Einhornblut und Feuerherz - Fanny Bechert - E-Book

Einhornblut und Feuerherz E-Book

Fanny Bechert

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Beschreibung

Ein verhängnisvolles Geheimnis. Ein unsterblicher Feind. Und eine Suche, die alles verändert.  Seit Amelia denken kann, war ihr das Meer verboten. Als das Tor zum Strand eines Tages offen steht, findet sie dort ein Tagebuch, das alles verändert. Ihre Mutter, die angeblich in den Fluten starb, war nicht das, was sie zu sein schien – und sie könnte noch am Leben sein, irgendwo in den Magischen Landen. Entschlossen macht Amelia sich auf die Suche und gerät in eine Welt aus Magie, Legenden und tödlichen Gefahren. Dabei ist sie nicht die Einzige, die die Vergangenheit nicht ruhen lässt. Eine dunkle Gestalt verfolgt jeden ihrer Schritte und ein brennender Bär jagt sie durch die Nacht. Um zu überleben, muss sie sich mit Valerian verbünden – einem Mann, dessen Herz so lodernd ist wie die Flammen, die Amelia fürchtet. Doch was, wenn ihr größter Feind in Wahrheit an ihrer Seite steht? 

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Einhornblut & Feuerherz

Fanny Bechert

Copyright © 2025 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Alextorat

Korrektorat: Lillith Korn

Layout Ebook: Stephan Bellem

Bildmaterial: Canva

Buchsatz: Felix Koch, Elisabeth Kirchharz & Astrid Behrendt

Umschlag- und Farbschnittdesign: Giessel Design

Bildmaterial: Shutterstock

Druck: Booksfactory

ISBN 978-3-95991-969-2

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining

im Sinne von §44b UrhG ausdrücklich vor.

Inhalt

Prolog

1. Amelia

2. Er

3. Amelia

4. Amelia

5. Amelia

6. Wenzel

7. Amelia

8. Amelia

9. Er

10. Amelia

11. Valerian

12. Amelia

13. Amelia

14. Valerian

15. Amelia

16. Amelia

17. Valerian

18. Amelia

19. Amelia

20. Valerian

21. Amelia

22. Amelia

23. Amelia

24. Valerian

25. Amelia

26. Amelia

27. Valerian

28. Amelia

29. Valerian

30. Amelia

31. Amelia

32. Valerian

33. Amelia

34. Valerian

35. Amelia

36. Eik

37. Amelia

38. Valerian

39. Amelia

40. Amelia

41. Amelia

42. Amelia

Drachenpost

Für alle, deren Kindheitshelden

sie ebenfalls nie losgelassen haben

Prolog

Das Märchen von den Brüdern, dem Einhorn und dem Bären

In einem Schloss am Meer lebten einst zwei Brüder. Sie waren Prinzen und liebten einander sehr.

Beide gingen offenen Herzens durchs Leben, was ihnen die Fähigkeit schenkte, Magie zu sehen.

Doch ihre Augen erblickten gänzlich verschiedene Dinge. Der Ältere sah nur die Gefahr: Seemonster, die Boote kenterten. Mantikore, die ganze Dörfer vernichteten. Werwölfe, die Jungfrauen mordeten. Wacker, wie es eines Prinzen gebührte, zog er aus und stellte sich ihnen, um das Land zu schützen, das einst das seine werden würde.

Der Jüngere hingegen hatte den Blick für das Schöne. Er musizierte mit Feen, spielte mit Kitzunen, flog auf Greifen über die Lande und philosophierte mit Einhörnern.

Besonders von Letzteren schwärmte er so sehr, dass es dem älteren Bruder einen Stich versetzte. Doch er war nicht fähig, diese hellen Geschöpfe zu sehen. Alles, was er in den Wäldern fand, waren die niederträchtigen Kreaturen der Dunkelheit.

Das tat dem Jüngeren leid, und so bat er eines der Einhörner, eine Gestalt anzunehmen, der auch der Ältere gewahr werden konnte.

Das Einhorn folgte seinem Wunsch. Es wandelte sich und wurde zu der schönsten Menschenfrau, die der Jüngere je gesehen hatte. Nur das wallende, silberne Haar und ein Stern auf ihrer Stirn erinnerten noch an das magische Tier, das sie einst gewesen war.

Viele Tage blieb das menschgewordene Einhorn bei den Prinzen, lebte als Prinzessin an ihrer Seite. Doch während der Jüngere sich mehr und mehr in das anmutige Geschöpf verliebte, wuchs Eifersucht in dem Älteren. Er fürchtete, den Bruder an dieses Wesen zu verlieren.

Als der Jüngere und die Prinzessin sich wahrhaftig ihre Liebe gestanden, wandelte sich die Angst des Älteren und wurde zu lodernder Wut auf die Einhörner. Da stieß er auf den Nachtmahr, eine Kreatur, die das genaue Gegenteil jener Geschöpfe verkörperte. Dieser albtraumhafte Schatten war verdorben bis in die Tiefe seiner schwarzen Gestalt und nährte sich von Zweifel, Angst und Leid.

Es gelang dem älteren Bruder, das Monster seinem Willen zu unterwerfen. Damit sein Bruder das Dunkelwesen sehen konnte, formte er aus dem schattenhaften Schemen des Nachtmahrs etwas noch Furchteinflößenderes. In Gestalt eines riesigen, flammenumgebenen Bären schickte er ihn los, das Einhorn und den Prinzen zu trennen. Er sollte miterleben, wie das Einhorn starb, als Strafe für den Schmerz, den er dem Älteren zugefügt hatte.

Der Bär ging auf die Jagd. Wochenlang trieb er die Einhörner durch die Lande, bis er das Eine entdeckte. Die Menschengestalt hatte es gut vor ihm verborgen, doch seine Instinkte erkannten, was sich hinter dem Antlitz der Prinzessin versteckte. Am Fuß des Schlosses, wo das Meer auf das Land traf, stellte er sie schließlich. Ein erbitterter Kampf begann.

Um sich zur Wehr zu setzen, nahm das Einhorn seine tierische Form an. Doch die lange Zeit in der Haut eines Menschen hatte es Kraft gekostet. Seine Magie war geschwächt und der Bär gewann die Oberhand.

Der jüngere Bruder stellte sich mit erhobenem Schwert vor sie, als der Bär zum letzten Hieb ansetzte. Bereit, sein Leben zu geben, wenn er sie damit retten konnte.

Dieser Akt der wahren Liebe gab dem Einhorn Kraft. Das Licht seines Horns überflutete den Strand und übertrug sich auf die Klinge des Prinzen.

Unter tosendem Gebrüll wich der Bär zurück, verängstigt von der Reinheit, die ihm entgegenstrahlte. Schritt um Schritt ließ er sich rückwärts treiben, hinein in die eisigen Fluten, bis das Meer ihn vollständig verschluckte.

Der ältere Bruder, der dies von den Klippen aus mit angesehen hatte, raste vor Zorn. Seine Wut übertrug sich auf die Erde, auf der er stand, ließ sie beben und schließlich brechen, sodass er ins Meer stürzte und in den tosenden Fluten den Tod fand.

Die Einhörner zollten dem Prinzen Dank. Dennoch verließen sie und alle anderen magischen Geschöpfe das Land, damit sich eine solche Geschichte niemals wiederholen würde.

Nur das Eine entschied, zu bleiben. Versteckt in Gestalt der schönen Menschenfrau lebte es an der Seite des Mannes, den es liebte. Als König und Königin des Landes versprachen sie einander die Treue, bis dass der Tod sie scheide.

Kapitel1

Amelia

Während Amelia durch die Tür der Gruft zurück in den Sonnenschein trat, wischte sie die einzelne Träne fort, die ihre Wange hinablief. Sie wollte nicht, dass ihr Vater sie bemerkte. An diesem Tag war er selbst immer nah am Wasser gebaut und brauchte ihre Stärke, um der Düsternis in seinem Herzen zu entkommen.

Eine Stärke, die Amelia nicht besaß. Eine Stärke, die er nicht von ihr hätte fordern dürfen. Denn genauso, wie er damals seine geliebte Gattin verloren hatte, hatte sie ihre Mutter verloren. Dennoch bemühte sie sich um Fassung, um ihrem geliebten Vater eine Stütze zu sein.

Nur noch schemenhaft erinnerte sie sich an die Frau, deren Porträt in den Hallen hinter ihr auf einem der steinernen Särge stand. Sie war schön gewesen, und noch heute sprach das Volk dieses Landes von der Güte und Herzlichkeit, mit der sie allen stets entgegengetreten war.

Dennoch hatte der Tod kein Erbarmen gezeigt, heute, vor dreizehn Jahren.

Ein starker Arm legte sich um ihre Schultern. »Sie wäre stolz darauf, zu sehen, was für eine anmutige junge Frau aus dir geworden ist.«

Es war derselbe Satz, den ihr Vater, König Eik, jedes Jahr an genau dieser Stelle zu ihr sagte. Dabei war er es, der sie mit Stolz betrachtete, ein Gefühl, welches er zu gern mit seiner Gattin geteilt hätte. Doch das war ihm nicht vergönnt.

»Ich werde mich ein wenig hinlegen«, sprach er weiter. »Kommst du zurecht, Liebes?« Auch das war normal. Er zog sich zurück, um dem Schmerz an diesem Tag zu erlauben, hervorzubrechen, um die nächsten dreihundertvierundsechzig Tage der starke König zu sein, den ihr Volk brauchte.

Sie nickte und trat einen Schritt von ihm weg. »Ich werde indes spazieren gehen.«

Ihr Vater hielt sie zurück und zog sie in seine Arme. »Ich liebe dich, mein Kind. Das weißt du, oder?«

»Natürlich, Papa.«

Noch einmal drückte er sie an sich, dann löste er sich und ging davon.

Amelia sah ihm hinterher. Auch sie würde an diesem Tag tun, was sie immer tat: sich einem ausgiebigen Spaziergang über das Schlossgelände widmen, bevor sie zum Bankett am Abend erscheinen musste. Obwohl sie diese Veranstaltung nur zu gern ausgelassen hätte.

Die Sonne zog ein ganzes Stück über den Himmel, während Amelia durch den Schlosspark wanderte, die Ställe besuchte und die neusten Kreationen der Gärtner begutachtete, die wahre Meister im Beschneiden der Buchsbaumbüsche waren.

Schließlich erreichte sie die südliche Mauer, welche das Schlossgelände vom angrenzenden Meer trennte. Dort ließ sie sich auf einer Bank nieder, schloss die Augen und gab sich ganz dem Rauschen hin, das über die Steinwand hinweg an ihre Ohren drang. Ihr Geist malte ein Bild von rasenden Wellen und tanzender Gischt, welche sie so oft von ihrem Balkon aus beobachtete. Leise summend stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn sie im feuchten Sand am Ufer stehen würde. Wie es sich anfühlen würde, wenn das kühle Nass ihre nackten Füße umspülte.

Aber das würde ihr niemals vergönnt sein. Es gab nicht viele Regeln, die im Palast galten. Doch die Wichtigste war, dass das Tor, welches das Schlossgelände mit dem Strand verband, stets geschlossen zu sein hatte. Und selbst wenn dem einmal nicht so sein sollte – was noch nie vorgekommen war – hatte ihr Vater ihr strengstens untersagt, hindurchzutreten. Sie konnte in der Kutsche durch die umliegenden Wälder fahren, in Begleitung der Schlosswache die angrenzende Stadt besuchen – aber der Strand war tabu.

Sie verstand den Grund für dieses Verbot, denn ihre Mutter war in den Fluten umgekommen und ihr Vater wollte um jeden Preis vermeiden, dass sie das gleiche Schicksal ereilte. Es verletzte sie, niemals den Ort betreten zu können, an dem ihre Mutter zuletzt auf Erden gewandelt war. Aber das nahm er in Kauf, wenn sie damit in Sicherheit war.

Amelia erhob sich und ging weiter. Dabei strich sie mit der Hand über das Gestein der Mauer und wünschte sich, es würde sich einfach in Luft auflösen.

Es war nicht nur die Sehnsucht, sich ihrer Mutter näher zu fühlen. Es war der Reiz des Meeres, die magische Anziehung der tanzenden Fluten, die dahinter auf sie warteten. Sie riefen regelrecht nach ihr und schienen mit der gleichen Enttäuschung über die Trennung angefüllt zu sein wie sie selbst.

Obwohl sie bereits wusste, dass sie auch heute keinen Erfolg haben würde, trugen ihre Füße sie zu dem Tor. Doch kaum fiel ihr Blick auf die gusseisernen Stangen, blieb Amelia wie angewurzelt stehen. Es war nicht versperrt, ja nicht einmal geschlossen. Es war angelehnt, als wäre vor wenigen Wimpernschlägen jemand hindurchgeschritten.

Sofort wurden Amelias Handflächen feucht und ihr Herz schlug schneller. Dreizehn Jahre hatte sie fast jeden Tag an der Klinke gerüttelt – ohne Erfolg. Und nun stand das Tor einfach offen.

Hatte ihr Vater seine Pläne geändert und war ans Meer gegangen?

Nein, das war unmöglich. So wie sie seine Gewohnheiten kannte, wusste er auch um ihre. Selbst wenn er dort unten war, hätte er das Tor hinter sich zugezogen. Ganz abgesehen davon, dass er niemals ans Wasser ging – zu sehr fürchtete er diesen Ort.

Wer sonst konnte es aufgesperrt haben?

Amelia blinzelte, schüttelte den Kopf und versuchte, ruhig zu atmen. Ihr ganzer Körper vibrierte, als sie begriff, welche Chance sich ihr bot. Ohne zu zögern, setzte sie sich wieder in Bewegung, ging auf das Tor zu und schritt hindurch.

Mit einem leisen Quietschen schloss sie es hinter sich, achtete jedoch darauf, dass sie es dabei nicht verriegelte. Sie wollte nicht jahrelang auf diesen Moment gewartet haben, um dann am Strand gefangen zu sein. Schließlich musste ihr Besuch ein Geheimnis bleiben, wenn sie sich keinen Ärger einhandeln wollte.

Beinahe andächtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Als sie das Ende des Grasstreifens erreicht hatte, der den Sand von der Mauer trennte, zog sie Schuhe und Strümpfe aus und spürte mit dem nächsten Schritt endlich das, nachdem sie sich so lange gesehnt hatte.

Es war ein unbeschreibliches Gefühl, wie sich die feuchten Sandkörner zwischen ihre Zehen drückten. Schritt um Schritt ging sie voran, warf einen kurzen Blick zurück auf die Abdrücke, die jeder davon hinterließ und blickte dann erneut nach vorn auf die Gischt.

Das Meer war in Aufruhr. Glitzernder Schaum tanzte auf den Wellen, die sich ans Ufer warfen und gleich darauf zurückzogen.

Unbewegt stand Amelia da und betrachtete gedankenverloren das Spiel. Es gab so vieles zu entdecken, das ihren Augen von dem weit entfernten Balkon aus verwehrt geblieben war. Kleine Muscheln, funkelnde Steine, zappelnde Krabben und grüner Tang, der sich wie das Haar von Meerjungfrauen kräuselte. In einem unendlichen Taumel wurden all diese Dinge angespült, gaben dem Ufer einen kurzen Kuss, nur um dann mit der nächsten Welle wieder in die Tiefen des Meeres gezogen zu werden.

Amelia faltete die Hände vor der Brust. Ihre türkisblauen Augen waren weit aufgerissen und ihr Mund zu einem stummen Aufschrei der Verzückung geöffnet.

Es gab nur eines, was noch schöner sein konnte als dieser Anblick, nämlich die wogenden Fluten nicht nur zu sehen, sondern zu spüren.

Dennoch zögerte sie. Bei all dem Zauber, der das Meer umgab, durfte sie nicht vergessen, wie tückisch es sein konnte. Schließlich hatte es ihr die Mutter genommen. Aber was konnte schon passieren, wenn sie nur so weit heranging, dass geradeso ihre Zehen nass werden würden?

Andächtig schritt sie darauf zu, bis die erste Welle sie an der großen Zehe kitzelte.

Nun konnte sie ein freudiges Jauchzen nicht mehr unterdrücken. Das Gefühl, als das Wasser ihre Füße vollständig umspülte, war sagenhaft. Sie verstand jetzt, warum es ihre Mutter immer wieder hierhergezogen hatte.

Tief sog sie das salzige Aroma ein, bis sie es nicht nur riechen, sondern auf der Zunge schmecken konnte. Dabei hielt sie den Blick gesenkt und beobachtete, wie sie jedes Mal ein Stück tiefer in den Sand einsank, wenn sich eine Welle zurückzog.

Vorsichtig lugte sie über die Schulter zur Mauer. Das Tor war weiterhin angelehnt und weder Wachen noch ihr Vater waren in Sicht.

Aber etwas anderes erregte ihre Aufmerksamkeit. Einige Meter vom Ufer entfernt lag etwas am Rande des Grasstreifens. Es war kantig, etwa doppelt so groß wie ihre Hand und von brauner Färbung – jedoch eindeutig nicht aus Holz. Was konnte das sein?

Schnell ging sie zu der Stelle und bückte sich. Verblüfft strich sie den Sand zur Seite, der das Objekt größtenteils bedeckte.

»Wie zum Henker kommt ein Buch an diesen Ort?«

Der Einband war vom Sand aufgerieben, den der Seewind darüber getrieben hatte. Dadurch war unkenntlich, um was für ein Buch es sich handelte.

Umso größer war die Überraschung, als Amelia es aufschlug und die handbeschriebenen, vergilbten Seiten erblickte. Die Schrift war geschwungen und verspielt, eindeutig die einer Frau.

Ihr Herz klopfte schneller, als ihre Lippen halblaute Worte verließen.

»Eik sah schön aus, in seiner neuen Uniform, die er sich für diesen Besuch hatte anfertigen lassen.«

Sie hielt kurz inne. »Ein Tagebuch«, wisperte sie ehrfürchtig, ehe sie weiterlas.

Und auch ihm gefiel meine Garderobe mehr als gut, wie er mich immer wieder mit seinen Blicken wissen ließ. Dennoch tröstete das nicht über die ermüdende Gesellschaft des Fürsten und seiner Gattin hinweg, für die Eik dieses Bankett veranstaltete. Den Gesprächen fehlte der Tiefgang, den witzigen Bemerkungen jeglicher Humor.

Vermutlich wäre ich vor Langeweile gestorben, hätten uns Wenzel und Milda nicht die Ehre gegeben. Die Zaubereien unseres Freundes heiterten meine Stimmung auf und mit Milda konnte ich endlich eine geistreiche Unterhaltung führen.

In diesem Moment wusste Amelia, wessen Memoiren sie in den Händen hielt. Sie begann zu zittern und gleichzeitig zu schwitzen und zu frieren.

Als sie zum Ende des Eintrags blätterte, erhielt sie Gewissheit. Er war unterzeichnet mit Lady Theresa.

Hastig schlug sie das Buch zu und presste es an ihre Brust. Ihr Kopf schwirrte und ihr Atem ging schneller. Sie hielt tatsächlich das Tagebuch ihrer Mutter in den Armen. Was für ein unfassbarer Zufall, dass sie es gefunden hatte!

So verbunden hatte Amelia sich ihr seit deren Tod nicht mehr gefühlt. Am liebsten hätte sie sofort weitergelesen. Doch sie mahnte sich zur Geduld, denn sie musste zurück. Sie hatte ihr Glück, sich unbemerkt am verbotenen Strand aufzuhalten, weit genug ausgereizt.

In aller Eile richtete sie sich auf und lief auf die Mauer zu. Kurz bevor sie den Durchlass erreichte, fielen ihr die Schuhe und Strümpfe ein. Sie kehrte noch einmal um, schnappte sich im Laufen ihre Sachen und schlüpfte im nächsten Moment durch das Tor. Es fiel achtlos hinter ihr ins Schloss.

Barfuß und mit Sand zwischen den Zehen rannte sie weiter. Sie konnte es kaum erwarten, in ihre Gemächer zu kommen und einen näheren Blick in ihren gefundenen Schatz zu werfen.

Kapitel2

Er

Sieh sie dir an, mein alter Freund«, raunte der Mann, dessen Schemen neben ihm in den Wellen schwebte. »Sie sieht wirklich aus wie ihre Mutter. Nun, mit ihren siebzehn Jahren ist sie eben fast schon eine Frau.«

Die durchscheinenden Finger des Geistes liebkosten sein schwarzes Fell, obwohl sie es nicht wirklich fassen konnten. Es steckte keine Liebe in der Berührung, es war mehr eine Geste des Besitzes.

Der Bär schnaubte. Auch sein Körper trieb auf und ab, während er den Blick fest auf das Ufer gerichtet hielt. Längst waren die Flammen erloschen, die einst auf seinem Pelz gezüngelt hatten, doch tief in seiner Seele brannte das Feuer heißer denn je.

»Hab noch ein wenig Geduld. Unsere Zeit naht, jetzt, wo sie die Spur ihrer Mutter aufgenommen hat. Nicht mehr lange und sie wird der Fährte folgen, die wir gelegt haben. Und dann …« Isger ließ den Satz unvollendet. Der Bär wusste, wie die Pläne des toten Prinzen aussahen. Er spürte sie, so wie er dessen Wünsche immer gespürt hatte.

Und er würde diesen Folge leisten.

In all den Jahren der Gefangenschaft waren die Rachegelüste seines Herrn ins Unermessliche gestiegen und auch zu seinem eigenen Antrieb geworden. Er kannte nur ein Ziel: Das Eine zu finden, welches sie zu diesem unendlichen Leiden in den Fluten verdammt hatte, und Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

Und das Mädchen würde eine entscheidende Schlüsselfigur sein.

»Bald, mein treuer Gefährte … bald«, raunte Isger noch einmal. Dann verschwand seine Gestalt, verblasste zu dem Nebel, der er war, und wurde vom Meer davongetragen.

Kapitel3

Amelia

Viel zu energisch stieß Amelia die Tür zu König Eiks Schlafgemach auf, sodass sie lautstark gegen die Wand donnerte.

»Ist es wahr?«

Verwirrt hob der König den Kopf. Er lag auf dem Kanapee, welches vor dem großen Fenster mit Meerblick positioniert war. Seine Augen waren leicht gerötet. Ob von Tränen oder Schlaf war ihr gerade egal, denn ihre eigenen Wangen waren ebenfalls tränennass. Ihr Atem ging in kurzen Stößen und ihr langes rosa Haar hing ihr wirr über die Schultern. Die Arme hielt sie vor der Brust gekreuzt, den heiligen Gegenstand fest an sich gepresst.

Mit schnellen Schritten durchquerte sie das Zimmer. »Stimmt es, was hier drinsteht?«

Eiks Blick huschte über ihr Gesicht, dann hinab zu dem Buch und wieder zurück zu ihren Augen. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst, mein Kind.«

Amelia gab ein Geräusch von sich, halb Schluchzen, halb Schluckauf. Dann streckte sie ihrem Vater das Tagebuch entgegen. »Meine Mutter war nicht gemütskrank«, konfrontierte sie ihn mit dem, was sie gelesen hatte. »Sie war einsam. Und eine Gefangene dieses Schlosses. Und … und …« Sie schaffte es einfach nicht, mehr über die Lippen zu bringen. Jene Informationen, die so abstrus und unvorstellbar waren, von deren Wahrheit Amelias Herz jedoch überzeugt war.

Eik wischte sich müde über das Gesicht. Dann nahm er das Tagebuch entgegen und schlug es auf, nur um es in dem Moment, in dem er die Schrift erblickte, wieder zuzuschlagen. Seine Lippen zuckten und ein feuchter Glanz trat in seine Augen.

»Es ist wirklich von Mutter«, schlussfolgerte Amelia, als sie den Schmerz im Gesicht ihres Vaters sah. Sie machte einen Schritt zurück und schlug eine Hand vor den Mund.

»Woher hast du das?«, fragte der König, doch sie blieb stumm. Gelähmt von den Ereignissen. Als sie nicht antwortete, wurde sein Ton strenger. »Woher?«

Amelia schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht glauben. Du hast mich belogen. Mein Leben lang! Diese Zeilen machen deutlich, dass weder Leichtsinn noch Depressionen meine Mutter in die Fluten zogen. Ganz im Gegenteil, sie plante wegzugehen!«

»Deine Mutter war verwirrt. Ertrunken ist sie vielleicht nicht, nein. Aber sie … Sie hat uns verlassen, von heute auf morgen«, platzte es aus ihrem Vater heraus. Seine Stimme bebte. Es war ihm anzumerken, wie sehr er unter der Erinnerung litt, die ihn gerade überfiel. »Sie war einfach fort. Ihr Tod hätte nicht schlimmer sein können. Es fühlte sich genauso an – als wäre sie gestorben.«

Amelias Finger begannen zu zittern, als die erste Träne über die Wange ihres Vaters rollte.

»Ich habe gedacht, so ist es leichter. Für uns beide«, erklärte er, jetzt nicht mehr laut, sondern aller Kraft beraubt. Er musste sich an der Kante des Kanapees abstützen, um sich hochzuhieven. Mit wackeligen Knien überwand er den Schritt, der sie voneinander trennte. »Ich habe nicht gewusst, wie ich es dir erklären soll.«

Sie hob abwehrend die Hände, als er sie in seine Arme schließen wollte.

»Darin steht noch mehr.« Sie musste es aussprechen, musste wissen, wie viel Wahrheit in den Zeilen verborgen war. »Sie schrieb, sie gehöre nicht zu uns. Sie ertrug die Hülle nicht mehr, in der sie sich versteckte. Sie wollte wieder sein, wer sie wirklich war.« Amelia schluckte. »Ein Einhorn.«

Die Augen ihres Vaters weiteten sich, jedoch nur für einen Moment. »Ein Einhorn?« Er stieß ein schnaubendes Lachen aus. Weder klang es glaubhaft, noch passte es zu seiner betroffenen Miene. »Verrückt.« Er wandte sich von ihr ab und durchquerte das Zimmer. »Deine Mutter war krank, Amelia. Sie war verrückt und ihr Wahn hat sie schließlich von uns fortgetrieben. Und das hier«, er wedelte mit dem Buch in der Luft, »ist der Beweis. Wo auch immer sie hingegangen sein mag – für uns ist sie gestorben.« Während er sprach, ging er zum Kamin.

»Nein«, stieß Amelia aus, als sie erkannte, was er vorhatte. Aber es war zu spät.

Mit nahezu andächtiger Langsamkeit schwenkte Eik das Tagebuch in Richtung der Flammen und warf es hinein. »Ich werde nicht zulassen, dass sich irgendwelche fixen Ideen in deinem Kopf festsetzen. Ich werde nicht auch noch meine Tochter verlieren.«

»Nein!«, rief sie erneut und stürzte nach vorn. Doch ihr Vater hielt sie auf, ehe sie den Kamin erreichte.

Gewaltsam zog er sie an sich und schlang die Arme um ihren zarten Körper. »Es gibt keine Einhörner, hast du mich verstanden«, wisperte er ihr ins Ohr, als sie hemmungslos zu weinen begann.

Auch seine Stimme bebte und war kraftlos, als würde ihm jedes Wort unendlichen Schmerz bereiten. Als würde er wider besseres Wissen leugnen. Etwas, das ihm wichtig war.

Noch immer streckte sie die Hand in Richtung der Flammen, konnte ihre Hitze an den Fingerkuppen spüren. Dann vergrub sie den Kopf an der Brust ihres Vaters. So wütend sie auf ihn war, sie konnte nicht mit ansehen, wie die einzige Erinnerung an ihre Mutter verbrannte.

»Vergiss, was du gelesen hast. Deine Mutter ist nicht mehr hier. Aber du und ich, wir sind es. Und wir bleiben zusammen. Versprich mir das. Wir geben uns Halt, wir stärken uns, wir sind füreinander da.« Er wiegte sie wie ein kleines Kind, das Trost suchte. »Ich liebe dich über alles. Und egal, was ich tue, es geschieht nur zu deinem Besten.«

Sie war zu keiner Antwort fähig, so sehr schnürten ihr die Tränen die Kehle zu.

König Eik löste die Umarmung, um ihr ins Gesicht sehen zu können. »Versprich es mir, Tochter. Lass das Gedenken an deine Mutter ruhen. Akzeptiere, dass sie nicht mehr bei uns ist, und lebe wie zuvor.« Er blickte ihr tief in die Augen, schien in ihnen lesen zu wollen. »Und bitte«, fügte er an, »verschwende keinen Gedanken daran, nach ihr zu suchen. Selbst wenn sie nicht bei uns war, als sie starb, würdest du dennoch nur ihr Grab finden. Wäre es anders, wäre sie zurückgekommen, davon bin ich überzeugt. Und um zu trauern, bedarf es keiner Knochen, nur der Erinnerung.«

Amelia presste die Lippen zusammen. Dennoch rang sie sich widerstrebend ein Nicken ab.

»Sag es«, forderte er, die Stimme voll von Sorge und Angst um seine Tochter. »Ich muss es hören.«

Abermals schluckte sie. »Ich verspreche es«, flüsterte sie mit kratziger Stimme.

Eik lächelte voller Erleichterung. »Ich danke dir, meine Kleine.« Er schloss erneut die Arme um sie. »Ich fordere das nicht, um dich zu bestrafen. Das weißt du, oder? Ich will dich nur beschützen. Ich kann dich nicht auch noch verlieren.« Dann gab er ihr einen Kuss auf die Stirn.

Die Berührung seiner Lippen weckte eine längst vergessene Erinnerung an ihre Mutter, an eine Geschichte zur einbrechenden Nacht und an eine Narbe, von der ihre Mutter behauptet hatte, sie einem Sturz zu verdanken. Die in der Geschichte jedoch einst das Horn eines Einhorns gewesen war.

In diesem Moment wurde Amelia klar, dass sie ihr Versprechen nicht halten würde.

Kapitel4

Amelia

In den vergangenen Jahren vermochte es ein abendliches Fest immer, die Stimmung der Königsfamilie zu heben – selbst am Todestag der Königin. Sie genossen das Mahl, applaudierten den geladenen Künstlern und manchmal schlossen sie sich sogar den Tanzenden an, wenn die Musik aufspielte.

An diesem Abend saß der König jedoch steif auf seinem Thron und betrachtete das Treiben, während Amelia mit ausdruckslosem Gesicht neben ihm ausharrte.

Zurzeit gastierte ein Zirkus in ihren Landen. Eik hielt es für eine gute Idee, dessen Gaukler, Artisten und Dompteure an diesem bedrückenden Tag ins Schloss zu bitten. Jede Aufmunterung würde willkommen sein.

Doch ihr Vater wirkte wenig beeindruckt, als nun ein dicker Kerl in die Mitte des Saales trat und eine Kuriosität nach der anderen präsentierte. Eine Meerjungfrau wurde in einem Bassin hereingefahren. Ein Affe mit sechs Armen jonglierte. Eine Frau, klein wie ein Kind, tanzte und turnte mit einem Mann, groß wie ein Riese.

Amelia beobachtete alles mit Interesse, erkannte jedoch schnell, dass diesen Wesen keine echte Magie innewohnte.

Die Meerjungfrau nuckelte beim Tauchen immer wieder an einem luftgefüllten Ballon. Der Affe verlor beinahe einen seiner angeschnallten Arme und Zwergin und Riese wirkten auch nur derart größenverändert, wenn sie direkt nebeneinanderstanden.

Früher, so erzählte man sich, waren diese Wesen wirklich durch ihre Lande gezogen und manchmal hatten sie sogar Freundschaft mit den Menschen geschlossen. Auch Zauberer und Hexen waren keine Seltenheit gewesen.

Amelias Herz schlug schneller. All das war noch vor ihrer Geburt gewesen und sie hatte es immer als Mythos abgetan – was die alberne Vorstellung der Zirkusleute eigentlich bestätigte. Die Worte im Tagebuch ihrer Mutter bewiesen hingegen, wie wahr die Geschichten waren, die sie ihr beim Zubettgehen stets erzählt hatte.

Als nun auch noch ein Schimmel mit einem gefälschten Horn auf der Stirn hereingeführt wurde, sah sie zu ihrem Vater. Sie suchte in seinem Gesicht nach einem Zeichen, einer Erinnerung an ein echtes Einhorn, das er gekannt hatte.

Eik griff sich tatsächlich an den Kopf und gab ein leises Seufzen von sich. Sein Blick huschte zu ihr, richtete sich aber direkt wieder nach vorn.

Nein, dies war keine Miene der Erinnerung, es waren Sorgenfalten, die er von seiner Stirn zu wischen versuchte. Schließlich hatte er ihr vorhin erklärt, derartige Fabelwesen gäbe es nicht und nun liefen sie in seinem Schloss umher, wenn auch nur als primitive Imitation.

Enttäuscht sah Amelia wieder zu der Vorführung und schenkte ihre Aufmerksamkeit allein dem fingierten Einhorn. Sie versuchte, sich vorzustellen, dass ihre Mutter auch einmal so ausgesehen hatte, scheiterte aber kläglich.

Es ist ein wunderschöner Schimmel, ohne Frage, ging es Amelia durch den Kopf. Doch das Horn ist so echt wie die Liebe meines Vaters.

Sie wandte den Blick ab. Hatte sie das gerade wirklich gedacht? Welch Unsinn! Nur weil ihr Vater ihr etwas vorenthalten hatte, bedeutete das nicht, dass er sie nicht liebte. Im Gegenteil, sie verstand, dass es gerade die Gefühle für seine Tochter waren, die ihn zu der Lüge getrieben hatten. Dennoch hatte er sie damit tief verletzt.

Ihre Züge glätteten sich, während ihre Vernunft die Enttäuschung vertrieb. Pflichtbewusst applaudierte sie, als die Zirkusmenschen sich ein letztes Mal verbeugten und den Saal verließen. Doch noch ehe sich die Türen hinter ihnen schlossen, schlüpften zwei Gestalten in den Festsaal, welche die Stimmung des Königs hoben.

»Wenzel und Milda!« Er stand auf und streckte die Arme zur Seite, als wollte er die alten Freunde ans Herz drücken. »Wie schön, euch zu sehen.«

Die beiden blieben vor dem Thron stehen, verneigten sich in Eiks Richtung und nickten dann seiner Tochter zu, ganz wie es die Etikette verlangte. Dabei galten solche Regeln für die beiden nicht. Wenzel, seiner Zunft her Zauberer, war der beste Freund ihres Vaters. Und seine Frau Amelias Amme, die sich in späteren Jahren immer bemüht hatte, ihr eine genauso gute Freundin zu sein, wie sie es einst für Königin Theresa gewesen war.

Noch ehe Wenzel das erste Wort an den König gerichtet hatte, begann er mit seiner Vorführung. Er war ein begnadeter Zauberer, seine Illusionen wirkten wie echte Magie. Und tatsächlich schaffte er es, den König damit aus seiner grüblerischen Verfassung zu locken.

Amelia hingegen schnürte der Gedanke, dass dieser Mann sie genauso belogen haben könnte wie ihr Vater, den Brustkorb zu. Denn glaubte sie den Worten ihrer Mutter, waren seine Kunststücke keine perfekten Täuschungen, sondern echte Zauberei.

Ihre Mutter … Auch sie hatte einst hier gesessen und dem Zauberer zugesehen.

Sofort wurden ihre Augen feucht. Gleichzeitig presste sie die Kiefer aufeinander. Sie konnte einfach nicht glauben, dass die Dinge, die ihre Mutter beschrieben hatte, nur Hirngespinste waren. Sie fühlte, dass da mehr war …

Während Wenzel mit blauem Feuer kunstvolle Bilder an die Decke der Halle zeichnete, kam Milda zu ihr und setzte sich neben sie auf einen kleinen Schemel, den einer der Bediensteten brachte.

Sie ergriff Amelias Hand und lächelte ihr aufmunternd zu. »Du siehst betrübt aus, Schätzchen. Kein guter Tag?«

Amelia atmete tief durch. »Wie könnte er das sein …«, gab sie leise zurück, was Milda ein mitleidiges Nicken entlockte. Ihre krausen graublonden Locken wippten dabei. Dann kräuselte sich ihre Stirn. »Es liegt nicht an dem heutigen Datum, oder? Dich bedrückt etwas anderes.«

Amelia zuckte mit den Schultern.

»Nun komm, Kleines. Du kannst dich der alten Milda anvertrauen, das weißt du.« Sie lächelte so einnehmend, dass sich viele kleine Falten in ihrem Gesicht zeigten.

Es wärmte Amelias Herz, in die braunen, warmen Augen zu schauen. Augen, die ihre Mutter gesehen hatten, so wie sie gewesen war. Vor Milda und Wenzel hielt das Königshaus keine Geheimnisse. So eng, wie die Freundschaft zwischen den Männern heute war, war sie einst auch zwischen den Frauen gewesen.

»Du hast meine Mutter gut gekannt, Milda.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Du warst Bedienstete, als sie an dieses Schloss gekommen ist.«

Milda seufzte leise. »Ja, Schätzchen. Deine Mutter und mich verbindet eine lange Geschichte.«

»Dann kanntest du sie schon …« Amelia blickte kurz zu ihrem Vater, um sich zu vergewissern, dass seine Aufmerksamkeit einzig Wenzel gehörte. Mit gesenkter Stimme beendete sie: »… bevor sie zu einem Menschen wurde?«

Ihr Herz raste, als sie die Veränderung in Mildas Gesicht beobachtete. Mit einem Schlag verschwand der liebevolle Ausdruck und wich einer Verblüffung, die mit einem tiefen Schmerz gespickt war.

Dann fasste die ältere Frau sich und setzte eine fragende Miene auf. »Was meinst du damit?«

Amelia drehte sich zu ihr und packte ihre Hände. »Ich kenne die Wahrheit«, flüsterte sie, auch wenn sie immer noch Zweifel an den Worten ihrer Mutter hatte. Doch sollten sie stimmen, und wollte sie Milda dazu bringen, das zu bestätigen, musste sie es als unumstößlich vorbringen. »Ich habe ihr Tagebuch gefunden. Ich weiß, dass sie nicht gestorben, sondern fortgelaufen ist. Und dass sie ein Einhorn war.« Dieses Mal kamen ihr die Worte deutlich leichter über die Lippen als bei ihrem Vater. Vermutlich, weil sie mit jedem Mal realer wurden.

»Ihr … Tagebuch?«, stammelte Milda und blickte sie erschrocken an. »Woher hast du das?«

Amelias Augen wurden groß. Dass Milda nicht ihren Verstand anzweifelte oder sie auslachte, sondern sich zuerst nach dem Fundort erkundigte, konnte nur eines bedeuten.

»Es ist wirklich wahr«, stieß sie hervor.

Milda kniff irritiert die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Nein, das … kann nicht sein.« Sie drückte Amelias Hände fester. »Liebling, wo hast du dieses Tagebuch gefunden?«

»Am Strand«, sagte sie schnell. »Und es ist ganz bestimmt das ihre. Vater hat es bestätigt, er …«

»Du bist am Strand gewesen?« Milda richtete sich kerzengerade auf. »Das ist dir verboten, das weißt du.« Sie schien erschüttert, geradezu verängstigt.

»Ja, ich weiß«, gab Amelia zu. »Auch, wenn ich nicht verstehe, warum. Aber Milda – wenn es tatsächlich stimmt, was ich gelesen habe … Dann war meine Mutter nicht geisteskrank und …« Als sie diesen Satz aussprach, merkte sie, was sie in Wirklichkeit bewegte. Sicher war es eine absolut atemberaubende Vorstellung, dass ihre Mutter einst ein Einhorn gewesen war und demnach auch in ihren eigenen Adern fantastisches Blut floss. Doch es war das Wissen, dass ihre Mutter noch am Leben sein konnte, was ebenjenes in Wallung brachte.

Milda war anzusehen, welch inneren Kampf sie ausfocht. Tränen stiegen ihr in die Augen, als Amelias Worte Bilder der Vergangenheit in ihrem Kopf heraufbeschworen. Gleichzeitig zeichneten sich Sorgenfalten in ihrem Gesicht ab.

Amelia hielt den Atem an. Würde Milda alles abstreiten und es als Hirngespinst abtun wie ihr Vater?

Aber sie sah ihr an, dass mehr dahintersteckte. Dass sie Milda etwas offenbart hatte, was diese seit Jahren zu verdrängen versuchte. Oder irrte sie sich?

»Amelia, Schätzchen.« Milda löste eine ihrer Hände von Amelias und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Vergiss, was du gelesen hast. Bitte.«

»Aber Vater hat es bestätigt. Er hat selbst gesagt, dass sie vor dreizehn Jahren nicht starb, sondern …«

Mildas Blick glitt zu dem König. Mitleid lag darin. »Was auch immer damals geschehen ist, es hat deinem Vater das Herz gebrochen. Zwinge ihn nicht, es abermals zu durchleben.« Dann sah sie erneut die Prinzessin an. »Vertrau ihm. Was er auch tut, es geschieht nur, um dich zu beschützen.« Sie presste die Lippen zusammen, als würde sie eine Entscheidung treffen, die ihr sichtlich schwerfiel. Dann ließ sie Amelias Hände los, erhob sich und trat zu dem König.

Amelia folgte ihr mit dem Blick, heftete ihn an Mildas Lippen und versuchte abzulesen, was diese König Eik ins Ohr flüsterten.

Noch bevor er sich zu ihr umwandte, wusste, sie, dass Milda sie verraten hatte.

»Du hast das Buch am Strand gefunden. Am Strand! Wie konntest du meine Anordnung derart missachten?«, fuhr ihr Vater sie an, kaum, dass der Festsaal sich geleert hatte.

Nur Wenzel, Milda und ein paar Wachen waren noch anwesend.

»Und wer von euch war so töricht, das Tor offen zu lassen? Ich habe mich klar ausgedrückt, als ich anwies, es stets verschlossen zu halten!«

»Mit Verlaub«, meldete sich der Zauberer zu Wort. »Du bist der Einzige, der einen Schlüssel besitzt. Sicher, meine Magie kennt keine Grenzen. Aber du weißt, dass ich Amelia nie dieser Gefahr aussetzen würde.«

»Und doch hat irgendjemand das Tor geöffnet. Nicht auszudenken, was hätte passieren können.«

»Als ob mich sofort die Fluten packen würden, wenn ich auch nur einen Fuß auf den Sand setze«, platzte es aus Amelia heraus. Sie wusste genau, welche Bilder ihm durch den Kopf spukten. Dabei war seine Angst, sie könnte ertrinken, so übertrieben.

»Packen ist das richtige Wort«, murmelte Eik so leise, dass sie ihn kaum verstand.

»Das Meer ist wunderschön, Vater«, versuchte sie, seine Sorgen zu zerstreuen. »Der Klang, der Geruch, der Anblick. Wie sollte etwas so Wunderschönes gefährlich sein? Außerdem hat es mir einen Teil meiner Mutter zurückgebracht.«

»Fang nicht wieder damit an.« Der König ließ den Blick über die Verbliebenen schweifen, als wäre er auf der Suche nach jemandem, dem er die Schuld an dem ganzen Chaos geben konnte. Doch dann sanken seine Schultern resigniert nach unten.

»Den heutigen Tag hat es niemals gegeben«, beschloss er und ließ sich in seinen Thron fallen. »Deine Mutter, Amelia, ist und bleibt tot.« Er hob die Hand, als sie etwas erwidern wollte. »Du bist nie am Meer gewesen und wirst es nie wieder sein. Konstantin …« Er winkte den Obersten seiner Wächter heran. »Ab heute steht das Tor unter dauernder Bewachung. Genauso wie die Prinzessin.«

»Jawohl, mein König.« Konstantin schlug die Fersen zusammen, dann trat er ab.

»Du kannst nicht verlangen, dass ich weiterhin an deine Lüge glaube«, brüllte Amelia. »Du kannst mich nicht zwingen, zu vergessen, was ich gelesen habe. Was du mir gesagt hast!«

König Eik atmete durch. »Doch, das kann ich. Wenzel!« Er sah seine Tochter nicht an, während er den Zauberer heranwinkte.

Dieser zögerte und tauschte einen Blick mit Milda, die mit dem Kopf schüttelte.

»Bitte, alter Freund«, flehte der König.

Der Schmerz in seiner Stimme schnitt Amelia ins Herz. Dennoch trat sie einen Schritt zurück, weg von dem Zauberer, der sie mit Bedauern in den Augen ansah.

Schnell wirbelte sie herum und rannte los, auf den Ausgang des Festsaales zu.

Hinter sich hörte sie die Worte des Zauberers. »Macht der Magie, nimm deinen Lauf …«

Dann wurde alles dunkel.

Kapitel5

Amelia

Prinzessin, seid Ihr so weit?«, drang die Stimme des Wächters dumpf vom Flur herein.

Amelia stand an der geöffneten Tür zu ihrem Balkon und hielt die Augen auf das Meer gerichtet. Seit einigen Tagen war es besonders aufgewühlt. Stünde sie am Ufer, würden die Wellen sie um mehrere Fuß überragen.

Sie seufzte. Was für eine törichte Vorstellung. Ihr Vater hielt das Tor zum Meer stets verschlossen und seit dem letzten Todestag ihrer Mutter hatte er sogar Wachen davor postiert. Als ob er Angst hatte, dass die ungestüme See unerlaubt ins Schloss schlüpfen könnte.

Nun, anders als sie selbst könnte das Wasser tatsächlich einfach durch die Gitter spülen. Die Wellen waren jedenfalls fast hoch genug.

Es klopfte, doch Amelia nahm es kaum wahr. Wie gebannt starrte sie in die Fluten. Dabei waren es nicht die tanzenden Schaumkronen, die ihre Aufmerksamkeit festhielten. Da war etwas anderes, ein Schimmern … Oder nein, eher ein Leuchten, ein rotes Glühen. Jedes Mal, wenn sie in die tobenden Wellen schaute, entdeckte sie es, mal etwas weiter rechts, mal links, in ständiger Bewegung. Als würde hinter der Wasserwand ein Fackelträger auf- und ablaufen.

Sie wischte sich über die müden Augen. Es war ein Trugbild, heraufbeschworen von dem wirren Traum, der sie in den letzten Nächten ständig heimsuchte.

Oder?

»Prinzessin?« Wieder erklang das Klopfen.

Amelia zuckte zusammen und drehte sich zur Tür. »Ja, bitte?«

Nun steckte der Wächter den Kopf herein. »Die Kutsche wartet.«

»Sicher …« Sie warf erneut einen Blick nach draußen. Und wieder war es, als triebe Feuer durch die Fluten. »Ähm, Domian …« Sie sah den Wächter an. »Kommt doch bitte kurz zu mir.«

Der Wächter nickte und betrat ihr Schlafgemach. Als er vor ihr stand, deutete sie nach draußen. »Was seht Ihr da?«

Der Wächter zog die Brauen zusammen. »Das Meer, Eure Hoheit.«

»Und was noch?«

Sein Blick flog zwischen dem ihren und der Weite hin und her, während er mit Daumen und Zeigefinger über seinen Schnauzbart strich. »Wolken?«, riet er. »Befürchtet Ihr Regen, Hoheit? Möchtet Ihr den Ausflug absagen?«

Sie griff nach seinem Oberarm und zog ihn ein Stück zu sich. »Ich meine die Wellen, Domian. Fällt Euch an den Wellen etwas auf?«

Er bemühte sich sichtlich um einen konzentrierten Gesichtsausdruck. »Sie … sind sehr hoch«, meinte er zögerlich. »Aber sorgt Euch nicht, sie …«

»Schon gut«, unterbrach sie ihn, während sie selbst noch immer das rote Glühen fixierte. Nur mit Mühe konnte sie sich abwenden, um den alten Reiseumhang ihrer Mutter überzuwerfen, den eine Zofe für sie bereitgelegt hatte. »Gehen wir.«

Der Wächter sah sie irritiert an. Dann nahm er Haltung an. »Jawohl, Eure Hoheit.«

Als sie die Hütte von Wenzel und Milda erreichten, hatte die Sonne bereits ihren Zenit überschritten.

Amelia dankte dem Kutscher, der weiterzog, um Besorgungen zu erledigen. Wenn er alles beisammen hätte, würde er sie abholen. Sie würde wieder im Schloss sein, noch bevor es ihrem Vater auffallen würde, dass sie ohne seine Erlaubnis verschwunden war.

Kaum fuhr die Kutsche an, wurde die Tür zu dem kleinen Häuschen aufgerissen. »Na, da brat mir doch einer einen Storch«, rief Milda ihr entgegen. Obwohl sie die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf gezogen hatte, hatte die Vertraute ihrer Mutter sie sofort erkannt.

Mit einem freudigen Strahlen wandte sich Amelia zu ihr um. »Mir wäre dein wunderbarer Gemüseeintopf lieber, aber wenn du Fleisch bevorzugst …«

»Komm her, du verrücktes Ding!« Lachend breitete Milda die Arme aus.

Dann führte sie das Mädchen in die Küche, wo ein Kessel über dem Feuer hing, der einen wunderbaren Duft verströmte.

Amelia lief das Wasser im Mund zusammen. Anscheinend kochte Milda tatsächlich eine Suppe.

Ein Blick in den Topf offenbarte ihr eine einfache Gemüsebrühe mit ausgelassenen Hühnerknochen und verschiedenen Gewürzen, die sicher aus dem anliegenden Garten stammten. Ein einfaches Mahl, doch Amelia war es tausendmal lieber als die hochtrabenden Speisen, die in der Schlossküche zubereitet wurden.

»Setz dich, Schätzchen«, wies Milda sie mit einem Wink zu dem Stuhl beim Feuer an. »Hast du Hunger?«

»Eher Appetit«, entgegnete sie.

Kurz darauf drückte Milda ihr eine Schüssel in die Hand, die halb mit Suppe gefüllt war. »Sei froh, dass Wenzel heute außer Haus ist. Sonst wäre sicher nichts mehr übrig.« Milda lachte und sie fiel ein.

Dann nahm Amelia den ersten Löffel und gab ein genießerisches Stöhnen von sich, als die leckere Speise ihre Zunge benetzte. »Du bist eine begnadete Köchin, Milda.«

Die ältere Frau winkte ab. »Einst habe ich für ein ganzes Räuberrudel gekocht. Die waren keine Feinschmecker, beschwerten sich aber auch nicht, wenn ich ein wenig mit den Gewürzen experimentierte. Ich hatte genug Zeit für Versuch und Irrtum.«

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, während Amelia die Suppe löffelte. Milda sprang derweil ihr dicker Kater auf den Schoß, den sie gedankenverloren kraulte.

»Lecker«, meinte Amelia, nachdem sie die Schüssel an die Lippen geführt und auch den letzten Rest ausgetrunken hatte.

Milda setzte den Kater zu Boden, erhob sich und nahm ihr das Geschirr ab. Kurz hielt sie inne, betrachtete Amelia und ging dann zu der Spüle, um den Abwasch zu erledigen.

»Du siehst müde aus, Schätzchen«, meinte sie beiläufig. »Schläfst du nicht genug?«

»Das schon«, Amelia seufzte. »Aber es ist kein erholsamer Schlaf. Seit einigen Nächten träume ich sehr lebhaft. Meine Fantasie scheint genauso aufgewühlt wie das Meer.«

Ihr entging der misstrauische Blick nicht, den Milda ihr aus dem Augenwinkel zuwarf. »Was zeigt dir denn deine Fantasie?«

Sollte sie ihr vom roten Glühen erzählen? Milda lebte zwar mit einem Zauberer zusammen, trotzdem war sie eine bodenständige, rationale Person. Selbst die Wunder, die ihr Mann vollbrachte, tat sie oft als Scharlatanerie ab. Was würde sie also zu Amelias Beobachtung sagen? Sie entschied, ihr lieber von dem Traum zu berichten, der sich Nacht für Nacht wiederholte.

»Ich glaube, ich erinnere mich an eine Geschichte, die mir meine Mutter früher erzählt hat. Vielleicht kennst du sie? Sie erzählt von einem Fabelwesen, einem Einhorn, das sich in einen Menschen verliebt.« Amelia richtete den Blick auf die Hände in ihrem Schoß, während sie sprach. »Zuerst beginnt der Traum schön. Ich beobachte, wie es über Wiesen und durch Wälder läuft, mit Schmetterlingen tanzt und Freundschaft mit einem Prinzen schließt. Dann wird es dunkel und gleich darauf wieder hell, aber nicht wie an einem Sommertag, sondern eher wie an einem Herbstmorgen. Wenn die Sonne gerade den Horizont erreicht und glutrote Strahlen über die Erde schickt, verstehst du? Ich spüre die Angst des Einhorns, es schreit und bäumt sich auf und dann …« Amelia knibbelte an der Haut ihres Daumens und hob den Kopf. »Dann verwandelt es sich in meine Mutter.«