Einführung Neuropsychologie - Erich Kasten - E-Book

Einführung Neuropsychologie E-Book

Erich Kasten

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Beschreibung

Wunderwerk Gehirn Verliebtsein, Problemlösen, Depressionen: All dies beruht auf der Funktion von Nervenzellen. Die Neuropsychologie erforscht die neuronalen Grundlagen menschlichen Erlebens und Verhaltens und leitet aus den Ergebnissen Methoden der Diagnostik, Therapie und Rehabilitation ab. Dieses Lehrbuch vermittelt einen Überblick über Aufbau und Funktion von Nervenzellen und Gehirn und führt in die klinischen Anwendungsbereiche der Neuropsychologie ein. Die überarbeitete und erweiterte 2. Auflage trägt dem neuen Blick auf das Gehirn als Netzwerk komplexer, weit verschalteter Systeme Rechnung und integriert neue diagnostische Methoden und Forschungserkenntnisse zu Funktionsbereichen und Störungsbildern wie Demenz, Sucht, Stress, Zwang uvm.

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utb 2862

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PsychoMed compact – Band 1

Die Reihe wurde begründet von Prof. Dr. Hans Peter Rosemeier (†) und Prof. Dr. Nicole von Steinbüchel; sie wird herausgegeben von Prof. Dr. Nicole von Steinbüchel und Prof. em. Dr. Elmar Brähler.

Erich Kasten ist Professor für Neurowissenschaften an der Medical School Hamburg (MSH).

Anett Müller-Alcazar ist Professorin für Biologische Psychologie an der Medical School Hamburg (MSH).

Hinweis: Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 2862

ISBN 978-3-8252-5860-3 (Print)

ISBN 978-3-8385-5860-8 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-8463-5860-3 (EPUB)

2., überarbeitete und erweiterte Auflage

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset-zungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Covermotiv: © Giovanni Cancemi/stock.adobe.com

Satz: Bernd Burkart; www.form-und-produktion.de

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Vorwort zur 2. Auflage

1 Grundlagen

1.1 Historisches

1.2 Nervenzelle

1.3 Nervensysteme

1.4 Transmitter und Neuromodulatoren

1.5 Gehirn

1.6 Wie funktioniert Denken?

1.7 Oszillation im Gehirn

1.8 Kompensation, Reorganisation, Plastizität

1.9 Psychopharmakologie

1.10 Zusammenfassung

1.11 Fragen zum ersten Kapitel

2 Neuropsychologische Diagnostik und Therapie

2.1 Ursachen einer Hirnschädigung

2.2 Diagnostik von Hirnschäden

2.3 Neuropsychologische Behandlung

2.4 Frührehabilitation

2.5 Angehörigenarbeit

2.6 Berufliche Wiedereingliederung

2.7 Zusammenfassung

2.8 Fragen zum zweiten Kapitel

3 Funktionsbereiche und mögliche Störungen

3.1 Motorik

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.2 Sensorik

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.3 Hören

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.4 Sehen

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.5 Blindsight

3.6 Halluzinationen

3.7 Agnosie und Apraxie

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.8 Geruch und Geschmack

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.9 Aufmerksamkeit

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.10 Neglekt

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.11 Orientierung

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.12 Lernen und Gedächtnis

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.13 Sprache

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.14 Lesen, Schreiben, Rechnen

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.15 Handlungsplanung und exekutive Funktionen

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.16 Psychische Veränderungen nach Hirnschädigung

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.17 Das Frontalhirnsyndrom

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.18 Sexualität

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.19 Schlaf-Wach-Rhythmus

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.20 Locked-In-Syndrom

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

3.21 Zusammenfassung

3.22 Fragen zum dritten Kapitel

4 Neuropsychologie anderer Störungen

4.1 Geistige Behinderung, ADHS und Entwicklungsverzögerungen

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

4.2 Autismus und Idiot savant

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

4.3 Demenz

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

4.4 Schizophrenie

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

4.5 Wahn

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

4.6 Affektive Störungen

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

4.7 Phobien und Angststörungen

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

4.8 Belastungsstörungen

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

4.9 Zwangsstörungen

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

4.10 Dissoziative Störungen

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

4.11 Persönlichkeitsstörungen

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

4.12 Homosexualität und Veränderungen der Geschlechtsidentität

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Erscheinungsbild

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

4.13 Sucht

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

4.14 Epilepsie

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

4.15 Schmerz

A Einleitung

B Fallbeispiel

C Symptome

D Neuropsychobiologie

E Diagnostik

F Therapie

4.16 Zusammenfassung

4.17 Fragen zum vierten Kapitel

5 Angrenzende Bereiche

5.1 Psychoendokrinologie

5.2 Psychoneuroimmunologie

5.3 Neuro-Psychotherapie

5.4 Gehirn und Kriminalität

5.5 Parapsychologie

5.6 Zusammenfassung

5.7 Fragen zum fünften Kapitel

6 Anhang

6.1 Ausbildung zum Neuropsychologen

6.2 Hirnatlas

Verzeichnis

6.3 Glossar

6.3.1 Medizinisch-anatomische Richtungsangaben

6.3.2 Fachtermini

6.4 Literatur

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Zur schnelleren Orientierung werden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:

Literaturempfehlung

Begriffserklärung, Definition

Merksatz

Kritik, Achtung!

Beispiel

Forschungen, Studien

Fragen zur Wiederholung am Ende des Kapitels

Vorwort zur 2. Auflage

„Ich, das ist die Person, die mein Gehirn sich ausgedacht hat.“(Prof. Querulix)

Da gerade die Neurowissenschaft eine extrem lebendige Wissenschaft ist, hat sich seit Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches viel getan. Der wichtigste Fortschritt ist sicherlich, dass man das Gehirn zunehmend nicht nur in einzelne Areale einteilt, sondern in komplexe, weit verschaltete Systeme, die den Schaden eines einzelnen Teils oft vergleichsweise gut ausgleichen können. Eine Erkenntnis, die erklärt, warum Patienten mit sehr großen Hirnschäden mitunter relativ geringe Symptome zeigen.

Die sicherlich positivste Neuerung dieses Buches ist, dass mit Professorin Anett Müller-Alcazar nun eine dynamische und junge Co-Autorin in die Erstellung dieses Bandes eingestiegen ist, die sich gerade mit solchen aktuellen Entwicklungen hervorragend auskennt.

Neuropsychologie bleibt weiterhin ein unterversorgtes Bedarfsgebiet, und jeder, der sich frühzeitig schon im Studium dafür qualifiziert und z. B. eine Abschlussarbeit in diesem Bereich verfasst, potenziert damit seine Chancen, nach dem Studium rasch einen Job zu finden. Die European Federation of Psychological Associations mit Sitz in Brüssel bemüht sich aktuell darum, eine Vereinheitlichung der Ausbildung in Klinischer Neuropsychologie zu erlangen, sodass eine Weiterbildung in diesem Bereich auch international anerkannt wird.

Trotz aller Kenntnisse über die Funktionsweisen von Nervenzellen und das komplexe Zusammenspiel von Hirnarealen, Transmittern und Neuropeptiden, bleibt das Gehirn ein Wunderwerk von Ehrfurcht gebietender und geradezu mystischer Größe und damit die komplexeste lebendige Struktur im Universum. Endgültig verstehen werden wir wohl nie, wie unser Gehirn es schafft, sich unser eigenes Ich auszudenken.*

Hamburg & Travemünde

Anett Müller-Alcazar & Erich Kasten

*Genderhinweis: Personenbezogene Bezeichnungen sind genderneutral zu verstehen.

1 Grundlagen

In diesem ersten Kapitel werden wir uns, nach einer kurzen Einführung in die Geschichte der Hirnforschung, mit den Grundlagen beschäftigen: Wie funktioniert eine Nervenzelle? Wie ist das Gehirn aufgebaut? Wie denken wir?

1.1 Historisches

Frühzeit

Die Trepanation wird schon seit 10.000 Jahren praktiziert; bei dieser ältesten Kopfoperation wurde die Bohrung noch mit Flintsteinen oder Muschelschalen vorgenommen. Viele „Patienten“ überlebten den Eingriff, denn an manchen Schädeln sind mehrere Öffnungen in unterschiedlichen Heilstadien vorhanden.

Vor rund 5.000 Jahren hielt ein ägyptischer Chirurg, der hirnverletzte Soldaten versorgte, auf einer Papyrusrolle fest, dass Schäden des Gehirns Symptome an weit entfernten Körperteilen verursachen können. Insbesondere die Kreuzung der Bewegungssteuerung wurde hier erstmals beschrieben. Hippokrates (460–360 v. Chr.) erkannte, dass nicht nur Gefühle im Gehirn entstehen, sondern dass wir damit auch Weisheit erlangen können.

Mittelalter

Im Mittelalter stagnierte die medizinische Forschung aufgrund des Ediktes von Papst Bonifacius. Trotz geringer anatomischer Kenntnisse wurden durchaus Hirnoperationen durchgeführt. Berengario da Carpi (1460–1530) berichtete von seinem Neffen, bei dem im Kampf eine Hellebarde bis in die Ventrikel vorgedrungen war. Berengario entfernte die Knochensplitter; mit einer Kanüle trocknete er die Wunde aus. Obwohl einige Behinderungen zurückblieben, überlebte der Neffe.

Andreas Vesalius, Professor in Padua, publizierte Mitte des 16. Jahrhunderts sein revolutionäres Buch „De humani corporis fabrica“ mit Beschreibungen und Illustrationen der Anatomie des Gehirns. Im Jahr 1562 wurde Vesalius eines Tages dringend zum spanischen König gerufen. Don Carlos, der Sohn von Philipp II., hatte sich bei einem Sturz im Alter von 17 Jahren eine schwere Kopfverletzung zugezogen. Er lag im Koma und Vesalius musste den Schädel via Trepanation öffnen, um eine Blutung ablaufen zu lassen und somit den Druck auf das Gehirn zu vermindern. Der Prinz verlor daraufhin zwar kurzfristig den Sehsinn, wurde aber wieder gesund; die Heilung wurde dennoch dem Sarkophag eines heiligen Mönches zugerechnet, den man neben das Bett gestellt hatte, um ein Wunder zu bewirken.

Phrenologie

Die Einteilung des Gehirns in funktionelle Areale stammt aus dem Buch „Cerebri anatome“ von Thomas Willis (1621–1675). Im 18. Jahrhundert dominierte die Phrenologie des Wieners Franz Joseph Gall (1757–1828). Er glaubte, dass die Form des Schädelknochens durch die Größe des darunterliegenden Hirnareals verursacht wird, was auf spezifische Talente hinweist. Johann Spurzheim (1776–1832) fand z. B. bei 30 Kindesmörderinnen eine Eindellung des infero-posterioren Schädelknochens, was angeblich auf mangelnden Mutterinstinkt hindeutete.

Hirnelektrizität

Der Anatomie-Professor Luigi Galvani (1737–1798) bemerkte durch Zufall, dass ein frisch sezierter Froschkörper unter elektrischer Spannung zuckte. Er folgerte, dass Nerven Elektrizität transportieren; das Gehirn hielt er für einen Spannungsgenerator. Giovanni Aldini (1762–1834) reizte Köpfe geschlachteter Ochsen, was Zuckungen an Augen oder Lippen verursachte. Später führte er diese Untersuchungen an den Gehirnen enthaupteter Verbrecher durch.

Paul Broca

Paul Broca (1824–1880), einer der Begründer der Lokalisationslehre, stellte 1861 einen Patienten vor, der nach einer Hirnschädigung unter Sprachverlust litt. Der Patient starb wenig später, und Broca hatte Gelegenheit, die Ausfälle mit der exakten Hirnläsion in Übereinstimmung zu bringen. In der Küche eines Krankenhauses der kleinen Stadt Abbiategrasso bei Mailand entwickelte der spätere Nobelpreisträger Camillo Golgi (1843–1926) bei Kerzenlicht abends nach der Arbeit die Einfärbung von Nervenzellen mit Silbernitrat. Durch diese Technik, weiterentwickelt von Santiago Ramón y Cajal (1852–1934), einem weiteren Nobelpreisträger, wurde es erstmals möglich, einzelne Nervenzellen unter dem Mikroskop zu sehen.

Lokalisationslehre

Die Lokalisation von Funktionen konnte daraufhin mit der Zellarchitektur in Verbindung gebracht werden. Bis heute gültig ist die Karte (s. Abb. 1.1) von Korbinian Brodmann (1868–1918).

Neuropsychologie nach 1900

Walther Poppelreuther (1886–1939) wurde durch Untersuchungen an hirnverletzten Soldaten zum Urgroßvater der Neuropsychologie. Auch der Band „Die Wiederherstellung der Gehirntätigkeit nach Verwundungen“ des Russen Alexander Lurija (1902–1977) vermittelte neue Hoffnung für die Behandlung. Oliver Sacks (1933 – 2015) begann seit den 1970ern eine Fülle populärwissenschaftlicher Bücher herauszugeben, deren Einfluss bis zu Kinofilmen wie z. B. „Awakenings –- Zeit des Erwachens“ führte.

Abb. 1.1:Brodmann (1909) trennte unterschiedliche Typen von Nervenzellen und zeichnete daraus eine Landkarte des Gehirns, deren Areale er durchnummerierte.

Hirnstimulation

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts überleben Patienten auch schwere Gehirnoperationen. Da das Gehirn selbst schmerzfrei ist, reicht es nach Entfernung des Schädelknochens, wenn man nur lokal betäubt. Der Patient ist dann bei geöffnetem Schädel ansprechbar. Wilder Penfield (1891–1976) reizte nun einzelne Hirngebiete mit schwachen elektrischen Strömen. Die Operierten berichteten von unterschiedlichen Empfindungen wie etwa Hautkribbeln, Stimmenhören oder Lichtblitzen, was zur exakten Lokalisation von Funktionen beitrug.

bildgebende Verfahren

Seit dem 20. Jahrhundert erlauben bildgebende Verfahren wie CT, MRT, PET, SPECT, fMRT oder DTI einen direkten, nicht-invasiven Einblick in das Gehirn des lebenden Menschen. In den letzten Jahrzehnten hat die Bildgebung eine regelrechte Revolution erlebt. Zum ersten Mal können wir die physischen Folgen unserer Gedanken sehen. Allerdings werden diese Methoden auch kontrovers diskutiert (z. B. Kotchoubey 2004). Neuerdings wurden hier sogar Areale für „Gottesfurcht“ gefunden, was der Neurobiologie-Professor Gerald Wolf in seinem Roman „Der Hirngott“ (2005) zu Recht kritisch-sarkastisch verarbeitete.

Ein detaillierter Überblick über die Geschichte der Neurowissenschaften lässt sich dem empfehlenswerten Buch von Stanley Finger (1994) entnehmen; eine etwas kürzere Darstellung findet sich z. B. bei Oeser (2002).

1.2 Nervenzelle

Waren Sie schon einmal total verliebt? Kennen Sie dieses brennende Verlangen, wenn man an den potentiellen Partner denkt? Das Gefühl verliebt zu sein, aber auch die Lösung eines Problems zu finden oder eine psychiatrische Störung wie die Schizophrenie – all das beruht letztendlich auf der Funktion von Nervenzellen. Unsere Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen werden von ihnen gesteuert. Wie aber funktionieren diese winzigen Rechenmaschinen im Gehirn?

Afferenzen und Efferenzen

Neurone können Außenreize (Licht, Schall, Wärme usw.) in einen elektrischen Impuls umwandeln. Afferenzen leiten die Informationen von den Sinneszellen zum Gehirn. Efferenzen senden Impulse vom Zentralen Nervensystem (ZNS) in Richtung Muskeln oder Drüsen.

Eine Nervenzelle besteht aus einem Zellkörper (Soma), der den Zellkern umschließt. Aus dem Soma sprießen feine Verästelungen (Dendriten); sie machen das Neuron zur hochspezialisierten Empfangsstation z. B. für Druck, Hitze, Kälte, Licht, Verletzung oder Impulse von anderen Nervenzellen.

Abb. 1.2: Eine Nervenzelle (Neuron) besteht aus einem Zellkörper mit Dendriten (feinen Verästelungen) als Empfangsstationen. Über das Axon wird die elektrische Erregung dann weitergeleitet (Grafik: U. Herbert).

Abhängig vom Widerstand auf der Zellmembran und der Zahl der gleichzeitig eintreffenden Informationen wird von einem Neuron „entschieden“, ob ein Impuls weitergeleitet wird oder nicht. So gibt es z. B. im Sehsystem Zellen, die nur aktiv werden, wenn mehrere untergeordnete Neuronen ihnen mitteilen, dass zwei Linien in einem rechten Winkel zueinanderstehen.

Abb. 1.3a, b: Mikroskopische Gehirnschnitte. Man erkennt die punktförmigen Zellkörper (Somata) von Neuronen, die in Schichten zusammenliegen. Dort, wo nur wenige Punkte zu erkennen sind, verlaufen die Axone. Das Gehirn faltet sich, um die Oberfläche zu vergrößern, an der die Zellkörper liegen.

Aufbau des Neurons

Die meisten Nervenzellen haben viele Dendriten, jedoch nur einen langen Fortsatz (Axon). Dieses leitet Impulse an andere Orte, die meist direkt benachbart sind, aber auch weit entfernt sein können (transkortikale Bahnen). Das Axon endet in einem Endköpfchen, welches in der Regel an den Dendrit einer anderen Nervenzelle angrenzt, sodass der Impuls übertragen werden kann. Im Körper endet das Axon oft auf einer Muskelfaser und bewirkt, dass diese sich kontrahiert.

Negative Ladung

In populärwissenschaftlichen Psychologiebüchern ist manchmal die Rede von „positiver Energie“, die jeder in sich trägt. Die unangenehme Wahrheit ist leider, dass wir im Normalzustand eindeutig negativ geladen sind. Im Ruhezustand befinden sich viele Kalium-Ionen innerhalb der Nervenzelle und Mengen an Natrium-Ionen außerhalb, im sogenannten extrazellulären Raum. Die dünne Außenhaut (Membran) der Nervenzelle ist im Ruhezustand nur für die kleineren Kalium-Ionen durchlässig. Die Natrium-Kalium-Pumpe befördert drei Natrium-Ionen aus der Zelle heraus und zwei Kalium-Ionen in die Zelle hinein. In diesem Zustand ist die Nervenzelle leicht negativ geladen (je nach Zelltyp zwischen –50 und –100 Millivolt). Erst bei einer Aktivierung (Depolarisation) öffnen sich schlagartig „Tore“ (Ionenkanäle) in der Membran, durch die Natrium-Ionen ein- und Kalium-Ionen ausströmen können. Das elektrische Potential wird für rund 1 Millisekunde positiv (ca. +20 mV). Danach kommt es sofort zum Ausströmen der Natrium-Ionen (Repolarisation).

Neuronale Aktivation

Synaptischer Spalt

Diese Erregung der Nervenzelle ist mit einer schnell verpufften Explosion vergleichbar. Das elektrische Potential läuft dabei mit hoher Geschwindigkeit das Axon hinunter. Die Gefahr, dass dieser elektrische Impuls auf andere Nerven überspringt, die nicht aktiviert werden sollen, wird durch Ummantelung mit isolierenden Zellen umgangen (Schwann-Zellen). Der Bereich zwischen Nervenzellen ist mit isolierenden Glia-Zellen aufgefüllt (z. B. Oligodendrozyten, Astrozyten). Durch die Schwann-Zellen gleitet der elektrische Impuls sogar noch schneller. Eine Depolarisation kann nämlich nur dort ablaufen, wo das Axon nicht von Schwann-Zellen umhüllt wird, sondern von extrazellulärer Flüssigkeit (Ranviersche Schnürringe). Die Erregung springt quasi von einem Schnürring zum nächsten (saltatorische Erregungsleitung).

Zwei Nervenzellen wachsen normalerweise nicht zusammen, sondern zwischen dem Axon der einen und dem Dendriten der nächsten ist ein kleiner Spalt. Die Nervenfaser endet in einem winzigen Endköpfchen, das Bläschen (Vesikel) beinhaltet, die mit einem Überträgerstoff (Transmitter) gefüllt sind.

Synaptische Übertragung

Sobald ein elektrischer Impuls ankommt, öffnen sich einige Bläschen und es wird ein Botenstoff freigesetzt. Der Dendrit auf der anderen Seite der Synapse besitzt Empfangsstationen (Rezeptoren), die in der Lage sind, wieder einen elektrischen Impuls auszubilden, sobald der Transmitter sich dort einlagert. Überschüssige Überträgerstoffe werden abgebaut, die Gruppe der Monoamine z. B. durch die Monoaminooxydase (MAO), Acetylcholin durch die Acetylcholinesterase. Außerdem werden Transmitter von dem Endköpfchen (befinden sich in der Membran der Präsynapse) wieder aufgenommen (Reuptake). Präsynaptische Autorezeptoren informieren das Sender-Neuron in einer Feedbackschleife darüber, wie viele Botenstoffe sich im Spalt befinden; hierdurch soll eine Über- oder Untersteuerung verhindert werden.

Abb. 1.4: Nervenzelle mit Ranvierschen Schnürringen und synaptischem Endköpfchen (Grafik: U. Herbert).

Rezeptorarten

Es gibt auf der postsynaptischen Seite (Empfänger) zwei unterschiedliche Abläufe aufgrund zwei unterschiedlicher Klassen von Rezeptoren:

1.Bei den Ionenkanal-gekoppelten Rezeptoren (ionotroper Rezeptor) bewirkt der Botenstoff direkt die Öffnung der Ionenkanäle zwecks Depolarisierung (z. B. durch Gamma-Amino-Buttersäure (GABA), Glutamat, Glycin). Dies dauert Bruchteile einer Sekunde.

2.Bei den second-messenger-Rezeptoren (metabotroper Rezeptor) verändert der Botenstoff zunächst nur den G-Komplex der Empfangszelle, der dann second messenger bildet, die sich über weitere Stufen verwandeln. Erst ihr Endprodukt bewirkt eine Öffnung des Ionenkanals (z. B. Dopamin, Noradrenalin, Serotonin), was deutlich länger dauert.

Viele Axone teilen sich in diverse Äste, sog. Kollaterale, auf, sodass etliche benachbarte Zellen gleichzeitig aktiviert werden können. Diese Kollaterale sind wichtig, wenn Neurone zu Arbeitsgruppen (Assemblies) zusammengeschlossen werden. Durch die gegenseitige Verschaltung verfügen sie über denselben aktuellen Informationsstand.

Synapsen sind wichtig für die Psychopharmakologie. Die Reizweiterleitung im Axon lässt sich medikamentös kaum beeinflussen, wohl aber die biochemische Übertragung am synaptischen Spalt.

Andere Kontakte

Dies ist nicht die einzige Art der Verschaltung. Mitunter springt ein elektrischer Impuls von einem Dendriten direkt zum anderen über oder vom Soma der einen zum Soma der anderen Zelle. Mitunter ist es sogar möglich, dass ein Impuls in umgekehrter Richtung verläuft.

Haben Sie das alles verstanden? Werden Sie es morgen noch rekapitulieren können? Eine der größten Errungenschaften unseres Gehirns ist seine Lernfähigkeit und Plastizität. Wie aber kann es sein, dass wir im Leben immer mehr dazu lernen? Müsste sich dabei unser Gehirn nicht ausdehnen wie ein Luftballon? Oder ist die Festplatte zwischen unseren Ohren irgendwann voll?

Was ist Lernen?

Tatsächlich weiß man heute, dass wir auch nach der Geburt weitere Nervenzellen bilden können, der Raum ist dennoch durch den Schädelknochen eng begrenzt. Unser Zentrales Nervensystem (ZNS) muss dafür also platzsparende Wege gehen. Wie auf einer Kreidetafel werden ständig neue Informationen hineingeschrieben und unbenötigte gelöscht. Lernen bedeutet, dass sich neue Synapsen bilden. Hierzu können Dendriten bis zu einem bestimmten Ausmaß aussprossen und neue Verbindungen bilden.

Lernen Sie einmal dies Gedicht von Wilhelm Busch auswendig:

„Wenn einer, der mit Mühe kaum geklettert ist auf einen Baum, schon meint, dass er ein Vogel wär’, so irrt sich der.“

Was Sie nun bemerkt haben, ist, dass Lernen anstrengend ist und Zeit und Energie benötigt, da Sie dabei neue Verknüpfungen im Gehirn schaffen.

Diese Verbindungen zwischen Nervenzellen sind zunächst dünn wie ein kaum sichtbarer Waldpfad, aber durch häufige Benutzung werden sie zur sechsspurigen Autobahn. Durch Einlagerung bestimmter Stoffe (z. B. Proteinkinasen) wird eine solche Verknüpfung dominant. Lernen umfasst nicht nur Gedichte, es kann auch ein neues Verhalten sein, etwa das Erlernen eines Musikinstruments, aber auch eine bestimmte Art zu denken.

Langzeitpotenzierung

Wenn die synaptische Verbindung kräftig ist, wird das nachfolgende Neuron stark erregt, wenn sie schwach ist, geschieht nur wenig. Je häufiger eine Synapse aktiviert wird, umso dominanter wird sie: Dies bezeichnet man als long-term-potentiation (LTP) oder Langzeitpotenzierung. Nach der Hebb’schen Regel verbessern Nervenzellen ihre Verknüpfung, je häufiger sie gleichzeitig aktiv sind. Ihre Kopplungsstärke hat zugenommen, und damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie später eher aktiv werden als andere Nervenzellen. Lernen und Verlernen sind neurobiologisch eine Veränderung der Stärke synaptischer Verbindungen – ein Prozess, der auch als synaptische Plastizität bezeichnet wird.

Aktivierung

Nervenzellen können eintreffende Impulse verstärken; ein Lichtquantum kann in der Retina einen Impuls auslösen, der um das Tausendfache stärker ist. Dadurch, dass eine Nervenzelle mehrere weitere erregen kann, die wiederum eine noch höhere Anzahl aktivieren, könnte eine Erregung sich lawinenartig ausbreiten. Es gibt aber nicht nur ein Gaspedal im Gehirn, sondern es muss auch eine Bremse existieren.

Hemmung

Manch einer kennt die dezent beruhigende Wirkung, die ein Glas Rotwein nach einem fürchterlichen Arbeitstag mit sich bringt. Wie wirkt Alkohol? Neben den aktivierenden gibt es auch inhibitorische (hemmende) Synapsen, diese reduzieren die Ausbreitung. Ob eine Nervenzelle einen Impuls weitergibt, hängt von einem Summationsprinzip ab, bei dem die Anzahl erregender Eingänge mit den hemmenden verrechnet wird.

Der wichtigste hemmende Transmitter im Gehirn ist Gamma-Amino-Buttersäure (GABA), der wichtigste erregende Glutamat. Ob ein Botenstoff aktivierend oder inhibitorisch wirkt, hängt von der jeweiligen Verschaltung ab; es ist im Grunde genommen so, dass einige Übertragungssubstanzen bevorzugt für hemmende bzw. erregende Schaltstellen benutzt werden.

Nervenwachstumsfaktor

Nach aktuellen Schätzungen besteht das menschliche Gehirn aus ca. 86 Milliarden Nervenzellen (Herculano-Houzel 2009). Jede einzelne davon kann mit bis zu 100.000 anderen verknüpft sein, im Mittelwert sind es ungefähr 1.000 Synapsen pro Neuron. Unsere individuelle Persönlichkeit beruht auf der unvorstellbar großen Anzahl möglicher Verschaltungen. Aber wie entstehen sie eigentlich?

Die Augen liegen beim Menschen vorne, das Sehzentrum ist aber im Hinterhaupt. Wie konnten die Axone der Retina während der fötalen Entwicklung wissen, wohin sie wachsen mussten? Die Zielneurone geben einen spezifischen Nervenwachstumsfaktor ab, und die Axone der Ursprungsneurone wachsen gezielt darauf zu.

Diskonnektion

Neugeborene haben rund ein Drittel mehr Neurone als Erwachsene. Dem Säugling fehlen aber noch weitgehend die Verknüpfungen, die sich durch Erfahrung erst im Laufe des Lebens herausbilden. Viele Schaltstellen sind zwar genetisch möglich, ob sie wirklich zum Tragen kommen (Genexpression), hängt davon ab, ob die Umwelt dieses Verhalten fördert. Während der ersten Lebensjahre gehen alle Nervenzellen zugrunde, die keine sinnvolle Funktion erlangen. Häufig benutzte Zellen bilden stärkere bzw. größere Dendritenbäume aus als vernachlässigte. Solche, die gar nicht benutzt werden, atrophieren, d. h. sie bilden sich zurück und können sogar völlig verschwinden. Eine aktive Funktion auszuüben ist also für ein Neuron überlebenswichtig. Bei blindgeborenen Kindern z. B. übernimmt das Sehzentrum Aufgaben aus benachbarten Hirnbereichen wie Hören oder Fühlen. Nach einer Diskonnektion, der Durchtrennung einer Nervenfaser, bemühen sich die nun isolierten Nervenzellen darum, Impulse von ihren Nachbarn zu verarbeiten, um nicht funktionslos zu werden. Kommt auch auf diesem Wege nichts mehr herein, dann bleibt diesen Neuronen nur noch die Erhöhung ihrer Spontanaktivität, was z. B. bei den Charles-Bonnet-Halluzinationen von Späterblindeten (siehe auch Kap. 3.6) eine Rolle spielt.

Komplexe Neuronen

Neben Neuronen, die einfache Leistungen vollbringen, wie etwa die Hell-Dunkel-Unterscheidung im Sehsystem, werden komplexe Neuronen nur bei Linien bestimmter Richtungen aktiv. Hyperkomplexe Zellen werden erregt, wenn solche Linien eine bestimmte Figur bilden. Durch diese hierarchische Spezialisierung ist es dem Gehirn möglich, Wahrnehmungen zu analysieren.

Neuronale Ordner

Wie geht dieser Satz weiter: „DAS IST SCH …“? Bestimmte Eigenschaften einer Information aktivieren spezifische Teile spezieller Assemblies (neuronale Arbeitsgruppen), wobei verwandte Erkennungssysteme verknüpft sind. Eine inkomplette Information wird zunächst mehrere neuronale Ordner ansprechen (SCHÖN, SCHIEF, SCHADE, SCHULZ, SCHMIDT, SCHLECHT …). Diese treten dann in Wettkampf; abhängig von den weiteren Merkmalen („DAS IST SCHLEIM“) wird ein System dominant.

Warum unterbrechen Sie das zielgerichtete Lesen dieses Buches ständig durch andere Aktivitäten? Die meisten Handlungen werden durch äußere Faktoren oder Mangelzustände des Körpers veranlasst. Manche Verhaltensweisen erscheinen aber zufallsgesteuert; sie hängen vermutlich von der Spontanaktivität von Nervenzellen ab. Normalerweise geht diese sofort wieder unter; nur wenn sich unser Bewusstsein darauf fokussiert (z. B. in einer vagen Situation oder weil dieser Impuls in ein Konzept passt), dann kommt es zur Weiterentwicklung.

Abb. 1.5: Einfache visuelle Neurone sehen hier den Kontrast zwischen hellen und dunklen Flächen. Komplexe Neurone erkennen die Linien, hyperkomplexe sehen den Würfel darin. Bei einem solchen Kippbild wie dem Necker-Würfel kann man immer nur eine Seite vorne sehen, niemals beide. Hier treten zwei neuronale Systeme der Objekterkennung in Wettstreit; der Gewinner versklavt den Unterlegenen.

Kreativität

Das bringt uns zu der Frage, wie das Gehirn etwas völlig Neues erfinden kann? Interessanterweise fallen uns kreative Ideen regelmäßig nicht ein, wenn wir angestrengt danach suchen. Jeder kennt das Phänomen, dass uns die Lösung eines Problems ausgerechnet dann in den Sinn kommt, wenn wir gelangweilt den Rasen mähen. Mit der folgenden Erklärung können Sie Ihren Arbeitgeber überzeugen, künftig mehr zu Hause zu arbeiten: Angestrengtes Nachdenken über ein Problem erzeugt schnell dominante Gedankengänge, die wir in Windeseile immer wieder durchjagen, wenn wir keine Lösung finden. Seitenwege, d. h. nicht direkt zugehörige Assoziationen, werden dabei gehemmt. Genau das verhindert aber, dass wir eine originelle Lösung finden. Erst in solch einer entspannten Situation ist diese Hemmung aufgehoben, die Erregung aus einem vorher inhibierten Bereich kann nun in das Bewusstsein durchbrechen und es macht ganz laut „Aha!“. Unsere Aufmerksamkeit ist in diesen Momenten i. d. R. nicht auf äußere Ereignisse gerichtet und im Gehirn wird das sogenannte Default Mode Netzwerk (DMN) aktiviert. Das DMN oder Ruhezustandsnetzwerk beschreibt diejenigen Gehirnstrukturen, die im Ruhezustand („default mode“) normalerweise aktiv und während einer kognitiven oder einer Verhaltensaufgabe weniger aktiv sind (Raichle 2010).

Wer sich für die physiologischen Funktionen näher interessiert, dem seien die Lehrbücher von Kandel et al. (1995) oder von Nauta/Feirtag (1990) ans Herz gelegt.

1.3 Nervensysteme

Woher weiß das Gehirn nun aber, was in den Organen vor sich geht? Über das Nervensystem tauschen unsere Körperteile Informationen aus, um sinnvolle Abläufe zu gewährleisten. Die Verschaltungen sind so komplex, dass sich ein solches Nervensystem in jedem Individuum nur einmal entwickelt. Nach einer Hirnschädigung (z. B. Schädel-Hirn-Traumata) müssen die übrig gebliebenen Teile mit zusätzlichen Aufgaben belastet werden, um die verloren gegangene Funktion zu kompensieren. Aktuell befasst man sich damit, wie sich verletzte Hirnregionen mittels neuester Erkenntnisse zur Neurogenese (Geburt neuer Nervenzellen) „reparieren“ lassen.

Unterteilung

Säugetiere besitzen mehrere Nervensysteme. Neben dem zentralen Nervensystem (ZNS, Gehirn und Rückenmark) gibt es das periphere Nervensystem im restlichen Körper. Dieses unterteilt sich in das somatische, bewusst steuerbare und in das autonome (vegetative) Nervensystem. Die beiden wichtigsten Nerven des Letzteren sind Sympathikus und Parasympathikus. Sie haben u. a. Einfluss auf Schweißsekretion, Blasenentleerung, Verdauung, sexuelle Reaktionen und auf das Herz-Kreislauf-System. Das vegetative Nervensystem wird zwar vom ZNS beeinflusst, im Wesentlichen arbeitet es jedoch selbständig (autonom). Es verläuft zunächst parallel zum Rückenmark, bevor es in Organe verzweigt, und bildet an einigen Stellen knotenartige Verdickungen (sogenannte Ganglien), etwa im Solar plexus (Sonnengeflecht). Selbst bei Durchtrennung des Rückenmarks (Querschnittslähmung) kann es Funktionen wie etwa Atmung, Herzschlag, Verdauung und einige sexuelle Reaktionen weiterhin steuern.

Zentrales Nervensystem

Das zentrale Nervensystem lenkt den Körper dagegen durch ein Faserbündel von Nerven, die in der Mitte des Rückgrats verlaufen und daher als Rückenmark bezeichnet werden. Dieser historische Name ist eigentlich falsch, da es sich nicht um innere Knochensubstanz, sondern um Axonbündel handelt. Von dort aus laufen Nervenfasern in alle Körperteile (peripheres Nervensystem). Wenn man an Nerven denkt, hat man meist filigrane Gebilde vor Augen, dünner als ein Haar. Die aus dem Rückenmark austretenden Nervenbahnen können aber durchaus fingerdick sein. Hexenschuss oder Ischiasschmerz entstehen dadurch, dass verrutschte Bandscheiben bzw. verspannte Muskelgruppen auf diese Bündel drücken. Bei einer starken Längendehnung kann das Rückenmark abreißen. Diese Schädigung ist bisher nicht heilbar, da durchtrennte Axone des ZNS nicht nachwachsen können. Das Gehirn erhält keine Informationen mehr aus dem Bereich unterhalb der Schadensstelle und kann keine Befehle mehr dorthin senden. Der Betroffene kann z. B. seine Beine nicht mehr bewegen und hat dort auch kein Gefühl mehr. Lediglich einige Reflexe können noch funktionstüchtig sein. Oft sind nicht alle Axone durchtrennt, dann bestehen noch Restfunktionen.

Querschnittslähmung

Seit Jahrzehnten suchen Wissenschaftler fieberhaft nach Medikamenten, die ein Zusammenwachsen der durchtrennten Axone erlauben. In der frühen Kindheit lenkt der Nervenwachstumsfaktor die Axone. Der Erwachsene produziert diesen Faktor jedoch kaum noch. Periphere Nerven können trotzdem wachsen. Bei operativer Re-Implantierung, z. B. einer abgetrennten Hand, werden neurochirurgisch auch durchtrennte Nervenbündel wieder miteinander verbunden, darüber hinaus sprossen Neuronen in das Gewebe hinein, sodass später Empfindungs- und Bewegungsfähigkeit gegeben sind.

In Ihrem Gehirn bildet sich nun gerade die Idee, dass es doch möglich sein müsste, auch Querschnittsgelähmten zu helfen. Leider sind bereits zwei Generationen von Wissenschaftlern an der Umsetzung gescheitert. Dieses Wachsen von Nerven funktioniert nicht im Gehirn und Rückenmark. Beim Erwachsenen werden Substanzen vom Stützgewebe abgegeben, die ein wildes Nervenwachstum (abortive axonal sprouting) verhindern. Nach einer Durchtrennung ziehen sich ZNS-Axone zurück und degenerieren. Die leeren Bereiche werden von Stützgewebe aufgefüllt, sodass sie schon nach kurzer Zeit nicht mehr passierbar sind. Selbst wenn man diese Probleme lösen könnte, wäre es schwierig, die richtigen der mehreren Millionen Axone des Rückenmarks wieder korrekt miteinander zu verbinden.

Kleinhirn Großhirn

Während das Rückenmark (abgesehen von Reflexen) im Wesentlichen die Funktion der Reizweiterleitung hat, erfüllen die subkortikalen Hirnstrukturen lebenswichtige Aufgaben. Das Kleinhirn dient vor allem der Bewegungssteuerung. Über diese Hirnteile stülpen sich die beiden Großhirnhemisphären, die sich in Frontallappen (Stirn), Parietallappen (Scheitel), Temporallappen (Schläfen) und Okzipitallappen (Hinterhaupt) trennen lassen. Der Balken (Corpus callosum) verbindet die rechte und linke Hirnhälfte (s. Hirnatlas, Abb. 6.3).

Lateralisierung des Gehirns

Die beiden Hemisphären haben zwar teilweise dieselben Aufgaben (z. B. Motorik oder Sensibilität), aber auch unterschiedliche Funktionen (cerebrale Lateralisation). Die Sprache sowie logische und analytische Prozesse sind vorwiegend linksseitig beheimatet; man spricht daher gerne von einer Dominanz der linken Hirnhälfte. Musikalisches Verständnis und künstlerische Fähigkeiten, aber auch räumliches Vorstellungsvermögen liegen eher rechtsseitig. Bei Linkshändern kann dies spiegelverkehrt sein. Es werden vielfach auch Unterschiede zwischen Männern und Frauen berichtet. Angeblich findet die Sprachverarbeitung bei Frauen bilateral (d. h. in beiden Hemisphären), bei Männern allerdings überwiegend unilateral (linksseitig) statt. Diese Unterschiede konnten allerdings bisher kaum eindeutig nachgewiesen werden (siehe u. a. Sommer 2004). Auch soll bei Frauen das Corpus callosum mehr Fasern enthalten und Männer sollen größere Hirnteile für räumliches Orientierungsvermögen besitzen. An dieser Stelle soll nochmals betont werden, dass Dimorphismen des Gehirns generell sehr schwer nachzuweisen sind, gerade eben weil sich männliche und weibliche Gehirne doch sehr ähnlich sind.

Zur Verhinderung der Ausbreitung epileptischer Anfälle wurde in den 1940er Jahren bei einigen Patienten das Corpus callosum zwischen den Hemisphären durchtrennt (split brain). Die Patienten wirkten zunächst erstaunlich ungestört, erst mit differenziertem Versuchsaufbau zeigten sich einige Probleme. Einen nur mit der linken Hand gefühlten Gegenstand kann der Split-brain-Patient nicht benennen. Ein Betroffener versuchte, mit der einen Hand den Reißverschluss seiner Hose zu öffnen, während die andere sich bemühte, ihn zuzuziehen. Ein anderer versuchte, mit der einen Hand seine Frau zu schlagen, während die andere Hand ihn daran hinderte. Wieder ein anderer Patient versuchte, mit der rechten Hand ein Puzzlebild zusammenzusetzen, wobei die linke ihn immer wieder störte, bis er sich auf die linke Hand setzen musste, um sie daran zu hindern. Eine hemisphärengetrennte Patientin, deren rechter Gehirnhälfte man ein obszönes Bild zeigte, errötete; auf die Frage, warum sie rot wurde, antwortete sie: „Ich weiß es nicht.“

Weitere Informationen über diese Lateralität können in dem Buch von Ocklenburg/Güntürkün (2018) nachgelesen werden.

Areale

Hirnabschnitte werden nach ihren Aufgaben unterteilt. Primäre Bereiche verarbeiten eingehende Sinnesreize. Im Hörsystem z. B. werden Töne unterschiedlicher Frequenzen analysiert. Sekundäre Areale versuchen die Bedeutung des Reizes zu „verstehen“. Ein eingehendes Wort wird dabei nach Ähnlichkeit sortiert, bis der entsprechende Vergleichsreiz gefunden wurde. Das Überlegen einer Antwort wäre schließlich eine Aufgabe der tertiären Areale.

Die winzigen Nervenzellen haben einen riesigen Appetit. Das vergleichsweise kleine Gehirn verbraucht bei angestrengtem Nachdenken bis zu 50 % des Sauerstoffhaushalts. Nervenzellen reagieren leider auch empfindlich auf jeden Mangel, bereits nach 3–5 Minuten ohne frische Blutversorgung fangen Nervenzellen an abzusterben. Manche Zellen halten zwar bis zu 20 Minuten durch, allerdings sind sie dann oft so schwer geschädigt, dass sie sich nicht vollständig erholen. Darüber hinaus nützt die isolierte Funktion eines einzelnen Neurons nichts, wenn die vor- und nachgeschalteten Zellen abgestorben sind. Eine ungenügende Blutversorgung des Gehirns ist die wesentlichste Ursache für Hirnschädigungen.

Blutversorgung des Gehirns

Jede der zwei Hemisphären hat eine eigene Blutversorgung (s. Abb. 6.3). Die rechte Halsschlagader (Arteria carotis) versorgt fast zwei Drittel der rechten Hirnhälfte, links vice versa. Die Vorderseite des Gehirns wird durch die Arteria cerebri anterior versorgt, der mittlere Bereich durch die Arteria cerebri media. Beide teilen sich dann in eine Vielzahl von kleineren Ästen auf. Direkt an der Wirbelsäule verlaufen die beiden Arteriae vertebrales. Beim Eintritt in den Schädel vereinigen sie sich zur Arteria basiliaris, die sich im Gehirn in die rechte und linke Arteria cerebri posterior teilt. Die Arteria communicans verbindet den vorderen und den hinteren Bereich.

Die Blutversorgung des Gehirns umfasst viele kollaterale Gefäße. Bei Verschluss einer Ader kann ein Hirnbereich daher oft noch durch benachbarte Teile minimal versorgt werden. Hierdurch überleben Nervenzellen bei einer Schädigung manchmal noch knapp. Sie erholen sich zwar wieder, dieser Prozess dauert aber Monate.

Für einen intensiveren Einstieg in die Hirnanatomie sind empfehlenswert: der Hirnatlas von Leonhardt et al. (1987), der fotografische Atlas von Rohen et al. (2010) oder die anatomischen Zeichnungen von Netter (2020).

1.4 Transmitter und Neuromodulatoren

Zur Überbrückung des synaptischen Spalts werden – wie gesagt – biochemische Botenstoffe benutzt. Zum Ärger der Studierenden, die das ganze auswendig lernen müssen, fanden die Wissenschaftler immer mehr davon – und es wäre auch nicht überraschend, wenn es noch mehr würden! Die wichtigsten sind:

Arten von Transmittern

Acetylcholin (ACh) hat im ZNS Wirkung auf Aktivität, Bewusstsein und Wachheitsgrad; ACh-Mangel steht mit Demenz in Verbindung. Es wirkt auf die Skelettmuskeln und ermöglicht willkürliche Bewegung. Die periphere Wirkung umfasst außerdem die Akkommodation des Auges, Frequenzabnahme des Herzens, Gefäßerweiterung, Kontraktion der Bronchialmuskulatur, Sekretion der Bronchialdrüsen, Zunahme der Magen-Darm-Mobilität und Kontraktion der Harnblase. Man unterscheidet Rezeptoren vom Nikotin- und vom Muskarin-Typ (benannt nach ihren Agonisten).

Mit Aminosäuren arbeiten rund zwei Drittel der Synapsen im Gehirn. Zu den erregend wirkenden gehören Aspartat, Glutamat und Glutamin. Glutamat ist der bedeutendste exzitatorische (erregende) Transmitter. Hemmend wirken GABA (Gamma-Amino-Buttersäure) und Glycin. GABA vermindert die Impulsfrequenz der verschalteten Neurone.

Arten von Transmittern

Monoamine (Gruppe von Neurotransmittern und Neuromodulatoren) sind relativ selten, aber für die Psychologie wichtig, da mit ihnen viele kognitive und emotionale Zustände gesteuert werden. Die Monoamine teilen sich in Katecholamine und Indolamine auf. Zu den Katecholaminen gehört das Dopamin, das gleichzeitig Vorstufe von Noradrenalin und Adrenalin ist. Adrenalin wird im Nebennierenmark auch als Hormon gebildet. Alle drei sind nicht sehr rezeptorspezifisch, d. h. sie wirken auch untereinander. Zu den Indolaminen gehören Serotonin und Melatonin. Serotonin spielt eine Rolle z. B. bei Stimmungen und Migräne. Viele psychedelische Drogen greifen an den Serotoninrezeptoren. Schokolade hat eine leicht euphorische Wirkung, da sie die Serotoninsynthese stimuliert.

Nikotin

Rauchen Sie? Oder gehören Sie zu den militanten Nichtrauchern? Das Nikotin aus Zigaretten wirkt auf nikotinerge ACh-Rezeptoren. Raucher zünden sich einen Glimmstengel an, wenn sie todmüde sind und behaupten, das würde sie wach machen. Dieselbe Person qualmt aber auch direkt vor der Prüfung, obwohl sie hochgradig aufgeregt ist, und behauptet nun gegensätzlich, das Inhalieren würde sie beruhigen. Kann das stimmen?

Die simple Einteilung in exzitatorische oder inhibitorische Botenstoffe ist leider, darauf wurde schon hingewiesen, nicht immer haltbar. Die Wirkung eines Transmitters hängt nicht nur vom Ort ab, an dem er wirkt, sondern außerdem von der Menge. Zigaretten-Nikotin hat in geringer Dosis eine erregende Wirkung, in hoher Konzentration dagegen blockiert es Schaltstellen.

Dopamin-Vorstufe L-Dopa

In dem Buch „Awakenings – Zeit des Erwachens“ (Sacks 1997) wurde dargestellt, wie Patienten nach einer Virus-Enzephalitis an einer Extremform des Parkinsonismus erkrankten, bei der sie über Jahrzehnte hinweg in völliger Bewegungslosigkeit verharrten. Durch die Verabreichung von L-Dopa, einer Vorstufe von Dopamin, konnte ihre Bewegungsfähigkeit wiederhergestellt werden. Relativ rasch kam es aber zur Toleranzentwicklung, d. h. man musste ihnen immer höhere Mengen des L-Dopas geben. Plötzlich wurden die Betroffenen psychotisch; sie litten unter Zwangshandlungen und Wahnvorstellungen; manche wurden aggressiv. Was war schiefgelaufen? Ein zu hoher Dopaminspiegel hängt mit Psychosen wie z.B. der Schizophrenie zusammen.

Transmittersysteme

Nerven, die denselben Botenstoff benutzen, sind nicht zufällig im Gehirn verteilt, sondern sie bilden Systeme (dafür steht die Endung -erg), die oft durch verschiedene Hirnbereiche laufen und miteinander verschaltet sind:

■ Das noradrenerge System hat seinen Ursprung im Locus coeruleus der lateralen retikulären Formation und projiziert in das limbische System und den assoziativen Kortex. Es ist insbesondere für unspezifische Aufmerksamkeit zuständig und spielt auch bei Stress, Angst und Panik eine Rolle.

■ Das serotonerge System hat u. a. einen dämpfenden, beruhigenden Effekt; es spielt eine Rolle z. B. beim Schlaf und der Stimmung oder bei der Hemmung der Schmerzbahnen. Es geht von diversen Teilen des Hirnstammes aus, insbesondere von den Raphe-Kernen, und projiziert gleichfalls Richtung des limbischen Systems und des Kortex. Weitere Bahnen verlaufen Richtung Rückenmark und Mittelhirn. Serotonin spielt aber auch im Verdauungssystem eine Rolle.

■Das dopaminerge System hat mehrere Unterkomponenten. Ein motorisches System beginnt in der Substantia nigra im Mesencephalon und projiziert Richtung Striatum (mesostriale Bahnen). Ein anderes System hat einen zentralen Kern im Nucleus accumbens und sendet Fasern in Richtung des limbischen Systems (mesolimbische Bahnen) und des präfrontalen und orbitalen Kortex (mesokortikale Bahnen). Es wirkt motivierend und hängt eng mit dem Belohnungssystem des Gehirns zusammen.

■ Das cholinerge System ist weitaus diffuser angelegt. Es ist u. a. im Nucleus basalis Meynert des basalen Vorderhirns beheimatet und projiziert zum Hippocampus, zur Amygdala und in den assoziativen Kortex. Es ist für fokussierte Aufmerksamkeit verantwortlich und hat Einflüsse auf das Gedächtnis.

Wechselseitige Beeinflussung

Die Situation wird noch komplexer, da sich die Systeme gegenseitig beeinflussen. Neben Autorezeptoren für den eigenen Botenstoff gibt es Heterorezeptoren, mit denen sich das jeweilige System darüber informiert, was die Kollegen gerade so treiben. Jede Veränderung eines Neurotransmittersystems hat Veränderungen der anderen Neurotransmitter zur Folge. Es gibt diverse solcher Wechselwirkungen, z. B.: Das cholinerge System muss im Gleichgewicht zum Dopamin stehen. Bei Dopaminmangel trägt auch ein ACh-Übergewicht zum Morbus Parkinson bei. Dem Parkinson-Patienten lässt sich also helfen, indem man den Dopaminspiegel anhebt oder ACh blockiert.

Monoamine und psychische Störungen

Am wichtigsten für psychische Störungen sind die Monoamine. Dopamin steht in enger Verbindung zur Schizophrenie. Noradrenalin spielt je nach Richtung des Transmitterspiegels bei der Entstehung von Depressionen und Angsterkrankungen eine Rolle. Serotonin steht in Verbindung mit emotionaler Stabilität bzw. Labilität; es wird mit Depression in Verbindung gebracht, aber z. B. auch mit impulsivem Verhalten, Selbstverletzung, Zwangsstörungen, Magersucht und Bulimia nervosa. Monoamine können nicht oral (zum Schlucken) verabreicht werden, da zum einen ein hoher first-pass-Effekt vorliegt, d. h. die Leber baut den größten Teil der Substanzen sofort ab, und zum anderen die Blut-Hirn-Schranke „im Weg“ ist. Medikamentös ist man daher auf Injektion (z. B. Adrenalin), die Gabe von Vorstufen (L-Dopa) oder auf eine indirekte Anhebung angewiesen (z. B. Hemmung des Abbaus).

Rezeptortypen

In den letzten Jahrzehnten wurden diverse Untertypen der einzelnen Rezeptoren gefunden. Beim Dopamin gibt es mindestens fünf unterschiedliche, die sowohl gemeinsame wie auch spezielle Funktionen haben. Dopamin bindet bevorzugt an den D1- und den D2-Rezeptor (alle metabotrop, d. h. diese befinden sich in der postsynaptischen Membran und können intrazelluläre Stoffwechselprozesse beeinflussen). Haloperidol, ein Medikament, das gegen Psychosen hilft, blockiert vorwiegend den D2-Rezeptor. Deshalb gehen einige Wissenschaftler davon aus, dass bei Schizophrenie das D2-Rezeptor-System gestört ist. Aber auch Noradrenalin bindet schwach an die D1- und D2-Rezeptoren. Ein anderer Rezeptortyp des monoaminergen Systems ist der Alpha-Rezeptor. Man kennt bislang den Alpha1- und den Alpha2-Typ (beide metabotrop). Adrenalin bindet hier am stärksten, Noradrenalin schwächer und Dopamin am schwächsten. Außerdem gibt es die Beta-Rezeptoren, bei denen man den ß1- und den ß2-Typus voneinander unterscheidet. Die Bindung ist hier ebenso wie beim Alpha-Rezeptor. Beim Serotonin differenziert man momentan sieben große Subtypen (5-HT1 bis 5-HT7), die aber zum Teil noch weitere Unterformen haben, sodass man derzeit auf 15 verschiedene Rezeptorsubtypen kommt, die bis auf einen Subtypen (5-HT3), alle metabotroper Art sind. Das GABA-System hat zwei Arten von Rezeptoren, die man mit A (ionotrop) und B (metabotrop) bezeichnet hat. Auch beim Glutamat gibt es verschiedene Subtypen; am bekanntesten ist der NMDA-Rezeptor (ionotrop), der so heißt, weil er auch durch eine chemische Substanz mit der Bezeichnung N-Methyl-D-Aspartat erregt werden kann.

Periphere Wirkungen

Monoamine haben auch eine periphere Wirkung im restlichen Körper. Katecholamine verursachen z. B. Herzrhythmusstörungen (Tachykardie, Bradykardie), Weit- bzw. Engstellung der Gefäße, Entspannung der Bronchialmuskulatur, Dilatation oder Kontraktion des Uterus, Hemmung der Darmmotilität, Kontraktion der Harnblase bzw. der Pupille, Hemmung der Freisetzung von Histamin (ein Botenstoff des Immunsystems), Aggregation der Thrombozyten (Blutplättchenverklumpung). Diese peripheren Folgen machen jede pharmakologische Beeinflussung schwierig, da neben der Wirkung auf die Psyche zwangsläufig immer unerwünschte Begleiterscheinungen auftreten. Hierdurch ist die Dosishöhe eng limitiert; man spricht vom therapeutischen Fenster, in dem die erwünschte Wirkung möglichst hoch, die unerwünschten Begleitfolgen aber noch niedrig sind.

Histamin

Auch Stoffe, die vom Körper für völlig andere Zwecke sezerniert werden, können zentral wirksam sein. Histamin wird eigentlich bei allergischen Reaktionen freigesetzt und löst z. B. Gewebeschwellung und Juckreiz aus; es taucht aber auch als Botenstoff im Gehirn auf, vor allem im Bereich des limbischen Systems. Antihistaminika, die Histamin blockieren, rufen leichte Somnolenz (Schläfrigkeit) hervor und werden daher auch zur Beruhigung gegeben.

Neuropeptide

Neben den schnell (im Millisekundenbereich) wirkenden klassischen Transmittern gibt es die Neuromodulatoren, die eine Signalausbreitung nur indirekt beeinflussen und langsamer wirken. Hierzu gehören die Neuropeptide; aber auch viele der klassischen Transmitter können neben der direkten eine neuromodulatorische Wirkung haben. Häufig reagieren zentrale Neurone auf einen klassischen Transmitter und einen oder mehrere Neuropeptide, bzw. sie schütten einen klassischen Transmitter und ein Neuropeptid aus. Die Anzahl voneinander unterscheidbarer Neuropeptide ist sehr hoch; inzwischen wurden weit über einhundert davon identifiziert. Hierzu gehören z. B. Enkephaline, das Glückshormon ß-Endorphin oder die mit der Schmerzwahrnehmung in Zusammenhang stehende Substanz P. Enkephaline docken am Opiatrezeptor an und gelten daher als endogene (d. h. vom Körper selbst produzierte) Glücksstoffe. Opiate unterbinden die Freisetzung von Substanz P und wirken dadurch schmerzlindernd.

Cannabis

Da Drogen wie Haschisch eine recht langdauernde Wirkung auf das Gehirn ausüben, muss es auch ein körpereigenes Analogon geben. Welches ist das vom Gehirn selbst hergestellte Tetrahydrocannabinol (THC)? Peptidtransmitter gehören zu den sogenannten hochmolekularen Botenstoffen, von denen es noch weitere gibt, z. B. Anandamid, ein endogenes Cannabinoid, an dessen Rezeptoren Haschisch und Marihuana binden. Auch Adenosin gehört zu der Gruppe dieser hochmolekularen Transmitter. Alle Neuromodulatoren sind in irgendeiner Form mit dem limbischen System verbunden, das u. a. für Emotionen zuständig ist. Entsprechend hängen sie mehr oder minder mit Gefühlen zusammen, rufen diese hervor oder werden davon beeinflusst.

1.5 Gehirn

Aufgaben von Rückenmark, Hirnstamm

Jedes Teil des Gehirns hat spezifische Aufgaben (Tab. 1.1). Das Rückenmark (Medulla spinalis) liegt in einem Kanal (Spinalkanal) in der Wirbelsäule. Im Wesentlichen dient es wie ein Telefonkabel der Weiterleitung von Information. Innerhalb des Rückenmarks existieren Reflexbögen, die eine sofortige Reaktion erlauben. In Richtung zum Schädel geht es in das verlängerte Mark bzw. Myelencephalon (oder Medulla oblongata) über. Hier kreuzen viele Bahnen von der rechten auf die linke Seite, wodurch die rechte Hirnhälfte für die linke Körperhälfte zuständig ist und umgekehrt. In der Rautengrube dieses Areals liegen wichtige Zentren für Atmung, Kreislauf (Blutdruckregulation) und Kohlenhydratstoffwechsel. Darüber hinaus werden von hier aus sämtliche Kopfreflexe gesteuert (u. a. Niesen, Husten, Lidschluss, Schlucken, Saugreflex, Brechreflex).

Tab.1.1: Hirnteile und ihre Funktion

BEREICH

TEIL

FUNKTION

Myencephalon

Medulla oblongata (verlängertes Mark)

Kreuzung der Pyramidenbahnen, Atem- und Kreislaufzentrum

Formatio reticularis

Allgemeine Aktivation, Bewusstseinshelligkeit

Metencephalon (Hinterhirn)

Pons (Brücke)

verbindet Großhirn mit Kleinhirn

Cerebellum (Kleinhirn)

Muskelkoordination, Muskelkraft und Gleichgewicht

Mesencephalon (Mittelhirn)

Tectum (Dach)

Seh- und Hörreflexe im Colliculus (Vierhügelplatte)

Tegmentum (Haube)

Muskelbeweglichkeits-Beeinflussung in der Substantia nigra

Crura cerebri (Fuß)

Durchlauf der Pyramidenbahn

Diencephalon (Zwischenhirn)

Thalamus

Erregung von Teilen der Großhirnrinde

Hypothalamus

Lenkung des autonomen Nerven¬systems, Wasserhaushalt (Durst), Körperwärme, Hunger, Wach-Schlaf- Rhythmus, Sexualität

Hypophyse

Hormonausschüttung z. B.: FSH, Prolaktin, Thyreotropin, ACTH, Oxytoxin, Adiuretin, Vasopressin

Telencephalon(Endhirn,Großhirn)

Corpus callosum (Balken)

u. a. Verbindung von rechter u. linker Hemisphäre

limbisches System

Instinkte u. Gefühle, Sexualität, Aggressivität, Angst

Insula

Geschmack, Einflüsse auf die Verdauung

Rhinencephalon (Riechhirn)

Riechen

Lobus frontalis (Frontal- oder Stirnlappen)

Kontrolle der Bewegungen, Koordination Sehen u. Bewegen, Persönlichkeit, Sprache

Lobus parietalis (Parietal- oder Scheitellappen)

Sensorik (Fühlen), Erkennen von Objekten, Lesen, Schreiben, Rechnen, rechts-links-Unterscheidung

Lobus temporalis (Temporal- oder Schläfenlappen)

Hören, Sprach-, Geräusch- u. Musikverständnis, Gedächtnis, Sprachproduktion

Lobus occipitalis (Okzipital- oder Hinterhauptlappen)

Sehen

Formatio reticularis

Die Formatio reticularis ist eine komplexe Struktur innerhalb des Hirnstammes, die von der posterioren Grenze des Myelencephalons bis zur anterioren Grenze des Mesencephalons reicht. Die Hauptaufgabe besteht in der Steuerung des Wachheitsgrades. Hierbei werden auch Atem- und Kreislaufzentrum beeinflusst.

Limbisches System

Erinnerung

In meiner Erinnerung erblühen

Die Bilder, die längst verwittert –

Was ist in deiner Stimme

Das mich so tief erschüttert?

Sag nicht, dass du mich liebst!

Ich weiß, das Schönste auf Erden,

Der Frühling und die Liebe,

Es muss zu Schanden werden.

Sag nicht, dass du mich liebst!

Und küsse nur und schweige,

Und lächle, wenn ich dir morgen

Die welken Rosen zeige.

Ein romantisches Gedicht von Heinrich Heine (1797–1856). Seit Jahrtausenden versuchen Menschen Erklärungen für all die peinlichen und teilweise recht absurden Verhaltensweisen zu finden, die wir im verliebten Zustand zeigen. Woher kommen solche Gefühle, die uns oft in Richtungen drängen, die wir, logisch gedacht, manchmal eigentlich gar nicht gehen wollten? Es gibt einen Gehirnbereich, der für leid- wie auch lustvolle Gefühle verantwortlich zeichnet: das limbische System.

Entwicklungsgeschichtlich ist das limbische System die Verbindung zwischen dem Stammhirn mit niederen Funktionen und dem Großhirn, das höhere intellektuelle Aufgaben hat. Vielleicht war Angst das erste Gefühl, das ursprünglich die Existenz dieses Systems begründet hat. Furcht schützt schon seit Urzeiten Tiere davor, denselben Fehler zweimal zu machen. Hierdurch entstand bereits vor Jahrmillionen eine direkte Verschaltung zwischen Emotionen und Gedächtnis.

Außerdem hat es sich im Verlauf der Evolution zwecks Erhaltung der Art als sinnvoll herausgestellt, dass Tiere beim Geschlechtsakt Lust empfinden. Dies dürfte die Geburtsstunde des filigranen Gefühls gewesen sein, das wir heute als „Liebe“ bezeichnen.

Das limbische System kommuniziert besonders intensiv mit dem Hypothalamus, dem oberen Hirnstamm und dem Stirnhirn. Es ist allerdings keine einheitliche Struktur, sondern besteht aus einer Vielzahl von medial gelegenen Strukturen, über deren konkrete Zusammensetzung stetig diskutiert wird, und welche (siehe oben) auch mit Strukturen außerhalb dieses „Systems“ kommunizieren.

■Amygdala (Mandelkern): Gefühlsverhalten, Beeinflussung vegetativer und sexueller Funktionen

■Hippocampus (Seepferdchen): Gedächtnis, Orientierung, Bewusstsein

■Gyrus cinguli (zingulärer Kortex): Antrieb, Beeinflussung vegetativer Vorgänge im Nervensystem

■Corpus mamillaria (Mamillarkörper): Gedächtnis, Affektverhalten, Beeinflussung der Sexualfunktionen

■Fornix: Lernen, Gedächtnis, verbindet Hippocampus, Septalregion und Mamillarkörperchen mit dem Hypothalamus

■Parahippocampus: Gedächtnis, Zuleitung von Sinnesinformationen zum Hippocampus

Durch die enge Verschaltung mit dem Bulbus olfactorius (Rhinencephalon, Riechhirn) glaubte man zunächst, dass das limbische System der Geruchsanalyse diene. Wenngleich dies inzwischen modifiziert wurde, haben Gerüche tatsächlich besonders starke Auswirkungen auf unsere Gefühle. Nichts kann so viel Ekel auslösen wie ein Gestank; ganze Industriezweige leben davon, in kleinen teuren Fläschchen angenehme Gerüche zu verkaufen. Auch der Geschmack ist intensiv mit dem limbischen System verbunden. Verdorbene Speisen lösen Übelkeit aus, Vanille macht euphorisch. Beides hat seine Ursachen in der Urgeschichte: hierdurch konnten Tiere giftige Speisen und Gase vermeiden. Bei Aufnahme kalorienreicher Nahrung belohnt unser Gehirn uns mit angenehmen Gefühlen und sichert so das Überleben. Ein biologisches Erbe, unter dem adipöse Menschen noch heute leiden: Das Verspeisen von Marzipan-Nougat-Pralinen veranlasst das limbische System zur überschwänglichen Produktion von glücksbringenden Endorphinen, die Blätter des herrlich kalorienarmen Kopfsalates dagegen lassen es völlig kalt.

Instinkte, Emotionen

Darüber hinaus dient das limbische System artspezifischem Verhalten. Durch elektrische Reizung lassen sich bestimmte genetisch festgelegte Handlungsabläufe bei Tieren sehr zuverlässig auslösen. Abhängig davon, wo die Mikroelektrode stimuliert, können z. B. Geschlechtsverhalten (ohne Partner) oder auch Brunftkämpfe (ohne Rivalen) ausgelöst werden.

Eifersucht ist ein schönes Beispiel dafür, wie rationales Denken vom limbischen System förmlich überrollt wird. Es ist ein Irrtum, wenn man glaubt, Menschen hätten keine Instinkte mehr. Wir bilden uns ein, einigermaßen vernünftig denken zu können, aber unser Handeln wird immer beeinflusst von Gefühlen, die im Hintergrund mitschwingen. Erstaunlich viele Lebensentscheidungen werden weniger aus logischen, sondern vielmehr aus gefühlsmäßigen Gründen getroffen. Dazu gehört nicht nur die Partnerwahl, sondern oft sogar die Auswahl eines Berufes.

Verschaltungen

Das limbische System sitzt tief innen im Gehirn, es ist stammesgeschichtlich älter als der Neokortex und hat dadurch eine urwüchsige Macht über unser Verhalten. Es kann praktisch alle anderen Systeme beeinflussen, neben dem ZNS auch das vegetative Nervensystem, und über Hypothalamus und Hypophyse sogar das gesamte Hormonsystem.

Lassen sich durch Operation des limbischen Systems psychische Störungen beeinflussen? Zwischen 1940 und 1960 wurde eine Entfernung des Gyrus cinguli (Zingulektomie) bei Patienten mit schwersten Aggressionen oder mit Angstzuständen durchgeführt. Es kam zwar zu einem Rückgang von Aggressivität bzw. Angst, aber auch zu beträchtlichen Nebenwirkungen wie z. B. Apathie und Gedächtnisstörungen. Bei der Amygdalektomie hingegen wurde die Amygdala operativ entfernt, was ebenso zu weniger Gewalttätigkeit führte, gleichzeitig aber auch zu veränderten emotionalen Reaktionen.

Gedächtnis und limbisches System

Die Verhaltenssteuerung des limbischen Systems geschieht nicht nur durch genetisch vererbte Programme, es ist auch lernfähig. Emotionale Erlebnisse werden dadurch besser behalten als Erlebnisse neutraler Art, da sie sich förmlich in das Gedächtnis „brennen“. Die anatomische Nähe zwischen Hirnbereichen, die artspezifisches Verhalten steuern und den gedächtnisbildenden Strukturen (z. B. Hippocampus, Amygdala) ist also funktionell sinnvoll.

Intelligenz von Delphinen

Von 1966 bis 1969 lief eine Serie mit dem Delphin „Flipper“ in der Hauptrolle. Die Gelehrigkeit dieses Meerestieres machte damals auch die Wissenschaftler aufmerksam. Das Gehirn eines Delphins besitzt etwas weniger Hirnmasse als das des Menschen, ist aber weitaus mehr gefaltet und hat somit eine größere Oberfläche, vor allem im Bereich des Neokortex. Der Mythos vom superintelligenten Meeresbewohner war geboren. Sofort fing man an, die Sprache der Delphine zu analysieren, in der Hoffnung mit ihnen kommunizieren zu können. Delphine wurden als Menschen der Meere hochstilisiert und schnell stellten findige Forscher fest, dass Wale, die noch ein viel größeres Gehirn besitzen, mehrstrophige Lieder „dichten“.

Rund fünfzig Jahre später haben wir eine Fülle harter wissenschaftlicher Fakten. Sind Wale und Delphine wirklich klüger als Menschen? Das Hirnvolumen muss immer in Relation zur Größe des Körpers stehen, da er damit gelenkt und wahrgenommen wird, was sich insbesondere bei den riesigen Walen niederschlägt. Aber auch bei Delphinen bedeutet groß nicht immer viel. Sie können zwar motorische Aufgaben äußerst flink begreifen, haben aber massive Schwierigkeiten, abstrakte Begriffe, etwa den Unterschied zwischen Kreis und Dreieck, zu verstehen. Onur Güntürkün (1998) schilderte einmal humorvoll, wie sein amerikanischer Kollege geradezu daran verzweifelte, als der trainierte Delphin auch nach vier Monaten noch immer nahe der Ratewahrscheinlichkeit reagierte. Eine Aufgabe, die andere Versuchstiere mit viel kleinerem Gehirn deutlich schneller lernen. Allerdings spielen Dreiecke in der Tiefe des Pazifiks vielleicht keine große Rolle. Und auch obwohl die Unterwassersprache nicht sehr komplex zu sein scheint, ähnelt das Sozialverhalten von Walen und Delphinen doch sehr dem von uns Menschen. Sie leben wie wir in engen sozialen Gruppen und pflegen komplexe Beziehungen, kommunizieren miteinander und haben – wie wir – sogar regionale Dialekte. Weitere Forschungen zeigten dann, dass die Schichten der grauen Substanz beträchtlich dünner sind als bei anderen Tieren und dass die Anzahl der Neuronen in dieser Zellschicht nur etwa ein Fünftel von dem der meisten Landsäugetiere beträgt. Ein Delphin scheint damit nicht sehr viel intelligenter zu sein als eine Laborratte. Ausschlaggebend für Intelligenz ist also die Anzahl der Nervenzellen, die wir nach Abzug von Neuronen zur Steuerung von Bewegung und lebenswichtigen Funktionen noch zur freien Verfügung haben.

Vier Hirnlappen

Eine menschliche Großhirnhemisphäre lässt sich in vier Bereiche einteilen, die meist durch besonders auffällige Furchen getrennt sind (s. Abb. im Hirnatlas am Buchende):

I Lobus frontalis (Stirnlappen)

IILobus parietalis (Scheitellappen)

IIILobus temporalis (Schläfenlappen)

IVLobus occipitalis (Hinterhauptlappen)

Abb. 1.6: Körperteile sind im Kortex unterschiedlich groß abgebildet. Der somatosensorische Homunculus zeigt, wie wir aussehen würden, wenn der Körper so groß wäre wie das entsprechende Areal im Gehirn (Grafik: U. Herbert).

Frontallappen

Der rechte und linke Frontallappen liegen an der Stirn (deshalb auch als Stirnlappen bekannt), oberhalb der Augen. Nach hinten werden sie durch die Zentralfurche (Rolando-Fissur) gegen die Parietallappen begrenzt, nach unten durch die laterale Sylvius-Furche (Fissura lateralis) gegen die Temporallappen. Jeder der beiden Frontallappen lässt sich in mehrere Untereinheiten einteilen.

Bewegungssteuerung

Der zur Bewegungssteuerung dienende motorische Kortex liegt vor der Zentralfurche. Dieser Teil des Gehirns hat über die Pyramidenbahnen eine direkte Verbindung mit dem Rückenmark. Eine typische Schädigung ist die Hemiplegie (Halbseitenlähmung). Durch die Kreuzung der Nervenstränge ist bei einer Läsion der rechten Hirnhälfte die linke Körperhälfte gelähmt und umgekehrt.

Direkt vor dem motorischen Hirnareal liegt der prämotorische Kortex, der die Kontrolle komplexer Bewegungsabläufe übernimmt. Bei einer Läsion fehlt dem Patienten die Bewegungsflüssigkeit, Handlungsabfolgen wirken grob und unbeholfen. Hier liegen erlernte Programme für Klavierspielen, Autofahren oder andere Bewegungsabfolgen, die wir geradezu wie im Schlaf ausführen können.

Eine der Patientinnen der Autoren dieses Buches – vor ihrer Hirnschädigung war sie Kindergärtnerin – bemerkte nach einer Hirnblutung entsetzt, dass sie die Fähigkeit, Gitarre zu spielen, vollständig verlernt hatte. Eines Tages wäre sie fast ertrunken; sie war gemeinsam mit ihrem Mann in die Schwimmhalle gegangen, beide waren begeisterte Schwimmer und stürzten sich in die Fluten. Nur leider hatte sie völlig vergessen, wie man schwimmt. Bei dem Versuch, wieder Rad zu fahren, war der Ehemann dann schon deutlich vorsichtiger und musste feststellen, dass sie auch diese Bewegungsfolge nicht mehr automatisch abspulen konnte.

Bewegungsplanung

Der präfrontale Kortex übernimmt die Bewegungsplanung und die flexible Anpassung an Umweltgegebenheiten. Durch eine Schädigung wird das Verhalten sehr eintönig. Es werden ständig dieselben Handlungen wiederholt, und es gelingt dem Patienten nicht, seine Bewegungen an veränderte Abläufe anzupassen. Ein Ei, ein Eisengewicht und ein Wattebausch werden mit gleicher Kraft angefasst. Auch der Gesichtsausdruck wird unflexibel, selbst das Nachahmen von Handlungen oder das Imitieren einer Mimik fällt dem Patienten schwer. Im präfrontalen Kortex liegt darüber hinaus ein Sehfeld, das Handlungen mit dem Sehen koordiniert.

Persönlichkeitseigenschaften

Zum Frontallappen gehört außerdem der orbitale Kortex, der direkt über den Augen liegt und mit Persönlichkeitseigenschaften in Verbindung steht. Je nach Läsion neigt ein Teil der Patienten zu ungehemmter Albernheit, ständigem Lachen ohne Grund; euphorische Gefühle herrschen vor und Angstgefühle können völlig verschwunden sein. Andere werden gleichgültig-passiv; sie leiden unter Antriebsmangel und bringen keine Initiative mehr auf, etwas zu tun. Eine weitere Gruppe verliert jede Beziehung zu Moral und Anstand; es kommt z. B. zu Exhibitionismus oder anderem anstößigen Verhalten. Am unangenehmsten sind in der Regel diejenigen Hirngeschädigten, die ungebremste Aggressionen und jähzornartige Wutausbrüche zeigen.

Das berühmteste klassische Beispiel schilderte die Leidensgeschichte des Phineas Gage (1823–1860), dem im Alter von 25 Jahren bei einer Explosion eine 1 m lange und 6 kg schwere Eisenstange quer durch seinen Schädel geschossen wurde (s. Abb. 1.7). Gage überlebte den Unfall, zeigte aber eine drastische Veränderung seiner Persönlichkeitseigenschaften.

Broca-Sprachzentrum

Ein weiterer Teil, der zum Frontallappen gehört, ist das nach dem französischen Neurologen Paul Broca (1824–1880) benannte Broca-Sprachzentrum.

Broca stellte 1861 eine Studie über den Patienten Leborgne vor, der nach einer Hirnschädigung unter Sprachverlust litt und nur noch die Silbe ‚tan‘ aussprechen konnte (deshalb hatte man ihm auch den Spitznamen „Tan“ gegeben). Der Patient starb wenig später, und Broca hatte Gelegenheit, dessen Gehirn zu untersuchen. Er fand eine Schädigung in einem Bereich des Frontallappens, der sehr weit außen, in Richtung des Schläfenlappens liegt. Patienten mit einer solchen Schädigung haben erhebliche Wortfindungsschwierigkeiten; sie möchten etwas sagen, kommen aber nicht auf das richtige Wort. Um die Situation des Broca-Aphasikers nachzuvollziehen, versuchen Sie einmal, den folgenden Satz ins Englische zu übersetzen: „Der Patient erlitt einen Schädelbasisbruch.“ Sie kommen jetzt einfach nicht drauf, was „Schädelbasisbruch“ auf Englisch heißt? Auch dem Broca-Aphasiker ist sein Defizit schmerzlich bewusst; er leidet darunter oder ist verärgert, weil ihm das richtige Wort nicht einfällt.

Abb. 1.7: Dem Eisenbahnarbeiter Phineas Gage schoss bei einem Unfall eine Eisenstange durch den Frontallappen. Danach hatten sich seine Persönlichkeitseigenschaften massiv verändert (Harlow 1848).

Parietallappen

Der Parietal- oder Scheitellappen beginnt hinter der Zentralfurche und reicht bis an den Okzipitalkortex. Im ersten Bereich hinter der Zentralfurche liegt das somatosensorische Zentrum, das für die Körperempfindung zuständig ist. Jedes Körperteil hat hier seine Abbildung. Tut uns z. B. eine Handverletzung weh, so schmerzt im Grunde genommen nicht die Hand selbst, sondern lediglich das entsprechende Hirnareal wird aktiviert. Bei hemiplegischen Schlaganfall-Patienten ist oft auch die Empfindungsfähigkeit für die gelähmten Glieder verschwunden.

Eine Patientin der Buchautoren, eine intelligente Rentnerin, die aus dem Stegreif diverse Gedichte von Eugen Roth vortragen konnte, verbrühte sich beim Kochen einmal die gelähmte Hand. Sie wurde darauf jedoch erst zufällig aufmerksam, weil die Hand stark gerötet war und die Haut Brandblasen aufwies, weh tat ihr nichts.

Sensibilität

Neben einer solchen völligen Anästhesie kann es aber auch lediglich zu einer Verringerung der Körperempfindlichkeit kommen. Darüber hinaus kann auch der Stellungssinn beeinträchtigt sein. Manche Patienten wissen nicht mehr, wo sich ihre Gliedmaßen gerade befinden.

Oliver Sacks beschrieb 1987 eine Patientin, die nur durch genaue Beobachtung ihrer Beine gehen konnte, da sie selbst dort keinerlei Gefühl mehr hatte und ohne die visuelle Kontrolle nicht wusste, wie sie die Beine bewegen sollte. Sacks (1989) erlebte selbst einmal eine solche Situation. Als er bei einer Wanderung vor einem freilaufenden Stier flüchtete, verletzte er sich ein Bein, das danach lange Zeit völlig empfindungslos war.

Fühlen

Neben der direkten somatosensorischen Wahrnehmung erfüllt der Lobus parietalis auch höhere Aufgaben, etwa das Erkennen ertasteter Gegenstände. Durch Schädigung dieser Hirnareale kann es zu verschiedenen Ausfällen kommen, z. B. der Astereognosie: Man legt einige Alltagsgegenstände in einen Beutel und bittet den Patienten, die Gegenstände nur durch Befühlen zu identifizieren. Manche Patienten können dies nicht mehr.

Asomatognosie

Bei der Asomatognosie dagegen fehlt die Empfindung für eigene Körperteile. Die Stellung von Armen und Beinen ist nicht mehr bewusst, die meist gelähmten Gliedmaßen werden als fremd empfunden.

Der Neurologe Michael Kremer berichtete von einem Patienten, der linksseitig gelähmt war. Kremer sollte ihn untersuchen, weil er nachts immer wieder aus dem Bett fiel. Der Mann erzählte, dass er ständig ein totes, kaltes, behaartes Bein in seinem Bett vorfinde. Er würde versuchen, es aus dem Bett zu schieben. Es würde aber irgendwie an ihm haften, er bekäme es nicht weg. Jedes Mal, wenn er es geschafft habe, das Bein aus dem Bett zu drängen, dann würde er hinterher fallen. Seiner Ansicht nach handelte es sich um einen schlechten Scherz des Klinikpersonals (zit. nach Sacks 1987).

Lurija (1992) schilderte das Schicksal des Unterleutnants Lewa Sassezki, dem im Alter von 23 Jahren im 2. Weltkrieg ein Granatsplitter in den Schädel eingedrungen war. Sassezki litt danach unter Gesichtsfeldausfall, Aphasie und Amnesie. Dennoch versuchte er seine Gedanken aufzuschreiben und stellte so im Verlauf von rund 20 Jahren 3.000 Seiten zusammen, aus denen Lurija das Buch „Der Mann, dessen Welt in Scherben ging“ zusammenstellte. Unter anderem berichtete Sassezki auch über Veränderungen seiner somatosensorischen Körperempfindungen:

„Manchmal sitze ich da und fühle plötzlich, dass mein Kopf so groß ist wie ein Tisch, mindestens so groß. Arme und Beine und Rumpf sind aber winzig klein geworden. Es kommt mir selbst komisch und lächerlich vor, wenn ich mich auf einmal daran erinnere! Diese Erscheinungen nenne ich Eigentümlichkeiten des Körpers! Und wenn ich die Augen schließe, weiß ich nicht einmal, wo sich mein rechtes Bein befindet, und es ist mir aus irgendeinem Grunde immer so vorgekommen (und von mir auch so empfunden worden), als ob es sich irgendwo oberhalb der Schultern und sogar oberhalb des Kopfes befindet.“ (S. 59)

Lesen

Im Gyrus angularis des Parietallappens gibt es ein Lesezentrum, das sowohl mit dem Sehzentrum im Hinterhaupt wie auch mit den Hör- und Sprachzentren im Temporal- und Frontallappen verschaltet ist. Das Lesezentrum ist oft nur in der dominanten Hemisphäre ausgebildet. Bei einer Schädigung kann es zur Unfähigkeit kommen, Buchstaben und Worte zu erkennen (Wortblindheit) oder zum fehlerhaften Aussprechen eines Textes. In den letzten Jahren wurde viel diskutiert, ob Legasthenie bei Kindern möglicherweise mit einer geburtsbedingten Schädigung dieses Bereiches zusammenhängt.

Orientierungsvermögen

Der Scheitellappen dient außerdem der räumlichen Orientierung. Bei Schädigung verirren sich die Patienten leicht; sie verwechseln ständig rechts und links und die Zeichnungen sind plump, stark vereinfacht und oft nur bruchstückhaft. Ein Patient der Buchautoren, ein 55 Jahre alter promovierter Verwaltungsfachmann, verirrte sich nach einem Schlaganfall mehrfach auf dem Weg von zu Hause in sein Büro, obwohl er diese Strecke über 30 Jahre lang nahezu täglich zurückgelegt hatte.

Temporallappen

Der Temporal- oder Schläfenlappen dient in erster Linie der Verarbeitung akustischer Informationen. Oben, in der Heschl-Querwindung liegt der primäre auditorische Kortex, der direkt mit den Ohren verbunden ist. Hier wird die eingehende Schallinformation zunächst nach Frequenz und Tonhöhe analysiert. Direkt darunter, in der oberen Temporalwindung kommt es zum Erkennen von Geräuschen, Melodien und Stimmen, die dann in dem mittleren Teil des Temporallappens verstanden und weiterverarbeitet werden.

Abb. 1.8: Versuch eines Patienten mit massiver Schädigung des Parietallappens, die beiden Fünfecke im Mini-Mental-Status-Test abzuzeichnen.

Hören akustische Halluzinationen

Wilder Penfield (Penfield/Rasmussen 1950