Der Weltgeist als Lachs - Moritz Rudolph - E-Book

Der Weltgeist als Lachs E-Book

Moritz Rudolph

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Beschreibung

In seinem höchst originellen und provozierenden geschichtsphilosophischen Essay erklärt uns Moritz Rudolph unsere Gegenwart – zukünftige Geschichte – auf ganz neue Weise, indem er sie mit dem Objektiv der Dialektik ins Visier nimmt. "Furchtlos und halsbrecherisch spekulativ" (Christian Demand und Ekkehard Knörer, Merkur) beleuchtet er Fukuyamas "Ende der Geschichte", hebt sie mit Horkheimer aus den Angeln und stellt sie mithilfe einer Neuinterpretion der Kenosis von den Füßen auf den Kopf: Ist es möglich, dass der Weltgeist mit kurzem Zwischenstopp im Silicon Valley erst in China zu sich selbst kommt, um uns plötzlich als künstliche Intelligenz zu erscheinen? Er würde damit Hegel selbst das Fürchten lehren: Wenn Geschichte das ist, was nur von Menschen geschrieben werden kann, dann mag das Ende der Geschichte nah sein.

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Der Weltgeist als Lachs

Fröhliche Wissenschaft 181

Moritz Rudolph

Der Weltgeist als Lachs

Für meine Mutter(1966–2020)

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

I. Der Weltgeist als Lachs

II. Kommt jetzt der globale Babeuf?

Textnachweis

Anmerkungen

Vorbemerkung

Erste Fassungen der beiden Texte sind im Winter 2019/2020 entstanden. Sie versuchen sich an einer Deutung der Gegenwart, indem sie den geschichtlichen Referenzen nachspüren, die diese macht. Der erste Text entwirft eine geschichts- und geophilosophische Skizze zu den Verschiebungen des epochalen Hauptortes von Ost nach West nach Ost, an deren Ende China als neues Zentrum dasteht und der Mensch abgetreten ist. Der Text war gerade abgeschlossen, da blitzte mit der Corona-Krise eine Möglichkeit auf, sich diesen Übergang als Bruch vorzustellen. Es ist nicht so, dass die Gesundheitskrise schon dieser Bruch sein muss, aber sie gibt Linien vor, die fortgesetzt werden könnten, sodass man vielleicht einmal sagen wird, es war eigentlich alles schon da. So ergeben beide Texte eine Konstellation. Der zweite Text füllt den ersten auf. Er nimmt Corona als Tendenzbeschleuniger. Dabei wechseln die Begriffe: Während der erste beobachtet, wohin der Weltgeist wandert, fragt der zweite nach den politischen Formen und Inhalten, die er dabei annimmt. Natürlich sind beide Texte spekulativ. Man kann nicht sagen, welcher es mehr ist: Der erste spekuliert übers Ganze, der zweite übers Detail. Mag sein, dass sich einiges davon vorerst nicht durchsetzen und noch versteckt halten wird, um dann auf andere Weise einzutreten, aber das entspräche ganz dem Gang der Geschichte, die Vermutungen über sich durch Widerlegung übertrifft und erfüllt.

Leipzig im Januar 2021

I. Der Weltgeist als Lachs.

Geschichtsphilosophische Implikationen des chinesischen Aufstiegs

1. Warten auf die wirkliche Synthese

»Mit dem Reiche China hat die Geschichte zu beginnen.«1 Dieser erste Satz der hegelschen Weltgeschichtsphilosophie könnte uns bei der Deutung unserer Gegenwart behilflich sein. Denn wenn wir Hegels Dialektik ernst nehmen in ihrem Anspruch, Anfangs- und Endpunkt in eins zu setzen, sodass sie am Ende wieder »in ihren Ursprung mündet«,2 dann müsste das auch geophilosophisch gelten. Sehen wir die Sache so, dann ergibt sich eine ganz andere Lesart auf die geschichtsphilosophische Wegmarke 1989, als es Fukuyamas Diktum vom Ende der Geschichte nahelegt. Mauerfall und Zusammenbruch des Ostblocks als dem einzigen Konkurrenten des spätliberalen Westens bedeuten dann nicht das Ende der Geschichte – das kann es hegelianisch gedacht, und das beansprucht Fukuyama schließlich für sich, gar nicht sein –, aber eine Etappe auf dem Weg dorthin ist es schon. Geschichtsdialektik funktioniert ja nicht einfach so, dass einer stirbt und der andere übrig bleibt, der dann weitermachen kann wie bisher. Auch der Überlebende muss etwas vom Wesen des Besiegten in sich aufnehmen und damit selbst einen kleinen Tod sterben, der mit der Zeit immer größer wird, bis auch er verschwindet. Am Ende der Geschichte stehen sich These und Antithese einander anverwandelt gegenüber und wissen dabei kaum noch, wer sie selbst und wer die andere ist.

Die unbekümmerte Fortsetzung des einigermaßen liberalen und US-geführten Westprojekts (sicher: Fukuyama selbst gab sich im Gegensatz zu seinen frisch-fröhlichen Epigonen darüber noch nietzscheanisch bekümmert) ist geschichtsdialektisch unmöglich. Der Bruch von 1989 wird auch am System der geregelten Ausbeutungsverhältnisse mit abgemilderten (und ausgelagerten) Klassenkonflikten, die in der parlamentarischen Demokratie ausgetragen und durch den bürgerlichen Rechtsstaat abgesichert werden, nicht spurlos vorübergegangen sein. Stattdessen müssen wir auf Formationen schauen, in denen etwas von beiden Kontrahenten des Kalten Kriegs überlebt hat. Denn wäre es nicht hegellogischer, wenn die Synthese nach 1989 auf (spät-)liberal-kapitalistische, rechtsstaatliche, dionysisch-individualistische Elemente ebenso zurückgriffe wie auf Autorität, Planbarkeit, Disziplin und apollinische Kontrolle (die dann auch noch per Einverständnis der Unterworfenen abgesegnet werden, wodurch der Gegensatz zwischen Selbst- und Fremdbefehl verschwindet)?

Ist Singapur, jene höchst erfolgreiche Melange aus autoritärem Staat und entfesselter Marktökonomie, nicht die viel umfassendere Synthese als US-Amerika, das lediglich übrig geblieben ist und dem neuen Zeitalter kaum etwas Neues anzubieten haben dürfte, weil es zu sehr vom Vergangenen bestimmt wurde und spätliberale Hemmungen mit sich herumschleppt? Längst ist der Stadtvater Lee Kuan Yew zu einer Kultfigur für all jene geworden, die sich nach einer nichtwestlichen Alternativmoderne umschauen. Dieses Interesse beginnt zumeist technisch und endet stets im Politischen: Die rundum vernetzte Smart City weckt globale Neugier,3 der ökonomisch-wissenschaftliche Komplex wird auch von westlichen Ökonomen als Vorbild angepriesen,4 und der Star-Politanalyst Parag Khanna schwärmt von der »direkten Technokratie« seiner Wahlheimatstadt, der es vorbildhaft gelungen sei, die »Langeweile« zu institutionalisieren.5

2. Die Rolle Chinas

Doch Singapur ist vielleicht nur die kleine Avantgarde, ein winziges Politlabor, das das künftige Zeitalter vorwegnimmt. Angeführt werden kann es nur von einem großen Reich, das Macht genug hat, um die Welt nach seinen Vorstellungen zu organisieren. Dieses Reich könnte China sein, von dem Fukuyama 2016 in einem Zeit-Interview selbst behauptete, es sei die größte Herausforderung für seine endgeschichtliche These, weil es sich technisch höchst erfolgreich modernisiert, ohne sich dabei zu demokratisieren.6 Wie schon Hegel selbst war vielleicht auch Fukuyama, und das scheint ihm allmählich klar zu werden, zu hegelistisch, um ernsthaft hegelianisch sein zu können. Seine Verkündung des westlichen Endes der Geschichte mag Hegels Geste geähnelt haben, nicht aber der Idee. Er hielt sich zu sehr an den Buchstaben, nicht so sehr an den Geist, um den es aber geht.

Denn dann würde Fukuyama in Erwägung ziehen müssen, dass der Weltgeist von Ost nach West wandert und, da die Erde rund ist, wieder dort herauskommt, wo er begonnen hat. Hegel selbst deutete sich zwar eurozentrisch: »Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang. […] [D]enn obgleich die Erde eine Kugel bildet, so macht die Geschichte doch keinen Kreis um sie herum.«7 Aber das macht ja nichts. Genau diese Bewegung kann sie vollziehen, ohne dabei ihren hegelianischen Charakter zu verlieren. Denn im hegelschen Linearzyklus gewinnt das Lineare keineswegs über das Zyklische. Erst in der Anerkennung des heraufziehenden chinesischen Zeitalters kommt die hegelsche Dialektik zu ihrem vollen Recht. Sie lässt den menschlichen Fortschritt – der auch rein technisch bleiben und sich von der moralischen Seite vollkommen ablösen kann – an seinem Ende wieder dort ankommen, wo er angefangen hat, um anschließend auf andere Weise von Neuem loszulegen oder tatsächlich aufzuhören. Das ist hier die einzige Ungewissheit, aber an China scheint er zunächst einmal nicht vorbeizukommen.

Die vorgesehene geschichtsphilosophische Rolle wird nun auch von China angenommen: »Xi Jinpings Führungswille verändert das globale Mächtemuster, er hat Großes vor mit der Volksrepublik. Nicht länger sieht er sie als Regionalmacht, vielmehr will er sie ins ›Zentrum der Weltbühne‹ rücken. Zur mächtigsten Militärmacht will er sie machen, zur größten und führenden Wissenschaftsmacht, zur Innovationsgroßmacht, zur Infrastruktur-Supermacht, zum Anführer im Kampf gegen den Klimawandel, zur Weltkulturmacht und zur Weltfußballmacht. Eine ›Schicksalsgemeinschaft der Menschheit‹ will er aufbauen, der er ›weise chinesische Ideen für Problemlösungen‹ anbietet.«8 Während Deng Xiaoping noch die missionslose Eigenständigkeit des chinesischen Wegs betonte, reklamiert Xi Jinping nun eine Vorbildrolle für sein Land, das er als Gegenentwurf zu den »zerrissenen Gesellschaften«, den »endlosen Machtübergängen« und dem »sozialen Chaos« des Westens präsentiert. Das chinesische Sendungsbewusstsein beginnt zunächst rein ökonomisch und technologisch, bis die pragmatischen Kräfte so weit entwickelt sind, dass sie in Politik umschlagen. Das erweiterte Seidenstraßenprojekt »One Belt, One Road« legt ein Band um Eurasien und industrialisiert nebenbei Afrika; bald kommt dann auch der politische Führungsanspruch, allein schon, um die Handelsinfrastruktur zu schützen. Imperialismus ist manchmal nicht mehr als ein ambitionierter Pragmatismus.

Jetzt, da der Weltgeist einmal rundherum gewandert ist, realisiert er sich im chinesischen Zeitalter auf seinen ausgetretenen Pfaden; er macht eine nostalgische Tour auf den eigenen Spuren, und das jeden Tag. Die neuen Handelsrouten führen über alte Wege, die er sich in jahrtausendelanger Arbeit mühsam bahnen musste. Heute braucht er dafür nur noch ein paar Stunden. Seine Erinnerungstour ist zugleich seine Abschiedstournee, auf der er noch einmal seine schönsten Stücke spielt: Indien, Persien, Ägypten, Europa, Amerika. Der Weltgeist kann stolz sein; zumal er sich gegen Ende noch einmal richtig ins Zeug legt – Chinas Aufschwung ist ohne Beispiel. Es schaffte in vierzig Jahren, wofür die Vereinigten Staaten einhundertsechzig Jahre brauchten. Die Weltgeschichte beeilt sich und wird hintenraus schneller (wovon Hartmut Rosa ein dissonantes Beschleunigungslied singen kann9).

3. Der Weltgeist als Lachs

Max Horkheimers Ahnung

Der Weltgeist begegnet uns hier als Lachs, der zum Sterben (und Laichen) an seinen Geburtsort zurückkehrt. Nur haben wir es hier mit einem dialektischen Lachs zu tun, der nicht stromaufwärts, sondern einmal rundherum schwimmen muss, um den Anfang zu erreichen. Doch wie kommt es, dass der Weltgeist in China an sein Ende gelangen könnte? Warum soll sich der Fortschritt auf seinem Höhepunkt plötzlich auflösen, sodass nach ihm nichts mehr kommt und wir tatsächlich einen endgeschichtlichen Dämmerzustand erreichen könnten, von dem auch Fukuyama etwas ahnte? Und wie können wir uns diesen Tod des Menschen vorstellen? Tritt er vielleicht ganz unkatastrophal ein?

Eine Ahnung geben Max Horkheimers Geschichtsprognosen aus den 1960er-Jahren. In einem seiner letzten Vorträge bekannte Horkheimer, »pessimistisch« zu sein »in Bezug auf die Vorstellung, wohin die Geschichte läuft, nämlich zur verwalteten Welt, so daß das, was wir Geist und Phantasie nennen, weitgehend zurückgehen wird«.10 Weil sie dem Fortschritt im Wege steht, verschwindet die menschliche Spontaneität. »Am Ende steht, wenn keine Katastrophen alles Leben vernichten, eine völlig verwaltete, automatisierte, großartig funktionierende Gesellschaft, in der das einzelne Individuum zwar ohne materielle Sorgen leben kann, aber keine Bedeutung mehr besitzt.« Das alles geschieht mit den besten praktischen Absichten: »Denn wir wollen ja, daß die Welt vereinheitlicht wird, wir wollen ja, daß die Dritte Welt nicht mehr hungert […]. Aber um dieses Ziel zu erreichen, wird mit einer Gesellschaft bezahlt werden müssen, die eben eine verwaltete Welt darstellt.«

Max Horkheimer schrieb dies noch ganz unter dem Eindruck des Kalten Kriegs und in antisowjetischer Absicht. Doch im Schatten des Bolschewismus sah er bereits eine neue Macht heranwachsen, die erst Jahre später die Aufmerksamkeit der Welt auf sich ziehen sollte. 1966 schrieb er: »In vieler Hinsicht scheint mir, was in China vorgeht, für die Zukunft des Westens bedeutsamer als die Vorgänge in der Sowjetunion, die ihm mehr und mehr sich angleicht.«11 Die Siegesprognose im Kalten Krieg, die er zugunsten des Ostens wagte, wäre leicht zu belächeln, wenn man den Osten mit der Sowjetunion verwechselte. Horkheimer machte diesen Fehler nicht. Er erkannte antiwestliche Strukturähnlichkeiten in beiden Formationen, die das kommende Weltzeitalter bestimmen würden: »[D]er russisch-chinesische Zwangsstaat ist ein Anfang, der das bürgerliche Selbstbewußtsein nicht in sich hat.«12 China könnte sich nun als später Vollstrecker des sowjetischen Erbes erweisen, nachdem dessen Initialmacht 1989 einen Heldentod starb. Und anders als Horkheimer prophezeite, könnte dieser Synthesestaat das »bürgerliche Selbstbewußtsein« sehr wohl in sich aufnehmen, nur packt er den Bürger beim zweckhaften Impuls des Bourgeois und nimmt dabei den freien Citoyen lediglich in verstümmelter, weil seiner Spontaneität beraubten Weise in sich auf. Heraus kommt dabei Khannas »direkte Technokratie«.

Wenn Horkheimer von der »Hölle einer chinesischen Weltherrschaft« spricht,13 dann meint er damit nicht unbedingt eine alles zerstörende Katastrophe, sondern eine stabile Barbarei der Apparate, eine Welt, in der jedes Detail unseres Lebens geregelt ist und alle Subjektivität in geschaffener, aber dennoch unverfügbarer Objektivität verschwindet. Es gibt dann kein zu entdeckendes Außen mehr, nur die Hölle der immergleichen Immanenz, und wir schweben dahin, »libellengleich durch eine ewige Gegenwart. Ohne Hast.« Horkheimers endgeschichtliche Immanenzhölle hatte wohl auch Anne Dufourmantelle vor Augen gehabt, als sie schrieb: »In der Hölle ist – oder glaubt es zumindest – jeder geschützt. Es wird keine Unordnung geduldet. Keine Abweichung, kein Zögern und keine Überraschung. Die freiwillige Knechtschaft ist Gesetz, hier herrscht Ruhe.«14 Ist dies nicht eine sehr treffende Beschreibung des chinesischen Social-Credit-Systems, das Karrieren und Reisetickets bei Nonkonformität verweigert und damit die Menschen aufs Bestehende vereidigt? Nichts ist dann noch wunderlicher und idiotischer als die Vorstellung, etwas anderes und Unbekanntes könnte sich ereignen: »Es gibt nichts zu überschreiten. Es gibt keinen anderen Raum. Die Transzendenz ist ein flockiger, beim Kontakt mit dem Kragen rasch dahinschmelzender Schnee – die reine Wirkung des Weiß.« Das alles muss gar nicht durch eine fiese Diktatur den hilflosen Massen aufgedrängt werden; sie selbst geben sich mehrheitstyrannisch dieses Gesetz: »Die Hölle wird von ihren Bewohnern selbst reguliert, ohne dass es einer Überwachung von außen bedürfte.« Parag Khanna findet das sehr demokratisch, und geht es nach ihm, dann ist diese Singapur-Demokratie das Modell für die Welt.

Preußische Synthese

Damit wird die Sache komplizierter. Denn die neumächtige Volksrepublik China ist nicht einfach die Wiederherstellung der urchinesischen Despotie, die schon am Anfang der Weltgeschichte stand, sondern die Gleichzeitigkeit von objektivem Druck und subjektivem Willen, eine freiwillige Knechtschaft, die dadurch keine mehr ist und zur Selbstherrschaftsknechtschaft wird. Bedeutet westliche Autonomie noch, dass man sich selbst zu parieren habe,15