel+Gretel in Kooperation mit dem PETZE-Institut: https://haensel-gretel.de/projekte/starke-kinder-kiste.

1.2Vom Tierschutz zum Kinderschutz

Der Kinderschutz hat zur Aufgabe, Kinder vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Dabei gilt das Kindeswohl »als das zentrale Leitprinzip des deutschen Kindschaftsrechts. Diese Generalklausel verpflichtet Familiengerichte und die Jugendhilfe, ihre Ermittlungen ganz auf die subjektiven und objektiven Interessen des einzelnen Kindes zu konzentrieren. Es geht um die Person des Kindes, seine Bedürfnisse, seine Wünsche und Befürchtungen und um den Schutz seiner Integrität« (Zitelmann 2022, 453). Doch auch die Idee, Kinder vor Gefahren zu schützen, ist noch recht neu und eng mit der Entdeckung der Kindheit als eigene Lebensphase sowie der Entstehung der Kinderrechte verknüpft. Bis hierhin war es ein weiter Weg, der beim Tierschutz begann. Ja, Kinder hatten eine noch schlechtere Stellung in der Gesellschaft als Tiere, und man musste sich des Tierschutzes bedienen, um Kinder schützen zu können.

Den Beginn des Kinderschutzes markiert der Fall Mary Ellen aus New York. Der ganze Körper des unterernährten Mädchens zeigte Spuren von Schlägen und Peitschenhieben. Außerdem war sie in ihrer körperlichen Entwicklung verzögert – sie sah aus wie ein fünfjähriges Mädchen, war aber bereits zehn Jahre alt. Sie durfte die elterliche Wohnung seit sechs Jahren nicht verlassen (vgl. Matschke 2007, 98). Eine Nachbarin bat 1874 kurz vor ihrem Tod ihre Besucherin, die Gemeindeschwester Etta Wheeler, das Nachbarskind vor den brutalen Stiefeltern zu retten. Nachdem diese Mary Ellen gesehen hatte, versuchte sie Hilfe zu holen – lange Zeit jedoch erfolglos, da sich weder die Polizei noch die Behörden für den Fall von Mary Ellen zuständig fühlten. Nach Auffassung der Polizei fehlte es an Beweisen, und die Polizei war nicht befugt, in die Wohnung einzudringen, um Beweise zu sichern. Da das Mädchen »wie ein kleines Tier« war, wandte sich Etta Wheeler an Henry Bergh, Präsident der Tierschutzgesellschaft »Amerikanische Gesellschaft zur Verhütung von Grausamkeiten gegen Tiere«. Er erklärte sich als Einziger bereit, Mary Ellen zu helfen. Er vertrat die Überzeugung, dass Kinder das gleiche Recht auf körperliche Unversehrtheit haben wie Tiere (!), und brachte damit den Fall vor Gericht. Aufgrund fehlender Gesetze wurde Mary Ellen mithilfe der damals geltenden Tierschutzgesetze aus der Familie geholt (vgl. Eckhardt 1998; Matschke 2007, 98).

Da es bis dato keine Einrichtungen gab, die den Schutz von Kindern zum Ziel hatten, brauchte es also den Tierschutz, um Mary Ellen aus ihrer Situation zu befreien. Somit wurde das erste Kapitel in Sachen Kinderschutz 1874 in Amerika geschrieben. Mit der Anklage gegen die Stiefmutter des Mädchens wegen Misshandlung half Bergh in seiner Eigenschaft als Tierschützer Mary Ellen (vgl. Beckmann 2014a, 26). Im Anschluss an den Prozess wurde noch im Gerichtssaal die »New York Society for the Prevention of Cruelty to Children8« (NYSPCC) gegründet – Bergh war einer der Mitbegründer. Im ersten Jahr untersuchten sie bereits 300 Fälle (vgl. Matschke 2007, 98). Die fehlenden Zuständigkeiten im Fall Mary Ellen zeigen, dass in der Gesellschaft schlicht das Bewusstsein dafür fehlte, dass Kinder eines besonderen Schutzes bedürfen und dass es Erwachsene gibt, die es nicht gut mit ihnen meinen, sie ausnutzen und ihre Aggressionen oder andere (sadistische) Fantasien an ihnen auslassen. »Erst im Zuge der Aufklärung veränderten sich die Vorstellungen von Kindheit und damit auch die Handlungsweisen gegenüber Kindern. Kinder wurden weniger geschlagen und als eigenständige Subjekte angesehen, die es zu erziehen und zu schützen galt« (Biesel/Urban-Stahl 2022, 73 f.).

In Europa entstand die erste Kinderschutzorganisation 1884 in London9, nach dem Vorbild der NYSPCC, aus der fünf Jahre später eine nationale Kinderschutzorganisation hervorging. Noch im selben Jahr wurde in London ein »Prevention of Cruelty to Children Act« vom Parlament verabschiedet. 1898 wurde dann in Berlin der »Verein zum Schutze der Kinder gegen Ausbeutung und Misshandlung« gegründet, der als Vorläufer des 1953 in Hamburg gegründeten Kinderschutzbundes gilt. Heute hat dieser mehr als 50.000 Mitglieder und über 400 Ortsverbände in allen 16 Bundesländern (vgl. Matschke 2007, 98).

»Katapultierte der ›Fall Mary Ellen‹ 1874 das Thema Misshandlung in die öffentliche Wahrnehmung, so ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik erst im Jahre 1962 (!) anzusiedeln« (Beckmann 2014a, 27). Dies ist das Jahr, in dem Gagarin im All die Erde umrundet, für die Entschlüsselung des genetischen Codes Crick, Watson sowie Wilkins den Nobelpreis erhalten und erstmals Laser in der Augenheilkunde eingesetzt werden. In dem Jahr erschien in einer renommierten medizinischen Fachzeitschrift ein Artikel zum „Syndrom des misshandelten Kindes10«. Damit setzt dieser Artikel den Beginn einer medizinisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kindesmisshandlung – fast 100 Jahre (!) nach dem Fall Mary Ellen – und zeigt damit auf, dass die Ärzte und Ärztinnen das eigentliche Problem noch gar nicht richtig verstanden hatten. Der Pädiatrieprofessor C. H. Kempe verwendet den medizinischen Begriff »Syndrom« und appelliert an das Kollegium, bei Knochenbrüchen oder anderen Verletzungen, deren Entstehungen nicht mit den Schilderungen plausibel zu erklären sind, auch an eine körperliche Misshandlung zu denken (vgl. Matschke 2007, 98).

Die öffentliche Wahrnehmung veränderte sich schrittweise und wurde begleitet von juristischen Reformen. Das BGB führte bereits am 01. Januar 1900 Strafen für Eltern ein, die ihre Kinder vernachlässigten oder misshandelten. 1919 forderte dann die Weimarer Verfassung für jedes deutsche Kind das Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit ein (vgl. ebd.). In den 1920er-Jahren entstanden die ersten anerkannten Kinderrechtserklärungen (siehe Kapitel 1.1). Jedoch wurde noch bis 1958 »Körperliche Gewalt gegen Kinder […] nur dann als Missbrauch des Sorgerechts angesehen, wenn sie nicht gezielt zu Erziehungszwecken eingesetzt wurde oder unverhältnismäßig erschien« (Wapler 2015, 31). Gemäß § 1631, Abs. 2 BGB wurde dem Vater das Recht zugesprochen, »kraft des Erziehungsrechts [das] angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anzuwenden«. Damit war die Erziehung dem Vater zugeordnet und die Mutter lediglich beteiligt. Es gab keine Vorgaben zur Züchtigung, diese musste nur angemessen sein (vgl. Müller 2018, 18 f.). 1958 wurde dieser Absatz ersatzlos gestrichen. Körperliche Gewalt in der Erziehung war aber dennoch weiterhin erlaubt.

Mit der großen Sorgerechtsreform im Jahr 1980 fanden ein erstes Umdenken und ein Paradigmenwechsel statt. Der Begriff »elterliche Gewalt« wurde in § 1626 BGB durch die Bezeichnung »elterliche Sorge« ersetzt. Dies verdeutlicht auch eine veränderte Haltung gegenüber Kindern. Eltern hatten fortan keine Gewalt mehr über ihre Kinder oder Gewalt an ebendiesen auszuüben und sich stattdessen um sie und ihr Wohlergehen zu sorgen. Außerdem wurde in Abs. 2 den Kindern und Jugendlichen ein entwicklungsangemessenes Mitspracherecht in allen sie betreffenden Entscheidungen eingeräumt. Mit Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) 1990 fand ein weiterer Paradigmenwechsel statt. Das KJHG benennt Kinder erstmals ausdrücklich als Träger eigener Rechte und macht sie damit vom Rechtsobjekt zum Rechtssubjekt. Erst mit dem Jahr 2000 wurde ein absolutes Gewaltverbot in der Erziehung eingeführt. Dazu führte man in § 1631 Abs. 2 wieder mit folgendem Wortlaut ein: »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig« (§ 1631, Abs. 2 BGB i. d. F. 2000). In der aktuellen Formulierung wird dies noch prägnanter ausgedrückt, indem die Unzulässigkeit durch den Begriff des Ausschlusses ersetzt wurde. »Das Kind hat ein Recht auf Pflege und Erziehung unter Ausschluss von Gewalt, körperlichen Bestrafungen, seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Maßnahmen« (§ 1631, Abs. 2 BGB). Damit sind heute körperliche und auch seelische Gewalt in der Erziehung nicht nur verboten, sondern ausgeschlossen, d. h. diese werden auch nicht unter bestimmten Umständen geduldet. »Die Einführung des ›Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung‹ durch den § 8a KJHG in 2005 löste einen breiten Fachdiskurs über das staatliche Wächteramt aus« (Beckmann 2014a, 27).

In der aktuellen Diskussion um den Kinderschutz ist der »Fall Kevin« einer »der prominenteste[n] und einflussreichste[n] unter den Kinderschutzfällen aus der jüngeren Vergangenheit, in denen Kinder als Opfer von Misshandlungen zu Tode kamen und die von den Massenmedien zur Sensation stilisiert wurden« (Brandhorst 2015, 18). Die mediale Aufmerksamkeit und die (Aus-)Nutzung der Medien von Fällen wie dem des kleinen Kevin führten zu vielen bundesweiten Reformbemühungen im Kinderschutz, die ohne diese Fälle nicht denkbar gewesen wären. Dies beinhaltet neben Gesetzen auf Landesebene zur Verbesserung des Kinderschutzes das Auflegen eines Maßnahmenprogramms, »Frühwarnsysteme« inkl. der Förderung der Frühen Hilfen bis hin zur Entstehung und Verabschiedung des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG), welches 2012 in Kraft getreten ist und für den heutigen Kinderschutz maßgebliche Regelungen getroffen hat (vgl. ebd.). Mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) wurde im Juni 2021 der Kinderschutz noch einmal rechtlich gestärkt und das aktuellste Kapitel im deutschen Kinderschutz aufgeschlagen. Ziel des Gesetzes ist es, mit einer modernen Kinder- und Jugendhilfe Verbesserungen für Kinder und Jugendliche zu erreichen. Dabei ist ein besserer Kinderschutz der erste von fünf Bereichen, in denen das Gesetz Änderungen vornimmt. So wurde beispielsweise die Vergabe der Betriebserlaubnis an das Vorhandensein eines institutionellen Schutzkonzeptes11 geknüpft, und berufsgeheimnistragende Fachkräfte haben gem. § 4 Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) jetzt auch ein Recht auf eine Rückmeldung seitens des Jugendamtes nach einer Verdachtsmeldung (s. Kapitel 3.1).

Im Kinderschutz gibt es verschiedene Auslegungen des Begriffs Kindeswohlgefährdung. In Abhängigkeit zur Begriffsauslegung steht auch das Handeln im Kinderschutz. Eine enge Auslegung des Begriffs, die den Schutz von Kindern und jugendlichen Personen vor unmittelbaren Gefährdungen ihres Wohls in den Mittelpunkt rückt, stellt das Erkennen und Bearbeiten von Fällen der Kindeswohlgefährdung in den Vordergrund. Es geht in dieser Definition also primär darum, Fälle aufzudecken und zu intervenieren (vgl. Biesel/Urban-Stahl 2022, 24). Demgegenüber steht eine weite Auslegung des Begriffs. Diese bezieht neben der Intervention analog zur engen Begriffsauslegung auch präventive Ansätze mit ein, um so bereits der Entstehung von Vernachlässigung, Misshandlung oder sexualisierter Gewalt entgegenzuwirken und sie bestenfalls zu verhindern. Wir vertreten die Perspektive des präventiven Kinderschutzes und folgen damit der weiten Auslegung des Begriffs. Wenn in diesem Buch also der Begriff Kinderschutz verwendet wird, beziehen wir immer Prävention – auch im Sinne des frühen Wahrnehmens von Risikofaktoren und entsprechenden Unterstützungsangeboten an die Familien – und Intervention mit ein.

1.3Von der Wohlfahrt zur Unterstützung

Die Kinder- und Jugendhilfe hat heute gem. § 1 KJHG den Auftrag, Kinder und Jugendliche »zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit« zu erziehen und zu fördern. Dazu soll sie u. a. gem. Abs. 3 die Kinder und Jugendlichen »vor Gefahren für ihr Wohl schützen« und »dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen«. »Insgesamt ist die Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe eng mit der Geschichte von Kindheit und Jugend und der Entwicklung der sozialen Bedingungen des Aufwachsens in unserer Gesellschaft verbunden« (Schröer/Struck 2018, 116). Die Kinder- und Jugendfürsorge basiert vor allem auf Kontrollmaßnahmen, Sozialdisziplinierung und Ausübung von Macht gegenüber Kindern, Jugendlichen und Familien. Die Jugendpflege dagegen basiert auf sozialen und pädagogischen Reformbemühungen mit dem Ziel, die Lebensverhältnisse von Kindern, Jugendlichen und Familien zu verbessern. Die Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe ist somit vor allem eine Geschichte der Kinder- und Jugendfürsorge (Wohlfahrt) sowie der Jugendpflege (Unterstützung).

Die Jugend- bzw. Kinderfürsorge hat ihre Anfänge im 13. Jahrhundert. Damals galt das Gesetz der Vormundschaft der Sippe. Das heißt, wenn ein Kind einen oder beide Elternteile verlor, trat der Vormund an diese Stelle. Dies war der nächste männliche Angehörige aus der väterlichen Familie. Damit waren nahezu alle Waisen im Mittelalter versorgt, da sie dann von der Familie des Vaters aufgenommen und entsprechend vom Vormund aufgezogen wurden. Auslöser für die Entstehung der Kinderfürsorge war, dass die Familie, das Dorf, die Zunft oder andere traditionelle Ansprechgruppen des Mittelalters in ihren Reihen Armut nicht mehr ausgleichen konnten. Beschränkte sich diese öffentliche12 Fürsorge mit ihren Hilfeleistungen bei Erwachsenen in der Regel auf materielle Hilfe, ging es bei Kindern auch um die Vorbeugung von Verwahrlosung durch Erziehung. Das Hospital war im Mittelalter die zentrale Armeneinrichtung, in der die Menschen altersunabhängig untergebracht wurden. Findel- und Waisenkinder waren jene Kinder, die nicht von der Sippe bzw. Familie erzogen werden konnten. Weil sich die Hospitäler immer mehr zu Elendsherbergen für Erwachsene entwickelten, schuf man eigene Einrichtungen für Kinder (vgl. Schilling/Klus 2022, 54). Kirchliche Stiftungen begannen, Findel- und Waisenhäuser in den Städten einzurichten. Damit entstanden erstmals Institutionen, die sich direkt an Kinder wandten.

Bereits damals wurden die noch heute existierenden Grundformen der Ersatzerziehung – die Familienpflege sowie die institutionelle Erziehung in Heimen o. ä. – angelegt. Dabei galt, wie auch heute noch, dass jüngere Kinder vorwiegend in der Familienpflege und ältere in Heimen untergebracht wurden. Säuglinge und Kleinkinder wurden von Ammen aufgezogen, um der hohen Sterblichkeit in den Anstalten entgegenzuwirken, bevor sie im Alter von fünf bis sieben Jahren im Heim aufgenommen wurden. Dort wurden die Kinder mit Haus- und Heimarbeiten beschäftigt, oder sie mussten für die Einrichtung um Almosen betteln. Sobald ein Kind selbstständig Almosen erbetteln konnte, wurde es entlassen und war auf sich alleine gestellt (vgl. Jordan/Maykus/Stuckstätte/Hensen/Münder/Schimke/Stöbe-Blossey 2015, 31 f.). Da Armut im Mittelalter als gottgewollt galt, war das Betteln gesellschaftlich geachtet. Es »gab den Armen Grund zur gottgefälligen Askese und den Wohlhabenden Anlass zur gottgefälligen Mildtätigkeit« (ebd., 32). Also aus heutiger Perspektive eine »Win-Win-Situation«. Man strebte in diesen Heimen nur die materielle Versorgung der Kinder an, so dass es ausreichend schien, wenn die Kinder durch das Erbetteln von Almosen zu ihrem Unterhalt beitragen konnten. Ziel der Einrichtung war es somit, die Kinder vor der sittlich-moralischen Not, also der Verwahrlosung, durch Erziehung zu schützen (vgl. Schilling/Klus 2022, 55).

Im Übergang zur Neuzeit beeinflussten bald der wirtschaftliche und politische Wandel die Kinderfürsorge. Auch der Humanismus und die Reformation förderten diesen Prozess. Der Humanist Juan Luis Vive beeinflusste die Pädagogik des späten 16. Jahrhunderts maßgeblich. Er sah »in der Erziehung der Armen und der Kinder […] den einzigen Weg, Armut in der Gesellschaft erfolgreich zu bekämpfen. Kern einer pädagogischen Arbeit sollte sein: Nicht, was einer fordert, muss man ihm geben, sondern was ihn fördert« (ebd., 56). Seiner Ansicht nach war die Erziehung der Kinder der Armen der einzige Weg, die Armut in der Gesellschaft erfolgreich einzudämmen (vgl. ebd.). Die Produktivität und Leistungsfähigkeit rückten immer mehr in den Fokus des Menschenbildes. Damit galt nun Arbeit und deren Ertrag als Ausdruck für ein gottgefälliges Leben. Fleiß wurde damit zu einer wichtigen Tugend, und Armut wurde mit Faulheit, persönlichem Versagen und Arbeitsscheu gleichgesetzt. Max Weber charakterisierte diese Arbeits- und Lebenshaltung später als »protestantisches Arbeitsethos« (vgl. Jordan et al. 2015, 32 f.).

Durch den Dreißigjährigen Krieg waren die Waisenhäuser überfüllt, so dass die Städte, die bislang Zentren der Armenpflege waren, zu Restriktionen übergingen. Das Aussetzen von Kindern wurde unter Strafe gestellt und diese Strafen schnell verschärft, da die Heime überfüllt waren. Diese Maßnahme griff ebenso wenig wie andere – beispielsweise die Kontrolle der Geburtenrate durch Heiratsverbot –, und die Lebensbedingungen der Kinder in den Waisenhäusern verschlechterten sich weiter. Unter diesen Umständen war keine Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendfürsorge möglich, so dass diese lange Zeit stagnierte (vgl. ebd.).

Im 17. Jahrhundert kamen dann die Zucht- und Arbeitshäuser auf. Diese Institutionen der Armenpolizei und Fürsorge waren für die Landesfürsten ein probates Mittel der Wirtschaftspolitik und für Unternehmer die rentabelsten Produktionsstätten. Vor allem die Textilfabrikanten richteten in Zucht- und Arbeitshäusern Großbetriebe für Tuchfabrikationen und Spinnereien mit langen und harten Arbeitstagen ein. Der Arbeitstag wurde nur durch karge Mahlzeiten und Betstunden unterbrochen. Damit hatten diese Anstalten zumindest teilweise den Zweck, den Wohlstand des Landes und seines Regenten zu vergrößern (vgl. ebd., 33 f.).

Der Pietist August Hermann Francke (1663–1727) verfolgte mit seinen 1694 gegründeten Halleschen Anstalten zwar andere Zielsetzungen, jedoch war seine Waisen-, Schüler- und Studentenstadt mit ihrem auf Askese und Zucht basierenden Erziehungsprogramm nicht weniger schlimm (vgl. ebd., 35). Statt der Arbeit stand nun die Erziehung im Vordergrund. »Der böse Eigenwille des Kindes mußte [sic!] gebrochen werden, Beten und Arbeiten erschienen als die einzigen Verhaltensweisen, die der Bösartigkeit des Kindes entgegenzuwirken vermochten, während das Spiel als Müßiggang, der aller Laster Anfang ist, verboten war, und harte Strafen […] unerlässlich schienen« (Blankertz 2015, 51). Neu war bei ihm hingegen, dass er als Einzelperson diese Anstalt organisierte. Ebenso wie die Finanzierung auf Spendenbasis. Er war der Ansicht, dass sich Spender für ein gutes Werk finden werden. Träger war nicht mehr die Kirche, die Kommune oder eine religiöse Gruppe, stattdessen ein Kreis aus Gleichgesinnten aller Schichten. Damit taucht erstmals der Begriff der privaten Fürsorge auf, und zwar in dem Sinn, dass Einzelpersonen Notstände erkennen und sich gemeinsam mit Gleichgesinnten um deren Beseitigung bemühen (vgl. Schilling/Klus 2022, 57).

Die Herrenhuter legten die pietistische Erziehung noch strenger aus. In deren Waisenhaus mussten die Kinder und Jugendlichen neben fünf Stunden Unterricht sechs Stunden körperlich arbeiten und drei Stunden Andachtsübungen vollziehen. Damit hatte ein Tagesablauf 14 Stunden und forderte von den Kindern und Jugendlichen das Gleiche, was einem Erwachsenen mit einem meist 15-stündigen Arbeitstag abverlangt wurde (vgl. Blankertz 2015, 53). Nicht nur in protestantischen Gebieten fand Franckes Konzept Anklang, sondern auch in katholischen Regionen, so dass sich seine Idee in ganz Deutschland ausbreitete. Die Bedingungen in den meisten Waisenhäusern charakterisierte der Aufklärungspädagoge Christian Gotthilf Salzmann 1783 als Institutionen, in denen Kinder in »Not und Verkommenheit« leben. Die Atmosphäre beschrieb er als Mischung aus Frömmelei, Prügel und Arbeit, aus Lieblosigkeit, Ordnungssucht und bornierter Psalmsingerei. Die öffentliche Kritik an den Verhältnissen in den Waisenhäusern sowie die Kritik an der Kombination von Waisenhaus und Manufaktur führte Ende des 18. Jahrhunderts zum Waisenhausstreik. Auch die hohe Kindersterblichkeit wurde angemahnt, um für den Ausbau des Pflegekinderwesens zu werben – teilweise auch mit Erfolg. Der beginnende Aufbau eines Schulwesens förderte diese Entwicklungen (vgl. Jordan et al. 2015, 35 f.).

Zur gleichen Zeit entwickelte Hamburg eine Armenreform. Diese war Ausdruck der Aufklärung. Caspar Voght entwickelte dazu das Konzept der Arbeitserziehung. Es ging darum, alle armen Kinder vorbeugend zu erfassen und somit die Kinderfürsorge planvoll in das neu geschaffene System der Armenpflege zu integrieren. Damit wurde die Fürsorge nun zum Teil einer vorbeugenden, also präventiv agierenden Armenpflege. Die Armenkinder wurden dabei der Erziehungsbehörde zugeordnet und der Schule unterstellt (vgl. Schilling/Klus 2022, 58). Ziel dieser Reform war es, die Kinder auf ihren Stand, den Stand der Armen, vorzubereiten. Daher wurden primär Spinnschulen eingeführt, die Unterricht und Arbeit kombinierten. So wollte man den Kindern Religion, Arbeit und Bildung beibringen und sie möglichst den gesamten Tag dem verderblichen Einfluss der Eltern entziehen (vgl. Jordan et al. 2015, 37).

Den Entwicklungskern der Heimerziehung aus heutiger Perspektive bildet die Gründung des Rauhen Hauses 1833 in der Nähe von Hamburg durch Johann Hinrich Wichern, dem bedeutendsten Vertreter der Rettungshausbewegung (vgl. Rätz et al. 2014, 19). Zunächst nahm er 18 Jugendliche aus Arbeitervierteln auf. Diese waren zum Teil vorbestraft und wurden von Wichern handwerklich ausgebildet. Nachdem er diese Aufgabe nicht mehr alleine bewältigen konnte, schuf er mit dem Brüderhaus eine Ausbildungsstätte für Diakone und damit die erste sozialpädagogische Ausbildungsinstitution in Deutschland (vgl. Jordan et al. 2015, 40). Sein Konzept basiert auf vier Punkten: Erstens soll die Erziehung nicht als Strafe angesehen werden und freiwillig geschehen. Daher mussten die Eltern ihre Elternrechte auf das Heim übertragen. Zweitens wollte Wichern ein Erziehungsdorf aufbauen, mit kleinen Familienhäusern. Eine Familie bestand aus zehn bis zwölf Kindern, die von einem erwachsenen geschwisterlichen bzw. elterlichen Freund geleitet wurden. Es sollte somit das Zusammenleben mehrerer Familien dargestellt werden. Drittens war Ziel der Arbeit die Rückkehr in die Familie, so dass es darum ging, das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern zu ordnen. Daraus resultierten auch Beratungs- und Besuchstätigkeiten außerhalb des Rauhen Hauses. Viertens wurden die Familiengruppen von den selbst ausgebildeten Diakonen geleitet (vgl. Schilling/Klus 2022, 59). Durch die Zustimmung der Eltern zur Aufnahme ihrer Kinder ins Rauhe Haus erlangte Wichern weitgehende Autonomie über die Disziplinierungsund Zwangsmaßnahmen sowie gegenüber dem Staat (vgl. Jordan et al. 2015, 40 f.). Es beginnt somit ein Wandel von der Wohlfahrt zur Unterstützung.