Einführung in die Mehrsprachigkeitsforschung - Natascha Müller - E-Book

Einführung in die Mehrsprachigkeitsforschung E-Book

Natascha Müller

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Beschreibung

Immer mehr Kinder in Deutschland wachsen mit mehreren Sprachen gleichzeitig auf. Diese Situation birgt viele Chancen, wenngleich oft eine Herausforderung darin gesehen wird. Ziel der Mehrsprachigkeitsforschung ist es, Besonderheiten im Erwerb genau zu identifizieren, damit Kinder erfolgreich mehrsprachig in die Schulzeit starten können. Das Arbeitsbuch hat zwei Hauptanliegen: Es führt erstens in die aktuelle Mehrsprachigkeitsforschung ein und zeigt somit Studierenden Spracherwerbstheorien, die Entwicklung der beiden Sprachen sowie Phänomene des mehrsprachigen Erwerbs auf. Zweitens wird die Arbeit mit Korpusdaten vorgestellt. Der Schwerpunkt liegt auf der Mehrsprachigkeit, die im Kindesalter im familiären Kontext einsetzt. Diese bildet die Grundlage für den Spracherwerb, der entweder sukzessiv zu den Erstsprachen in der Schule oder außerhalb der Institution in natürlicher Umgebung stattfindet.

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Natascha Müller / Tanja Kupisch / Katrin Schmitz / Katja F. Cantone / Laia Arnaus Gil

Einführung in die Mehrsprachigkeitsforschung

Deutsch – Französisch – Italienisch – Spanisch

DOI: https://doi.org/10.24053/9783823395805

 

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0941-8105

ISBN 978-3-8233-8580-6 (Print)

ISBN 978-3-8233-0498-2 (ePub)

Inhalt

1 Einleitung2 Mehrsprachigkeit: Definitionen2.1 Simultan – sukzessiv / natürlich – gesteuert / kindlich – erwachsen2.2 Kompetenz und Performanz – Transfer und Interferenz2.3 Negativer und positiver Transfer im Zweitspracherwerb2.3.1 Negativer Transfer2.3.2 Positiver Transfer2.4 Bilingualität und Parameter2.4.1 Universalgrammatik2.4.2 Parameter2.4.3 Der Nullsubjektparameter2.4.4 Revision des Parameterbegriffs und Konsequenzen für ein Spracherwerbsmodell2.5 Maturation als Kontinuität oder als Diskontinuität2.6 Zusammenfassung3 Frühkindliche simultane Mehrsprachigkeit: Formen und Forschungsmethoden3.1 Forschungsmethoden3.2 Formen der Bilingualität3.2.1 OPOL3.2.2 OPOL mit Nicht-Umgebungssprache zu Hause3.2.3 NDHL3.2.4 DNDHL3.2.5 Nicht-muttersprachliche Eltern (Non-Native Parents, NNP)3.2.6 Gemischte Sprachen (mixed Languages, mixL)3.2.7 Zusammenfassung3.3 Studien zum mehrsprachigen Erwerb3.3.1 Die Klassiker: Studien der (Einzel-)Kinder der Forschenden3.3.2 Etablierte Bilingualismusforschung: Vergleichende Studien3.3.3 Weitere Studien mit Fokus auf romanische Sprachen3.3.4 Querschnittstudien3.3.5 Zusammenfassung4 (Un)balancierte Mehrsprachige4.1 Frühe Studien zur Sprachdominanz4.2 Kriterien und Methoden zur Bestimmung der Sprachdominanz4.2.1 Direkte Methoden zur Bestimmung von Sprachdominanz bei bilingualen Kindern im Vorschulalter4.2.2 Gruppierung der Methoden4.3 Sprachbalance und Spracheneinfluss4.3.1 Sprachbalance und Spracheneinfluss sind abhängig4.3.2 Sprachbalance und Spracheneinfluss sind unabhängig4.3.3 Transfer und Verzögerungen4.3.4 Die schwächere Sprache und der sukzessive Spracherwerb4.4 Fazit5 Die Entwicklung von zwei Sprachen: Sprachentrennung, Spracheneinfluss und Sprachmischungen im bilingualen Kind5.1 Das fusionierte System: Lexikon und Syntax5.1.1 Die erste Entwicklungsphase: Fokus auf fehlende Übersetzungsäquivalente5.1.2 Die zweite Entwicklungsphase: Fokus auf getrennte Lexika5.1.3 Die dritte Entwicklungsphase: Fokus auf getrennte syntaktische Systeme5.2 Sprachentrennung ohne Spracheneinfluss5.2.1 Evidenz für getrennte Systeme: Gemischte Äußerungen5.2.2 Evidenz für getrennte Systeme: Monolinguale Äußerungen5.3 Sprachentrennung mit Spracheneinfluss5.3.1 Spracheneinfluss und Überlappung von Oberflächenstrukturen5.3.2 Spracheneinfluss und Sprachdomäne5.3.3 Spracheneinfluss und Berechnungskomplexität5.3.4 Spracheneinfluss und allgemein-kognitive Entwicklung5.3.5 Spracheneinfluss und Inputqualität5.3.6 Spracheneinfluss und Inputmenge5.4 Zusammenfassung und Ausblick6 Grammatische Bereiche ohne Spracheneinfluss6.1 Adjektivstellung in romanischen Sprachen und im Deutschen6.1.1 Das Zielsystem im Italienischen, Französischen, Spanischen und im Deutschen6.1.2 Monolingualer Erwerb attributiver Adjektive6.1.3 Bilingualer Erwerb attributiver Adjektive6.1.4 Zusammenfassung6.2 OV-VO in romanischen Sprachen und im Deutschen6.2.1 Zielsysteme6.2.2 Erwerb durch monolinguale und bilinguale Kinder6.2.3 Zusammenfassung6.3 Erwerb der Klitika im Französischen und Italienischen6.3.1 Zielsysteme6.3.2 Monolinguale Kinder6.3.3 Bilinguale Kinder6.3.4 Zusammenfassung6.4 Zusammenfassung des Kapitels7 Spracheneinfluss als Verzögerung7.1 Die Stellung des finiten Verbs im deutschen Nebensatz7.1.1 Beschreibung der Zielsysteme7.1.2 Studien mit monolingualen Kindern7.1.3 Studien mit bilingualen Kindern7.1.4 Zusammenfassung des Bereichs der Verbstellung im deutschen Nebensatz7.2 Kopulaverben im Spanischen7.2.1 Zielsystem: die spanischen Kopulaverben ser und estar7.2.2 Monolingualer Erwerb der spanischen Kopulaverben7.2.3 Bilingualer Erwerb von ser und estar7.2.4 Zusammenfassung7.3 Objektauslassungen im Französischen, Italienischen und Spanischen7.3.1 Beschreibung der Zielsysteme7.3.2 Studien mit monolingualen Kindern7.3.3 Studien mit bilingualen Kindern7.3.4 Fazit zum Bereich der Objektauslassungen7.4 Subjektauslassungen im Italienischen und Spanischen7.4.1 Beschreibung der Zielsysteme7.4.2 (Überwiegend) monolinguale Kinder und pragmatische Faktoren7.4.3 Bilinguale Kinder und morphosyntaktische Faktoren7.4.4 Fazit zum Bereich der Subjektauslassungen7.5 Zusammenfassung des Kapitels8 Spracheneinfluss als Beschleunigung8.1 Verbstellung im deutschen und romanischen Hauptsatz8.1.1 Verbstellung in den Zielsprachen8.1.2 Ergebnisse aus Studien mit monolingualen Kindern8.1.3 Ergebnisse aus Studien mit bilingualen Kindern8.1.4 Zusammenfassung des Bereichs der Verbstellung im deutschen Hauptsatz8.2 Der Bereich der Determinanten8.2.1 Die Determinantenverwendung in den Zielsprachen8.2.2 Ergebnisse aus Studien mit monolingualen Kindern8.2.3 Studien mit bilingualen Kindern8.2.4 Zusammenfassung8.3 Subjektauslassungen und postverbale Subjekte im Französischen8.3.1 Die Produktion und Position von Subjekten im Französischen8.3.2 Studien mit monolingual französischen Kindern8.3.3 Studien mit bilingualen Kindern8.3.4 Zusammenfassung8.4 Zusammenfassung des Kapitels9 Ausblick10 Aufgaben10.1 Aufgaben zu Kapitel 210.2 Aufgaben zu Kapitel 310.3 Aufgaben zu Kapitel 410.4 Aufgaben zu Kapitel 510.5 Aufgaben zu Kapitel 6–811 Literatur12 GlossarRegister

1Einleitung

Das Thema „Mehrsprachigkeit“ wird aus vielen Disziplinen unter Berücksichtigung verschiedener theoretischer Ansätze und Konzepte sowie im Rahmen unendlich vieler Forschungsfragen differenziert untersucht. Aus der Menge der angesprochenen Bereiche im Handbuch Mehrsprachigkeitund Bildung (herausgegeben von Gogolin, Hansen, McMonagle und Rauch 2020) wird deutlich, wie heterogen und komplex die Perspektiven, wie vielfältig Definitionen und Konzepte sein können. Verschiedene andere deutschsprachige Werke, wie bspw. das aktuelle Handbuch Mehrsprachigkeit aus der germanistischen Sprach- und Kulturwissenschaft (herausgegeben von Földes und Roelcke 2022), das Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik aus dem Feld der Fremdsprachenforschung (herausgegeben von Fäcke und Meißner 2019), die Einführung Mehrsprachigkeit aus der germanistischen (Sozio-)Linguistik (Riehl 2014, für eine subjekt- und diskurszentrierte Perspektive siehe Busch 32021) thematisieren das Vorhandensein, die institutionelle Implementierung und den Umgang mit verschiedenen Sprachen bei Sprecher:innen, Institutionen und in der Gesellschaft im deutschsprachigen Raum.1 Diesen Arbeiten ist gemein, dass sie Mehrsprachigkeit (fast) ausschließlich aus einer gesellschaftlichen oder institutionellen Perspektive betrachten. Eine individuelle Perspektive, die die frühe und gleichzeitige Entwicklung von zwei Sprachen im Kind in den Mittelpunkt stellt und diese aus einer grammatiktheoretischen und psycholinguistischen Spracherwerbsperspektive untersucht, ist hingegen Gegenstand der folgenden Einführung.

Die in Deutschland vorhandene, sichtbare und hörbare Sprachenvielfalt (vgl. Ziegler 2018; Ziegler, Eickmans, Schmitz, Uslucan, Gehne, Kurtenbach, Mühlan-Meyer und Wachendorff 2018) setzt sich aus lebensweltlicher und fremdsprachlicher Mehrsprachigkeit zusammen (vgl. Gogolin et al. 2020: 3). Lebensweltliche (auch migrationsbedingte oder migrationsgesellschaftliche) Mehrsprachigkeit entsteht, wenn Individuen im Alltag in der Regel im familiären Umfeld mit einer weiteren Sprache als der Landes- oder Mehrheitssprache in Kontakt kommen. Von fremdsprachlicher oder curricularer Mehrsprachigkeit wird gesprochen, wenn Sprachen als Fremdsprachen schulisch vermittelt werden. Die Sprachpolitik der Europäischen Union sieht vor, dass alle EU-Bürger:innen neben der Erstsprache mindestens zwei weitere Sprachen beherrschen (European Commission 2003). Diese hat ein breites schulisches Angebot an Fremdsprachen zur Folge, wohingegen die institutionelle Unterstützung bereits vorhandener allochtoner und autochtoner Sprachen nicht flächendeckend und verlässlich gegeben ist und auch die Form, wie diese aussehen könnte, stark zwischen Ländern und betroffenen Sprachen divergiert (vgl. u. a. Busch 32021).

Der in dem Arbeitsbuch vorgestellte Bereich der Mehrsprachigkeitsforschung mit Fokus auf der parallelen Sprachentwicklung von zwei Sprachen im frühen Alter soll verdeutlichen, wie der Weg zu mehr als einer Muttersprache bewältigt wird. Es will Eltern und andere an der Sprachentwicklung beteiligte Erwachsene (andere Familienangehörige, Kinderärzt:innen, Erzieher:innen etc.) darin bestärken, Kindern die Möglichkeit zu geben, mehrsprachig aufzuwachsen. Schließlich kann das Wissen um Prozesse des mehrsprachigen Erwerbs helfen, auf Kritik und vermeintliche Misserfolge richtig zu reagieren. Bis heute werden gegen die simultane Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit Bedenken geäußert. So befürchten Eltern und Lehrkräfte, das mehrsprachige Kind könne nie in beiden Sprachen altersgerecht entwickelt sein. Ferner wird oft behauptet, dass der frühkindliche bilinguale Spracherwerb VerzögerungVerzögerungen unterliegt und die Trennung der beiden SprachsystemSprachsysteme derart mit Problemen behaftet ist, dass keines der beiden Sprachsysteme korrekt und vollständig erworben wird. Sowohl Eltern als auch Lehrkräfte sorgen sich insbesondere um die Entwicklung der Mehrheitssprache (in unserem Falle das Deutsche) und befürchten, dass die mehrsprachige Erziehung langfristige Probleme mit Hinblick auf schulische Leistungen, Abschluss und Berufsausübung haben könnte.2 Dass diese Sorgen mehrheitlich unbegründet sind, beweisen weltweit und in Deutschland durchgeführte empirische Studien, die den erfolgreichen Erwerb von zwei und mehr Sprachen belegen. Welches Potenzial der mehrsprachige Erwerb für das schulische Lernen haben könnte, ist bislang nicht longitudinal untersucht worden (vgl. jedoch bspw. die Ergebnisse der DESi-Studie, u. a. Hesse und Göbel 2009). Das Arbeitsbuch soll demnach aus wissenschaftlicher Perspektive Antworten geben und hat zwei Hauptanliegen: Es wird einerseits in die aktuelle Mehrsprachigkeitsforschung eingeführt, andererseits das empirische Arbeiten mit Spracherwerbsdaten geübt. Die Einführung richtet sich an Studierende der Romanistik (Französisch, Italienisch, Spanisch), Germanistik und der Allgemeinen Sprachwissenschaft und soll ebenfalls dazu dienen, die Thematik in die Ausbildung zukünftiger Lehrkräfte aufzunehmen.

Dies ist die vierte Auflage dieser Einführung. Während in der ersten Auflage Ergebnisse eines Forschungsprojektes zum bilingualen deutsch-italienischen und deutsch-französischen Erwerb in verschiedenen Fallstudien im Fokus standen, wurde die vorliegende Auflage überarbeitet, um aktuelle Forschungsergebnisse ergänzt und um einige neue Erkenntnisse zum positiven Spracheneinfluss erweitert. Wie viele Studien zum Spracherwerb nimmt auch diese Einführung eine nativistische Spracherwerbstheorie an.

Die Einführung beginnt mit den Definitionen der Mehrsprachigkeit. Hier wird die im Zentrum stehende simultane Mehrsprachigkeit von der sukzessivsukzessiven Form des Erwerbs mehrerer Sprachen abgegrenzt, und der natürlichenatürlich Erwerb zweier oder mehrerer Sprachen, wie er in der Regel bei jedem Kleinkind erfolgt, wird vom gesteuertgesteuerten Erwerb mit formalem Unterricht getrennt. Zu den Dichotomien simultan simultan– sukzessivsukzessiv und natürlich – gesteuert gesellt sich das Alter bei Erwerbsbeginn, was häufig mit kindlich – erwachsen umschrieben wird. In unserer Einführung wollen wir den simultanen, natürlichennatürlich und kindlichen Erwerb zweier Sprachen genauer betrachten. Das Kapitel soll auch in den theoretischen Rahmen einführen und wichtige Begriffe klären, die in den nachfolgenden Kapiteln an Beispielen verdeutlicht werden.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit Formen der frühkindlichen Mehrsprachigkeit und mit Methoden der Datenerhebung. Es wird ein knapper Überblick über die Geschichte der mono- und bilingualen Spracherwerbsforschung gegeben. Dabei wird auf die Art und Dauer der Erhebung und auf die Form der Analyse eingegangen. Ferner werden einige Studien zu Kindern, die zweisprachig aufgewachsen sind, vorgestellt. Im Mittelpunkt stehen Strategien und Methoden der mehrsprachigen Erziehung.

Im vierten Kapitel wird auf der Basis vorhandener Literatur eine Unterscheidung zwischen balanciertbalanciert bilingualen und unbalanciertunbalanciert bilingualen Individuen getroffen. Nur selten verwenden zweisprachige Kinder beide Sprachen gleich häufig und gleich gut. Oft ist es der Fall, dass sich die eine Sprache schneller entwickelt als die andere, wofür viele Autor:innen den Terminus Sprachdominanz verwenden. Doch auch hier müssen wir uns nicht auf unser Gefühl verlassen, sondern es sind in der Literatur Kriterien vorgeschlagen worden, mit Hilfe derer man beides, die (Un)balanciertheit in der Sprachentwicklung und die in der SprachverwendungSprachverwendung, messen kann. Wir wollen diese Kriterien vorstellen und sie auf SprachkorporaSprachkorpora von bilingualen Kindern anwenden. Außerdem wird darüber diskutiert, inwieweit Sprachdominanz und Spracheneinfluss voneinander abhängig sind.

Das fünfte Kapitel bietet einen Überblick über die Literatur zur SprachentrennungSprachentrennung und zum Spracheneinfluss im bilingualen Individuum. Begonnen hat die Forschung mit der Idee, dass mehrsprachige Kinder erst wie monolinguale Kinder über ein einziges SprachsystemSprachsystem verfügen und dieses im Laufe der Entwicklung ausdifferenzieren. Diese Ansicht ist zu Recht sowohl empirisch als auch theoretisch hinterfragt und widerlegt worden. Bis heute lassen sich die meisten Forschungsarbeiten dahingehend charakterisieren, dass sich Trennung und Einfluss gegenseitig ausschließen: Die einen vermuten, dass bilinguale Kinder die Sprachen nicht trennen können und deshalb Einfluss sichtbar wird. Die anderen glauben, dass der Einfluss deshalb nicht existiert, weil die beiden Sprachen von Beginn an voneinander getrennt werden. Das Kapitel erarbeitet eine Sichtweise zwischen diesen Extremen, die kritisch hinterfragt, dass Trennung und Einfluss auf gesamte Sprachsysteme bezogen werden. Spracheneinfluss bezogen auf bestimmte grammatische Phänomene kann verschiedene Manifestationen haben: Er kann sich beschleunigend auf den Erwerbsverlauf in einer der Sprachen auswirken, oder er kann den Entwicklungsverlauf einer Sprache verlangsamen. Es werden Kriterien für das Auftreten des Spracheneinflusses sowie dessen Richtung vorgestellt, die in den nachfolgenden Kapiteln methodisch auf unterschiedliche grammatische Phänomenbereiche in unterschiedlichen Sprachkombinationen angewendet werden.

Anliegen des sechsten Kapitels ist es, grammatische Bereiche aufzuzeigen, die nicht einflussanfällig sind. Die Existenz solcher grammatischen Bereiche ist erwartet, wenn der Spracheneinfluss von der Beschaffenheit der involvierten grammatischen Systeme abhängt. Wir stellen folgende nicht einflussanfällige grammatische Bereiche vor: Die Stellung von attributivenattributiv AdjektivenAdjektiv in Relation zum Nomen und die Position von Objekten in Bezug auf Verben in den romanischen Sprachen und im Deutschen. Keinen Spracheneinfluss zeigt auch die Stellung der klitischen Pronomina in den Sprachen Französisch und Italienisch, wenn sie mit dem Deutschen zusammen erworben werden.

Im siebten Kapitel werden vier grammatische Bereiche vorgestellt, in denen Spracheneinfluss zu einer VerzögerungVerzögerung im Erwerbsverlauf im Vergleich zu monolingualen Kindern führt. Hierbei handelt es sich um die Verbstellung im deutschen Nebensatz, die Kopulaverben im Spanischen, die Auslassung von Objekten im Französischen, Italienischen und Spanischen und schließlich die ÜbergeneralisierungÜbergeneralisierung von Subjektpronomina in den beiden Nullsubjekte erlaubenden Sprachen Italienisch und Spanisch.

Der beschleunigte Erwerbsverlauf ist Gegenstand des Kapitels 8. Beschleunigte Erwerbsprozesse lassen sich bei der HauptsatzwortstellungHauptsatzwortstellung und der Determinantenrealisierung im Deutschen sowie bei der Subjektrealisierung und -platzierung im Französischen beobachten.

Kapitel 9 dient als Abschlussdiskussion und Ausblick. Hier werden die wichtigsten Aspekte der vorherigen Kapitel erneut zusammengefasst. Wir greifen offene Fragen aus den empirischen Kapiteln 6-8 auf und stellen Forschungsdesiderata zur Untersuchung des Spracheneinflusses, vor allem des Beschleunigungseffektes, dar.

Die Einführung schließt mit dem Glossar. Jedes Kapitel enthält einen Übungsteil. Damit die Studierenden die Übungsaufgaben an wirklichen Sprachbeispielen lösen können, haben wir die TranskriptionTranskriptionen von vier Sprachaufnahmen, einer französischen, einer italienischen, einer spanischen und einer deutschen, als Zusatzmaterial online zur Verfügung gestellt, das über den folgenden Downloadlink abgerufen werden kann: https://elibrary.narr.digital/book/10.24053/9783823395805. Bitte beachten Sie dazu die Hinweise auf der zweiten Umschlagseite. Die Kapitel 1 bis 5 können auch einzeln gelesen werden; die empirischen Kapitel bauen jedoch auf den theoretischen Kapiteln auf.

Diese Einführung ist aus einer gemeinschaftlichen Arbeit entstanden, wobei die Autorinnen unterschiedliche Kompetenzbereiche abdecken, sodass die meisten Kapitel in Zusammenarbeit entstanden sind. Alle Autorinnen haben alle Kapitel gelesen und sind für den gesamten zu vermittelnden Stoff verantwortlich.

Natascha Müller ist Verfasserin des Kapitels 2 sowie Koautorin der Kapitel 5, 6, 7, 8 und 9. Tanja Kupisch ist Koautorin der Kapitel 4 und 8. Katrin Schmitz ist Koautorin der Kapitel 5, 6, 7 und 9. Katja F. Cantone ist verantwortlich für Kapitel 1 und Verfasserin von Kapitel 3. Laia Arnaus Gil ist Koautorin der Kapitel 4, 6, 7, 8 und 9.

Für diese Auflage wurde die Einführung grundlegend inhaltlich und formal überarbeitet. Auch wurde sie hinsichtlich einer gendergerechten Sprache aktualisiert.

Wir danken Miriam Brinkmann und Gisela Resmja, die uns bei der Formatierung zur Seite gestanden haben und die Einführung aus Studierendensicht kommentiert haben.

2Mehrsprachigkeit: Definitionen

In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit den Definitionen der Mehrsprachigkeit. Die im Zentrum stehende simultane Mehrsprachigkeit wird von sukzessivsukzessiven Formen des Erwerbs mehrerer Sprachen abgegrenzt. Das Kapitel wird auch in den theoretischen Rahmen einführen und wichtige Begriffe klären, die in den anderen Kapiteln dann an Beispielen verdeutlicht werden.

2.1Simultan – sukzessivsukzessiv / natürlich – gesteuertgesteuert / kindlich – erwachsen

Im Zentrum der vorliegenden Einführung steht die simultane Mehrsprachigkeit, bei zwei Sprachen auch BilingualismusBilingualismus genannt. Unter Bilingualismus verstehen wir das Sprachvermögen eines Individuums, das aus dem natürlichennatürlich Erwerb (d. h. ohne formalen Unterricht) zweier Sprachen als Erstsprachen (L1) im Kleinkindalter resultiert (vgl. Lambeck 1984). Manche Forscher fordern, dass der Erwerb beider Sprachen simultansimultan, also gleichzeitig und nicht zeitversetzt, erfolgen muss, um vom bilingualen Individuum sprechen zu dürfen (z. B. de Houwer 1990). Andere erweitern den Zeitraum auf das Alter vor zirka vier Jahren (vgl. Meisel 2009), während dessen dem Kind die zweite Sprache „angeboten“ werden muss. In unserer Einführung wollen wir den Erwerb von zwei Erstsprachen betrachten, der simultan erfolgt. Dabei liegt der Fokus auf dem mehrsprachigen Individuum und nicht auf mehrsprachigen Gesellschaften (zum SprachkontaktSprachkontakt innerhalb und außerhalb von SprachgemeinschaftSprachgemeinschaften vgl. Riehl 20143).

Vom simultanen Erwerb mehrerer Erstsprachen ist die sukzessivsukzessive Form des Lernens mehrerer Sprachen abzugrenzen, wie er in Deutschland zumindest für das Englische für die meisten Kinder mittlerweile mit dem Eintritt in die Grundschule (1. oder spätestens 3. Klasse)1 stattfindet. Während der simultane Erwerb mehrerer Sprachen immer natürlich erfolgt, müssen für den sukzessiven Erwerb zwei Formen unterschieden werden: der natürlichenatürlich Erwerb zweier oder mehrerer Sprachen, wie er in der Regel bei jedem Kleinkind erfolgt, und der gesteuertgesteuerte Erwerb mit formalem Unterricht (oft auch als Fremdsprachenerwerb bezeichnet). Wählt eine einsprachige Familie einen Wohnsitz in einem Land mit einer anderen Umgebungssprache als die Erstsprache der Eltern, so werden die Kleinkinder der Familie die Umgebungssprache auch auf natürlichemnatürlich Wege erwerben können (vgl. Kap. 3). In Deutschland kommen Kinder aus mehrsprachigen Familien oft zunächst nur in Kontakt mit der FamilienspracheFamiliensprache (die Erstsprache(n) der Eltern, auch HerkunftsspracheHerkunftssprache(n) genannt, vgl. Kap. 3). Erst im Kindergarten (in manchen Fällen sogar erst zu Schulbeginn) haben sie regelmäßigen Kontakt mit dem Deutschen. Da diese Kinder wegen der deutschsprachigen Umgebung, wenn auch nur zu geringen Anteilen, Deutsch hören, ist die Frage berechtigt, inwieweit sie tatsächlich sukzessivsukzessiv bilingual sind (vgl. Tracy 2008, Chilla, Rothweiler und Babur 2010, Cantone 2016). Auch das wachsende Interesse am Einsatz von Fremdsprachen in der frühkindlichen Bildung in der Kita (beispielsweise early English oder ChinesischChinesisch für Kinder) muss hier erwähnt werden. Die genannten Beispiele zeigen, dass in Studien über mehrsprachige Kinder immer die Verhältnisse der Sprachen im kindlichen Umfeld mit betrachtet werden müssen.

Zu den Dichotomien simultansimultan – sukzessivsukzessiv und natürlichnatürlich – gesteuertgesteuert gesellt sich das Alter bei Erwerbsbeginn, was häufig mit kindlich – erwachsen umschrieben wird. In unserer Einführung wollen wir den simultanen, natürlichen und kindlichen Erwerb zweier Sprachen genauer betrachten; alle anderen Erwerbsformen werden am Rande behandelt. Sie dient gleichzeitig als Ausgangspunkt für die Frage, ob der sukzessiv ab dem Kindesalter einsetzende Erwerb einer weiteren Sprache noch qualitativqualitativ (und quantitativquantitativ) wie der simultane doppelte ErstspracherwerbErstspracherwerb verläuft, oder ob die kindliche sukzessive Mehrsprachigkeit eher dem ZweitspracherwerbZweitspracherwerb (L2L2-Erwerb) im Erwachsenenalter ähnelt; Meisel (2009) zeigt beispielsweise deutliche Unterschiede zwischen dem kindlichen und dem erwachsenen natürlichennatürlich Zweitspracherwerb. Hinter dieser Forschungsfrage verbergen sich jedoch viele Annahmen, die selbst noch einer Prüfung standhalten müssen, wie die, dass der erwachsene Zweitspracherwerb nicht so effizient verläuft wie der simultane doppelte ErstspracherwerbErstspracherwerb. Der vermutete Unterschied zwischen dem simultanen und dem sukzessivsukzessiven Erwerb mehrerer Sprachen basiert beispielsweise auf der Annahme, dass wir bei der simultanen Form einen zügigen Erwerbsverlauf ohne größere Spracheneinflüsse erwarten, hingegen beim sukzessiven Erwerb – verstärkt mit dem fortschreitenden Alter des spracherwerbenden Individuums – einen langwierigen und mit Spracheneinflüssen durchsetzten Erwerbsverlauf vermuten. Unsere Einführung nimmt die Perspektive des simultansimultan bilingualen Individuums ein und wird zeigen, dass auch dort weniger zügige Erwerbsverläufe existieren und es häufig zum Spracheneinfluss kommt. Die Sichtweise, dass der sukzessive Erwerb „ganz anders“ vonstatten geht (bezogen auf die Qualität und die Quantität), ist also vermutlich zu pauschal formuliert (vgl. Kupisch, Akpinar und Stör 2013 für die akkurate Genuskongruenz im Französischen unabhängig vom Erwerbsbeginn vs. Kupisch, Barton, Hailer, Klaschnik, Stangen, Lein und van de Weijer 2014 für den sog. „foreign accent“ abhängig von Erwerbsbeginn und Input2-Menge; vgl. auch White 1989, 2003). Forschungen in diesem Bereich konnten beispielsweise zeigen, dass der sukzessivsukzessive Erwerb mit gleicher Qualität und genauso schnell erfolgt wie der simultane, gemessen an bestimmten grammatischen Phänomenen (vgl. Tsimpli 2014). Kürzlich haben Arnaus Gil, Stahnke und Müller (2021) einen bei simultansimultan aufwachsenden mehrsprachigen Kindern nachgewiesenen beschleunigten Erwerbsverlauf gegenüber monolingualen Kindern auch für sukzessive mehrsprachige Kinder beobachtet. Wir werden in unserer Einführung, mit Ausnahme dieses Kapitels, den sukzessiven Erwerb mehrerer Sprachen aus Platzgründen vollständig ausblenden.

Der Forschungszweig, der die AltersfrageAltersfrage bei der Mehrsprachigkeit genauer unter die Lupe nimmt, gründet seine Vermutungen über den Unterschied zwischen der simultanen und der sukzessivsukzessiven Mehrsprachigkeit und die Rolle des fortschreitenden Lebensalters auf neurophysiologischen Erkenntnissen über die menschliche SprachfähigkeitSprachfähigkeit. Lenneberg (1967) hat seinerzeit die Vorlage für diesen Zusammenhang zwischen der menschlichen Sprachfähigkeit und dem Alter geliefert, indem er von einer kritischen Phasekritische Phase für bestimmte Fertigkeiten gesprochen hat. Die Pubertät sah Lenneberg als einen kritischen Punkt, bis zu dem eine Erstsprache erworben sein muss. Nach diesem Zeitpunkt ist ein erfolgreicher Erwerb nicht mehr möglich. Forscher wie McLaughlin (1978) haben den Punkt für den erfolgreichen Erwerb einer Sprache als Erstsprache auf das Alter bis drei Jahre vorverlegt. In der Tat sind alle Altersstufen zwischen drei Jahren und der Pubertät als das Ende der kritischen Phase für den ErstspracherwerbErstspracherwerb vorgeschlagen worden und man geht heute sogar davon aus, dass für die unterschiedlichen linguistischen Fertigkeiten (Aussprache, Wort- und Satzbau, etc.) unterschiedliche Altersabschnitte „kritisch“ sind. Auch diese Zeitpunkte wurden auf neurophysiologische Veränderungen zurückgeführt; vgl. u. a. Long (1990) sowie Hyltenstam und Abrahamsson (2003). Darüber hinaus haben neurolinguistische Studien zu zeigen versucht, dass Personen, die mit ihrer zweiten Sprache später als bis zum dritten Lebensjahr in Kontakt gekommen sind, diese auch anders im Gehirn ablegen (vgl. z. B. Obler, Zatorre, Galloway und Vaid 1982, Hahne und Friederici 2001). Wenn die Vorstellung richtig ist, dass, rein neurophysiologisch betrachtet, ein Spracherwerbsfenster geschlossen wird und sich von dem Zeitpunkt an ein andersartiger Erwerbsverlauf (sowohl qualitativqualitativ als auch quantitativquantitativ) einstellt, dann müssen wir wohl davon ausgehen, dass die mit den neurophysiologischen Voraussetzungen verbundene Fähigkeit des Erwerbs einer Erstsprache ebenso unerreichbar wird.

Bis vor einiger Zeit glaubte man, dass Kinder bereits im Mutterleib und ab der Geburt bis zum Alter von zirka drei Jahren die meisten Lernschritte vollziehen, die mit neurophysiologischen Voraussetzungen erklärbar sind. Die Zeitspanne zwischen drei Jahren und der Pubertät ist neurophysiologisch wenig erforscht, eben weil vermutet wurde, dass viele Fertigkeiten im frühen Kindesalter erworben werden, da das Gehirn eines dreijährigen Kindes als fast vollständig entwickelt galt. Diese Annahme wurde im Jahre 2005 von Jay Giedd (Neurophysiologe am National Institute of Mental Health (Bethesda, Maryland)) infrage gestellt. Bei einem Interview für das online-Journal Frontline sagte er:

There’s been a great deal of emphasis in the 1990s on the critical importance of the first three years. I certainly applaud those efforts. But what happens sometimes when an area is emphasized so much, is that other areas are forgotten. And even though the first 3 years are important, so are the next 16. And the ages between 3 and 16, there’s still enormous dynamic activity happening in brain biology. I think that that might have been somewhat overlooked with the emphasis on the early years.

Die sukzessivsukzessive Mehrsprachigkeitsforschung wird sich in den nächsten Jahren noch intensiver mit der AltersfrageAltersfrage beschäftigen müssen, um dann Empfehlungen für das Lernen weiterer Sprachen nach bereits erfolgtem Erwerb einer Erstsprache machen zu können.

Bevor auf Erscheinungen des simultanen und des sukzessivsukzessiven Spracherwerbs eingegangen werden kann, muss ein grundlegendes Begriffspaar eingeführt werden, nämlich die Unterscheidung zwischen KompetenzKompetenz (Sprachwissen) und Performanz (SprachgebrauchSprachgebrauch).

2.2KompetenzKompetenz und PerformanzPerformanz – Transfer und InterferenzInterferenz

Selbstverständlich sind Spracherwerbsdaten, die aufgezeichnet werden, immer Performanzdaten, da sie entstehen, wenn Kinder oder Erwachsene von ihrem Sprachwissen Gebrauch machen und Sprache produzieren. Performanz ist also die Anwendung des zugrunde liegenden Sprachwissens, die nicht immer reibungslos vonstatten geht. Das zugrunde liegende Sprachwissen wird als unsere SprachkompetenzSprachkompetenz bezeichnet.1

Die gegenseitige Beeinflussung von Sprachen kann dementsprechend sowohl in der PerformanzPerformanz als auch in der KompetenzKompetenz auftreten. Ein solcher Unterschied ist in der Literatur durch die Einführung von zwei Begriffen auch zugrunde gelegt worden, nämlich dem der InterferenzInterferenz, mit dem wir beginnen wollen, und dem des Transfers.

Die InterferenzInterferenz wird in der Literatur als ein Performanzphänomen bezeichnet und oft von der EntlehnungEntlehnung (engl. borrowing) abgegrenzt, welche als KompetenzKompetenzphänomen beschrieben wird. Als Konsequenz ergibt sich, dass die InterferenzInterferenz eher individueller Natur ist, die Entlehnung dagegen als kollektiv, also eine SprachgemeinschaftSprachgemeinschaft oder eine Gruppe innerhalb einer Sprachgemeinschaft betreffend, charakterisiert wird. Der SystematikSystematik und Stabilität der Entlehnung steht die Variabilität der Interferenz gegenüber. Laut Mackey (1962) hängt die Interferenz vom Medium, dem SprachstilSprachstil, dem SprachregisterSprachregister und dem SprachkontextSprachkontext ab. Das Medium kann gesprochene oder geschriebene Sprache sein. Interferenzen sind nach Meinung vieler Autoren häufiger in der gesprochenen als in der geschriebenen Sprache von Mehrsprachigen. Auch der SprachstilSprachstil kann die Auftretenshäufigkeit der Interferenz beeinflussen. Je nachdem, ob Mehrsprachige beschreiben, erzählen oder spontan interagieren, werden InterferenzInterferenzen seltener bzw. häufiger auftreten. Als dritte Einflussgröße wird von Mackey das SprachregisterSprachregister genannt. Vorstellbar wäre z. B., dass eine mehrsprachige Studentin im mehrsprachigen frankokanadischen Kontext unterschiedlich stark zu InterferenzInterferenzen neigt, je nachdem, ob sie in der Vorlesung eine Antwort auf die Frage der Professorin gibt oder sie sich nach der Vorlesung mit ihrer Kommilitonin über den Stoff der Vorlesung austauscht. Die Sprachausprägung, die bei der Interaktion zwischen Kommiliton:innen gebraucht wird, würde dementsprechend mehr Sprachmischungen enthalten als diejenige, welche bei der Interaktion zwischen Professorin und Kommilitonin benutzt wird. Alle genannten Einflussfaktoren können sich unterschiedlich auf die Interferenz in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation auswirken. Die Studentin kann Rede und Antwort stehen im Beisein anderer Kommiliton:innen oder im Beisein anderer Mitglieder des Lehrkörpers der Universität. Interferenzen können auf allen linguistischen Beschreibungsebenen und bei der Körpersprache2 auftreten. Ein Beispiel für eine phonologischphonologische Interferenz ist, wenn ein deutsch-italienischsprachiges Kind das Wort [p]all für ‚Ball‘ gebraucht wegen des italienischen Wortes palla. Lexikalisch ist die Interferenz, wenn ein deutsch-italienischsprachiges Kind muß du avanti gehen sagt, wobei avanti für ‚nach vorn, vorwärts‘ steht. Eine (lexikalisch-)semantischsemantische Interferenz liegt vor, wenn ein deutsch-französischsprachiges Kind den deutschen Ausdruck ‚wie gut er es hat‘ ins Französische übersetzt mit je va te montrer comment bien il a.3 Wir sind in unserer Einführung ganz besonders an sogenannten grammatischen (bzw. syntaktischen) Interferenzen interessiert. Für die grammatische InterferenzInterferenz könnte die häufiger benutzte pränominalpränominale Stellung des attributivenattributiv Adjektivs im akadischen Französischakadisches Französisch genannt werden (Pöll 2017: 98). So entstehen nach der englischen Vorlage komplexe Nominalsyntagmen wie une des plus grandes jamais vue dans la région (one of the biggest ever seen in the area).

Da Sprachdaten per se Performanzdaten sind, müssen Kriterien angewandt werden, welche helfen einzuschätzen, wann Performanzdaten Kompetenzphänomene widerspiegeln und wann dies nicht der Fall ist. Ein solches (quantitativquantitatives) Kriterium ist die FrequenzFrequenz eines Sprachphänomens. So darf man bei Spracherscheinungen, die mit einer Frequenz von zwischen 10% (Brown 1973: 258) und 2% (Platzack 2001: 365) auftreten, davon ausgehen, dass sie der PerformanzPerformanz zuzurechnen sind.4 Übertragen auf die Erscheinung der InterferenzInterferenz würden wir also einen Anteil von unter 10% in SprachkorporaSprachkorpora erwarten.

Eine geringe FrequenzFrequenz eines Sprachphänomens deutet jedoch nicht immer auf eine Performanzerscheinung. So existieren systematische Sprachphänomene, die bspw. bei Sprecher:innen sehr niedrigfrequent sind, dennoch aber eine grammatische Eigenschaft der betroffenen Sprache widerspiegeln und somit als zugrunde liegendes Sprachwissen interpretiert werden können. Yang (1999) nennt als Beispiel französische Konstruktionen, in denen ein finites Verb – mange und regarde – der NegationspartikelNegationspartikelpas oder einem AdverbAdverb vorangeht: Jean (ne) mange pas la pomme5 ‚Hans isst nicht den Apfel‘ und Jean regarde souvent la télé ‚Hans sieht oft das Fernsehen‘. Das finite Verb markiert die KongruenzKongruenz zwischen Subjekt und Verb. Dieser Konstruktionstyp macht in der spontanen Interaktion von französischen Muttersprachler:innen 7-8% aus, ist also sehr selten.

Aber kommen wir zu unseren Kriterien für die Bestimmung von Performanzphänomenen zurück. Muttersprachler:innen des Deutschen mögen sich „versprechen“ und ein falsches GenusGenus mit einem deutschen Nomen verwenden, z. B. der Fenster. Ohne erkennbare SystematikSystematik handelt es sich um eine Performanzerscheinung. Nun gibt es in Sprachen aber auch Wörter, deren Genus register- oder regionalspezifisch unterschiedlich ist und deren Genus im Wandel inbegriffen ist, so z. B. fachsprachlich das Virus versus umgangssprachlich der Virus, norddt. die Cola und süddt. das Cola (wobei sich bei Cola die Zuweisung des Femininums ausbreitet) oder die E-Mail in fast ganz Deutschland versus das E-Mail in Österreich; im spanischen Sprachraum gibt es regionale VariationVariation hinsichtlich el/la pijama (vgl. Diebowski 2021: 221). Im Unterschied zum VersprecherVersprecher lässt sich hier eine Systematik erkennen (vgl. hierzu variantengrammatik.net). Variation kann also der PerformanzPerformanz oder der KompetenzKompetenz zugeschrieben werden, jedoch kann dies nur auf der Basis vorformulierter Kriterien erfolgen.

Die InterferenzInterferenz wurde weiter oben als eine Performanzerscheinung beschrieben. Was nun den Spracheneinfluss auf Kompetenzebene betrifft, wurde in der Mehrsprachigkeitsforschung ein anderer Begriff benutzt, der Transfer von Wissen aus der einen Sprache in die andere Sprache. Der Transferbegriff wird besonders in der ZweitspracherwerbZweitspracherwerbsforschung gebraucht, d. h. bei Spracherscheinungen von solchen Personen, die bereits eine Erstsprache erworben haben und dann sukzessivsukzessiv, also zeitversetzt zur Erstsprache eine Zweitsprache lernen (Kellerman und Sharwood-Smith 1986, White 1989 im generativen Sprachmodell; Bausch und Kasper 1979). Clyne (1975: 16) verwendet den Begriff der Transferenz, und definiert diesen (im Anschluss an Weinreich 1970) als „Übernahme von Elementen, Merkmalen und Regeln aus einer anderen Sprache“. Transfer kann sich sowohl positiv als auch negativ auswirken. Positiver Transfer führt zu einer Erleichterung im Erwerb der Zweitsprache, negativer Transfer verlangsamt den Erwerb. Die Anwendung des Transferbegriffs setzt immer voraus, dass das erlangte Sprachwissen in den untersuchten Sprachen unterschiedlich groß ist (vgl. Paradis und Genesee 1996: 3 zum Transferbegriff im bilingualen ErstspracherwerbErstspracherwerb). In der Zweitspracherwerbsforschung wird der Transfer z. B. als eine unter vielen Erwerbsstrategien angesehen (Meisel 1983). Das Konzept des Transfers wird von manchen Forscher:innen auch dafür benötigt, um die SprachfähigkeitSprachfähigkeit und prinzipielles Wissen über Sprache, vermittelt über die Erstsprache(n), für die sukzessivsukzessiv erworbenen Sprachen nutzbar zu machen (vgl. Schwarz und Sprouse 2021 für einen Überblick). Dieser Nutzen umfasst laut Schwarz und Sprouse (2021) entweder das gesamte syntaktische Wissen, auch „wholesale transfer“ genannt, oder er betrifft nur Teile des syntaktischen Wissens, also „piecemeal transfer“ (vgl. Rothman, González Alonso und Puig-Mayenco 2019: Kap. 4). Der vollständige Transfer ist auf frühe Erwerbsphasen beschränkt und soll den Zugriff auf die (nur) im Erstspracherwerb vorhandene Sprachfähigkeit und zu prinzipiellem Wissen über Sprache beim L2L2-Erwerb ermöglichen. Wird Transfer als eine unter vielen Erwerbsstrategien aufgefasst, so ist der Einsatz dieser Strategie durch Lehrmethoden förderbar (Meisel 1983: 18) und sollte besonders bei bestimmten Lernertypen auftreten, dem „monitor over-user“ laut Meisel (1983: 18), der auf Sprachformen fokussiert ist.6

Der Transferbegriff prägt aktuell eine Debatte, die den sukzessivsukzessiven Erwerb einer dritten, vierten, x-ten Sprache bestimmt, der abgekürzt als L3-Erwerb bezeichnet wird. Über viele Jahrzehnte hat der Forschungszweig, der sich mit dem sukzessiven Spracherwerb befasst, übersehen, dass Lerner:innen neben der in der jeweiligen Forschungsarbeit untersuchten “L2”L2 (wenn diese nicht Englisch ist) auch z. B. das Englische im Schulsystem erwerben. Dies wirkt sich auf die Transfermöglichkeiten aus, da Lerner:innen nicht nur aus ihrer L1, sondern auch aus ihrer L2, z. B. dem Englischen, transferieren können, wenn sie bspw. das Französische als L3 erwerben. Haben Lernende eine Wahl, so stellt sich die Frage, auf welche Sprache sie zurückgreifen. Bardel und Falk (2007) argumentieren, dass die L2 (gemeint sind bei diesen Autorinnen alle zuvor sukzessiv erworbenen Sprachen) das initiale Stadium des L3-Erwerbs, d. h. den Lernstart einer L3, darstellt (vgl. hierzu auch schon Selinker 1969: 68 und Meisel 1983: 18). Vorstellbar ist auch, dass die L1 (oder mehreren L1n) diesen Ausgangspunkt ausmachen (vgl. Leung 1998). Ein dritter Ansatz bringt die Typologie7 der betreffenden Sprachen in den Fokus. Konkret wird der Lerner aus der bereits vorhandenen Sprache transferieren, die der L3 aus Lerner-Sicht ähnelt, bzw. verwandt ist (vgl. das Typological Primacy-Modell und hierzu Rothman 2015, Rothman et al. 2019). Auch wenn Transfer nicht vollständig, sondern nur in Teilen die frühe L3-Grammatik prägt, gibt es mehrere Sichtweisen, denen gemein ist, dass Lerner:innen aus allen zuvor erworbenen Sprachen unter bestimmten Umständen transferieren. Nach dem Cumulative Enhancement-Modell (Flynn, Vinnitskaya und Foley 2004) machen Lerner:innen nur dann von Transfer Gebrauch, wenn dieser einen neutralen oder positiven Effekt hat. Im Scalpel-Modell (Slabakova 2017) und im Linguistic Proximity-Modell (Westergaard 2019) ist die strukturelle Nähe zwischen den zuvor erworbenen Sprachen und der L3 ausschlaggebend8 (vgl. Liceras und de la Fuente 2015 zu dem Begriff der typologischen Nähe am Beispiel von Spanisch und Französisch). Wir sehen also, dass der Transferbegriff aktuell debattiert und bis heute unklar ist.9

Wir wollen uns in dieser Einführung dem Vorschlag von Sharwood-Smith und Kellerman (1986) anschließen, und künftig den Begriff Spracheneinfluss (engl. crosslinguistic influence) als Oberbegriff verwenden, wenn es um Spracheneinfluss im ErstspracherwerbErstspracherwerb geht. Da unstrittig ist, dass im ZweitspracherwerbZweitspracherwerb, jedoch nicht im simultanen Erstspracherwerb, Spracheneinfluss auf Kompetenzebene eine Rolle spielt, werden wir im Folgenden für den positiven und den negativen Transfer, wie er oft in der Literatur genannt wurde, jeweils ein Beispiel mit Zweitspracherwerbsdaten anführen. Der Spracheneinfluss, wie er beim bilingualen Kind auftritt, wird dann in Kapitel 7 und 8 vorgestellt.10 Wir wollen uns im Folgenden auf die Transfer-Konstellation L1 / L2L2 beschränken.

2.3Negativer und positiver Transfer im ZweitspracherwerbZweitspracherwerb

Negativer Transfer entsteht, wenn die Erstsprache und die Zweitsprache für einen bestimmten grammatischen Bereich unterschiedlich sind und Lernende die grammatischen Regularitäten der Erstsprache, in der ein größeres Sprachwissen vorliegt, auf die Zweitsprache, die gerade gelernt wird, anwenden. Positiver Transfer entsteht, wenn sich die beiden Sprachen in einem grammatischen Bereich gleichen und die Lerner:innen die Regularitäten der Erstsprache für ihre Zweitsprache übernehmen können und sich somit ein problemloser Erwerbsverlauf abzeichnet (vgl. Meisel 1983). Da der negative Transfer in Spracherwerbsdaten gut sichtbar ist, wurde diese Erscheinungsform häufiger in der Literatur dokumentiert.1

2.3.1Negativer Transfer

Ein Beispiel für den negativen Transfer ist die Verwendung von nicht-zielsprachlichen Wortstellungen im deutschen Nebensatz durch Zweitspracherwerber:innen. In der italienischen Grammatik steht das finite (für Person und NumerusNumerus flektiertflektierte) Verb in Haupt- und Nebensatz an derselben Position, in der Regel ist dies die Position nach dem Subjekt, welches wiederum die erste SatzpositionSatzposition einnimmt: Gianni va a casa quando Paolo ha telefonato ‚Gianni geht nach Hause, als Paolo hat telefoniert‘. Im Deutschen unterscheidet sich die Position des FinitumFinitums je nach Satztyp, in dem es auftritt: Im HauptsatzHauptsatz nimmt das Finitum die Position nach der ersten KonstituenteKonstituente ein, die im Übrigen auch ein Satz sein kann; das ist der Grund, weshalb das Deutsche als V2-Sprache bezeichnet wird; vgl. die Beispiele in (1), in denen das Finitum hervorgehoben ist.

(1)

a.

Hans liest den Krimi

 

b.

Den Krimi liest Hans

 

c.

Dass Hans den Krimi liest, weiß jeder

Im Nebensatz, der durch eine KonjunktionKonjunktion eingeleitet ist, steht das FinitumFinitum, im obigen Beispiel liest, satzfinalsatzfinal (Verb-End), wie der vorangestellte Nebensatz in (1c) zeigt. Aufgrund dieser Unterschiede in der Verbstellung nimmt man für das Deutsche auch eine Hauptsatz-Nebensatz-AsymmetrieHauptsatz-Nebensatz-Asymmetrie an. Hingegen zeigen italienische Haupt- und Nebensätze die gleichen Verbstellungsmuster.

Müller (1998a, c) hat die Daten eines Zweitspracherwerbers mit der Erstsprache Italienisch analysiert. Der nachfolgend vorgestellte Lerner (Bruno) war Teil einer LongitudinalstudieLongitudinalstudie mit insgesamt 12 Proband:innen, welche im natürlichennatürlich Umfeld über einen Zeitraum von zirka 2 Jahren untersucht wurden. Die Daten stammen aus dem Projekt BENZ (Bilingualer ErstspracherwerbErstspracherwerb – Natürlicher ZweitspracherwerbZweitspracherwerb)1, welches sich dem Vergleich von Zweitspracherwerbsdaten und Daten von Kindern, die mit zwei Sprachen gleichzeitig groß werden, widmete. Bruno kam im Alter von 16 Jahren von Italien nach Deutschland und wurde in insgesamt 29 Aufnahmen, beginnend in der 7. Aufenthaltswoche, untersucht.

Das allgemeine Ergebnis ist, dass Bruno über lange Zeit Probleme mit der Wortstellung im deutschen Nebensatz hat. Die Verb-End-Regularität des Deutschen wird bis zum Ende des UntersuchungszeitraumUntersuchungszeitraums (in der 110. Aufenthaltswoche in Deutschland) nicht zielsprachlich beherrscht, vgl. Abbildung (1).

Abbildung 1.

(Nicht-)Zielsprachliche Stellung des finiten Verbs im deutschen Nebensatz durch einen Zweitsprachenlerner, aus Müller (1998a: 99)

Auf der y-Achse sind absolute Werte abgebildet, da Nebensätze in spontanen Sprachdaten relativ selten vorkommen.

Betrachten wir nun einige der Nebensatzwortstellungen des Lerners.

(2)

a.

Wenn isch habe keine geld … (11. Woche)

 

b.

Auch wenne willst du bringen, eh, dreißig mä, … (30. Woche)

 

c.

Muß eh sage ob is falsch oder nee oder nein (26. Woche)

 

d.

Er weiß dass du kennst du die italienisch (39. Woche)

Die Beispiele in (2) zeigen, dass der Lerner das FinitumFinitum (welches wir hervorgehoben haben) im Nebensatz an diejenigen Positionen stellt, in denen es auch im HauptsatzHauptsatz vorkommt, nämlich wie in (2a) direkt hinter das Subjekt (Ich habe kein Geld), wie in (2b) direkt vor das Subjekt (wie im Hauptsatz bei der Fragesatzbildung, z. B. Kommst du morgen mit? bzw. Wann kommst du morgen vorbei?), wie in (2c) hinter ein phonetisch nicht-realisiertes Subjekt, wie es im Italienischen üblich ist (devi dire se è falso o no ‚musst sagen ob ist falsch oder nein‘). Das Beispiel (2d) beinhaltet beide Hauptsatzstellungen — SV und VS2 — allerdings im Nebensatz. Die nachfolgende Tabelle 1 zeigt die Anzahl der Verwendungen von den in Nebensätzen auftretenden Stellungsvarianten im HauptsatzHauptsatz. X bezeichnet eine KonstituenteKonstituente mit beliebiger grammatischer Funktion, z. B. ein direktes Objekt.

Erwerbsphase

Anzahl Stellungsmuster

Erwerbsphase

Anzahl Stellungsmuster

Phase 1:

SVX 798

Phase 2:

SVX 1433

(7. – 60. Woche)

XVS 261

(65. – 110. Woche)

XVS 417

 

XSV 114

 

XSV 131

 

VSX 123

 

VSX 170

Summe:

1296

 

2151

Davon:

SV 912

 

SV 1564

 

VS 384

 

VS 587

Tabelle 1.

SV in Relation zu VS in deutschen Hauptsätzen (Müller 1998c: 138)

Alle Hauptsatzordnungen, für die wir in (3) jeweils ein Beispiel aufgeführt haben, finden wir bei dem Lerner also auch im Nebensatz. Die Tabelle 1 zeigt, dass das nicht-zielsprachliche Stellungsmuster XSV im Entwicklungsverlauf seltener benutzt wird (9% in Phase 1, 6% in Phase 2). Wir können den folgenden Schluss ziehen: Der Lerner transferiert eine Eigenschaft des Italienischen, nämlich die Hauptsatz-Nebensatz-Symmetrie, in das Deutsche. Es kommt zum negativen Transfer, da die transferierte Eigenschaft nicht der ZielgrammatikZielgrammatik (Deutsch) entspricht.

(3)

a.

Ich habe geler franzosisch drei jahr (7. Woche)

 

b.

In 18 jahre hast du niche gute freunde gehabt (26. Woche)

 

c.

Nach isch habe eine jahre gemacht fotograf (22. Woche), (nach=danach)

 

d.

Haben gehabt eine kind eine kinde (20. Woche)

Diese nicht-zielsprachliche Eigenschaft wird für jedes nebensatzeinleitende Element einzeln revidiert, d. h. der Lerner erwirbt für jede KonjunktionKonjunktion bzw. jeden Einleiter von abhängigen Sätzen einzeln, dass das Deutsche die satzfinalsatzfinale Stellung des FinitumFinitums erfordert. Auch das illustrieren wir an einigen Beispielen. Die Beispiele in (4) zeigen eine Phase, während der nicht-zielsprachliche Stellungen des Finitums belegt sind (z. B. in (4a-d) für u. a. wenn), und dann eine Phase, während der das Finitum auch zielsprachlich steht (z. B. in (4e-h)). Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass für keinen Einleitertyp während der gesamten Untersuchung eine Phase nachweisbar ist, die durch die ausschließliche Verwendung zielsprachlicher Verb-End-Stellungen charakterisiert ist.

Am Beispiel der Fragewörter (im Folgenden w-Wörter) wird in der Tabelle 2 gezeigt, dass für spezifische Lexeme (und eben nicht Einleiterklassen) ein Zeitpunkt bestimmbar ist, zu dem innerhalb des UntersuchungszeitraumUntersuchungszeitraumes nicht-zielsprachliche Stellungen letztmalig belegt sind.

(4)

a.

Wenn hast du heute abend keine hunger hast du auch morgen keine hunger (72. Woche)

 

b.

Wenn zum beispiele war da eine echt sagen wir durfe nicht (78. Woche)

 

c.

… dass er sollt in de messe fahren (82. Woche)

 

d.

Auch wenn das versteht nich jeder (97. Woche)

 

e.

Wenn ein idee hast das iste schon etwas (65. Woche)

 

f.

Gabino wenn in schule war (69. Woche)

 

g.

Du weißt ganz genau kein hat dir gesagt dass du in deutschland fahren sollst (78. Woche)

 

h.

… wenn du irgendwas nicht verstehst (91. Woche)

wer

abweichende Verbstellungen bis 44. Woche

wann

abweichende Verbstellungen bis 69. Woche

wo

abweichende Verbstellungen bis 78. Woche

wie

abweichende Verbstellungen bis 85. Woche

was

abweichende Verbstellungen bis 88. Woche

warum

abweichende Verbstellungen bis 93. Woche

welch(e/er/es)

abweichende Verbstellungen bis 97. Woche

Tabelle 2.

w-Wörter als NebensatzeinleiterNebensatzeinleiter, aus Müller (1998a: 102)

Negativer Transfer zeichnet sich also auch dadurch aus, dass er nur sehr langsam, wie im Beispiel für jeden NebensatzeinleiterNebensatzeinleiter einzeln, revidiert wird. Kommen wir nun zum positiven Transfer.

2.3.2Positiver Transfer

Positiver Transfer führt sehr früh im Erwerbsverlauf zu zielsprachlichen Ergebnissen und nach Müller und Kupisch (2005) kann der ZweitspracherwerbZweitspracherwerb in solchen Bereichen sogar schneller als der ErstspracherwerbErstspracherwerb, also akzeleriert, verlaufen. Wir wählen für die Erscheinung des positiven Transfers das Beispiel der Artikel aus. Kupisch (2006a, b) zeigt für monolinguale und bilinguale (deutsch-französische und deutsch-italienische) Kinder, dass im Französischen eine Phase durchlaufen wird, während der Nomina ohne vorangehenden Artikel anstelle von Nomina mit Artikel auftreten (vgl. auch Kap. 6.1.2). Kleine Kinder sagen also fleur pas là ‚Blume nicht da‘ und nicht la fleur pas là ‚die Blume nicht da‘ (oft werden weitere Elemente neben dem Artikel ausgelassen). Müller und Kupisch (2005) untersuchen die Artikelauslassungen bei einer erwachsenen Zweitspracherwerberin des Französischen, Berta, die (chilenisches) Spanischchilenisches Spanisch als Erstsprache spricht und das Französische in einem natürlichemnatürlich Kontext gelernt hat.1 Das Alter der L2L2-Lernerin betrug bei der ersten Aufnahme, welche 6 Wochen nach Ankunft in Frankreich durchgeführt wurde, 31 Jahre. Berta nahm kurz nach ihrer Ankunft in Frankreich in einem Restaurant eine Arbeit auf, wo sie den ganzen Tag Französisch sprach. Ein Jahr nach ihrer Ankunft in Frankreich besuchte sie einen 480 Stunden umfassenden Sprachkurs. Die L2-Lernerin hat drei Kinder; ihre Familie lebt ebenfalls in Frankreich. Während der Interviews spricht sie meistens über ihre Arbeit und ihr Familienleben. Interviewt wurde sie von einer französischen Muttersprachlerin. Die Reaktionen mit Bezug auf spanische ÄußerungenÄußerung von Berta während der Sprachaufnahmen deuten darauf hin, dass die InteraktionspartnerInteraktionspartner:inin Spanisch verstand.

Beide romanischen Sprachen erfordern im Regelfall einen Artikel. Ausnahmen hierzu sind Eigennamen, prädikative Verwendungen (Marie est advocate – Maria es abogada ‚Maria ist Anwältin‘) und bestimmte PräpositionPräpositionen (en train, en tren ‚im Zug‘). Sie unterscheiden sich aber auch, denn im Spanischen müssen MassennomenMassennomen (z. B. Milch) und Nomen im PluralPlural, die als unspezifisch interpretiert werden, ohne Artikel auftreten, vgl. die Beispiele in (5). Das Französische verwendet in beiden Fällen einen Artikel: Im ersten Fall steht der Teilungsartikel (de+le), im zweiten Fall der unbestimmte Pluralartikel (des).

(5)

a.

Maria quiere leche

(frz. Marie veut du lait)

 

 

Maria möchte Milch

 

 

b.

Maria compra zapatos

(frz. Marie achète des chaussures)

 

 

Maria kauft Schuhe

 

Berta lässt von Beginn an nur wenige Artikel aus, d. h. sie lernt sehr schnell, dass Artikel im Französischen obligatorisch sind, schneller als Erstspracherwerber:innen. In den Sprachdaten der Lernerin kommen auch gemischtsprachlichgemischtsprachliche NominalphraseNominalphrasen vor: ganze Nominalphrasen in spanischer Sprache (el problema de moi und le problema de moi ‚das Problem von mir‘), oder französische Nomen mit einer spanischen DeterminanteDeterminante (el – el garçon petit ‚der – der Junge klein‘). Eichler und Müller (2011) zeigen, dass die Verwendung einer spanischen Determinante mit einem französischen Nomen (elgarçon) in der französischen Aufnahme der Lernerin sehr viel häufiger auftritt (87%, 226 Fälle) als der Gebrauch einer französischen Determinante mit einem spanischen Nomen (le chico, 13%, 35 Fälle).

Anzumerken ist, dass für einen „fairen“ Vergleich mit der L2L2-Lernerin bilingual französisch-spanischsprachige Kinder als Vergleichsgruppe hätten herangezogen werden müssen.

2.4BilingualitätBilingualität und ParameterParameter

Nachdem wir das Begriffspaar KompetenzKompetenz – PerformanzPerformanz und daran anknüpfend die Unterscheidung zwischen Transfer und InterferenzInterferenz als mögliche Formen des Spracheneinflusses erläutert haben, wollen wir noch auf die Relevanz von bilingualen Spracherwerbsdaten für eine Spracherwerbstheorie kommen. Wir werden dabei gleichzeitig in den theoretischen Rahmen einführen, der unserer Einführung zugrunde liegt.

Wir haben bereits die Unterscheidung zwischen KompetenzKompetenz und PerformanzPerformanz getroffen. Das bilinguale Individuum ist nun deshalb so interessant, da wir es mit einem einzigen Performanzsystem zu tun haben1, aber zwei oder mehrere Sprachen oder Kompetenzsysteme erworben werden müssen. Das mehrsprachige Kind hat zudem in jeder seiner Sprachen weniger Spracherfahrung als monolinguale Kinder dieser Sprachen, wenn man davon ausgeht, dass monolinguale und bilinguale Kinder insgesamt gleich viel sprachlich interagieren. Der Erwerb der Kompetenzsysteme erfolgt also unter ungünstigeren Bedingungen mit Bezug auf die Spracherfahrung. Diese Situationen wollen wir wissenschaftlich nutzen (Paradis und Genesee 1997: 99), um für die im Folgenden ausgeführte Spracherwerbstheorie zu plädieren.

2.4.1UniversalgrammatikUniversalgrammatik

Die Beobachtung, dass „alle Kinder einer SprachgemeinschaftSprachgemeinschaft dieselbe Grammatik in derselben Zeit erwerben“ (von Stechow und Sternefeld 1988: 30), lässt den Schluss zu, dass es eine Reihe von Prinzipien geben muss, mit denen das Kind ausgestattet ist und die es ihm ermöglichen, die Sprache(n) der jeweiligen Sprachgemeinschaft(en) zu erwerben. Prinzipien sind solche Eigenschaften, die allen natürlichennatürlich Sprachen gemeinsam sind. Die Annahme angeborener Prinzipien gewinnt ferner dadurch an Plausibilität, dass Kinder auch solche Strukturen erwerben, die in ihrem Input nur selten auftreten, wie z. B. PassivPassivstrukturen (der Junge wurde von dem Hund gebissen). Der Spracherwerb weist zudem eine innere Ordnung auf, als dass bestimmte Strukturen in einer festen Reihenfolge erworben / verwendet werden. Dies ist in allen SpracherwerbsmodellSpracherwerbsmodellen anerkannt.

Die Annahme angeborenen Vorwissens wurde von dem US-amerikanischen Sprachwissenschaftler Noam Chomsky in das Zentrum einer SprachtheorieSprachtheorie gestellt. In dieser Sprachtheorie wird davon ausgegangen, dass allen natürlichennatürlich Sprachen universale (also allgemeine) Eigenschaften zugrunde liegen. Diese sprachlichen Universalien sind Teil der UniversalgrammatikUniversalgrammatik (UG). Die UG wird nicht erworben, sondern sie ist angeboren und wird beim Erwerb der Erstsprache(n) durch den Input automatisch aktiviert. Oft wird das Aktivieren der UG auch als deduktivdeduktives Lernen bezeichnet. Hiermit ist gemeint, dass der Lernende vom Allgemeinen zum Speziellen fortschreitet, also nicht aus der Analyse einzelner Sprachelemente eine generelle Regel ableitet, sondern umgekehrt bereits um die generelle Regel weiß, die es mit Hilfe des Inputs nur zu bestätigen gilt. Man vermutet, dass Kinder deduktivdeduktiv lernen, ob ihre Sprache OV (z. B. Deutsch den kuchen gegessen und den kuchen essen) oder VO (z. B. Französisch mangé le gateau und manger le gateau, Italienisch mangiato la torta und mangiare la torta, Spanisch comido el pastel und comer el pastel) geordnet ist. Dies erkennt man daran, dass bereits die frühesten Erwerbsdaten die zielsprachliche Abfolge für die jeweilige Sprache aufweisen. Im Kontrast dazu steht das induktivinduktive Lernen, welches gerade nicht für in der UG verankerte Wissensteile vermutet wird, sondern für stark einzelsprachspezifischeinzelsprachspezifisch Geregeltes. Wir wollen hierfür ein Beispiel aus dem Bereich der Genusmarkierung anführen. Im Deutschen sind unbelebte Nomina, die auf den Laut Schwa, also [ə], auslauten, in der Regel Feminina: die Tasche, die Flasche, die Masche etc. Dieses kann ein Kind nicht deduktivdeduktiv erwerben, da es sich um eine sprachspezifische Regularität handelt, die nur bestimmte Wörter betrifft. Das Kind muss hier induktiv vorgehen, d. h. es könnte auf der Basis von einigen auf Schwa auslautenden Nomina eine Regel aufstellen, die besagt, dass solche Nomina immer Feminina sind. Es könnte dann bei den belebten Nomina wie Hase und Affe zu den folgenden Fehlern kommen: die Hase, die Affe, wenn das Kind die Regel zu grob anwendet, d. h. auf die belebten Nomina übergeneralisiert.

Die Ansicht, dass der Spracherwerb durch die UG geleitet ist, bedeutet keinesfalls, dass dieser auch ohne Input möglich wäre. Im Gegenteil müssen wir annehmen, dass gerade der Input das UG-PotentialUG-Potential erst in Gang setzt. Viele Forscher:innen gehen davon aus, dass das grammatische Wissen modularmodular aufgebaut ist, d. h. es existieren unterschiedliche ModulModule: die Syntax, die den Satzbau regelt, die PhonologiePhonologie, die die Sprachlaute und deren Kombination regelt, etc., also unterschiedliche Abteilungen, in denen unser sprachliches Wissen jeweils nach eigenen Regeln organisiert ist. Diesen sogenannten internen Modulen stehen externe Module gegenüber, wie z. B. die Diskurspragmatik, bei der Informationen aus dem Kontext festgehalten werden. Die modularmodulare Organisation von Sprachwissen ist umstritten (vgl. Dietrich und Gerwin 2017: 47f.).

Die Existenz einer allen Sprachen zugrunde liegenden UniversalgrammatikUniversalgrammatik (vgl. u. a. Chomsky 1981, 1982, 1986, 1995) wird u. a. damit begründet, dass das Kind Regularitäten erwirbt, welche den Erwachsenen nur unbewusst zugänglich sind (vgl. hierzu Müller und Riemer 1998, Kap. 1). Neben dem Problem des Erwerbs von unbewusstem Wissen stellen sich dem Kind weitere Schwierigkeiten, die den Input selbst betreffen, den das Kind erhält. Es lassen sich grob drei Problembereiche unterscheiden (Hornstein und Lightfoot 1981), welche unter dem Begriff des logischen Problemlogisches Problems des Spracherwerbs zusammengefasst wurden.

Das erste Problem besteht darin, dass das Kind meist nur einen kleinen, zufälligen und oft sogar unvollständigen oder fehlerhaften Ausschnitt seiner Erstsprache(n) zu hören bekommt („degenerate datadegenerate data“). Mit anderen Worten: Erwachsene machen Fehler und produzieren häufig unvollständige Sätze. Valian (1990b: 120) spricht bei ihrer Untersuchung von Subjektrealisierungen bei englischsprachigen Kindern von ca. 4% ungrammatischem Input. Dies sind ungrammatische Konstruktionen, die auch als VersprecherVersprecher seitens der Erwachsenen bezeichnet werden können: I told you that sings like a dream ‚ich sagte dir, dass singt wie ein Traum‘. Den Input der Kinder machen zu 16% aber auch solche Konstruktionen aus, die als ungrammatisch klassifiziert werden können (da das Subjekt she fehlt, wie im nachfolgenden Beispiel), die aber in einem angemessenen Kontext (z. B. im geschriebenen Englisch das sogenannte diary-drop, Haegeman und Stark 2021) akzeptabel wären, wie z. B. im Englischen Sings like a dream (im Kontext: She’s going to be a big hit‚ sie wird einen großen Hit landen‘), welches vollständig grammatisch eigentlich She sings like a dream heißen müsste. Dass der Input derartige Fehler enthält, weiß das Kind nicht. Die korrekte Generalisierung hängt darüber hinaus häufig von Sätzen und Strukturen ab, die im normalen SprachgebrauchSprachgebrauch nur selten verwendet werden, d. h. das Kind wird mit ihnen während des Erwerbsprozesses nicht regelmäßig konfrontiert. Letzteres wurde in 2.2 mit Konstruktionen, die die NegationspartikelNegationspartikelpas enthalten, angesprochen. Auf der Basis solcher Konstruktionen könnte ein französischsprachiges Kind entscheiden, ob die Sprache die VerbverschiebungVerbverschiebung aufweist. Diese Konstruktionen sind im Input des Kindes aber sehr selten.

Das zweite Problem ist vermutlich gravierender: Die den natürlichennatürlich Sprachen zugrunde liegenden Regeln und Prinzipien sind äußerst komplexer Natur und spiegeln sich nicht in offenkundiger oder eindeutiger Weise in den oberflächenstrukturellen Eigenschaften einzelner Sätze wider („underdetermination“). Das heißt, für eine gegebene Menge von ÄußerungenÄußerung mag das Kind die korrekte Generalisierung finden, aber ebenso ist es möglich, dass es diese Generalisierung nicht findet. Dieses zweite Problem möchten wir an einem klassischen Beispiel aus White (1989: 6) illustrieren. Die wanna-Kontraktion ist im Englischen möglich, wenn zwischen want und to kein Element tritt (White 1989: 6). Diese Regularität wird in den folgenden Deklarativsätzen deutlich. In (6a) interveniert him nicht zwischen want und to, da es Objekt von see ist. In (6b) zeigt sich für das Subjekt him, dass die Kontraktion to zu einem ungrammatischen Ergebnis führt, da das Pronomen zwischen want und to interveniert:

(6)

a.

I want to see him

 

a’.

I wanna see him

 

b.

I want him to feed the dog

 

b’.

*I wanna him feed the dog

Die folgenden Beispiele (7a)-(7d’) sind ebenso grammatisch mit der wanna-Kontraktion. In (7e) und (7f) wurde das Subjekt des abhängigen Satzes, who, an den Satzanfang verschoben. Die Kontraktion führt in diesen Fällen zu einem ungrammatischen Ergebnis (vgl. (7e’, f’)). Bemerkenswert ist, dass das Subjekt in den Sätzen (7e) und (7f) in seiner Ausgangsposition als Subjekt des Nebensatzes (do you want who to feed the dog bzw. do you want who to win the race) nicht sichtbar ist, d. h. das w-Wortw-Wort befindet sich als erstes Element in der Frage. Wenn wir uns die Antwort auf die Frage in (7e) ansehen, wird deutlich, dass das Subjekt ursprünglich, also vor der Verschiebung an den Satzanfang, zwischen want und to stand: I want him to feed the dog. Hier notieren wir in der Syntax eine Kopie: Who do you want who to feed the dog? Die betreffende Regularität kann demnach nicht aus oberflächenstrukturellen (linearen) Eigenschaften von Sätzen abgelesen werden. Im Gegensatz zu (7e) und (7f) handelt es sich in (7d) um die Verschiebung des Objekts des Verbs see an den Satzanfang (do you want to see who). Wie (7d’) zeigt, führt die wanna-Kontraktion zu einem grammatischen Ergebnis, da die Sequenz want to weder durch ein sichtbares (wie in (7h)) noch durch ein unsichtbares Element (wie in (7e) und (7f)) unterbrochen wird.

(7)

a.

I want to go

 

a’.

I wanna go

 

b.

John wants to go but we don’t want to

 

b’.

John wants to go but we don’t wanna

 

c.

Do you want to look at the chickens?

 

c’.

Do you wanna look at the chickens?

 

d.

Who do you want to see?

 

d’.

Who do you wanna see?

 

e.

Who do you want to feed the dog?

 

e’.

*Who do you wanna feed the dog?

 

f.

Who do you want to win the race?

 

f’.

*Who do you wanna win the race?

Manchmal enthält der Input auch Daten, die eine falsche Generalisierung suggerieren. Betrachten wir hierfür die Beispiele in (8) aus White (1989: 7f.):

(8)

a.

I think John is a fool

 

a’.

I think that John is a fool

 

b.

The girl I met yesterday was very tall

 

b’.

The girl that I met yesterday was very tall

 

c.

Who do you think Mary met yesterday?

 

c’.

Who do you think that Mary met yesterday?

Die Analyse der Beispiele in (8) könnte das Kind zu der Generalisierung führen, dass that fakultativ sei. Dies ist jedoch, wie das folgende Beispiel (8d’) zeigt, eine falsche Generalisierung.

 

d.

Who do you think arrived yesterday?

 

d’.

*Who do you think that arrived yesterday?

Wenn das Subjekt des eingebetteten Satzes (hier: who) verschoben wurde, muss that fehlen. Ein Problem mit diesem Erwerbsbereich ist, dass wir nicht davon ausgehen dürfen, dass das Kind, wie wir Linguist:innen es tun können, auf der Basis der grammatischen und der ungrammatischen Sätze nach der Generalisierung sucht. Dem Kind stehen durch den Input allein die grammatischen Sätze in (8) zur Verfügung, womit wir zu dem dritten Problem überleiten.

Das dritte Problem besteht darin, dass der Input keine negative Evidenznegative Evidenz enthält. Aus der Tatsache, dass eine Struktur nicht im Input auftritt, darf das Kind nicht schließen, dass diese ungrammatisch ist. Sie könnte rein zufällig nicht vorkommen. Mit anderen Worten darf das Kind aus dem Nichtauftreten einer Konstruktion keine Konsequenzen für den Aufbau seiner eigenen Grammatik ableiten. Allein das Auftreten einer Konstruktion (positive Evidenz) darf das Kind für den Erwerb der jeweiligen Grammatik nutzen. Kinder werden außerdem, wenn sie Fehler machen, nicht immer korrigiert. Korrigieren Erwachsene ausnahmsweise kleine Kinder, so hat das meist keinen offenkundigen Lerneffekt. Das Kind kann ja nicht wissen, auf welche Aspekte seiner ÄußerungÄußerung sich die Korrektur des Erwachsenen bezieht, auf formale oder eher inhaltliche (vgl. u. a. McNeil 1966: 106f. zur Ineffizienz von KorrekturenIneffizienz von Korrekturen durch Erwachsene).

Wir dürfen nach diesen Ausführungen formulieren, dass das Kind trotz des Inputs in der Lage ist, bestimmte Grammatikbereiche fehlerfrei zu erwerben. Kinder verfolgen bestimmte Hypothesen nicht, obwohl sie logisch denkbar wären. Zimmer (1995) führt zur Illustration die Sätze in (9) an, die im Input von Kindern vorkommen.

(9)

a.

Die Mama geht jetzt in den Garten

 

a’.

Geht die Mama jetzt in den Garten?

Ein deutschsprachiges Kind könnte hieraus die Generalisierung ableiten, dass die Fragesatzbildung im Deutschen der folgenden Regel unterliegt: Stelle das dritte Wort an die erste SatzpositionSatzposition. Das Kind würde bei Anwendung dieser Regel aber auch den folgenden ungrammatischen FragesatzFragesatz bilden können:

 

a’’.

*Im Oma ist Garten? aus dem Satz „Oma ist im Garten“

Ungrammatische Sätze wie (9a’’) sind aber in Erstspracherwerbsstudien nicht belegt. Deshalb ist es also plausibel anzunehmen, dass das Kind angeborenes Vorwissen mitbringt. Diese Meinung wird als NativismusNativismus bezeichnet. Wäre das Kind darauf angewiesen, erst alle denkbar möglichen Hypothesen durchzuprobieren, so wäre der Weg sehr lang oder es käme vermutlich nie ans Ziel.

2.4.2ParameterParameter

Wir hatten gesagt, dass die UG beim Erwerb der Erstsprache(n) automatisch aktiviert wird. Sie hilft dem Kind dabei, trotz der genannten Probleme mit dem Input die jeweilige(n) Sprache(n) zu erwerben. Um neben invarianten Eigenschaften auch der einzelsprachspezifischen VariationVariation gerecht werden zu können, stellte man sich die UG lange Zeit als ein parametrisiertes System vor. Demnach können die universalen Prinzipien VariableVariablen enthalten, die in Abhängigkeit von der Einzelsprache unterschiedliche Werte annehmen. Man spricht hierbei von Parametern, die auf unterschiedliche Werte festgesetzt sind (ParametrisierungParametrisierung). Die Aufgabe des Kindes besteht darin, die in den Prinzipien enthaltenen ParameterParameter mittels des Inputs (positive EvidenzEvidenz) auf ihre jeweils zielsprachlichen Werte festzulegen. Man stellt sich den Spracherwerb demzufolge als das Fixieren von Parametern vor. Das Fixieren eines Parameters erfordert die folgenden Operationen (vgl. Haider 1993):

Eine bestimmte Eigenschaft im Input muss identifiziertidentifizieren werden.

Die bestimmte Eigenschaft muss als relevant für das Setzen des jeweiligen Parameters erkannt werden oder das PrinzipPrinzip, für welches die bestimmte Eigenschaft Relevanz hat, muss identifiziert werden.

Der ParameterParameter muss auf einen Wert gesetzt werden, der mit der bestimmten Eigenschaft des Inputs übereinstimmt.

Die Identifikation und Verarbeitung von Input-Eigenschaften erfolgt mit Hilfe allgemeiner kognitiver Fähigkeiten. Eine derartige Analyse muss der linguistischen Analyse zeitlich vorangehen. So wird sichergestellt, dass eine linguistisch noch unanalysierte Input-Eigenschaft identifiziertidentifizieren werden kann. Die zweite und dritte Operation sind mit einigen Problemen behaftet. Dies soll am Beispiel des Nullsubjektparameters / pro-droppro-drop Parameters aufgezeigt werden.

2.4.3Der Nullsubjektparameter

Sprachen wie das Spanische und das Italienische zeichnen sich dadurch aus, dass das Subjekt, sofern nicht kontrastivkontrastiv betont, nicht phonetisch realisiert wird: duerme, dorme steht für dt. „er / sie / es schläft“. Bei der Interpretation des entsprechenden Satzes wird das Subjekt also mitverstanden und ist somit Teil der syntaktischen Beschreibung des Satzes. Diese Eigenschaft wird als NullsubjekteigenschaftNullsubjekteigenschaft bezeichnet. In der SubjektpositionSubjektposition wird von vielen Linguist:innen ein leeres nominales Element pro (für Pronomen, das nicht ausgesprochen wird) angenommen, welches einem phonetisch nicht-realisierten PersonalpronomenPersonalpronomen entspricht (vgl. Rizzi 1986). Die Nullsubjekteigenschaft wird als eine OptionOption des so genannten pro-droppro-drop-Parameters aufgefasst (vgl. u. a. Chomsky 1981, Jaeggli 1982, Jaeggli und Safir 1989, Rizzi 1982, Safir 1985; als Überblick empfehlen wir Müller und Riemer 1998:36ff. und Kap. 12). Der pro-drop-ParameterParameter war einer der meistdiskutierten Parameter, seit die romanischen Sprachen in das Zentrum der generativen Grammatik geraten sind, da sich hier das so genannte „clustering of propertiesclustering of properties“ — das Zusammentreffen bestimmter grammatischer Eigenschaften in Sprachen — zeigte. Dies wollen wir an den romanischen Nullsubjektsprachen Italienisch und Spanisch verdeutlichen; diese werden in der Literatur auch als konsistente Nullsubjektsprachen bezeichnet (Roberts 2019: 194).

Rizzi (1982, 1986) verknüpft mit den phonetisch nicht-realisierten definiten Personalpronomina, den Nullsubjekten, die in allen grammatischen Personen und beiden Numeri (Singular und PluralPlural) möglich sind, die folgenden Eigenschaften:

(a)

das Fehlen von expletiven Subjekten,

(b)

Extraktionsmöglichkeiten für Subjekte aus that-t-Kontexten

(c)

postverbale Subjekte in VO-Sprachen.

Expletivexpletive (semantischsemantisch leere) Subjekte fehlen im Italienischen und Spanischen, sind aber beispielsweise im Inventar französischer Pronomina enthalten: il. Das Französische ist auch keine Nullsubjektsprache.

Mit der Eigenschaft (b) ist die Verschiebung des Subjekts an den Satzanfang über den NebensatzeinleiterNebensatzeinleiterthat hinweg gemeint. Im Italienischen (und Spanischen) ist eine solche Verschiebung des Subjekts möglich, genauso wie das direkte Objekt über den Nebensatzeinleiter che an den Satzanfang bewegt werden kann: Chei ha detto Gianni che Maria ha comprato ti?, Chii ha detto Gianni che ti ha comprato una macchina? Im Englischen, einer Nicht-Nullsubjektsprache, darf zwar das direkte Objekt über that hinweg an den Satzanfang verschoben werden, nicht aber das Subjekt: Whati did John say that Mary has bought ti?, *Whoi did John say that ti has bought a car?