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Hartnäckig hält sich das Gerücht, die ältere Kritische Theorie habe zu internationaler Politik nichts zu sagen. Doch hat man vielleicht bisher nur nicht ausreichend genau hingesehen? Tatsächlich, so zeigt Moritz Rudolphs bahnbrechende Studie, fügt sie den Theorien internationaler Politik hinzu, was diesen fehlt, ohne es zu wissen: eine Dialektik von Einheit und Zerfall. In den zahlreichen verstreuten Bemerkungen zur internationalen Politik, die das Spätwerk von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Franz L. Neumann und Herbert Marcuse durchziehen, findet Rudolph das Material zu ihrer Rekonstruktion. Angesichts der zur Diktatur erstarrten kommunistischen Revolution und des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs ist ihr Aussgangspunkt nicht die Fortschrittserwartung, sondern eine pessimistische Geschichtsphilosophie des Abschwungs: In der älteren Kritischen Theorie finden wir dann die Konturen eines Denkens, das im Welteinigungsfortschritt auch den zivilisatorischen Rückschritt vermutet, eine trostlos verwaltete Weltgemeinschaft heraufziehen sieht und die Eskalation der Feindschaft befürchtet – falls die Gelegenheit zum wirklichen Bruch nicht ergriffen wird. Die Konsequenzen, die sich daraus für die vier im Zentrum des Buchs stehenden Denker ergeben, sind ganz unterschiedliche – und führen in ihrem politischen Realismus doch immer direkt in unsere so globalisierte wie zugleich unsicher gewordene Gegenwart.
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Seitenzahl: 849
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Moritz Rudolph
Internationale Politik in der älteren Kritischen Theorie
Meinen Großeltern
I. Annäherung an das Material: Wo bleibt das Negative?
1. Einleitung: Ein verdrängter Ursprung der Kritischen Theorie internationaler Politik
2. Begriffe
2.1. Politik als geschichtsphilosophische Technik, Kritische Theorie als sanftes Denken
2.2. Internationale Politik als Ringen um die Form der Form
2.3. Der Kontraktionsmarxismus der älteren Kritischen Theorie
3. Methode
3.1. Immanente Rekonstruktion
3.2. Einheitsverdacht und »zarte Empirie«
3.3. International-politisches Denken als Auslotung geschichtsphilosophischer Spielräume
3.4. Theoriepolitische Selbstverortung
II. Sichtung des Materials: International-politisches Denken in der älteren Kritischen Theorie
1. Verzögerung der total verwalteten Welt: Max Horkheimer
1.1. Die vertane Chance der Revolution und die politische Theorie der Hemmung
1.1.1. Geschichtsphilosophie und Zeitdiagnose: »Die Welt ist verrückt und das bleibt so«
1.1.2. Politische Theorie der Hemmung
1.2. Die Einheit der Welt hinauszögern
1.2.1. Das Feld und die Regeln: Selbstgespräch des Weltungeistes
1.2.2. Geophilosophie und die Rolle einzelner Staaten: Sowjetunion, USA, Deutschland und Israel
1.2.3. Die Staatenordnung überwinden? Europa und der Weltstaat
1.2.4. Drittweltbewegungen, Antikolonialismus, Islam und China
1.3. Zusammenfassung
2. Verhärtung und Verflüssigung auf dem Weg zur Welteinheit: Theodor W. Adorno
2.1. Begrenzte politische Spielräume
2.1.1. Geschichtsphilosophie und Zeitdiagnose: Geschlossene Gesellschaft mit Möglichkeit der Öffnung
2.1.2. Subjektschwäche, Ohnmacht, Gegenmacht
2.1.3. Politik zur Abschaffung der Politik: Münchhausen als Schöpfer
2.2. Verhärtung und Verflüssigung auf dem Weg zur Welteinheit
2.2.1. Doppelcharakter internationaler Politik
2.2.2. Sowjetunion, USA, Deutschland und Israel auf dem Weg in die verwaltete Weltgemeinschaft
2.2.3. Transzendierung der Staatenwelt: Europa und der Weltstaat
2.3. Zusammenfassung: Postrevolutionäre Resthoffnung
3. Ringen mit dem globalen Behemoth: Franz L. Neumann und die Staatssouveränität
3.1. Freiheit und Entfremdung: Neumanns skeptischer Reformismus
3.1.1. Freiheitslücke: Die psychische Entfremdung bleibt
3.1.2. Politik als Entfremdungsminimierung
3.1.3. Zeitdiagnose: Freiheitsmöglichkeit und Verhärtungsrealität
3.1.4. Skeptischer Reformismus eines Metöken
3.2. Staatssouveränität herstellen: Neumanns Entfremdungstheorie internationaler Politik
3.2.1. Skizze vom Ganzen
3.2.2. Die Rolle der Einzelheiten: Sowjetunion, USA, Deutschland und Europa
3.2.3. Kritische Theorie als politischer Realismus?
4. Revolution an den globalen Rändern: Herbert Marcuse
4.1. Marcuses neurevolutionäre politische Theorie
4.1.1. Geschichtsphilosophie und Zeitdiagnose: »Was wirklich ist, das ist absurd; und was absurd ist, das ist vernünftig.«
4.1.2. Politikbegriff und Möglichkeitsräume: »die Gesellschaft sprengen können«
4.1.3. Politik als Königsmacherin der Philosophie
4.2. Der globale Rand: Internationale Politik bei Herbert Marcuse
4.2.1. Globale Reorganisation des Kapitalismus
4.2.2. Reaktionäres Amerika
4.2.3. Sowjetunion als steckengebliebene Negation des Kapitalismus
4.2.4. Der globale Rand als archimedischer Punkt der Befreiung
4.2.5. Zögerlicher Zionismus
4.2.6. Deutschland als neurechter Hegemon im Wartestand
4.2.7. Der antirealistischste unter den Kritischen Theoretikern?
III. Verwendung des Materials: International-politisches Denken im Anschluss an die ältere Kritische Theorie
1. Spuren des Realismus und Geschichtsphilosophie
1.1. Ein anderes Bild von Critical International Political Theory
1.1.1. Die erste Generation der Kritischen Theorie wird übergangen
1.1.2. Kritik oder Auflösung?
1.1.3. Globaler Reformismus
1.1.4. Das Verhältnis zum politischen Realismus und zu Carl Schmitt
1.1.5. Der versteckte Begriff vom Ganzen
1.1.6. Es sind eben doch nur Spuren: Realismus als Phasentheorie
1.2. Negative Dialektik und Geschichtsphilosophie
1.2.1. Das dreifache Formproblem internationaler Politik
1.2.2. Globale Politische Theorie als Geschichtsphilosophie
2. Dialektik der Ausdehnung
2.1. Horkheimers Verdacht: Wachstum der Einheiten und Stilverfall
2.2. Der Rhythmus der Globalisierung: Zwischen Expansion und Kontraktion
2.2.1. Phase 1: ca. 1250–1348 (Städte)
2.2.2. Phase 2: 1492–1618 (Königreiche)
2.2.3. Phase 3: 1648–1789/1815 (Absolutismus und Frühkapitalismus)
2.2.4. Phase 4: 1815–1914 (imperialistischer Nationalstaat)
2.2.5. Phase 5 seit 1945, beschleunigt seit 1989 (Großräume)
2.3. Zusammenfassung: Der Doppelcharakter wachsender Einheiten
3. Die Logik Europas
3.1. Die Habermas-Streeck-Kontroverse
3.1.1. Schicksal und Kontrolle
3.1.2. Kritisch-theoretische Einwände: Arrièregarde oder Avantgarde?
3.2. Der dialektisch gewundene Weg Europas
3.2.1. Nach 1945: Die Geburt der Einheit Europas aus dem Zerfall (Einheit)
3.2.2.1960er und 1970er Jahre: Die Unterbrechung als Anschub (Zerfall)
3.2.3.1980er bis 2000er Jahre: intensivere Einheit (Einheit‘)
3.2.4. Späte 2000er und 2010er Jahre: Verfassungskrise, Austeritätspolitik, Revolte gegen Brüssel (Zerfall‘)
3.2.5. Ein europäischer Superstaat? (Einheit‘‘)
3.2.6. Euroautoritarismus? (Zerfall‘‘)
3.2.7. Eurofaschismus (Einheit von Einheit und Zerfall)
3.3. Das Illogische und die guten Europäer
4. Kritik der Welteinheit: Zusammenfassung und Anschlussmöglichkeiten
4.1. Welteinheit als Weltzerfall
4.1.1. Welteinigungskritik bei Horkheimer, Adorno, Neumann und Marcuse
4.1.2. Der Unterschied zu Habermas: Dialektik der Welteinheit
4.1.3. Weltunordnungsdenken
4.2. Anschlussmöglichkeiten
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Danksagung
Hartnäckig hält sich das Gerücht, die ältere Kritische Theorie habe zu internationaler Politik nichts zu sagen.1 Politik, ohnehin als verwaistes Feld der ersten Generation abgetan, auf dem sich allenfalls Nebensächliches zugetragen habe2, gerät vollends ins Abseits der Betrachtungen, wenn diese sich einem Gegenstand nähert, der sich erst heute voll auszubilden scheint: eine davonlaufende Globalisierung, begleitet von Überlegungen zur (Wieder-)Gewinnung von Souveränität jenseits des Nationalstaates; das Ringen um die politische Einheit der Welt und Europas oder das Auftauchen neuer Mächte und nichtstaatlicher Akteure, kurzum: Ordnungsbildungen und -anfechtung jenseits der Grenzen des Nationalstaats sind Phänomene, für deren Deutung Jürgen Habermas3, kaum aber Max Horkheimer herangezogen wird4, weil man dort nichts zu finden glaubt, außer einem »global deficit«5. Nun sollten sich aber, zumindest unter Kritischen Theoretikern, die ihrem Untersuchungsgegenstand auch inhaltlich verpflichtet sind, zwei kritisch-theoretische Verdachte aufdrängen: dass die Fortschrittserzählung von der ersten zur zweiten Generation6 strukturell jenes Steigerungsvorurteil der Aufklärung über sich selbst wiederholt, zu dessen Aufdeckung die Kritische Theorie einst ins Leben gerufen wurde. Die Generationenfolge beinhaltet also vielleicht nicht nur eine zeitliche Abfolge, sondern eine politische Differenz, die nicht in eine höhere Synthese überführt wurde, sondern als unaufgelöste Gegenthese fortbesteht. So könnte die Unauffindbarkeit eines Gegenstandes, und das ist der zweite Verdacht, etwas damit zu tun haben, dass er nicht ins Konzept passt, das bereits voll ausgebildet vorliegt: Denn wenn sich Kritische Theoretikerinnen der internationalen Politik zuwenden, beschäftigen sie sich in der Regel mit der Möglichkeit von Emanzipationsakten, die »gegen Widerstände durch Konventionen und eingefahrene Interessen«7 durchgesetzt werden müssen. Viele von ihnen befürworten eine Ausweitung der politischen Gemeinschaft über den Nationalstaat hinaus, oft bis hin zu »global governance«8 und Weltföderation9, unterstützen Europaideen, die auf eine politische Zusammenfassung des Kontinents hinauslaufen10, und liebäugeln mit nachholenden antikolonialen Revolten, die das westliche Revolutionserbe vervollkommnen sollen, um es gegen den Westen selbst in Stellung zu bringen.11 All das ist von der Idee eines Fortschritts12 bestimmt, der regressionslos zu haben ist und auf einen »künftigen kosmopolitischen Zustand«13 hinausläuft. Die Regression erschiene damit nur als Äußerlichkeit, als Protest gegen die Welteinheit, gegen Europa oder gegen die nachholende Revolution, nicht als innere Begleiterscheinung der Fortschrittslogik. Man könnte sagen: Es fehlt die Dialektik.
Die ältere Kritische Theorie brach mit solchen Vorstellungen, indem sie ihnen etwas hinzufügte: Sie weigerte sich, den Fortschritt ohne Regressionsgefahr zu denken: Könnte Europa nicht auch zum Schauplatz einer supernationalistischen Abschottung (nach außen) und Einebnung (nach innen) werden?14 Warum soll das Leben in der Welteinheit demjenigen im Nationalstaat vorzuziehen sein? Könnte sich dort nicht auch die kosmopolitische Idee verunwirklichen, da sie Rechtssicherheiten auflöst und keine neuen an deren Stelle setzt? Führt der Herrschaftsabbau an der einen vielleicht zum -aufbau an anderer Stelle? Und ist diese neue Herrschaft, da der technisch-ökonomische Fortschritt weitergeht, vielleicht sogar noch zerstörerischer als die alte? Ist der »Fortschritt«, wie Max Horkheimer schrieb, vielleicht »nicht mehr aktuell«15? Derlei Einwände sind vor allem von konservativer Seite zu erwarten, die im Emanzipationsanspruch die Auflösung eingespielter Strukturen erkennt und die Zerstörung ihrer guten alten Welt befürchtet. Sie gehören aber, wie ich zeigen will, ebenso ins Zentrum der älteren Kritischen Theorie, die sich weigerte, vorm vermeintlich Reaktionären die Augen zu verschließen – gerade um das Reaktionäre abzuwenden, in dessen offenes Messer der unbedarfte Emanzipations- und Fortschrittsanspruch hineinzulaufen droht. So wie sich nach Adorno geschichtsphilosophisch der »vergessene Spengler rächt […], indem er droht, recht zu behalten«16, könnte sich auch der verdrängte Carl Schmitt zurückmelden, wenn dessen Kritik an technologisch-ökonomisch-rechtlicher Welteinigung, Souveränitätsaushöhlung, liberaler Verregelung, Umlenkung der Gegnerschaft und Verweigerung des katechontischen Denkens nicht in die Gleichung eingespeist wird. In der älteren Kritischen Theorie finden wir die Konturen eines solchen Denkens, das im Welteinigungsfortschritt den zivilisatorischen Rückschritt vermutet, eine trostlose verwaltete Weltgemeinschaft heraufziehen sieht und die Eskalation der Feindschaft befürchtet – falls die Gelegenheit zum wirklichen Bruch nicht ergriffen wird. Es schlummert unter zahlreichen verstreuten Bemerkungen zur internationalen Politik, die das Spätwerk der Autoren – ich konzentriere mich auf Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Franz L. Neumann und Herbert Marcuse – durchziehen, und wartet auf seine Rekonstruktion und Überführung in Gegenwartsdenken.
Der Forschungsstand und die Lücke
Den Weg dorthin hat die (Kritische) politische Theorie selbst geebnet. Sie hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend mit Regressionsphänomenen beschäftigt, die der liberalen Gesellschaft das Vertrauen entziehen, ohne einen emanzipatorischen Anspruch zu formulieren, der über sie hinauswiese.17 Diese Sorge um Zementierung und Ausweitung statt Rückbau der Herrschaft legt einen Blick zurück auf die ältere Kritische Theorie nahe, die den Regressionsverdacht ins Zentrum ihrer Fortschrittstheorie stellte. Eine solche Weiterentwicklung durch Rückbesinnung wäre durchaus im dialektischen Sinne der Gründergeneration und müsste auf den Bereich der internationalen Politik übertragen werden, dem höchsten Ort der Politik im weltgesellschaftlichen Zeitalter. Dieses Untersuchungsfeld befand sich lange in der Hand eines Nachbarfachs, der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen. In den vergangenen vier Jahrzehnten hat sie sich zögerlich-selektiv auf Kritische Theorie eingelassen18, das Feld aber nicht vollständig abgeschritten. Rezipiert wurden zunächst an Habermas geschulte Theorien kommunikativen Handelns und der Diskursethik.19 Gegen diese reformistisch-emanzipatorischen Ansätze20 – oder in Ergänzung zu ihnen – wurde das Forschungsdesiderat einer negativen Dialektik für die internationalen Beziehungen formuliert21, das zugleich eine nähere Beschäftigung mit der ersten Generation der Frankfurter Schule nahelegt. Es gibt Arbeiten, die daran anschließen und versuchen, Adornos22 oder Neumanns23 Denken auf heutige Probleme der Internationalen Beziehungen anzuwenden. Ihnen ist gemeinsam, dass sie sich zwar vereinzelt methodisch und begrifflich auf die Autoren der älteren Kritischen Theorie beziehen, sie aber kaum danach befragen, wie sie sich selbst zu Problemen internationaler Politik ihrer Zeit geäußert haben. Indem man sie nur abstrakt, nicht konkret zum Sprechen bringt, verbaut man ihnen die Möglichkeit, als eigenständige international-politische Denker in Erscheinung zu treten. Überdies könnte das eigene Urteil von der Nichtausschöpfung der Quellentexte getrübt werden: Indem man einen theoretischen Teil von der politischen Äußerung trennt und ihn nahtlos in die Gegenwart einfügt, drohen Nuancen des Denkens verlorenzugehen, die sich erst im historischen Einzelgegenstand zeigen. So besteht die Gefahr, dass der Gedanke vorschnell in eine Richtung getrieben wird, die ihn gegenüber einer anderen abschließt. Eine Aktualisierung der älteren Kritischen Theorie setzt hingegen voraus, dass man zunächst einmal das Original ausschöpft.
In einem Sammelband, der für sich in Anspruch nimmt, »Critical Theorists and International Relations«24 zusammenzuführen, und immerhin 32 Autoren behandelt, gibt es einen Beitrag zu Walter Benjamin und einen zu Theodor W. Adorno, alle anderen älteren Kritischen Theoretiker werden nicht berücksichtigt. Columba Peoples' Artikel zu Adorno gehört zu den wenigen Ansätzen aus dem Bereich der Internationalen Beziehungen, die Adorno nicht als bloßen Methodenlieferanten behandeln.25 Peoples lässt sich zunächst auf eine kurze Spurensuche in Adornos Werk ein und stellt fest, dass es gespickt ist mit Anmerkungen zum Weltgeschehen: Russische Revolution, Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Krieg, Kalter Krieg und Atombombe werden darin kommentiert. Ausgearbeitet zu einer politischen Theorie habe Adorno diese Beobachtungen aber nicht. Bevor auch Peoples zu Adornos Methoden und Begriffen übergeht und diese auf heute anwenden will, wagt er eine Aussage zu den Motiven hinter seinen international-politischen Kommentaren: »Adorno's engagement with international politics is circumscribed by his desire for autonomy«.26 Was aber darunter genau zu verstehen ist, wie wir diesen »desire« in die Konflikte der Zeit einordnen können, ob Adorno selbst mehr dazu geschrieben hat und ob wir es mit seiner Kritischen Theorie verbinden können, wird nicht weiter erörtert. Diese Vagheit ist typisch für Versuche, sich auf internationale Politik in der älteren Kritischen Theorie einzulassen. In der noch recht jungen Zwischendisziplin »internationale politische Theorie«, die politische Theorie und Internationale Beziehungen zusammenbringt, um ordnungsbildenden Normproduktionen und Wirklichkeitsbeschreibungen einen globalen Blick beizubringen27, taucht die ältere Kritische Theorie hauptsächlich als Stichwortgeber auf, der allerdings auch nicht überstrapaziert werden dürfe. Denn, so Anna Jurkevics und Seyla Benhabib, »initially, Critical Theory did not take international relations, institutions, and politics per se as its subject«.28
Dass die ältere Kritische Theorie durchaus einen Zugang zu Problemen internationaler Politik hatte, wird in einem Sammelband angedeutet, der deutsche US-Emigranten nach deren Beitrag zur Formierung des Fachs Internationale Beziehungen befragt. Darin wird Neumann ein eigener Aufsatz gewidmet.29 Neumann steht auch im Zentrum einer Monografie, die William Scheuerman vorgelegt hat.30 Er vergleicht Neumanns und Habermas' Verständnis von »Globalization, Democracy and Law« und erkennt damit die Eigenständigkeit international-politischen Denkens der älteren Kritischen Theorie an, indem er sie von neueren Kritischen Theorien absetzt. Geschichtsphilosophisch ließe sich ein solcher Vergleich auch mit Adorno, Horkheimer und Marcuse anstellen, um eine Frankfurter Generationendifferenz offenzulegen: Habermas' »Kantisches Projekt« einer »Konstitutionalisierung des Völkerrechts« lebt nämlich von der »geschichtsphilosophischen« »Heuristik«31 des fortschreitenden Zusammenwachsens einer tendenziell globalen Gesellschaft. Seine Idee der Verrechtlichung dieser Beziehungen stützt sich auf »entgegenkommende Tendenzen«32 einer »postnationalen Konstellation«33, zu der sich die »Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft« »verdichte[t]«34 habe. Habermas räumt zwar deren »Ambivalenz«35 ein, doch treibe sie die »dialektische Entwicklung des europäischen Völkerrechts«36 an, sodass Globalisierungsunterbrechungen institutionelle »Innovationsschübe«37 auslösen, also die Globalisierung antreiben. Nun bliebe die Dialektik aber unvollständig, wenn man sie nur auf den Bereich des Rechts und nur auf ihre positive Seite beschränkte. Um Habermas' dialektischer Idee gerecht zu werden, müsste man seine geschichtsphilosophische Heuristik auf den wirtschaftlich-politischen Bereich ausdehnen und den Fortschritt unter Regressionsverdacht stellen. Denn wenn wir es tatsächlich mit einer dialektischen Entwicklung zu tun haben, zählen nicht nur Zerfallsmomente dazu, die den Fortschritt zur Welteinheit antreiben38, sondern auch Einheitsfortschritte, die den Zerfall begünstigen. Spuren dieser Umkehrung der geschichtsphilosophischen Heuristik finden wir in der älteren Kritischen Theorie zuhauf. Horkheimer befürchtete die Nachinnenlenkung der Feindschaft in einem »Weltparlament, wie Kant es vertreten hat«39, Adorno warnte vor der »Organisationswut eines gewissermaßen vermehrten Völkerbundes«40, und beide befürchteten – ebenso Neumann – eine großnationalistische Verhärtung des europäischen Einigungsprojekts, das bei Habermas als Avantgarde des künftigen kosmopolitischen Zustands auftritt. Hier tut sich also eine Kluft zwischen den Generationen auf, die den Ausgangspunkt meiner Arbeit bildet. Bevor ich jedoch diese Gegenüberstellung mit Habermas vornehme und Aktualitätsbezüge herstelle, werde ich innerhalb der ersten Generation verbleiben und deren international-politisches Denken rekonstruieren. Indem ich den negativen Strang freilege, der dort verborgen liegt, wappne ich mich für die Betrachtung der Gegenwart.
Das Vorhaben
Mit dieser Studie verfolge ich drei Ziele: Ich will zeigen, dass zur älteren Kritischen Theorie ein international-politisches Denken gehörte, worin es bestand und wie wir es für die Deutung heutiger Globalpolitik verwenden können. Die beiden ersten Aufgaben bilden den Hauptteil des Buches, das Wesen, Wirken und Sollen internationaler Politik in der älteren Kritischen Theorie rekonstruiert. Ich konzentriere mich auf vier Autoren, die jeweils für einen politischen Strang der älteren Kritischen Theorie nach dem Zweiten Weltkrieg stehen: Max Horkheimer verabschiedete sich von der Idee der Revolution und konzipierte eine politische Theorie der Hemmung. Theodor W. Adorno hielt die Revolution zwar ebenfalls für gescheitert, verlor jedoch nicht die Hoffnung, dass sie irgendwann auf andere Weise gelingt. Franz L. Neumann wurde nach dem Krieg zum skeptischen Reformisten, und Herbert Marcuse blieb Revolutionär. Alle vier Autoren integrierten die globale Sphäre in ihre politischen Überlegungen, weshalb sich die politischen Unterschiede zwischen ihnen auch in der Kommentierung internationaler Politik fortsetzten: Horkheimer suchte nach einem Verzögerer der »heraufziehende[n] totalitäre[n] Epoche der Welt«41, ebenso Adorno, der jedoch zusätzlich nach einer Möglichkeit suchte, die internationale Ordnung zu transformieren. Neumann dagegen verabschiedete sich von allen Hoffnungen auf Realtranszendenz und hielt stattdessen Ausschau nach Stabilisatoren der internationalen Politik, während Marcuse nach einem globalen revolutionären Subjekt suchte.
Die These von Einheit und Zerfall
Meine These lautet, dass das international-politische Denken der älteren Kritischen Theorie um den Doppelauftritt von Einheit und Zerfall der Weltordnung kreiste. Dies meint Verschiedenes: Sozialontologisch bedeutet es die Tendenz zur politräumlichen Zusammenballung und gesellschaftlichen Zersplitterung der Entitäten – in der Neuzeit vor allem Staaten –, die als Subjekte der Globalpolitik auftreten. Horkheimer, Adorno, Neumann und Marcuse beobachteten, wie diese Zusammenballung eine Öffnung für die Welteinheit vorbereitete, also einen höheren, umfassenderen Begriff der politischen Freundschaft entwickelte. Sie sahen aber auch, wie die Gefahr der Feindschaft wuchs – zumindest unter den Bedingungen der aufgeschobenen Revolution. Die Menschen waren noch immer autoritär, Krisen und Kriege noch immer möglich, und weil inzwischen die Produktions-, Erfassungs- und Destruktionsmittel angewachsen waren, konnte jedes Straucheln den Untergang der Menschheit bedeuten. Obendrein erhöhte die Herrschaft ihren Druck nach innen, es wuchsen nicht nur die Räume, sondern auch die Intensitäten, die Möglichkeit, immer mehr Menschen immer länger und umfassender für eine Sache einzuspannen. Die steigende Herrschaftsintensität brachte unterworfene und aggressive Menschen hervor, die sich zu Kollektiven zusammendrängten, die jederzeit losschlagen konnten. Eine gelungene Einheit, und hier schlägt die These ins Normative um, kann unter diesen Zerfallsbedingungen nur durch bewussten Zerfall hergestellt werden: Horkheimer, Adorno und Neumann verstanden darunter den spätbürgerlichen Einzelstaat, der sich dem Einheitsdrang widersetzt; Marcuse dagegen die revolutionäre Herbeiführung des Zerfalls der Weltordnung und die Gründung einer neuen.
Die Übergänge sind fließend, aber idealtypisch können wir zwischen Minimalzerfall in Staaten und Maximalzerfall durch Revolution unterscheiden und damit das international-politische Spektrum der älteren Kritischen Theorie abstecken: Max Horkheimer hatte sich der Wahrung einer prekären Welteinheit durch kontrollierten Zerfall in Einzelstaaten verschrieben, während Adorno die Hoffnung auf den Umschlag in gemeinschaftlichere Verhältnisse einer höheren Einheit nicht aufgegeben hatte. Horkheimer ging allerdings davon aus, dass der zerstörerische Zerfall nicht aufzuhalten sei und nur verzögert werden könne. Franz L. Neumann beschäftigte sich ebenfalls mit Verzögerungstechniken, schloss aber die Möglichkeit nicht aus, den Zerfall durch kluge Reformpolitik abzuwenden. Sein Stabilisierungsoptimismus war größer. Herbert Marcuse dagegen hielt von Reformen nur dann etwas, wenn sie den wirklichen Bruch, den tatsächlichen Zerfall aller falschen, von repressiven Bedürfnissen verstellten Verhältnisse vorbereiten und eine höhere Einheit herbeiführen, in der die wahren Bedürfnisse auf höchstem Stand der Technik befriedigt werden.
Die ältere Kritische Theorie hat ihre Doppeldiagnose von Einheit und Zerfall geschichtsphilosophisch hergeleitet und geophilosophisch verortet. Staaten, staatsähnliche Gebilde und Bewegungen erfüllen eine universalhistorische Funktion. Sie treiben an, halten auf, verhindern das Schlimmste oder das Beste. Adorno und Horkheimer beobachteten etwa die Entstehung einer globalen Querfront aus Sowjetunion, protestierenden Studenten im Westen, antikolonialen Revolten, politischem Islam und China, die als Zerfallsagenten auftreten, gerade weil sie die Einheit der Welt herstellen wollen. Ihr Griff nach der »Weltherrschaft«42 reißt Grenzen nieder und löst Ordnungen auf, ohne eine neue an deren Stelle zu setzen. Neumann dagegen warnte vor einem wiedererstarkten Deutschland, Marcuse vor den USA. Für Neumann, Adorno und vor allem Horkheimer waren die USA hingegen der Stabilisator einer fragilen Welteinheit, während Marcuse in den Revolten am globalen Rand den Vorbereiter einer höheren Einheit erkannte. Horkheimer, Adorno und Marcuse sahen Israels Existenz in einer zerfallenden Weltordnung bedroht, Horkheimer und Adorno verlangten einen Schutz durch den Westen, Marcuse hielt dies für aussichtslos, da er den Westen selbst als zerstörerische Zerfallseinheit begriff. Auffällig ist weiterhin eine Skepsis gegenüber supranationalen Zusammenschlüssen: Horkheimer und Adorno deuteten die europäische Einigung als Schritt ins systemische Gesamtverderben einer total verwalteten Welt, Neumann als Vorbereitung des deutsch-imperialen Wiederaufstiegs. Ideen von Weltstaat oder Weltföderation haben Horkheimer und Adorno zurückgewiesen. Bei Adorno und Marcuse gibt es jedoch die Idee einer Welteinigung von unten, die die Staatlichkeit abstreift. Solange aber die Revolution nicht durchführbar ist, und davon ging Adorno weiterhin aus, ist auch die vermeintliche Welteinigung von unten in Wahrheit eine von oben und entledigt sich zwar des Staates, nicht aber der formlos wütenden Herrschaft, stiftet also eine Zerfallseinheit.
Solches Denken lässt internationale Politik als Versuch erscheinen, die prekäre Einheit der Welt durch kontrollierten Zerfall in gehegte Mächtekonkurrenz zu wahren oder durch radikalen Zerfall in eine höhere Einheit zu überführen – eine Einheit, die nicht nur quantitativ größere Herrschaftsräume, sondern auch qualitativ andere Verhältnisse herstellt, aus denen die Herrschaft verschwunden ist. Dies enthält eine Überraschung. Sowohl der Minimalzerfall in Staaten als auch der Maximalzerfall durch Revolution weichen vom sanften Einheitsfortschrittsdenken ab, zu dem sich etwa Habermas bekennt.43 Die ältere Kritische Theorie hielt eine Veränderung in beide Richtungen für denkbar: höhere Einheit und schärferen Zerfall, Befreiung und Zerstörung, Revolution und Faschismus, ausgelöst durch dieselbe geschichtliche Bewegung: die Globalisierung der Politik, die sich in der Moderne im Modus internationaler Politik vollzieht. Dieser Blick für die Gefahr bestimmt die theoretische Melange: Die Rekonstruktion wird zeigen, dass das international-politische Denken der älteren Kritischen Theorie Anteile des politischen Realismus (Politik als Machtkampf, Hegung durch Staatssouveränität, Vorteil der Raumschließung), Liberalismus (Institutionenvertrauen, Vernunfthoffnung und Möglichkeit der Raumöffnung für den Globus) und Marxismus (Diagnose der kapitalistisch-bürokratischen Vermachtung, Erstarrung und Revolutionsbedürftigkeit der Welt) miteinander verband. Vor allem bei Horkheimer, aber auch bei Neumann und Adorno wirkte der politische Realismus als Korrektiv zu optimistischen Reform- und Revolutionstheorien über die Verbesserung der Lage der Menschheit. Deren Kehrseite zeigte sich mitunter erst beim Blick auf die international-politische Sphäre. Adorno bezeichnete sie als »vordringlichste« »objektive Konstellation«44, die Handlungsmöglichkeiten untergrabe. In seinen Augen entzog sich der Bereich jenseits der geregelten Politik in den Einzelstaaten der In- und Output-Legitimation kollektiver Ordnungsbildung in besonderer Weise. Eine Kontrolle der Macht war hier kaum möglich und die Macht hatte kaum Kontrolle, sodass sich internationale Politik zu jenem blindlaufenden System anonymer Herrschaft verhärtete, das Horkheimer als allgemeines Politikmodell der Moderne vorschwebte, wenn er schreibt, dass Politik heute »eine ideologische Kategorie [ist]: mit ihrer Hilfe wird die Oberfläche hypostasiert«.45 Versuche, die globale »Herrschaftsmaschinerie«46 einer Kontrolle zu unterwerfen, sind in seinen Augen zum Scheitern verurteilt und lösen Gegenreaktionen aus, die das alte Maß an Heteronomie und Zerstörung zu übersteigen drohen – der Einheitsversuch wird von der Zerfallsrealität eingeholt. Internationale Politik wird somit zum Ort der Aufdeckung der Kontroll- und Stabilitätsillusion einer spätliberalen Gesellschaft; und darauf lief Kritische Theorie insgesamt hinaus. Das macht internationale Politik zum Anwendungsfall par excellence einer Kritischen Theorie der Politik. Gleichzeitig umfasst internationale Politik die höchste Ebene menschlicher Gemeinschaftsbildung, sodass sich Hoffnungen auf einen Umschlag der politischen Verhältnisse, eine Verbesserung des Zusammenlebens, ebenfalls an sie hefteten. Marcuse etwa setzte auf eine globale Revolte, und Adorno hoffte auf ein »Gesamtsubjekt der Menschheit«47, das Freiheit, Gleichheit und Glück bringt. Zwischen diesen beiden Polen – der Diagnose einer Einfrierung des politischen Feldes, das immer wieder unkontrolliert aufgewühlt wird, und dem Versuch, diesen abgeschlossenen Handlungsraum zu öffnen – bewegte sich das international-politische Denken der älteren Kritischen Theorie.
Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Das international-politische Denken der älteren Kritischen Theorie umkreist die geschichtsphilosophische Doppelbewegung von Einheit und Zerfall der Weltordnung. Es verbindet Marxismus mit politischem Realismus und Liberalismus, Befreiungshoffnungen mit Zerstörungsdiagnosen und Institutionenvertrauen. In Reaktion auf die Gefahr einer Zerstörung ohne Neuschöpfung entwickelte die ältere Kritische Theorie zwei Umgangsweisen, zwischen denen sie sich bewegte: kontrollierten Minimalzerfall in Einzelstaaten und Maximalzerfall durch Revolution. Davon ausgehend bildeten sich vier Stränge international-politischen Denkens in der älteren Kritischen Theorie: ein postrevolutionär-hemmender nach Horkheimer, ein postrevolutionär-hoffender nach Adorno, ein skeptisch-reformistischer nach Neumann und ein neurevolutionärer nach Marcuse. Die These von Einheit und Zerfall der Weltordnung hilft uns, die Gegenwart zu verstehen. Mit ihr lassen sich Phänomene wie Globalisierung oder europäische Einigung anders fassen als in neueren kritisch-theoretischen Deutungen: als Einheitsfortschritte, die den Zerfall auf höherer Stufe vorbereiten und damit das lineare Fortschrittsmuster durchbrechen.
Unter Politik verstehe ich hier die verbindliche Regelung des Zusammenlebens, die Stiftung und Störung einer Ordnung und die Beantwortung der Frage, wer in ihr was, wann und wie bekommt (etwa Güter, Rechte oder Anerkennung).1 Sie schließt sowohl die ursprüngliche Initiierung dieser Ordnung ein als auch Verschiebungen innerhalb der Grundordnung, die Ausnahme und die Regel, die Öffnung und die Schließung. Diese beiden Politikebenen – Politik als Operation innerhalb des Bestehenden, um es zu stabilisieren oder zu reformieren, und Politik als Überschreitungsversuch –, also die immanente und transzendente Politikdimension, werden uns durch dieses Buch begleiten. Für die Bestimmung des international-politischen Denkens wird dies nämlich Folgen haben, die bei jedem der vier Autoren anders ausfallen, weil sie die Anteile der beiden Politikdimensionen unterschiedlich gewichteten. Oft gehen sie ineinander über – die innerordentliche Beteiligung am Machtgerangel in eine Infragestellung der Ordnung, die diese Knappheit produziert. Adorno hat dies »Politik zur Abschaffung der Politik«2 genannt. Erst dieser Doppelblick ermöglicht es, der älteren Kritischen Theorie einen eigenen Beitrag zum politischen Denken zu entlocken. Für Michael Th. Greven besteht der Grund für ergebnisloses Suchen nach Politik in der älteren Kritischen Theorie in einem verengten Politikbegriff: »[G]erade in den anwendungsorientierten policy-sciences geht es um die Lösung gesellschaftlicher Probleme in den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen; nur daß die Gesellschaft in ihrer besonderen historischen Form selbst das Problem sein könnte.«3 Kritische Theorie hat andere »Maßverhältnisse des Politischen.«4 Sie sucht nicht allein nach Problemlösungen innerhalb des Bestehenden, sondern nach Auswegen. Sie interessiert sich für »historische Politik«, für »langfristige Zusammenhänge des herrschaftlichen Struktur- und Institutionengefüges gegenwärtiger Formen der Vergesellschaftung, und zwar unter der Fragestellung, wie gesellschaftliche Praxis in diese einzugreifen und sie zu verändern in der Lage wäre. Daß diese Frage im 20. Jahrhundert und mit Bezug auf die Zentren des Kapitalismus zu einem negativen Ergebnis führt, spricht weder gegen die Relevanz der Frage noch der Theorie, die an ihr festhält.«5 Der geschichtliche Blick leitet das kritisch-theoretische Verständnis der Gegenwart an, die damit relativiert und aufgewertet wird. Relativiert, weil sie nur eine Sequenz ist, aufgewertet, weil sie etwas Größerem angehört. Ihre Interpretation verlangt eine Einreihung in die Geschichte. Dies geschieht zögerlich, tastend und deutend mit Bezug zum Vergangenen, Möglichen und Verpassten. Kritische Theorie fertigt politische Analysen an, die mit szientistischer Politikwissenschaft und institutioneller Bescheidenheit gleichermaßen kollidieren. Wenn etwa Hubertus Buchstein Horkheimer vorwirft, dass dieser seinen »Primat der Politik« nicht politikwissenschaftlich »im heutigen Sinne«6 ausgearbeitet habe, dann verkennt er, dass der »heutige Sinn« der Politikwissenschaft nicht der Horizont der älteren Kritischen Theorie war. Horkheimers »Mixtur aus politischen Beobachtungen, theoretischen Überlegungen und geschichtsphilosophischen Reflexionen«7 enthält genau jenes politische Denken, das Buchheimer vermisst. Nur ist es ein anderes politisches Denken, als viele Politologen es kennen. Es ist politisches Denken8 für Philosophen, das Phänomene der Ordnungsbildung und -anfechtung einer zivilisationsgeschichtlichen Hermeneutik unterwirft.9 In Parteigründungen, Wahlakten, Verbandsstrukturen, Friedensschlüssen, Kriegserklärungen, politischen Programmen und Staatsorganismen erkannte die ältere Kritische Theorie Geschichtszeichen, deren universalhistorische Deutung sie für genauso wichtig hielt wie die Suche nach Reformwegen innerhalb einer Ordnung. Politik wird damit zur geschichtsphilosophischen Technik. Sie befindet sich an der Schwelle zweier Zeiten, lotet Möglichkeiten der Handlung aus, zieht in die Bewegung ein festes Element ein oder löst es auf. Politisches Denken reflektiert darauf. Es fragt, wann sich die Zeit verhärtet hat und wann sie reif ist für Verflüssigungen oder Verschiebungen. Der Begriff der Politik ist nicht zu jeder Zeit derselbe, ihr Doppelcharakter neigt sich mal zu dieser, mal zu jener Seite. Für Horkheimer verhieß sie früher einmal Freiheit und »Fortschritt«, heute hingegen, »im Denken unterm Monopol«, ist sie »eine ideologische Kategorie: mit ihrer Hilfe wird die Oberfläche hypostasiert«.10 Politik, die diese Oberfläche nicht durchstoßen oder umgestalten will, arbeitet ihr zu, erreicht also gerade das Gegenteil ihres Antrittsgrundes: Sie kann die Welt nicht bewusst einrichten und sorgt dafür, dass sich die Individuen in ihr bewusstlos einrichten. Der historisch variable Doppelcharakter der Politik zwang die ältere Kritische Theorie auf ein Feld, das sie interdisziplinär abgeschritten und geschichtsphilosophisch erschlossen hat. Ihre sanfte Art des politischen Denkens produzierte keine Theorie im strengen Sinn, sondern essayistische Umkreisungsbewegungen.11 Dabei bevorzugte sie die kleine Form, weshalb dieses Denken fast nur verstreut in Notizen, Vorträgen, Aphorismen und Randbemerkungen vorliegt. Rechnet man sie dem politischen Denken zu, dann wird man auch dort fündig, wo das institutionentheoretische Interesse gering war, also bei Adorno, Horkheimer und Marcuse – einzig Neumann kommt für politikwissenschaftliches Denken »im heutigen Sinn« in Betracht. Dass das geschichtsphilosophische Denken einmal zur Politikwissenschaft gezählt hat, erkennen wir zum Beispiel daran, dass Herbert Marcuse ausschließlich politikwissenschaftliche Professuren bekleidete.12
In diesem Buch interessiere ich mich nicht für Politik überhaupt, sondern für internationale Politik. Dies beinhaltet zwei Zusätze: das Nationale und einen Zwischenraum. Das Nationale verweist auf politische Großkollektive, die durch eine Herkunfts- oder Zielerzählung zusammengehalten werden.13 Verdichten sich ihre Erzählungs- und Handlungsinstitutionen zum Staat, bilden sie einen Nationalstaat, die dominante Struktur politischer Gemeinschaftsbildung der Moderne. In den klassischen Theorien internationaler Politik bildet dieser das Subjekt der Weltpolitik.14 Dass wir heute noch immer von internationaler Politik, also Politik zwischen staatlich verfassten Nationen reden, wenn wir Globalpolitik meinen, ist dem Zeitalter geschuldet, in dem das Fach Internationale Beziehungen entstanden ist. In diesem schienen Nationalstaaten den Ton anzugeben und die Regierungen das Maß der politischen Dinge zu sein. Heute ist dieses Modell in die Kritik geraten.15 Da ich jedoch einen großzügigen Politikbegriff verwende, der die Interaktionen der Nichtregierungen (Zirkulation von Menschen, Informationen, Kultur, Kapital und Technologie) einschließt und die Selbstüberwindung mitdenkt, kann ich an ihm festhalten. Die Weitung des Politischen kompensiert die Verengung des Nationalen. So mag der Nationalstaat noch immer eine wichtige Rolle spielen, aber nicht als Struktursetzer, sondern als Nutzer von Möglichkeiten. Als Ausgangspunkt für international-politisches Denken taugt er nach wie vor, solange seine globalen Voraussetzungen in den Blick genommen werden. Diese führen ein Eigenleben und entziehen sich der politischen Kontrolle. Versucht man dennoch, sie zu kontrollieren, dann rächt sich das International-Politische und verhindert die vernünftige Einrichtung einer Gesellschaft – so der Verdacht der älteren Kritischen Theorie. Die Raumöffnung kann eine gesellschaftliche Schließung erzwingen, aber auch eine Öffnung bewirken. Neuere Kritische Theorien sehen oft nur die Öffnung – sie deuten die Einigung Europas und der Welt, den Abbau von Grenzen zwischen den Staaten als Antrieb eines innergesellschaftlichen Grenzabbaus hin zu mehr Freiheit und Gleichheit. Ältere Kritische Theorien waren sich nicht so sicher. Je nach geschichtlicher Phase kann die äußere Grenzöffnung innere Grenzziehungen, der Abbau von Herrschaft nach außen den Aufbau von Herrschaft im Innern bewirken. Es kommt also auf die Bestimmung des Entzogenen an, auf die historische Phase, in der systemische Kräfte blind wirken. Sie machen internationale Politik zu einem sozialtheoretisch privilegierten Raum, in dem über Verhärtung und Lockerung, Schließung und Öffnung politischer Möglichkeitsräume entschieden wird. Adorno hielt sie für die größte unter den objektiven Mächten, die das Leben der Einzelnen bestimmen.16 Marcuse hingegen erkannte in ihr den einzigen Raum, in dem Befreiung stattfinden kann.17 Neumann wiederum skizzierte ihn als unheimliches Außen, als regellosen Gefahrenherd, der vorsichtig befriedet werden muss, damit im Einzelstaat ein »Minimum an Freiheit und Gleichheit«18 hergestellt werden kann.
Internationale Politik ist damit das höchste Außen und das tiefste Innen, die Zugriffslosigkeit der Nationalstaaten, ihr Ringen mit dem Entzogenen und der Ort, an dem sich der Welt(un)geist zeigt, sodass Adorno sagen konnte: »›Ich habe den Weltgeist gesehen‹, nicht zu Pferde, aber auf Flügeln und ohne Kopf.«19 Die Deutung der Atombombe als systemisch-blinde Vernichtungsinstitution, die nicht von Regierungen kontrolliert wird, sondern diese kontrolliert und damit Weltpolitik macht, ist Philosophie, die sich in international-politisches Denken verwandelt hat, um den Stand der zivilisationsgeschichtlichen Entwicklung zu bestimmen.20 Diese zeigt sich nicht nur in der Form, in die sie das gesellschaftliche Material bringt, also im unmittelbar politischen Charakter einer Ordnung, sondern auch in der Form der Form, in Raum, Größe, Ort, Ebene und Zuschnitt des Politischen. Dies kann nämlich eine Stadt sein oder ein Reich, ein Nationalstaat, ein Großraum oder die gesamte Welt als politische Einheit. In der älteren Kritischen Theorie wirkte die Größe der Räume auf den politischen Charakter zurück. Horkheimer vertrat zum Beispiel die These, dass Demokratie nur in kleinen Räumen gedeihen könne21, und hielt die europäische Einigung daher für einen Schritt in die verwaltete, zerfallende Welt22, während Marcuse davon ausging, dass nur im aufgelösten Globus die Auflösung der Ordnung und die Gründung einer neuen gelingen könne.
Im Zentrum international-politischen Denkens in der älteren Kritischen Theorie befindet sich damit ein dreifaches Formproblem. Der politischen Kernfrage nach dem guten Charakter einer Ordnung (liberale, konservative, sozialistische Formgebung des gesellschaftlichen Materials) fügt sie die Einsicht in die Existenz von Ordnungen hinzu, fragt nach der richtigen Anzahl, Größe und Interaktionsweise (die Form der Form als Aufteilung des globalen Raumes) und untersucht die Wechselverhältnisse zwischen beiden Formdimensionen. Sie fragt zum Beispiel, ob Öffnungen in einem Bereich zu Öffnungen im anderen führen oder Blockaden erzwingen, ob etwa der Übergang vom Nationalstaat zum Großraum Emanzipationspolitik begünstigt oder verhindert. Drittens spielt die Frage eine Rolle, welche Figur die Geschichte im Denken der Autoren bildet, ob eine lineare Verbesserungsannahme, die Vorstellung eines Ewiggleichen, die Idee eines dialektischen Vorangehens oder einer dialektischen Regression vorliegt und wie diese Figur die Frage nach der guten Ordnung im Staat und zwischen ihnen beeinflusst. Ich frage also, wie die ältere Kritische Theorie das dreifache Formproblem von Verfasstheit, Vielheit und Verlauf (oder: Politik, Aufteilung des globalen Raumes und Geschichte) behandelt hat und wie sich das Wechselspiel der Dimensionen auf Überschreitung und Verhärtung auswirkt.
Wer gehörte dazu?
Unter älterer Kritischer Theorie verstehe ich einen Schulzusammenhang, also eine soziologische Tatsache, und ein philosophisches Programm. An ihm arbeiteten Philosophen, Geistes- und Sozialwissenschaftler, die sich ab den späten 1920er Jahren um das Frankfurter Institut für Sozialforschung unter der Führung Max Horkheimers versammelten und in der Zeitschrift für Sozialforschung publizierten. Die erste Generation Kritischer Theorie erstreckte sich bis in die 1970er Jahre. Sie endete mit dem Tod Theodor W. Adornos (1969), Max Horkheimers (1973) und Herbert Marcuses (1979), der philosophischen Zentralgestirne23, die von Jürgen Habermas abgelöst wurden, mit dem die zweite Generation der Kritischen Theorie einsetzte. Diese drei Autoren stehen im Zentrum der Arbeit. Sie stehen jeweils für einen politischen Strang, aus dem international-politisches Denken hervorgeht. Außerdem werde ich den Politikwissenschaftler Franz L. Neumann hinzunehmen, der einen vierten Ansatz verfolgte. Emil Walter-Buschs Studie zu »Kritische[r] Theorie und Politik«24 konzentriert sich ebenfalls auf diese vier Autoren, von denen er sich die größtmögliche (und doch nicht bis ins Beliebige ausgedehnte) Variation der politischen Einzelprogramme erhoffte. Mit ihnen, so die dahinterstehende Annahme, ist das politische Spektrum zwischen Konservatismus und Revolutionismus voll ausgeschöpft, sodass wir sie als repräsentativ für das politische Denken der älteren Kritischen Theorie nehmen können.25 Das ist aber erst in der späten Werkphase der Fall, in der sich die Kritische Theorie weiter verzweigte und ihre politischen Stränge deutlicher zum Vorschein brachte.26 Ich werde mich auf diese Spätphase konzentrieren und lasse die Studie nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzen, sodass wir eine einigermaßen geschlossene international-politische Konstellation vorliegen haben – den Kalten Krieg, der zum gegenwartsdiagnostischen Aufhänger der jeweiligen Geschichtsphilosophie und des international-politischen Denkens wird. Es geht hier also nicht um die gesamte ältere Kritische Theorie, sondern um die späte ältere Kritische Theorie oder Kritische Theorie im Kalten Krieg. Um das Gemeinsame dieser Kritischen Theoretiker zu erkunden, muss ich dennoch früher ansetzen, da vieles, was später kam, darauf aufbaute und sich davon absetzte, sodass ein Verständnis der Kritischen Theorie auf eine Skizze dieses gemeinsamen Ursprungs angewiesen ist. Diese Skizze wird im folgenden Unterabschnitt entworfen und anschließend in den Einzelstudien präzisiert.
Marxismus als Ausgangspunkt
Kritische Theorie steht in marxistischer Tradition, rückt aber an einigen Stellen von ihr ab.27 Der Marxismus begreift die Welt als unvernünftig eingerichtet, weil die Einrichter über ihr Produkt – und damit auch sich selbst – nicht frei verfügen können. Den handelnden Subjekten tritt das gesellschaftliche Objekt als etwas Fremdes gegenüber. Jedoch ist es nicht so fremd, dass es sie nicht zu kümmern brauchte. Sie nehmen es in sich auf, das produzierte, produzierende Objekt strahlt zurück auf die Subjekte. Die Fremdheit schränkt die vernünftige Selbstentfaltung der Individuen ein. Die marxistische Theorie sah ihre Aufgabe darin, die Gewalt der Unvernunft auf den Begriff zu bringen, um die Arbeit an der Veränderung der Welt anzuleiten. Als Philosophie der Emanzipation schließt sie Theorie und Praxis ein, gibt Letzterer aber den Vorrang. Das verbindende Element zwischen beiden ist Ideologiekritik. Diese identifiziert Bewusstseinsschranken, die einen Schleier über die Wirklichkeit werfen und verändernde Erkenntnis verhindern. Die Welt, die auf eine bestimmte Weise eingerichtet ist, erscheint als so-seiendes Ding, an dem es nichts zu rütteln gibt. Kritik hingegen unternimmt den Versuch, daran zu rütteln. Sie wendet sich ab von der philosophischen Beschäftigung mit dem Seienden und den Bedingungen der Möglichkeit seiner Konstitution und Erkenntnis zu. Ihr Fokus verschiebt sich vom betrachteten Objekt zum erkennenden und handelnden Subjekt. Ideologiekritik in ihrer marxistischen Gestalt war mit der revolutionären Aktion verbunden. Ihr Ziel war es, die Muster der produzierten Welt aufzudecken, um die Reichtumsproduzenten an ihre Produkte heranzuführen. Das Proletariat als Subjekt-Objekt der Geschichte ist dazu bestimmt, sich anzueignen, was es hervorbringt, und so zum Herrn seiner eigenen Geschichte zu werden.28
Den finalen Sprengsatz an der Ordnung liefert die Krise, die in der Warenform selbst angelegt ist: »Die Krise in ihrer ersten Form ist die Metamorphose der Ware selbst, das Auseinanderfallen von Kauf und Verkauf.«29 Die Krise bricht mit steter Regelmäßigkeit aus, wächst von Mal zu Mal und greift von der ökonomischen Sphäre auf die politische über. Ist sie in ihrem Ausmaß verheerend genug, wird die gesellschaftliche Form fragwürdig und es regt sich Widerstand. Am Ende steht die Umwandlung der kapitalistischen Ordnung in eine andere. Schon bei Marx finden wir diese Vorstellung von der »Negation« des Kapitalismus als »Notwendigkeit eines Naturgesetzes«30, und bei Engels gipfelt die Siegesgewissheit in der Prognose, die Geschichte gehe »mit raschen Schritten dem Punkt entgegen, wo ihre Hülfsmittel erschöpft sind […] und wo die Industrie, der Handel, die ganze moderne Gesellschaft an Überfülle unverwendbarer Lebenskraft auf der einen Seite und an gänzlicher Abzehrung auf der anderen zugrunde gehen müßte, trüge nicht dieser abnorme Zustand sein eignes Heilmittel in sich und hätte die industrielle Entwicklung nicht die Klasse erzeugt, die dann allein die Leitung der Gesellschaft übernehmen kann: das Proletariat. Die proletarische Revolution ist dann unvermeidlich und ihr Sieg ist gewiß.«31 Neben dem revolutionären entwickelte sich im späten 19. Jahrhundert ein zweiter Strang des Marxismus: der Attentismus der Sozialdemokratie. Beide teilten ein geschichtsphilosophisches Fortschrittsmodell, das durch Revolutionen (Lenin) oder Reformen (Bernstein; dazwischen der Sonderfall einer abwartenden Revolution bei Kautsky) angetrieben wird32 – durch ordnungsimmanente oder -transzendente Politik, die jedoch nie so weit ging, den Rahmen der bisherigen Geschichte zu sprengen. Selbst wo von qualitativen, revolutionären Sprüngen die Rede war, bot sie bloß quantitative Verschiebungen an, die zur Übernahme der Staatsmacht führten. Die Revolution sprang nicht in den Außenbereich der Geschichte über, war also nur halbrevolutionär.
Ältere Kritische Theorie
Auch Kritische Theorie hält die Welt für unvernünftig eingerichtet. Max Horkheimer schließt an Marx an, wenn er 1932 schreibt: »Es sind auf der Erde mehr Rohstoffe, mehr Maschinen, mehr geschulte Arbeitskräfte und bessere Produktionsmethoden vorhanden als jemals, aber sie kommen den Menschen nicht entsprechend zugute. Die Gesellschaft erweist sich in ihrer heutigen Form außerstande, von den Kräften, die sich in ihr entwickelt haben, und von dem Reichtum, der in ihrem Rahmen hervorgebracht worden ist, wirklich Gebrauch zu machen.«33 Auch Horkheimer sieht ein Verfügungsproblem; die Früchte der Arbeit bleiben ihren Produzenten vorenthalten, weshalb auch er die Welt für veränderungsbedürftig hält. Nur, und das ist der Unterschied zu marxistischen Vorstellungen, ist für ihn die Veränderungsmöglichkeit fraglich geworden, weil das verändernde Subjekt Risse bekommen hat. Das Proletariat, dem diese Rolle im Marxismus noch zufiel, wird in der Kritischen Theorie nicht mehr als Subjekt der Emanzipation akzeptiert. Da auch vorerst kein anderes in Sicht ist, ist die Veränderungsmöglichkeit in weite Ferne gerückt. Diese Eintrübung der Zukunftshoffnung hat ihre Wurzel in den Veränderungen – oder vielmehr: in der ausgebliebenen Veränderung – zwischen 1914 und 1945 in Deutschland. Die angehenden Kritischen Theoretiker sahen, wie sich die Proletarier aller Länder tatsächlich vereinigten – allerdings mit ihren Nationalstaaten, um gegeneinander Krieg zu führen. Anschließend versandete die Revolution (1918), wurde 1933 in verkehrter Gestalt aufgeführt und erstarrte in der Sowjetunion zu einem bürokratischen Terrorunternehmen. Das Proletariat konnte oder wollte das nicht verhindern, sodass Leo Löwenthal den Vorwurf, die Kritische Theorie habe das Proletariat und die Praxis verraten, umkehrte: »Wir haben nicht die Praxis verlassen, sondern die Praxis hat uns verlassen«34 – in Gestalt des designierten revolutionären Subjekts, des Proletariats, das sich in systemstützende Arbeiteraristokraten verwandelt hatte, die weit mehr zu verlieren hatten als bloß ihre Ketten und an Revolution nicht mehr interessiert waren. Daneben gab es die arbeitslos verelendeten Massen, die eine Revolution am nötigsten gehabt hätten, aber nichts von ihr wissen wollten. Sie »besitzen […] nicht wie das Proletariat der Vorkriegszeit die Bildungsfähigkeit und Organisierbarkeit, das Klassenbewußtsein und die Zuverlässigkeit der in der Regel doch in den kapitalistischen Betrieb Eingegliederten. Diese Masse ist schwankend, organisatorisch ist mit ihr wenig anzufangen.«35 So neigen sie mal der einen, mal der anderen systemsprengenden Seite zu: Das »Fluktuieren großer Schichten von Erwerbslosen zwischen kommunistischer und nationalsozialistischer Partei […] verurteilt die Arbeiter zu faktischer Ohnmacht.«36 Irgendetwas, so der Verdacht der Kritischen Theorie, muss mit der marxistischen Krisenhoffnung nicht gestimmt haben. Zwar spitzt sie gesellschaftliche Widersprüche zu und verlangt eine Entscheidung, aber sie fällt nicht notwendig zugunsten der Veränderung zum Besseren aus.
Kritische Theorie ist die Einsicht in die vorläufig zementierte Spaltung zwischen politischem Subjekt und gesellschaftlichem Objekt, an der keine revolutionäre Praxis etwas ändern kann. Die Revolution wird ausgesetzt, ohne ganz von ihr abzulassen. Die Hoffnung darauf überwintert in der Theorie, die als »ihrer selbst bewußte Aufklärung« jene »Pseudorealität zu entzaubern« versucht, in der »der Aktionismus sich bewegt«.37 Damit hat sich das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis umgekehrt: Ideologiekritik wird zur höchsten Form der Praxis, in der die unmittelbar durchgeführte Revolution vorerst keinen Platz mehr hat. Die Kritische Theorie erfindet nichts hinzu, kehrt aber hervor, was vom marxschen Erbe bislang vernachlässigt wurde. Die Revolutionsskepsis legt einen vom Arbeiterbewegungsmarxismus verschütteten Zweifel frei, den auch Marx schon hatte: Den Zusammenbruch des Kapitalismus, eben noch als naturgesetzliche Gewissheit bezeichnet, macht er an anderer Stelle abhängig von der geistigen Verfassung des Proletariats, von dessen Vorstellungskraft und Wollen.38 Auch Engels schien an der Erfüllung der welthistorischen Mission zu zweifeln, wenn er das Proletariat eindringlich ermahnt, es habe die Revolution »bei Strafe des Untergangs«39 durchzuführen. Kritische Theorie ist nicht der Bruch mit dem Marxismus, sondern dessen »Anwendung auf sich selbst«.40 Sie geht auf Distanz zur marxschen Zukunftsgewissheit, indem sie die marxsche Krisentheorie anwendet. Der Akzent verschiebt sich: Waren im traditionellen Marxismus die Hemmnisse der Verwirklichung der Weltveränderung zum Besseren noch Dämpfer und Hürden, die zu nehmen sind, wachsen sie in der Kritischen Theorie zu vorerst unüberwindlichen Hindernissen an, die genauer untersucht werden müssen.
Kritik hat eine gemeinsame sprachliche Wurzel mit der »Krise«. Beide verlangen ein (analytisches, normatives und geschichtliches) Urteil, eine Entscheidung, eine Trennung, und beide treten gemeinsam auf. Die historische Figur der Krise erzwingt die Denkfigur der Kritik, der Selbstreflexion der Krise. Im traditionellen Marxismus gelang der Übergang noch beinahe mühelos: Die Krise bringt notwendig die Misere zu Bewusstsein und stiftet zur Veränderung an. Dieser »idealistische Evolutionismus«41 ist in der Kritischen Theorie brüchig geworden, zwischen Krise, Kritik und realer Veränderung hat sich etwas geschoben, das bisher zu wenig bedacht worden war. Die gesellschaftliche Krise der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war so umfassend, dass sie das Bewusstsein für die Wurzel der Misere nicht etwa schärfte, sondern vernebelte – der Marxismus lag richtiger, als er dachte. Für die Kritische Theorie ging es darum, das Bewusstsein von dieser Bewusstseinsschranke zu gewinnen. Denn wenn mit dem Bewusstsein etwas nicht stimmt, dann hat das auch Konsequenzen für die Praxis, die ebenfalls ihr Ziel, die bessere Einrichtung der Welt, verfehlen muss und in die falsche Richtung läuft. Man muss also einen Schritt zurück machen und fragen, was mit dem Wissen und dem Willen nicht stimmt. Christoph Türcke und Gerhard Bolte schreiben: »Die Krise ist also so weit gediehen, daß in ihr nicht mehr nur die physischen Produktivkräfte durch die Produktionsverhältnisse, in die sie gespannt sind, gelähmt, zerstört, mißbraucht werden, sondern auch die psychischen Umwälzungskräfte durch das Verhältnis, in dem sie zueinander stehen.«42 Marcuse nennt dies den »psychischen Thermidor«43, den Zusammenbruch der Revolution, noch bevor sie gemacht wurde. Kritische Theorie wendet sich dieser Lähmung der psychischen Umwälzungskräfte zu, die Kategorie der »Autorität«44, die das Wissen übersteigt und das Wollen betrifft, wird zentral.45 Der »Vorrang des Objekts«46, den die materialistische Theorie behauptet, wird derart beim Wort genommen, dass er nicht ohne Folgen bleibt für das Subjekt. Die ökonomischen Kräfte haben es, als sie in eine Krise gerieten, in Mitleidenschaft gezogen. Derselbe Vorgang, der im Marxismus noch Freiheit versprach, schlägt nun in Unfreiheit um: Die fortschreitende »Automation«47 sollte eigentlich die Produktivkräfte wachsen lassen und die Krise der Arbeit auf die Spitze treiben, also die Bedingung für die Revolution schaffen. In der älteren Kritischen Theorie beschädigt sie jedoch vor allem den Willen der Subjekte, die mechanisch fühlen und den Apparaten gehorchen. Anders als im traditionellen Marxismus ist Technik kein neutrales Instrument zur Bearbeitung der Welt, sondern selbst verhext.48 Wer sich mit ihr einlässt, nimmt Schaden und stützt die schädliche Ordnung. Kritische Theorie weitet also nicht nur den Krisenverdacht auf die Subjekte aus, sondern auch umgekehrt den Verdinglichungsverdacht auf die Objekte, die zu Institutionen und Apparaten verdichteten Handlungen: Wirtschaft, Technik, Politik und Verwaltung können sich dem Sog des Fehlgebrauchs nicht entziehen und treiben ihn wiederum an.49 So färbt die Starrheit des Produktions- und Gefühlshaushaltes auf die politische Maschinerie ab. Der Staat wird zum bürokratischen Agenten einer total »verwalteten Welt«.50 Flankiert wird er von der ebenfalls automatisierten »Kulturindustrie«51, an der die kulturbürgerlichen Ideale einer autonomen Sphäre zur Gewinnung gedanklicher Freiheit zerschellen und die zur Camouflage ihres Gegners wird. Um diesen Teufelskreis gedanklich zu durchbrechen, wählte die Kritische Theorie den Eintritt am Punkt des Subjekts.52 Diese »Wendung zur Subjektivität […]: von der Ökonomiekritik zur Kulturkritik«53 wandte sich dem zu, was vom Marxismus als »bürgerlich« diffamiert wurde54: der »Analyse moderner Massenkultur, ihrer tiefenpsychologischen und ästhetischen Wirkung«55 sowie deren philosophischer Fundierung. Dort stieß sie auf Lähmungen im Angesicht der Krise, die zwei zerstörerische Zustände begünstigte: die Barbarei der Normalität und der Ausnahme. Die Normalität – »der Gang einer furchtbaren Verstrickung, eine Art von Höllenmaschine«56 – bringt kulturindustriell zugerichtete Automatenmenschen hervor, die sich keine andere Gesellschaft vorstellen können, sich mit »dem Angreifer« »identifi[zieren]« und jene »Spontaneität« verlieren, die notwendig wäre, um den »Weltlauf zu verändern«.57 Sie richten ihre Aggression nach innen und bringen sich ums mögliche »Glück«.58 Geraten sie dennoch einmal in Aufruhr, erzeugen sie keine Revolution, sondern den Faschismus, also eine Revolte gegen die Ordnung im Namen derselben. Damit verdüstern sich die Aussichten in der Kritischen Theorie immer weiter: Die Veränderung zum Besseren bleibt nicht einfach aus, sie bekommt ein negatives Vorzeichen und arbeitet dem Schlechteren zu. Der gesamte Weltlauf ist kontaminiert. Er steuert geradewegs auf »schwerste Katastrophen«59 zu, an deren Ende keine Rettung, sondern die umfassende Selbstzerstörung der Zivilisation steht. Max Horkheimer, und damit kehrt er die marxsche Zukunftshoffnung um, sieht für »Theorie« daher nur noch eine Aufgabe: »Sie erklärt wesentlich den Gang des Verhängnisses«60, bildet den Zerfall ab, versucht ihn auf den Begriff zu bringen, wird zum gedanklichen Hemmschuh des Fortschritts oder wartet auf bessere Zeiten.
Kontraktionsmarxismus
Diese Verbindung von fraglich gewordenem Subjekt der Revolution, vernebelnder statt erhellender Krise und dem drohenden Übergang der modernen Gesellschaft nicht ins Reich der Freiheit, sondern in faschistische Barbarei, teilen alle hier behandelten Autoren. Daraus ergibt sich ein gemeinsamer »Paradigmakern« der Kritischen Theorie, den Hauke Brunkhorst als Verbindung »eine[r] hegelmarxistische[n] Version der Klassenbewußtseinstheorie […] mit einer webermarxistischen Version der Verdinglichungstheorie«61 bestimmt. Marx hatte Hegel »vom Kopf […] auf die Füße gestellt«.62 Die ältere Kritische Theorie hat zusätzlich den Sinn abgezogen, sodass ein leerer Hegel, aufrecht, aber mit totem Blick durch die Gänge der Geschichte spukt. Aus dem Weltgeist ist ein Weltgespenst geworden, das keinen Sinn stiftet, nur Schrecken verbreitet. Diese Idee wird realgeschichtlich gestützt. Die ältere Kritische Theorie ist inmitten der schwersten Krise der bürgerlichen Gesellschaft entstanden63, auf dem Höhepunkt der Kontraktion des Weltsystems. Die tendenziell expansive, Grenzen der Zirkulation von Waren, Menschen, Technologie, Kapital und Informationen niederreißende bürgerliche Globalformation64 geriet zwischen 1914 und 1945 ins Stocken, sorgte für Zerfall ohne Revolution, wo kurz zuvor noch die Einheit der Welt am Horizont stand.65 Die Enttäuschung der Kritischen Theorie über den Weltlauf hat auch etwas damit zu tun, dass sie in dieser »rückwärts gerichteten Phase«66 entstanden ist.67 Die kritisch-theoretischen Revisionen des Marxismus verarbeiten diese Bewegung des Weltsystems und verwandeln den Expansionsmarxismus des 19. Jahrhunderts in einen Kontraktionsmarxismus. Sie bilden einen »Zeitkern« der »Wahrheit«68, der weder auf ewige Ideen noch auf völlig neue Einfälle eines Zeitalters verweist, sondern auf sich herausbildende Zugänge zu einer Idee, die sich entfaltet – einem negativen Hegelmarxismus der verwalteten, zerfallenden Welt. So verschwindet der realhistorische Determinismus in der eigenen Ideenwelt, die Interpretation der Kritischen Theorie greift auf eine Interpretation durch die Kritische Theorie zurück: auf den Verdacht, dass die Expansion der Freiheit in die Kontraktion des Zwangs umschlägt, dass Einheit und Zerfall dieselbe Sache sind, wenn man nur ihre Entwicklung berücksichtigt. In der »Dialektik der Aufklärung« haben Horkheimer und Adorno diesen Gedanken philosophiegeschichtlich entfaltet. Ich will dazu beitragen, ihn international-politisch auszubuchstabieren.
Schon diese kurze Skizze zeigt, dass die ältere Kritische Theorie nur schwer vereinbar ist mit reformistischem Institutionalismus und bruchlos-emanzipatorischem Fortschrittsdenken. Das sanfte Hineinwachsen verbietet sich durch die Verkommenheit des Ganzen. Der heftige Bruch zerbricht dagegen an den gebrochenen Brechern, dem Proletariat. Um es in den beiden Politikdimensionen auszudrücken, von denen ich ausgehe: Politik als Beteiligung am Machtspiel ist herrschaftlich kontaminiert und wird die Welt nicht geradebiegen. Revolutionäre Politik, die notwendig wäre, hat dagegen kein Subjekt, weil die Krise die Psyche erfasst hat. Man muss also zunächst einmal den drohenden Untergang abwenden und Subjektpflege betreiben, bevor man sich in fortschrittliche liberale oder linke Schlachten stürzt. Diese Vernageltheit betrifft die internationale Politik in verschärfter Weise. Im Einzelstaat gibt es immerhin ein dichtes Regelnetz, eingespielte Legitimationskanäle und einige Anerkennungsansprüche, die durchgesetzt werden konnten. Zwischen den Staaten fehlen sie vollkommen. Dort herrscht das Recht des Stärkeren.69 Gesetze werden von den Grenzen der Macht bestimmt. Verschieben sich diese, kollabieren auch die fragilen Gleichgewichtszustände, die sich für einen Moment herausgebildet haben mögen.
»Scharfsinniger Unsinn«
Jede Behandlung eines Aspektes der Kritischen Theorie hat ein Problem: Er lässt sich nicht linear rekonstruieren, da Kritische Theorie selbst aus Widersprüchen besteht, die sie auf ihren Gegenstand überträgt. Kritische Theorie ist »scharfsinniger Unsinn«70, sie verwickelt sich in die Widersprüche ihrer beiden Elemente: Theorie will Systematisierung, Kritik unterläuft sie, Theorie zielt auf die Struktur einer Erkenntnis, Kritik auf Unterscheidung, Trennung und Strukturbruch. Deshalb zerfällt sie, wenn sie zu einem Forschungsparadigma gemacht wird, in ihre Bestandteile und stellt entweder eine »Theorie des kommunikativen Handelns und der Anerkennung« auf oder betreibt eine »Kritik der Macht und der Lebensform«.71 Mitunter entsteht so der Eindruck, sie könne sich nicht entscheiden. Meine These von Einheit und Zerfall enthält ebenfalls einen Widerspruch und entspricht damit ihrem kritisch-theoretischen Gegenstand, der aus Einzelteilen besteht, die nur rekonstruiert werden können, indem man eine höhere Einheit dahintersetzt. Diese Einheit wird vom historischen Verlauf gestiftet, der die Widersprüche zu Pendelschwüngen macht. Besonders schwierig ist eine Rekonstruktion, die auf Einheit zielt, wenn sie sich jenen Vertretern zuwendet, die dem kritischen Strang der Kritischen Theorie angehören, also der älteren Kritischen Theorie. Sie ist wissenschaftlich schwerer zu fassen, zumindest im Bereich der politischen Theorie, die naturgemäß eher zum theoretischen Strang der Kritischen Theorie neigt, da sie auf Einheit zielt.72 Leo Löwenthal bezeichnet Kritische Theorie als »gemeinsame kritische Grundgesinnung in bezug auf aktuelle kulturelle Phänomene, ohne jemals den Anspruch auf ein System zu erheben«.73 Er spricht damit als Vertreter der ersten Generation, deren Texte sich der Systematisierung stärker widersetzen als die meisten neueren Kritischen Theorien. Eine ausgearbeitete, systematische Kritische Theorie der Politik, auch der internationalen, kann hier also gar nicht vorliegen, und das gilt für alle Sektoren menschlicher Produktion, also auch für Recht, Kunst oder Religion74 – nicht aus Nachlässigkeit oder Desinteresse, sondern aus methodisch-stilistischer Einschränkung durch Erweiterung zum dialektischen Sowohl-als-auch. So antwortete die ältere Kritische Theorie auf die Zusammenschweißung disparater politischer Beobachtungen, Analysen und Urteile zu einem reibungslosen Systemapparat mit der Notwendigkeit der Dialektik: »Wenn Sie sich klarmachen wollen, […] was man unter Dialektik, unter gesellschaftlicher Dialektik zu verstehen hat, dann ist dafür wahrscheinlich eine […] Bestimmung des Wesens des Politischen das beste Paradigma, das sich überhaupt finden lässt.«75 Sie ist »zugleich Ideologie und das Allerrealste«76, schwankt zwischen Verhärtung und Öffnung und zielt auf Selbstüberwindung, auf »Politik zur Abschaffung der Politik«.77 In einer solchen Wendung gegen sich selbst kann ein System nicht bestehen, und es ist kein analytisches Manko, dass der Bereich der Politik nicht systematisch ausgearbeitet wurde, sondern der Sache selbst geschuldet – wer das Offene denken will, muss sich einen nichttheoretischen, philosophischen Anteil bewahren.78 Politik existiert daher nicht als abgezirkelter Bereich und muss im Zusammenhang mit anderen Denkgebieten (geschichtsphilosophischen, soziologischen, psychologischen, ökonomischen) rekonstruiert werden. Sie operiert an der ordnungssetzenden und -auflösenden Schnittstelle der Disziplinen.
Das dreifache Formproblem internationaler Politik und das innere Schwanken Kritischer Theorie zwischen ihren beiden Bestandteilen bestimmen meine Methode: Ich suche nach losen Konzeptionen, vagen Skizzen, angedeuteten Verbindungen, Theorien im schwachen Sinn – die dennoch das geschichtsphilosophische Ganze berücksichtigen, also in gewisser Weise stark sind – von internationaler Politik in der älteren Kritischen Theorie. Es wird kein abgedichtetes System entworfen, das wie ein präzises Räderwerk funktioniert, wohl aber ein stimmiges Bild »politischen Denkens«.1 Im Zentrum steht die Frage, wie Horkheimer, Adorno, Neumann und Marcuse das dreifache Formproblem von Verfasstheit, Vielheit und Verlauf (oder: politischer Ordnungsbildung, Aufteilung des globalen Raumes und Geschichte) behandelt haben: Worin besteht für sie die Wechselwirkung zwischen politischer Formgebung des gesellschaftlichen Materials (1. Formproblem), der Form dieser Form – also der Aufteilung der Räume, in denen diese stattfindet (2. Formproblem) – und der Figur, die die Geschichte bildet (3. Formproblem)? Überlagert werden alle drei Formdimensionen von der Frage nach der Möglichkeit der politischen Öffnung bei jedem der vier Autoren: Welche Ordnung begünstigt für ihn Freiheit oder Emanzipation, welche sorgt für herrschaftliche Verhärtung oder Vernichtung? Erzwingt ein Ebenenwechsel (vom Stadt- zum Nationalstaat, zum Großraum, zur Welteinheit) Verhärtungen oder Verflüssigungen oder beides? Welche Staateninteraktionen vermehren Herrschaft, welche beschränken sie? Und schließlich geht es um die Frage, wie die geschichtliche Tendenz Öffnungs- und Verhärtungspolitik beeinflusst und ob es ein Jenseits der bisherigen Geschichte geben kann. Zwischen den drei Formproblemen wird – im Gegensatz zu vielen neueren Kritischen Theorien – kein zwingend positiver Zusammenhang unterstellt. Die Öffnung des Nationalstaats für die globale Arena muss nicht zu einer Öffnung gesellschaftlicher Zustände führen. Auch das Voranrücken der Zeit, in progressiven Modellen ein Öffnungsantrieb der Geschichte, erzwingt keine Öffnung von Politik und Raum. Das Voranschreiten kann einen Rückschritt bedeuten. Ich untersuche den Zusammenhang, den Horkheimer, Adorno, Neumann und Marcuse zwischen Änderungen in der Raumordnung und der politischen Verfasstheit im Zeitverlauf sehen. Dies erlaubt Rückschlüsse auf das international-politische Denken der älteren Kritischen Theorie, aus dem wiederum Schlüsse für die Deutung unserer Gegenwart gezogen werden können.
Ich gehe in zwei Schritten vor, einem großen und einem kleinen. Ich rekonstruiere zunächst das Bild vom Wesen, Wirken und Sollen internationaler Politik bei Horkheimer, Adorno Marcuse und Neumann. Dafür trage ich Reflexionen zur internationalen Politik zusammen, die oftmals tagespolitisch motiviert erscheinen, aber darüber hinausweisen, und systematisiere sie vor dem Hintergrund des politischen Denkens. Dies geschieht in vier Einzelkapiteln zu Horkheimer, Adorno, Marcuse und Neumann. Ich arbeite sowohl die Einheit des kritisch-theoretischen Programms als auch die politische Differenz zwischen den Autoren heraus, sodass die Kapitel miteinander kommunizieren. Damit folge ich der Methode der »immanenten Rekonstruktion«,2die den Spezialbegriff vor dem Hintergrund der Politik- und Gesellschaftstheorie eines Autors entfaltet. Dafür rekonstruiere ich zunächst das politiktheoretische Fundament, das um eine geschichtsphilosophisch genährte Zeitdiagnose gebildet wird. Anschließend untersuche ich, welche politischen Handlungsspielräume sich daraus ergeben. So entsteht ein Bild von Ordnungsbildung und -anfechtung als Formgebung des gesellschaftlichen Materials (1. politische Formdimensionen), das einer geschichtsphilosophischen Figur entspringt (3. Formdimensionen). Was fehlt, ist die Zwischenebene internationaler Politik (2. Formdimension).
Am Ende dieser Einzelrekonstruktion stehen vier politische Richtungen der Kritischen Theorie, die sich nicht zu einer ausgearbeiteten politischen Theorie verdichten, wohl aber jeweils zu einem kohärenten Muster: ein postrevolutionär-hemmendes nach Horkheimer, ein postrevolutionär-hoffendes nach Adorno, ein skeptisch-reformistisches nach Neumann und ein neurevolutionäres nach Marcuse. In diese Einzelmuster werde ich anschließend die Kommentare zur internationalen Politik integrieren, die dem politischen Denken einen Zusatz verpassen. Dieser besteht in der Behandlung des zweiten Formproblems der Vielheit politischer Gemeinschaften, das in einem Dreischritt bearbeitet wird: Er führt von der Regelschau des internationalen Feldes (wie die Entitäten – meistens Staaten – miteinander umgehen und welcher geschichtlichen Entwicklung sie unterliegen) über die Analyse der Entitäten (ihr Wesen und ihre Rolle in der globalen Gesamtheit) zu den Möglichkeiten der Transformation (des Staatensystems, der Politik und der Geschichte). Das Material dazu liefern verstreute Kommentare aus Notizen, Briefen, Vorlesungen, Vorträgen und Aufsätzen, aber auch Randbemerkungen in zentralen Werken aus der Spätphase der Autoren. Alles, was den Kalten Krieg, den Umgang mit Deutschland, die Geschichte des Staatensystems, die Triebkräfte der Weltpolitik, den antikolonialen Kampf, die Position Israels im Nahen Osten, die Einigung Europas oder der Welt betrifft, ist relevant für die Anfertigung des international-politischen Bildes eines Autors. Die Studie zählt damit zu den Klassikerauslegungen kanonischer Texte, bewegt sich allerdings auf unerschlossenem Gelände. Sie behandelt einen Spezialaspekt – international-politisches Denken –, der noch nicht rekonstruiert wurde, und zieht dafür Texte aus der Werkperipherie heran, die ans Werkzentrum angeschlossen werden.
Nun könnte ein Einwand lauten, dass sich dieses Bild nur aus tagespolitischen Kommentaren in Nebentexten zusammensetze, die keine inhaltliche Relevanz für das Denken des Autors besäßen. Dem möchte ich fünf Einwände entgegenhalten: Erstens befinden sich die international-politischen Stellen oft in großer Nähe zu den werkzentralen Konzepten, sodass die philosophische Nobilitierung des international-politischen Kommentars durch den Autor selbst erfolgt: Adorno sprach in seinen geschichtsphilosophischen Vorlesungen mehrere Sitzungen über die Ambivalenz der Einigung Europas und der Welt.3 Horkheimer zeigte die »Aktualität Schopenhauers«4 anhand der Entwicklung des Staatensystems. Neumanns Hauptinteresse nach dem Krieg, die Aussöhnung von Freiheit und Zwang, kreiste um die Frage, wie Deutschland von innen und außen stabilisiert werden könne. Schon die Titel seiner Aufsätze belegen ihre Globalorientierung.5 Und Marcuse hielt Ausschau nach einem globalen revolutionären Subjekt. Seine Studie zu »Konterrevolution und Revolte« ließ er etwa mit der Beobachtung beginnen, dass sich repressive Regime und Freiheitsbewegungen auf allen Kontinenten formieren und einen globalen Kampf vorbereiten.6 Alle vier Autoren entwickelten einen globalen Blick auf Ordnungsfragen – oft in großer Nähe zu ihrem theoretischen Hauptinteresse, durch dessen Behandlung sie notwendig auf das zweite politische Formproblem der vielen Staaten stießen, also international-politisch dachten.
Zweitens sind es sehr viele Kommentare, die ein einheitliches Bild über einen sehr langen Zeitraum ergeben. Horkheimers Ansichten zur weltpolitischen stabilisierenden Rolle der USA aus den 1950er, -60er und -70er Jahren ähneln sich.7. Auch Adornos Prognose einer totalitären Zukunft8 und Horkheimers Warnung vor einem »russisch-chinesische[n] Zwangsstaat«9, der zum Modell für die Welt werden könne – beides aus den späten 1950er Jahren –, schließen an geschichtsphilosophische Überlegungen an, die auf die Dialektik der Aufklärung zurückgehen.10 Natürlich gibt es im Zeitverlauf Unterschiede in den Akzentuierungen, Verschärfungen und Milderungen im Urteil. Dass Horkheimer China in seine Prognosen einbezog, lag in den 1940er Jahren noch fern; in den 1960er Jahren war es – nach sozialistischer Staatsgründung, maoistischer Herrschaftskonsolidierung und Neuentfachung der Revolution – plausibel. Doch damit revidierte Horkheimer seinen international-politischen Ansatz nicht, er stützte ihn durch Hinzufügung einer weiteren Facette, nämlich der Einsicht, dass selbst der Aufbruch der Dritten Welt nichts Neues hervorbringt. Dieser setzt lediglich die Gewalten fort, gegen die er einst angetreten war, und wiederholt damit die Versandung der proletarischen Revolution auf globaler Staatenebene. Oder nehmen wir Herbert Marcuse, der sich in den frühen 1970er Jahren radikalisiert hatte. Er hielt die Faschismusgefahr inzwischen für größer, globaler, und hoffte nicht mehr auf eine Revolte aus Zuversicht, sondern aus Verzweiflung. Aber an seiner revoltenhaften Grundstimmung änderte sich nichts. Die Modifikationen brachten das jeweilige Denkmuster nicht durcheinander, sodass wir von einer gedanklichen Konsistenz sprechen können, die den dahingeworfenen Einfall übersteigt. Es steckten tatsächlich systematische Überlegungen zu den Mechanismen internationaler Politik, zur Rolle einzelner Staaten und zur Formulierung politischer Handlungsempfehlungen dahinter, die sich mithilfe des politischen Denkens rekonstruieren lassen. Ich wähle also einen synchronen Ansatz, der sich nicht mit der (diachronen) Entwicklung des international-politischen Denkens im Leben des Autors oder mit der Generationenfolge verschiedener Autoren beschäftigt, sondern mit dem Denken innerhalb eines Zeitraums, der als relativ stabil angenommen wird und auf einem soliden Fundament politischer Überlegungen beruht.11
Möglich wird eine solche Rekonstruktion durch einen dritten Einwand gegen den Verdacht des fehlenden Zusammenhangs international-politischen Denkens in der älteren Kritischen
