Elesztrah (Band 4): Dunst und Schimmer - Fanny Bechert - E-Book

Elesztrah (Band 4): Dunst und Schimmer E-Book

Fanny Bechert

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Beschreibung

Nach dem Bruch mit Sedan scheint Fayoris ganze Welt zusammenzustürzen. Doch anstatt zu verzweifeln, hält sie an dem Einzigen fest, das noch für sie zählt: Lysannas Rettung. Immer tiefer gerät sie in den Strudel ihrer eigenen Gabe und schlägt einen Weg ein, der entweder mit der Befreiung ihrer Mutter enden wird oder mit ihrem eigenen Tod. Gleichzeitig führt Sedan nicht nur einen Kampf gegen sich selbst, sondern auch gegen das Heer Elesztrahs. Um den Clan, der ihnen Zuflucht gewährt, vor der dunklen Fürstin zu beschützen, reift unter seiner Führung ein riskanter Plan heran, dessen Umsetzung mehr als nur ein Leben fordern wird.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Landkarte

Prolog

Kapitel 1 - Fayori

Kapitel 2 - Fayori

Kapitel 3 - Fayori

Kapitel 4 - Sedan

Kapitel 5 - Sedan

Kapitel 6 - Sedan

Kapitel 7 - Fayori

Kapitel 8 - Fayori

Kapitel 9 - Sedan

Kapitel 10 - Sedan

Kapitel 11 - Fayori

Kapitel 12 - Fayori

Kapitel 13 - Fayori

Kapitel 14 - Fayori

Kapitel 15 - Sedan

Kapitel 16 - Fayori

Kapitel 17 - Fayori

Kapitel 18 - Fayori

Kapitel 19 - Fayori

Kapitel 20 - Sedan

Kapitel 21 - Sedan

Kapitel 22 - Sedan

Kapitel 23 - Sedan

Kapitel 24 - Sedan

Kapitel 25 - Sedan

Kapitel 26 - Sedan

Kapitel 27 - Fayori

Kapitel 28 - Fayori

Kapitel 29 - Fayori

Kapitel 30 - Sedan

Kapitel 31 - Sedan

Kapitel 32 - Fayori

Kapitel 33 - Fayori

Epilog

Nachwort

Dank

Glossar

 

Fanny Bechert

 

 

Elesztrah

Band 4: Dunst und Schimmer

 

 

Fantasy Roman

 

 

Elesztrah 4 – Dunst und Schimmer

Nach dem Bruch mit Sedan scheint Fayoris ganze Welt zusammenzustürzen. Doch anstatt zu verzweifeln, hält sie an dem Einzigen fest, das noch für sie zählt: Lysannas Rettung. Immer tiefer gerät sie in den Strudel ihrer eigenen Gabe und schlägt einen Weg ein, der entweder mit der Befreiung ihrer Mutter enden wird oder mit ihrem eigenen Tod.

Gleichzeitig führt Sedan nicht nur einen Kampf gegen sich selbst, sondern auch gegen das Heer Elesztrahs. Um den Clan, der ihnen Zuflucht gewährt, vor der dunklen Fürstin zu beschützen, reift unter seiner Führung ein riskanter Plan heran, dessen Umsetzung mehr als nur ein Leben fordern wird.

 

 

Die Autorin

Fanny Bechert wurde 1986 in Schkeuditz geboren und lebt heute mit ihrem Mann in einem ruhigen Dörfchen im Thüringer Vogtland.

Als gelernte Physiotherapeutin griff sie erst 2012 mit dem Schreiben ein Hobby ihrer Kindheit wieder auf. Was zuerst ein Ausgleich vom Alltag war, nahm bald größere Formen an und so veröffentlichte sie im Juni 2015 ihren ersten Roman im Genre High-Fantasy, der den Beginn der mehrbändigen Reihe ›Elesztrah‹ darstellt. Seitdem widmet sie sich immer aktiver der Tätigkeit als Autorin.

Heute schreibt sie nicht nur Romane, die sie ebenfalls selbst vertont, sondern hat das Texten im Bereich des Online-Marketings auch zu ihrem Hauptberuf gemacht.

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, März 2019

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2019

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski | alexanderkopainski.de

Karte: Corinne Spörri | Sternensand Verlag GmbH

Bilder: shutterstock.com | fotolia.de

Elesztrah-Wappen: Fanny Bechert

Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Martina König, Jennifer Papendick

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-033-1

ISBN (epub): 978-3-03896-034-8

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für dich

 

und alle meine treuen Leser,

denen Lysannas und Fayoris Geschichte

genauso am Herzen liegt wie mir

 

 

 

Elesztrah

Prolog

 

Erschöpft von den Erlebnissen des Tages saß Vorcus in seinem Stuhl in der Versammlungshalle des ›Avium Circulo‹. Seine Arme lagen auf den Seitenlehnen, sein Kopf war nach vorn gesunken.

Der blinde Alte hatte gespürt, was auf ihn zukam, hatte geahnt, welche Kraft es ihn kosten würde, wenn er sich des Mädchens annehmen würde. Aber ihm war ebenso bewusst gewesen, dass er in ihr seine Bestimmung gefunden hatte.

Ja, er hatte Lysannas Tochter das Tor zu ihrem Inneren, zu ihrer Gabe offenbart. Selbst für ihn war das kein Kinderspiel und er würde eine Weile brauchen, sich davon zu erholen.

Ein vertrautes Geräusch ließ ihn aufschauen. Er musste nicht sehen, um zu wissen, dass es der Schlag von Flügeln war, und doch konnte er den Raben, der eben durchs Fenster hereingeflogen war und nun Kreise unter dem Dach zog, in aller Klarheit erkennen. Nicht seine irdische Form, sondern die Aura, die ihn umgab – die alle lebenden Wesen ausstrahlten. Die Spur des Leuchtens, das in ihrem Inneren ruhte. Das war es, was Vorcus wahrnahm und mit dessen Hilfe er sich orientierte.

Er erhob sich, griff mit einer Hand nach seinem Stock und streckte die andere nach vorn. Keine Sekunde später landete der schwarze Vogel darauf und umschloss den dünnen Arm mit seinen Krallen, gerade so fest, dass er Halt fand.

»Du warst nicht lange fort, mein alter Freund«, begrüßte Vorcus das Tier, als spräche er mit einem Elf. »Und dennoch bringst du mir neue Informationen …«

Der Alte schwieg einen Moment und lauschte der Stimme des Raben, die zu vernehmen nur wenige fähig waren. Die Verbindung zwischen ihm und dem Tier verlieh seinem Geist Flügel und zeigte ihm, was der Rabe gesehen hatte.

Minuten verstrichen, in denen Vorcus unbewegt dastand und aufnahm, was sein schwarzer Freund ihm zu berichten hatte.

»Der Widerstand gegen die Fürstin schwindet«, murmelte er schließlich. »Der Feuervogel, gefangen in ihrem Kerker, verbrennt in seinen eigenen Flammen, während der Eisprinz, niedergestreckt durch den General, dem kalten Tod näher ist als dem Leben. Und die Mädchen … Die Fürstin weiß um ihre Macht, doch ist ihre Entscheidung über Tod oder Leben noch nicht gefallen.« Er lächelte. »Sie unterschätzt die Willenskraft, die Fayori innewohnt.«

Dann stockte er. Das Bild vor seinem inneren Auge hatte sich gewandelt. Es zeigte nun weder Lysanna, die im Kerker des Schlosses auf eine Pritsche gebettet war, noch Aerthas, der ebenso regungslos auf dem Boden einer dreckigen Hütte in Frostwall lag.

Er sah jetzt das Mädchen, die älteste Tochter des Feuervogels, die er für stärker hielt als sie sich selbst und in deren Hände er jederzeit die Zukunft Elesztrahs gelegt hätte. Und er merkte, dass er einen Fehler gemacht hatte.

Ja, sie war fähig, jede Prüfung zu bestehen, die das Schicksal ihr auferlegt hatte. Ihr Wille war stark, aber ihr Herz … Ihr Herz war wankelmütig und anfällig für Kummer und Leid. Und es war abhängig, abhängig von der Liebe dieses Seelenlosen. Sedan …

Er und ihr Herz waren ihre Schwachstelle und wenn es Lawinia gelang, sie darüber zu erreichen … Nur die Ahnen wussten, wie standhaft Fayori dann der Dunkelheit gegenüber bleiben konnte.

»Sie wird unsere Hilfe brauchen«, raunte Vorcus dem Raben zu. »Meine, deine, die des Clans …«

Wieder änderte sich die Vision, zeigte ihm nun weder die Vergangenheit noch die Gegenwart, sondern gab ihm einen Ausblick auf das, was kommen konnte.

»Danke«, meinte er mit einem ironischen Schmunzeln. »Mein Weg ist mir klar. Ich weiß, dass dieser bald sein Ende findet.« Liebevoll strich er dem Tier über das Federkleid. »Du wirst bei ihr bleiben, alter Freund, bis zum bitteren Ende. Du wirst über sie wachen und ihr den Weg ins Licht weisen, sollte sie davon abkommen. Du wirst unserem Küken helfen, zu dem Vogel zu werden, der es sein soll.«

Schwungvoll riss er den Arm nach oben. Der Rabe verstand das Zeichen, breitete seine Schwingen aus und erhob sich in die Lüfte.

»Flieg zu ihr, schütze sie vor sich selbst und bring sie zu mir. Ich muss mich um ihr Herz kümmern …«

Ein lautes Krächzen ertönte. Dann flog der Rabe aus dem Fenster und verschwand aus Vorcus’ Blickfeld.

Er ging zurück zu seinem Stuhl, ließ sich schwer darauf nieder und seufzte. »Dieser Kampf, dieses Mädchen, wird mich alle Kraft kosten, die ich noch besitze. Aber ich bin bereit, diese zu geben. Für sie, für Elesztrah, für den Frieden …«

Kapitel 1 - Fayori

 

Stunden zuvor …

 

Mit einem erschrockenen Keuchen schob Fayori Vorcus beiseite. Sie hatte Loran sofort erkannt, den jungen Hauptmann mit der schwarzen Wuschelmähne, der nicht nur ein enger Freund von Aerthas, sondern auch für sie einer der wichtigsten Elfen in ihrem Leben war. Reaver hatte ihn gemeinsam mit dem jungen Seelenlosen Kenric in die Versammlungshalle gebracht, in der Vorcus und Fayori eben noch ihre mentalen Übungen durchgeführt hatten.

Aber was tat der Elfenhauptmann hier? Warum mussten sie ihn tragen und wieso zum Henker lag er nun am Boden, als wäre er tot?

»Wir haben einen Verletzten«, hatte Jizza, eine der Zwillingselfen, beim Eintreten gerufen. Und Reaver, der im engen Kreis des ›Avium Circulo‹ nur die Elster genannt wurde und dort eine hohe Position innehatte, hatte ergänzt: »Er war schon im Haus der Hexe kaum noch am Leben.«

Fayori rannte die wenigen Schritte zu der Stelle, wo sie Loran abgelegt hatten, und ließ sich unsanft neben ihm auf die Knie fallen. Als sie beide Hände an sein Gesicht legte, waren seine Lider geschlossen und seine Haut kalt, wie Fayori es zuletzt bei Aerthas erlebt hatte. Nur dass Loran keineswegs durch die Macht des Eises beschützt wurde. Vielmehr war es die Bestätigung für das, was Reaver gesagt hatte. Der Elf bewegte sich an der Schwelle des Todes. Dass er noch nicht ganz hinübergetreten war, erkannte Fayori nur an dem Zucken seiner Augäpfel unter den gesenkten Lidern.

»Nein«, keuchte sie vollkommen entsetzt. »Loran, bitte! Komm zu dir!« Mit deutlichem Druck strich sie mit den Fingern über sein Gesicht, schüttelte es ein wenig und war schon versucht, ihm eine Ohrfeige zu verpassen, wenn er dadurch nur aufwachte. Doch sie war sich bewusst, dass dies nichts nützen würde. Auch wenn sein Körper ihr so nah war, seine Seele war weiter von ihr entfernt denn je.

Was war nur geschehen? Gestern noch hatte sie mit ihm gesprochen, in seinen Armen gelegen, ihn um Hilfe gebeten …

Bei diesem Gedanken zog sie ihre Hände ruckartig von ihm zurück. War es ihre Schuld, dass er jetzt in diesem Zustand war? Hatten die Stadtwächter, die Kronenkrieger oder, schlimmer noch, die Fürstin selbst erfahren, dass er ihr geholfen hatte, und ihn deswegen exekutiert?

Sie rückte ein Stück von ihm ab und ließ ihren Blick panisch über Lorans Körper gleiten, um seine Verletzungen zu begutachten. Lange brauchte sie nicht, denn als ihre Augen seine Brust erreichten, entdeckte sie den Dolch, der darin steckte.

Es war, als würde die Welt sich mit einem Schlag umkehren. Weiß wurde zu Schwarz, Licht zu Dunkelheit, Liebe zu Hass.

Sie kannte die Waffe, die Loran den Todesstoß versetzt hatte. Sie hatte sie schon Tausende Male gesehen – erst in der Hand von Mitzum, dann in der von Lysanna und zuletzt heute Morgen in der Scheide an Sedans Gürtel.

Sie griff nach dem Schaft, der wie ein Mahnmal in Lorans Brust steckte, zog den Dolch jedoch nicht heraus. Sie wusste nichts über die Versorgung von Wunden und konnte nicht abschätzen, ob sie Loran damit Gutes tun oder sein Schicksal endgültig besiegeln würde, wenn sie die Klinge entfernte.

»Wo ist er?«, fragte sie und merkte selbst, wie fremd ihre Stimme klang. Rau, zittrig und so kalt wie das Metall der Waffe in ihrer Hand.

»Es war ein Unfall«, versuchte Kenric zu erklären, der hinter sie getreten war. »Loran ist plötzlich bei Holly aufgetaucht und Sedan hat ihn für einen Feind gehalten. Er wollte ihm nichts tun, ehrlich!«

Wie betäubt starrte Fayori noch kurz die Einstichstelle an, dann wandte sie den Kopf wieder Lorans Gesicht zu. Sie hatte immer gehört, dass Tote wie Schlafende aussehen würden, da sie das Leid des Lebens hinter sich gelassen hatten und in die erlösende Welt der Ahnen hinübertreten durften. Der Elf hingegen wirkte, als könne er den Schmerz des Sterbens noch immer spüren und führe einen Kampf gegen etwas, das nur er sehen konnte. Er war noch immer am Leben, wenngleich es nur ein Hauch sein mochte.

Fayori spürte, wie ihr eine Träne über die Wange glitt, der eine weitere folgte und noch eine. Sie wollte nicht weinen, denn das würde Loran kaum helfen. Andererseits gab es nichts, was sie noch für ihn tun konnte, außer um ihn zu trauern.

Doch, da gab es etwas, wie der Dolch in ihrer Hand ihr zuflüsterte. Wenn sie schon nicht imstande war, Loran zu helfen, blieb ihr immer noch, seinen Tod zu rächen.

Ein Unfall, natürlich … Als ob Sedan ein solcher Tölpel wäre und ohne Sinn und Verstand um sich schlug! Er war der besonnenste Nahkämpfer, den sie kannte. Nein, wenn er jemanden angriff, dann aus gutem Grund – der sich in diesem Fall wohl Eifersucht nannte.

»Ich bringe ihn um«, knurrte sie, spürte aber bei diesen Worten, wie sich etwas in ihr zusammenzog. Ihr Herz blutete vor Trauer und brannte vor Zorn, doch da war noch etwas, das sich ihrem Vorhaben entgegenstellen würde. Ihre Gefühle für Sedan, die denen für Loran so ähnlich waren. Keinen von beiden wollte sie verlieren und doch selbst dafür sorgen, dass beide auf einmal von ihr gingen?

Ja.

Nein.

Doch.

Ruckartig sprang sie auf. »Wo ist dieser Verräter, dieser Mörder?«, brüllte sie und sah die anderen, die bei der Mission in Hollys Haus ebenfalls dabei gewesen waren, der Reihe nach an. Trotz des Tränenschleiers, der ihr die Sicht vernebelte, erkannte sie die schuldbewussten Mienen von Jill und Jizza, sah Reavers höhnisches Grinsen und zuletzt Kenrics weit aufgerissene Augen, der wohl mit einer solchen Reaktion nicht gerechnet hatte.

»Wo ist er?«, schrie Fayori noch einmal und sprach nun direkt Kenric an. »Sag es mir, wenn ich nicht auf dich statt auf ihn losgehen soll!«

»Er … Er wollte Rawena suchen, damit sie Loran rettet«, stammelte Kenric in einem weiteren Versuch, Fayori zu beschwichtigen. »Er wollte … Er will um jeden Preis verhindern, dass der Elf stirbt.«

»Zumindest werde ich verhindern, dass er noch mal jemanden derart verletzt«, stieß sie ihm schluchzend entgegen. Weitere Tränen flossen wie ein Bach über ihre Wangen, eine Mischung aus Wut und Verzweiflung, die sie nicht fähig war, in ihrem Inneren zu behalten.

Energisch drehte sie sich zu Reaver, der sofort ergeben die Hände hob, ihr aber dennoch ein spöttisches Lächeln schenkte. Er ahnte wohl, warum Fayori sich ihm zuwandte, und ließ sie gewähren, als sie an seine Hüfte griff und sein Schwert zog. Bevor sie aber nur einen Schritt in Richtung Ausgang machen konnte, packte jemand sie an den Schultern.

»Sedan hat deinen Zorn nicht verdient«, beschwor Jill sie nun und schlang ihre Arme um Fayoris Oberkörper, als sie sich losreißen wollte.

»Er ist ein unbedachter Hitzkopf, eine Gefahr, ein Mörder!«, brüllte Fayori, hörte aber selbst die Verzweiflung in ihrer Stimme. Einen kurzen Moment kämpfte sie noch gegen den Griff der Elfe an, dann erstarb ihre Gegenwehr. »Er hat Loran umgebracht«, schluchzte sie nun hemmungslos.

»Noch ist er nicht tot«, rief Jill ihr ins Gedächtnis. »Vielleicht solltest du diesem Hauptmann lieber Händchen halten, anstatt dich in blinder Wut auf den zu stürzen, der gerade deine Freundin sucht, um …«

»Ich bin hier«, erklang es von der Tür, durch welche Rawena, Fayoris engste Freundin, gerade unbemerkt eingetreten war. Im Bruchteil einer Sekunde erfasste die junge Seelenlose, welche die Begabung einer Heilerin besaß, die Situation. »Bei den Ahnen«, stieß sie hervor und kam mit schnellen Schritten zu ihnen. »Was ist passiert?«

Sie ließ sich neben Loran nieder, während Jill begann, in kurzen Worten zu erklären, was im Haus der Priesterin geschehen war.

»Wir haben gegen einige Kronenkrieger kämpfen müssen. Als alles vorbei war, ist dieser Soldat aufgetaucht. In der Annahme, es würde sich bei ihm um Verstärkung handeln, wollte Sedan ihn sofort eliminieren, bevor er andere auf uns aufmerksam macht. Warum er ihm dann helfen wollte, haben wir erst verstanden, als Kenric uns unterwegs erklärte, um wen es sich bei diesem Hauptmann handelt.«

»Der Dolch hat genau das Herz getroffen«, beschrieb Jizza den Hergang, als Rawena sich die Verletzung besah. »Sedan hat ihn herausgezogen und dann versucht, die Blutung zu stillen. Das gelang ihm aber erst, als er den Dolch erneut hineingestoßen hat, mit etwas Stoff an dessen Spitze.«

Ein Klirren ließ alle zu Fayori sehen, die noch immer von Jill festgehalten wurde. Reavers Schwert war ihr aus den Händen geglitten, während unterdrücktes Schluchzen ihren Körper zum Beben brachte.

»Sein Leuchten ist noch da, wenn auch nur schwach. Ich kann versuchen, es zu erreichen, und so verhindern, dass er stirbt«, erklärte Rawena ihrer Freundin. »Leicht wird das nicht. Es ist so schwach, dass ich es nur schwer zu fassen bekommen werde.«

Ein wahrer Sturm tobte in Fayoris Brust. Der Anflug von Hass, den sie für Sedan, für seine Tat empfand, rang ohnehin mit ihren sonstigen Gefühlen für den Seelenlosen. Und nun mischte sich auch noch die Hoffnung darunter, dass der Elfenhauptmann doch nicht ganz verloren war.

»Kann ich … etwas für Loran tun?«, fragte sie Rawena schließlich und gab damit die Entscheidung, bei Loran zu bleiben oder sich Sedan vorzuknöpfen, in die Hände ihrer Freundin.

Diese nickte. »Ich weiß, wie nah ihr euch steht. Wenn er deine Wärme spürt, könnte es sein Leuchten so weit verstärken, dass ich meines damit verbinden kann.«

Jill, die sehr wohl spürte, dass Fayori nun nicht mehr gewillt war, sich in blinder Wut auf die Suche nach Sedan zu machen, lockerte ihren Griff, sodass Fayori sich daraus lösen und wieder zu Loran gehen konnte. Sie hockte sich hinter ihn und bettete seinen Kopf auf ihrem Schoß.

»Du musst versuchen, dich zu beruhigen«, bat Rawena. »Er spürt deine Aufregung, deinen Schmerz fast mehr als seinen eigenen. Das ängstigt ihn und treibt ihn nur weiter fort.«

Fayori atmete tief ein und aus, wobei ihr ganzer Körper zitterte. Erst beim dritten Mal hörte ihr Brustkorb auf zu beben. Sie strich sanft mit dem Finger über Lorans Stirn, während ihre Tränen, die unablässig weiterflossen, auf seine Wangen tropften. »Ich bleibe bei dir«, sagte sie leise. »Bis zum Ende.«

»Gut so«, ermutigte Rawena sie sanft. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit dem Dolch. »Egal, was gleich geschieht, du musst ihm zeigen, dass alles in Ordnung ist. Kannst du das?«

Fayori presste die Lippen aufeinander und nickte kurz. Sie zwinkerte ein paar Mal, in der Hoffnung, die Tränen damit endlich zum Versiegen zu bringen. Doch es war zwecklos. Also konzentrierte sie sich ganz auf Lorans Gesicht, in dem mittlerweile keine einzige Regung mehr zu erkennen war.

Als Rawena den Dolch aus der Brust des Elfen zog, begann sein Blut sofort daraus hervorzuquellen. Daran änderte sich auch nichts, als die Seelenlose mit ihrem gesamten Körpergewicht ihre Hände darauf presste.

Fayori merkte, wie sich ihre Kehle erneut zuschnürte. Ein Ton entfuhr ihr, ähnlich dem ängstlichen Fiepen eines verwundeten Tieres. Schnell senkte sie den Kopf, um nicht mit ansehen zu müssen, wie auch noch das letzte bisschen Lebenssaft aus Loran entwich. Sie legte ihre Wange an die seine, die so eiskalt war, und sprach beruhigend auf ihn ein, ohne zu wissen, ob er auch nur eines ihrer Worte verstehen konnte.

Minuten vergingen. Sie hörte, wie Rawena keuchte und ächzte vor Anstrengung, die sie das Heilen kostete. Irgendwann zuckte Loran auf, erst nur mit einem Muskel, dann aber so stark, dass er Rawena von sich stieß.

»Festhalten!«, wies diese die Umstehenden an und sofort packten mehrere Hände Lorans Körper, der sich anscheinend dagegen wehrte, weiterhin in dieser Welt zu weilen.

Fayori sah nicht ein einziges Mal auf. Sie hatte die Augen fest geschlossen, kämpfte gegen ihre Tränen und klammerte sich an die Hoffnung, Lorans Auflehnung wäre ein gutes Zeichen.

Schlagartig ebbten die Bewegungen des Elfen ab, bis sein Körper wieder gänzlich erschlaffte. Gleichzeitig jedoch spürte Fayori, wie seine Haut sich langsam erwärmte und ein tiefer Atemzug seine Lippen verließ, gefolgt von einem weiteren, noch einem und noch einem.

Zögerlich richtete sie sich auf. Zuerst besah sie Lorans Gesicht, auf dessen Wangen sich eine leichte Röte zeigte – ein gutes Zeichen! Dann blickte sie zu Rawena. Die Hände der Seelenlosen lagen noch immer auf Lorans Brust und Fayori sah das sanfte Leuchten, das von ihnen ausging. Der Heilprozess war noch nicht abgeschlossen, wie sie erkannte, und doch war sie sicher, dass ihre Freundin es geschafft hatte.

Rawenas Atem ging schnell und stoßweise. Ihre Haltung aber hatte sich ein wenig entspannt. Einen kurzen Augenblick ließ sie ihre Hände noch über der Wunde. Erst als Loran leise stöhnte, unterbrach sie die Verbindung und lehnte sich zurück.

Sofort war Kenric hinter ihr und bot ihr Halt, sonst wäre sie wohl nach hinten umgefallen. »Du bist großartig«, flüsterte er ihr voller Ehrfurcht zu.

Fayori blickte noch einmal auf Loran hinab. Seine Kiefermuskeln waren angespannt und verrieten, dass er noch immer Schmerzen hatte. Aber es zeigte auch, dass er fühlte, was mit ihm geschah, und das war gut.

»Ich danke dir«, sagte sie an Rawena gewandt. Mehr brachte sie nicht hervor, eh ein erneutes Schluchzen ihr die Stimme raubte.

 

Vorcus hatte veranlasst, dass Loran in ebenjene Kammer gebracht wurde, in welcher der ›Avium Circulo‹ seine eigenen Mitglieder pflegte, waren sie krank oder verletzt. Es gab hier drei bequeme Betten. Außerdem ein Lager verschiedenster Heilkräuter und Verbände, eine Feuerstelle mit Kochtopf und ein Rohr, aus dem jederzeit frisches Wasser entnommen werden konnte.

Der Elfenhauptmann lag auf dem hintersten Bett im Raum, welches zusätzlich mit einer Art Vorhang abgeschirmt werden konnte. Er schlief, zumindest hatte Rawena seinen Zustand so bezeichnet.

Fayori hingegen, die an seiner Seite auf einem Schemel saß, war sich dessen nicht sicher. Sie vertraute ihrer Freundin und das schwere Atmen, das Lorans Brustkorb verließ, bestätigte deren Worte. Doch ihr kam es eher so vor, als würde er noch immer mit dem nahenden Tod ringen.

Bevor Rawena gegangen war, hatte sie ihr erklärt, dass es wohl einige Tage dauern mochte, bis er sich vollständig erholt hatte. Sie hatte seine Wunden zwar verschlossen und verhindert, dass sein Leuchten erlosch. Die Regeneration des verlorenen Blutes würde dem Elf jedoch noch einiges abverlangen.

Auch die Seelenlose hatte es viel Kraft gekostet, das war ihr anzusehen gewesen. Nur deswegen hatte Fayori sie nicht gebeten, Loran weiter zu betreuen. Nachdem sie sich ausgeruht hatte, würde sie wiederkommen, waren ihre Worte gewesen, als sie gegangen war.

Fayori erhob sich von dem Schemel und ging zu der Kochstelle. Mit einer verbeulten Kelle schöpfte sie etwas Kräutersud aus dem Topf in eine Tonschüssel, den sie selbst angesetzt hatte und der Loran ein wenig Energie bringen sollte. Es würde noch dauern, eh er selbstständig essen konnte. Solange würde sie dafür sorgen, dass sein Körper ausreichend Flüssigkeit bekam.

Da die Suppe noch heiß war, stellte sie die Schüssel auf dem kleinen Tischchen neben Lorans Bett ab, setzte sich wieder und ergriff seine Hand, die sie auch zuvor schon gehalten hatte.

Ihre Gedanken hingegen glitten zu dem Mann, der Schuld an Lorans Zustand trug. Sedans Dolch in dessen Brust zu sehen, hatte sich beinahe so angefühlt, als hätte der Seelenlose sie selbst angegriffen.

Während sie vor der Kammer darauf gewartet hatte, dass Rawena mit der Säuberung und endgültigen Versorgung von Lorans Verletzung fertig wurde, hatte Jill ihr noch einmal haarklein die Situation in Hollys Haus geschildert. Sedan war zunächst allein hineingegangen und in einen Hinterhalt geraten, dem er wohl kaum lebend hätte entkommen können, wären sie ihm nicht zu Hilfe geeilt. Er hatte einiges einstecken müssen und war ziemlich kopflos gewesen, als sie zu ihm stießen. Das war wohl auch der Grund dafür, dass er, ohne zu zögern, auf alles, was Soldatenkleidung trug, losgegangen war. So auch auf Loran, der vollkommen überraschend aufgetaucht war. Als Sedan bewusst wurde, wen er da angegriffen hatte, war er in regelrechte Panik verfallen und mit nichts zu bewegen gewesen, den Sterbenden zurückzulassen. So zumindest hatte Jill es geschildert.

Für Fayori klang das irgendwie abwegig. Sedan reagierte nie kopflos, er analysierte jede Situation, bevor er handelte. Und dennoch wusste sie, dass Jill die Wahrheit sagte. Ihr Herz wusste es.

Nun machte sie sich nicht nur Sorgen um Loran, sondern mehr noch um Sedan. Er war nicht bei der Gruppe gewesen, die mit Loran zurückgekehrt war. Wenn es aber stimmte, dass auch er nicht unverletzt davongekommen war, so wie Jill es beschrieben hatte, benötigte er vielleicht ebenfalls den Beistand einer Heilerin.

Fayori drückte noch einmal sanft Lorans Hand, legte sie dann neben ihm auf dem Bett ab und stand auf. Leise, doch unruhig, begann sie, in der kleinen Kammer auf und ab zu gehen.

Was war das nur für ein Tag! Vor Stunden war sie neben Sedan aufgewacht und hatte sich das erste Mal seit Tagen annähernd glücklich und sicher gefühlt. Dann hatte Vorcus ihr offenbart, wie ihre wahre Abstammung war, und sie einem Feind ausgeliefert, den sie niemals fähig sein würde, zu besiegen: sich selbst. Und als ob das noch nicht reichte, hatte das Schicksal ihr einen sterbenden Freund vor die Füße geworfen.

Loran sterben zu sehen, hatte unsagbar wehgetan, sodass sie in ihrem Schmerz bereit gewesen wäre, den Mann zu töten, der ihr am Morgen noch die Welt bedeutet hatte.

Sie schämte sich für das, was sie gedacht und empfunden hatte, und fragte sich, ob sie es wirklich über sich gebracht hätte, Vergeltung zu üben, wenn sie Sedan leibhaftig gegenübergestanden hätte.

Bevor sie sich diese Frage selbst beantworten konnte, öffnete sich die Tür und Kenric und Rawena kamen herein. Der junge Mann hatte einen Arm um die Taille der Seelenlosen gelegt, die noch schlechter aussah als vorhin.

»Du sollst dich doch ausruhen«, tadelte Fayori ihre Freundin. Sie ging zu ihr, nahm ihre Hand und führte sie zu einem der leeren Betten, auf dem sie sich dankbar niederließ. »Leg dich ein wenig hin«, wies sie Rawena an. »Die Strohmatratzen sind sicher angenehmer als die harten Lager in unseren Kammern.«

»Das werde ich auch«, bestätigte Rawena, wobei ihre Stimme matt und nach völliger Erschöpfung klang. »Und Kenric wird sich weiter um Loran kümmern, während du zu Sedan gehst.«

»Warum sollte ich das tun?«, fragte Fayori irritiert. Sie hätte sich schon gern vergewissert, wie es dem Seelenlosen ging. Doch sie hatte Angst davor, ihm gegenüberzutreten. Angst vor dem, was sie vielleicht dabei empfinden würde. Noch konnte sie nicht abschätzen, was dieser Vorfall zwischen ihnen verändert hatte.

Rawena ergriff Fayoris Hand und zog so ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Ich komme gerade von ihm. Ihn zu heilen war mindestens genauso schwer wie Loran.«

Entsetzt riss Fayori die Augen auf. »War es so schlimm?«

Rawena machte ein ernstes Gesicht. »Eigentlich hatte er nur eine kleine Schusswunde. Doch der dumme Kerl hat sich nicht darum gekümmert und am Ende wohl mehr Blut verloren als der Elf, den er gerettet hat.«

»Du hast Loran gerettet«, korrigierte Fayori und wollte die Seelenlose umarmen, um ihr noch einmal zu zeigen, wie viel ihr das bedeutete.

Doch Rawena schob sie sanft von sich. »Dass mir das gelungen ist, haben wir nur Sedan zu verdanken. Er war es, der verhindert hat, dass Lorans Leuchten erlischt, sodass ich es für dessen Heilung nutzen konnte. Sedan hat verhindert, dass er in die Welt der Ahnen übergeht, wobei er beinahe selbst gegangen wäre.«

»Er hat … Er wäre … Wie?«, stammelte Fayori.

»Als ich vorhin allein mit Loran war, ist er kurz aufgewacht und hat mir von einer Art Vision erzählt, die er im Sterbebett hatte«, erklärte Rawena. »Er war in der Zwischensphäre und kurz davor, in die Ewigkeit überzugehen, als Sedan aufgetaucht ist und ihn so lange davon abgehalten hat, bis ich seine Wunde versorgt und ihm damit die Rückkehr ermöglicht hatte.«

»Die Zwischensphäre?«, unterbrach die Elfe sie. »Ist das nicht der Ort, den Sedan besucht, wenn er diese Somnitation durchführt?«

Rawena nickte bestätigend. »Es ist eine Art Übergang vom Diesseits ins Jenseits, von der Welt der Sterblichen in die Welt der Ahnen. Normalerweise fällt Sedan der Wechsel dorthin sehr leicht. Dennoch wollte ich sehen, wie er die Sache mit Loran verkraftet hat, bevor ich mich ein wenig ausruhe. Was gut war, denn ich weiß nicht, ob er aus eigener Kraft fähig gewesen wäre, wieder in unsere Welt zurückzukehren.« Sie sah Fayori eindringlich an. »Er war bereit, sein Leben zu geben, nur um Loran zu retten. Das hat er für dich getan. Ich hoffe, du weißt das. Er hat es aus Liebe getan.«

Der Kloß in Fayoris Hals wurde immer dicker. War sie schon vorher irritiert gewesen, war sie nun schlichtweg emotional überfordert. Sedan hatte sein Leben für Loran riskiert, für einen Elf, den er nicht ansatzweise leiden konnte. Und das für sie?

Geräuschvoll räusperte sie sich. »Ich muss Loran etwas Suppe geben«, sagte sie, wandte sich von Rawena ab und ging zurück zu dem Elf.

»Du solltest endlich aufhören, zu tun, was du musst, und das tun, was du willst«, hörte sie die Seelenlose in ihrem Rücken.

Gerade hatte sie nach der Schüssel auf dem Nachttisch greifen wollen, hielt nun aber in der Bewegung inne.

»Fay, wir wissen doch beide, was du für Sedan empfindest.«

»Nun, ich weiß es nicht«, gestand Fayori und drehte sich wieder zu ihr um. »Seit dem Überfall auf Frostwall, seit er wieder aufgetaucht ist, weiß ich gar nichts mehr!«

Das milde Lächeln in Rawenas Gesicht sorgte keineswegs dafür, dass sie sich besser fühlte, sondern trieb ihr nur erneut Tränen ins Gesicht – zum wievielten Mal an diesem Tag, konnte sie schon gar nicht mehr sagen.

»Sei doch ehrlich zu dir selbst: Wie oft hast du mir in den letzten Monaten in den Ohren gelegen, dass du dich zwischen Semei und Loran nicht entscheiden könntest, mit der Begründung, deine Gefühle wären nicht eindeutig? Denkst du, ich als deine beste Freundin wüsste nicht, wer sie gestört hat?«

»Das … Das bedeutet aber nicht …«, suchte Fayori nach Worten, zu erklären, was in ihr vorging, schaffte es aber nicht.

»Seit Sedan wieder da ist«, wiederholte Rawena ihre Worte, »ist eine Sache ganz eindeutig: dass dein Platz bei ihm ist. Und das sagt dir nicht dein Verstand, der sich nur um Lysannas Rettung dreht. Das sagt dir dein Herz.«

Fayoris Hand glitt an ihre Brust, dorthin, wo sich dieses dumme schlagende Ding verbarg, das gerade wie wild pochte. Rawena hatte erkannt, was Fayori sich nicht hatte eingestehen wollen. Was sie für Sedan empfand, war mehr als die schüchterne Verliebtheit Loran gegenüber oder die abenteuerliche Anziehung, die Semei auf sie hatte. Und bei Weitem mehr als die Freundschaft, für die sie es immer gehalten hatte. Es war Liebe.

Kenric, der bisher betreten geschwiegen hatte, trat nun neben sie und griff ihrerstatt nach der Schüssel mit Kräutersud. »Ich werde mich ein wenig um Loran kümmern. Ich bleibe ohnehin hier, während Rawena schläft. Vielleicht könntest du Sedan dafür etwas zu essen bringen, was eigentlich meine Aufgabe war?«

Rawena erhob sich schwerfällig, die Müdigkeit steckte ihr tief in den Knochen. Sie nahm Fayori bei der Hand und führte sie Richtung Tür.

»Ich … Ich wollte ihn töten für das, was er mit Loran gemacht hat. Ich habe ihn so gehasst …«

»Neben der Liebe ist Hass das stärkste Gefühl, zu dem wir fähig sind. Und manchmal vermischen sie sich, wenn wir unter enormen Druck geraten. Das ist ganz normal.« Liebevoll wischte sie die Träne weg, die Fayori nun über die Wange lief. »Na los, geh schon.«

Kapitel 2 - Fayori

 

Einige Zeit später stand Fayori vor der Tür der Kammer, in der sie und Sedan die letzte Nacht verbracht hatten. In den Händen trug sie ein Holzbrett, auf dem ein Stück Fleisch und etwas Brot lagen. Wie einen Schutzschild hielt sie es vor ihren Körper und klammerte sich daran fest, als wäre es das Wichtigste auf der Welt.

Alles in ihr drängte danach, in das Zimmer zu gehen und sich zu vergewissern, dass es Sedan gut ging. Sie wollte ihn sehen, mit ihm sprechen – herausfinden, ob sich Rawena nicht doch täuschte, was den Antrieb für Lorans Rettung betraf.

Gleichzeitig fürchtete sie sich aber davor. Wer konnte sagen, ob Sedan tatsächlich so fühlte wie sie? Dass er sein Leben für den Elf – für sie – geopfert hätte, konnte doch auch andere Gründe haben, oder?

›Nein‹, antwortete eine Stimme in ihrem Inneren. ›Denn du würdest dein Leben auch nur für die geben, die du liebst.‹

Bevor sie in einen zweiflerischen Gedankenmonolog verfiel, hob sie einen Fuß vom Boden und stieß damit mehrmals gegen die Tür, in der Hoffnung, sie würde aufschwingen. Unter keinen Umständen wollte sie das schützende Tablett aus den Händen legen!

Die Tür öffnete sich tatsächlich, jedoch nicht von allein. Sedan stand dahinter und sah sie mit düsterer Miene an.

Zaghaft schob sie sich an ihm vorbei ins Innere der Kammer, ohne ein einziges Wort.

Unsicher, was sie tun oder sagen sollte, sah sie sich im Raum um. Mit einem Schlag kam sie sich dumm vor, wie sie das Brett mit dem Essen umklammerte, und wollte es nur noch loswerden. Also stellte sie es kurzerhand neben einer der Schlafstätten auf den Boden. Dann wandte sie sich wieder dem Seelenlosen zu.

Er sah nicht viel besser aus als Loran und Rawena. Seine Haut war beinahe weiß, sein blondes Haar hing ihm in Strähnen in die Stirn. Er trug kein Hemd und so entgingen ihr weder das frische Einschussloch an seiner Schulter noch die starken Brust- und Bauchmuskeln, die sie schon immer heimlich bewundert hatte.

Um nicht beschämt den Blick abzuwenden, konzentrierte sie sich auf seine Augen. »Wie fühlst du dich?«, fragte sie in besorgtem Ton.

»Ganz gut«, antwortete er sofort, was ihr ein kleines Lächeln entlockte. Selbst nachdem er knapp dem Tod entkommen war, konnte er ihr gegenüber keine Schwäche zeigen.

»Natürlich, du siehst aus wie das blühende Leben«, antwortete sie ironisch und merkte, wie bei diesem Geplänkel ein Teil der Anspannung von ihr abfiel.

Das änderte sich mit Sedans nächsten Worten jedoch sofort wieder.

»Genau wie Loran?«, fragte er kühl.

Es versetzte ihr einen Stich, ließ ihr Herz jedoch gleichzeitig schneller schlagen. Es war Eifersucht, die aus dem Seelenlosen sprach. Etwas, das Fayori sonst oft genervt hatte und das sie nun zum ersten Mal genoss.

Sie trat ein Stück näher zu ihm, hielt seinen Blick dabei ganz fest. »Als sie Loran in die Versammlungshalle gebracht haben und ich deinen Dolch in seiner Brust sah, wusste ich für einen Moment nicht, ob ich bei ihm bleiben oder lieber nach dir suchen soll, um ihn zu rächen«, gestand sie und schluckte hörbar. »Ich blieb – was gut war. So konnte Kenric mir berichten, dass die ganze Sache ein … ein Unfall gewesen ist. Und dank Rawenas Erklärungen weiß ich auch, was du für Loran getan hast, während er dem Tode nah war. Dass du selbst fast gestorben wärst …«

Sie hielt es nicht länger aus, der Tiefe seiner Augen standzuhalten. Als sie den Blick senkte, streifte er die Wunde an seiner Schulter. Wie konnte eine so unscheinbare Verletzung dafür sorgen, dass er beinahe verblutet wäre? Oder war es gar die Anstrengung in der Zwischenwelt gewesen, die ihn fast alle Lebenskraft gekostet hatte? Was hatte er wohl dort erlebt?

Ohne über ihr Tun nachzudenken, hob sie die Hand, führte sie zu seiner Schulter und fuhr mit den Fingerspitzen sacht um das Loch in seinem Fleisch, das sich trotz Rawenas heilender Magie nur in der Tiefe geschlossen hatte.

Er reagierte weder auf das, was sie gesagt hatte, noch auf ihre Berührung.

»Ich werde wohl niemals schlau aus dir werden«, sagte sie leise und hob den Kopf, sodass sich ihre Blicke erneut trafen. »Ich weiß, dass du Loran nicht magst, und dennoch hast du dein Leben aufs Spiel gesetzt, um ihn zu retten. Warum?«

Sie forderte ihn heraus, das wusste Fayori, trieb ihn regelrecht in die Enge – etwas, das Sedan nicht mochte und das am Ende dafür sorgen konnte, dass er sich von ihr distanzierte. Aber sie musste es wissen. Sonst würden ihr all die Spekulationen und Vermutungen keine Ruhe lassen.

»Ich habe es für dich getan«, kam seine Antwort mit klarer Stimme. Kein Groll lag darin, kein Schalk, keine Ironie. Nur Ehrlichkeit. »Ich weiß, wie viel er dir bedeutet.«

In diesem Moment erkannte Fayori, dass ihre Freundin recht gehabt hatte. Sedan hatte sich nicht für Loran opfern wollen, sondern für sie.

Etwas, das er im Wald zu ihr gesagt hatte, kurz bevor sie sich auf den Weg hierher gemacht hatten, kam Fayori in den Sinn.

›Wir sind niemals Freunde gewesen.‹

Damals hatte sie ihm zwar recht gegeben, aber nicht deuten können, was das zwischen ihnen sonst war. Heute wusste sie es.

»Nicht so viel wie du«, flüsterte sie mit wild klopfendem Herzen.

Ihre Finger zitterten, als sie aufhörte, damit um die Wunde zu streichen, und sie langsam über seinen Brustkorb hinabfahren ließ. Seine Haut war weich, wenn sie auch immer wieder von kleinen Narben unterbrochen wurde. Als sie seinen Hosenbund berührte, hielt sie inne. Wie in Trance betrachtete sie ihre Hand, glaubte selbst kaum, was sie hier tat. Und doch genoss sie es, wie ihre Fingerspitzen kribbelten und sich dieses Gefühl von dort in ihrem ganzen Körper auszubreiten schien, ihr regelrecht die Luft nahm.

Gern hätte sie vor ihm verborgen, was in ihr vorging, doch sie zweifelte nicht daran, dass er ihre Aufregung spürte. Er kannte sie zu gut. Außerdem war sie sich sicher, dass ihr Herz so laut pochte, dass es bis in die Versammlungshalle zu hören war.

»So sehr ich bereue, es zu sagen …«, setzte er an. »Aber es wäre wohl besser, wenn …«

Sie sah ihm wieder ins Gesicht, voller Angst vor dem, was er nun sagen könnte. Ein Verlangen war in ihr erwacht, eine Sehnsucht, die sie sich viel zu lange ausgeredet, ja geradezu verboten hatte. Sie wollte nur noch eins: bei ihm sein.

»Schick mich nicht fort«, brachte sie mühsam hervor, ihre Stimme ebenso zittrig wie ihre Finger.

Er schwieg, sah sie nur durchdringend an.

Fayori nahm all ihren Mut zusammen. Noch immer konnte sie nicht sicher sein, ob er ebenso fühlte wie sie. Dies herauszufinden, erforderte Handeln, keine Worte.

Langsam schob sie sich auf die Zehenspitzen, lehnte sich leicht gegen ihn und als er sie nicht von sich schob, überwand sie das letzte Stück, das ihre Gesichter noch voneinander trennte. Beinahe vorsichtig legte sie ihre Lippen auf die seinen, immer noch in der Erwartung, er würde nicht zulassen, was sie im Begriff war, zu tun.

Der Kuss, so sanft er war, löste einen wahren Sturm in ihr aus. Es war, als würden Raum und Zeit verschwimmen, als würde ihr Körper sich in Wohlgefallen auflösen und ihre Seele zum ersten Mal freigeben in eine Welt, die aus nichts als Glück bestand.

Berauscht und gierig nach mehr schob sie eine Hand in seinen Nacken und schmiegte sich enger an ihn. Da legte auch er seine Arme um ihre Taille, hielt sie fest und erwiderte den Kuss auf eine derart intensive Art, dass Fayori befürchtete, sie würde unter all den elektrisierenden Gefühlen einfach ohnmächtig werden.

Dass sein Kuss immer fester, fordernder wurde, zeigte ihr, dass es Sedan ähnlich ging. Sie hatten eine Grenze überschritten und nun war keiner von ihnen noch zu irgendeiner Zurückhaltung fähig.

In diesem Moment wusste Fayori, dass sie alles schaffen konnte, was noch vor ihr lag, solange dieser Mann an ihrer Seite war. Er war ihr Fels, ihr Schutzschild, ihr Anker …

Ihre Euphorie brach abrupt ab, als Sedan sich ohne Vorwarnung von ihr löste und derart von sich stieß, dass sie das Gleichgewicht verlor und rücklings auf dem Boden landete. Ohne zu begreifen, was gerade geschehen war, sah sie zu ihm auf.

Keuchend stand er vor ihr, eine Hand auf die Brust gepresst, und starrte sie mit verengten Augen an. »Rühr … mich nie … wieder an«, presste er hervor.

Unter seinem Blick wurde ihr eiskalt. Was hatte sie getan? Was hatte sie falsch gemacht? Gerade waren sie einander so nah gewesen, als wollten ihre Seelen eins werden, und nun fühlte es sich an, als wäre er weiter von ihr entfernt als je zuvor.

»Sedan, was …«, setzte sie zu einer Frage an, doch er ließ sie nicht ausreden.

»Nie! Wieder!«, brüllte er.

Dann stürmte er hinaus.

Vollkommen perplex starrte Fayori auf den leeren Türrahmen vor sich und versuchte zu verstehen, was gerade geschehen war. Auf einen Schlag hatte sich die Glückseligkeit in ihrem Herzen in tiefste Verzweiflung verwandelt und drohte, es zu zerreißen. Nein, nicht auf einen Schlag – auf einen Stoß.

Wieso hatte er das getan?

Sie suchte nach einem Hinweis, einer Erklärung für Sedans plötzlichen Ausbruch. Die logischste war wohl, dass er einfach nicht das Gleiche empfand wie sie. Und doch glaubte sie das nicht.

Sie hatte in seinen Augen die gleiche Zuneigung gesehen, die sie selbst empfand, hatte in dem Kuss die Sehnsucht gespürt, die seine Nähe auch in ihr weckte. Er empfand etwas für sie, da war sie sicher. Aber wieso ließ er es nicht zu?

Nun, es würde sicher nichts bringen, hier sitzen zu bleiben und darüber nachzugrübeln. Sie hatte sich nicht nach all der Zeit ihre wahren Gefühle eingestanden, um in dem Zweifel zu bleiben, inwiefern Sedan sie erwiderte. Sie war mit dem Ziel hergekommen, herauszufinden, wie er zu ihr stand. Und genau das würde sie auch tun.

Mit einem schnellen Satz erhob sich Fayori. Dabei spürte sie, wie ihr Hintern schmerzte. Das würde einen schönen blauen Fleck geben. Doch das interessierte sie gerade nicht. Sie musste Sedan hinterher, ihn zur Rede stellen und ein für alle Mal klären, was da zwischen ihnen war – oder auch nicht war.

Der Gang draußen war leer. Aus dem Bauch heraus entschied sie, sich nach links zu wenden, entgegen der Richtung zu der Versammlungshalle. Dahin würde Sedan ganz sicher nicht gehen.

Sie hastete hinaus, folgte den verworrenen Wegen über die Dächer und fragte jeden, der ihr begegnete, nach einem blonden jungen Mann mit nacktem Oberkörper.

Die Ersten verneinten und Fayori glaubte schon, in die völlig falsche Richtung zu laufen, bis sie von einer alten Elfe erfuhr, dass sie ihm den Weg zu Jills Behausung beschrieben hatte.

Warum wollte er ausgerechnet zu ihr? Sicher, sie war ihm von allen Vögeln mit der meisten Freundlichkeit begegnet, aber Sedan war nicht der Typ, der jemandem sein Herz ausschüttete oder sich Rat holte, schon gar nicht von einer Fremden. Oder war in Hollys Haus irgendetwas geschehen, das die beiden enger zueinander geführt hatte?

Eigentlich war es auch egal. Wichtig war nur, dass Fayori nun wusste, wo sie ihn finden würde.

 

Als sie das von der alten Elfe beschriebene Dach fand, entdeckte sie Sedan sofort. Er hämmerte wie ein Verrückter gegen eine Tür, die in diesem Moment geöffnet wurde. Jill trat in den Eingang und gestikulierte, herrschte ihn vermutlich an, er solle keinen solchen Lärm machen. Dann redeten die beiden mit ernsten Mienen miteinander.

Fayori war stehen geblieben, halb verdeckt hinter einem Schornstein. Sie würde Sedan zur Rede stellen, auch wenn ihr der Gedanke, was er ihr zu sagen hatte, beinahe die Luft abschnürte. Jedoch wollte sie das nicht in Jills Beisein tun und würde warten, bis sich die beiden wieder verabschiedet hatten.

Die Diskussion zwischen ihnen schien hitziger zu werden, denn Sedans Stimme erhob sich und wurde schließlich so laut, dass Fayori verstand, was er sagte. Es war nur ein einziger Satz, doch dieser sorgte dafür, dass ihr Blut zu kochen begann und derart laut durch ihre Ohren rauschte, dass sie nichts mehr um sich herum wahrnahm.

»Weil ich Trottel mich in dich verliebt habe!«

Wie ein Echo hallten diese Worte durch Fayoris Kopf, betäubten ihren Körper und drangen tief in ihr Herz, in ihre Seele.

Sie sah, wie Jill Sedans Arm packte und ihn zu sich in ihre Kammer zog. Dann schloss sich die Tür und die beiden waren fort.

Ein gequälter Laut drang aus Fayoris Kehle, eh sie sich eine Hand auf den Mund presste. Sie musste Sedan nicht mehr fragen, was er für sie empfand, er hatte ihr die Antwort gerade gegeben.

Während ihr Körper bereits unter den ersten Schluchzern zu zittern begann, wandte sie sich ab, lehnte sich gegen den Schornstein und ließ sich daran hinabsinken.

Ihr Magen verkrampfte sich und sie bekam kaum noch Luft, als würden sich erneut die silbernen Fesseln um sie legen, mit denen sie es in ihrer Vision von der Lichtgestalt zu tun gehabt hatte. Gleichzeitig schmerzte ihr Herz so sehr, dass sie glaubte, es würde ihr jeden Moment den Dienst versagen.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Da waren Zuneigung und Sehnsucht in Sedan gewesen, als sie ihn geküsst hatte – doch diese hatten nicht ihr gegolten, sondern Jill. Was auch immer es war, was der Seelenlose für Fayori empfand, Liebe war es nicht.

Sie zog die Knie eng an ihren Körper, vergrub ihr Gesicht darin und verlor endgültig den Kampf gegen die Tränen, die ihr nun hemmungslos über die Wangen liefen. Ein gedehntes Schluchzen entfuhr ihr, das sie innerlich fast zerriss.

Die Welt um sie zerbrach, verschwand, löste sich auf. Nichts hatte noch Bedeutung, nichts war wichtig, nichts so viel wert, dass es das Recht hatte, weiter zu bestehen. Auch nicht Fayori selbst.

Und so zog sie sich in sich zurück, versank in ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung. Sie wollte weg von hier, dieses Leben aufgeben, welches ihr plötzlich so sinnlos erschien. Und tief in ihrem Inneren, so hoffte sie, würde diejenige auf sie warten, die all dem sofort ein Ende machen konnte: ihre Gabe.

Kapitel 3 - Fayori

 

So sehr sie sich auch wünschte, sich in ihr Inneres hinabzusenken und der Frau mit dem Silberhaar gegenüberzutreten, die sie bei ihrer letzten Begegnung fast getötet hatte – es gelang ihr nicht. Da war nicht dieses Kribbeln, dieses fremde, warme Gefühl, das ihr die Richtung wies. Da war nur eisiges Nichts, das aus ihrer Mitte strömte und statt sie zu leiten, eine Barriere zu errichten schien, die ihr die Flucht aus der Realität verwehrte.

Dennoch blieb Fayori sitzen. Sie fürchtete, ihre Schritte könnten sie in ihrer Verzweiflung an den Rand des Daches und darüber hinaus führen.

Aber war nicht auch das eine Option? Es würde dem allen hier genauso ein Ende bereiten …

Ein Geräusch durchbrach den Wall von Selbstmitleid, der sie umgab. Ein Rauschen, weit entfernt, das sich schnell näherte. Nein, kein Rauschen, ein Flattern.

Als sie den Kopf hob, landete ein großer Rabe auf dem Schornstein, hinter dem sie hockte. Sie brauchte ihn nicht genauer zu betrachten, um zu wissen, dass es sich um Vorcus’ Vogel handelte.

»Ver-schwinde«, schniefte sie und legte die Stirn erneut auf ihre Knie.

Ein weiteres Flattern. Sie hörte, wie der Rabe direkt neben ihr landete und dort zu krächzen begann.

Ohne ihn anzusehen, streckte sie einen Arm in seine Richtung und wedelte herum. »Lass mich in Ruhe«, nuschelte sie.

Doch das Tier ließ sich nicht beirren. Die Laute, die es ausstieß, wurden energischer und Fayori hörte, wie es mit den Flügeln schlug, ohne jedoch vom Boden abzuheben.

Schnell zog sie die Hand zurück, bevor es mit seinem spitzen Schnabel nach ihr hacken konnte.

Aber auch das schien es nicht zu sein, was der Rabe wollte. Er verstummte, kam zu ihr gehüpft und begann, an ihrer Kleidung zu zupfen.

Erneut sah Fayori ihn an. »Was willst du denn von mir? Siehst du nicht, dass es mir schlecht geht?«

Der Rabe machte ein paar Schritte rückwärts, legte den Kopf schief und beäugte sie. Dann krächzte er, nur ein einziges Mal, und schien abzuwarten.

Als sie nichts anderes tat, als seinen Blick zu erwidern, entfernte er sich noch ein Stück, krächzte abermals und hielt wieder inne.

Fayori wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Als ob sie gerade die Muße hätte, sich mit einem Vogel auseinanderzusetzen – noch dazu einem, der sie wenige Stunden zuvor angegriffen und fast geblendet hatte.

Aber irgendwie wirkte er gerade keinesfalls gefährlich. Im Gegenteil: In seinen großen obsidianfarbenen Augen lag etwas Mitleidiges, als würde er ihren Schmerz fühlen und teilen.

›Komm, folge mir‹, konnte sie unausgesprochene Worte darin lesen. ›Ich führe dich zu jemandem, der dich versteht und der dir hilft.‹

Zuerst sträubte sie sich gegen die stumme Aufforderung des Raben. Sie wollte allein sein, wollte hier sitzen bleiben und sich ihren Qualen ergeben. Doch dann erinnerte sie sich, wie gut es stets getan hatte, mit Rawena über ihren Liebeskummer zu sprechen oder von Lysanna in den Arm genommen zu werden, wenn diese gespürt hatte, dass etwas ihre Tochter beschäftigte.

Vielleicht würde es auch jetzt helfen, wenn ihr einfach jemand über den Kopf strich und ihr sagte, alles würde gut werden?

»In Ordnung«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Gehen wir.«

Kaum dass sie stand, flatterte der Rabe auf und setzte sich auf ihre Schulter. Sanft schlossen sich seine Krallen gerade so fest, dass er sich halten konnte, Fayori ihren Druck jedoch kaum spürte.

Mit zittrigen Beinen ging sie los, war ihr doch klar, zu wem der Vogel sie bringen sollte.

 

Dass Fayori unbeschadet die Versammlungshalle erreichte, grenzte an ein Wunder. Die Tränen, die unaufhörlich ihre Wangen hinabliefen, hatten ihr die Sicht verschleiert und ihre Beine schienen ihr kaum gehorchen zu wollen. Mehr als einmal hatte sie innegehalten, sich gegen eine Wand gelehnt und bei dem Versuch, die schmerzhafte Trauer niederzuringen, den Atem angehalten.

Der Rabe war bei ihr geblieben, hatte seinen Kopf an ihrer Wange gerieben und mit seinen Federn die Tränenspuren fortgewischt. ›Verzweifle nicht‹, hatte er ihr zugeraunt. ›Nur noch ein Stück.‹

Natürlich hatte er nicht wirklich mit ihr gesprochen, doch in Fayoris Gedanken waren es diese Worte gewesen, die auftauchten, wenn er sich tröstlich an sie geschmiegt hatte.

Als sie die Halle nun durch eines der hohen Fenster betrat, meinte sie zunächst, ihr Gefühl hätte sie an den falschen Ort gelenkt.

Der große Lehnstuhl, auf dem der Anführer des ›Avium Circulo‹ sonst zu sitzen pflegte, war leer und auch sonst schien keine Elfenseele hier zu sein.

Hatte Fayori sich getäuscht? Wollte der Rabe sie gar nicht zu seinem Herrn führen?

Als würde das Tier ihre Verwirrung spüren, stieß es sich von ihrer Schulter ab, zog einen großen Kreis unter der Decke und steuerte schließlich eines der seitlichen Fenster an.

Erst da bemerkte Fayori die zusammengesunkene Gestalt, die dort stand und den Blick scheinbar in die Ferne schweifen ließ.

Vorcus hob einen Arm, damit der Rabe darauf landen konnte, und strich dem Tier liebevoll durch das Gefieder. Dann wandte er sich ihr zu. »Bist du gekommen, um unser Training fortzusetzen?«

Wie bitte? War das sein Ernst? Sah er denn nicht, in welch erbärmlichem Zustand sie war?

Nein, natürlich sah er es nicht … Er war blind!

Doch Fayori hatte bereits erlebt, wie gut dieser Elf seine Umgebung auch ohne Augenlicht wahrnahm. So auch jetzt.

Er stieß einen langen Seufzer aus, der gleichsam abschätzig wie auch bedauernd klang. »Erzähl mir, was passiert ist.«

Mit einem Mal bereute Fayori, dass sie zu ihm gekommen war. Dieser alte Mann war der Letzte, mit dem sie über ihre Gefühle sprechen wollte. Er konnte ihr ohnehin nicht helfen, kannte er weder sie noch Sedan gut genug, um sich eine Meinung zu dem Ganzen bilden zu können.

»Nichts«, antwortete sie daher knapp, konnte aber nicht vermeiden, dass ihre Stimme selbst bei diesem einzigen Wort brach.

»Aha.« Vorcus hielt kurz inne und gab ihr damit Gelegenheit, weiterzusprechen.

Doch sie schwieg.

»Noch vor ein paar Stunden warst du bereit, dich deiner inneren Gabe anzunehmen. Du hattest große Ziele, wolltest deine Mutter befreien und dich der dunklen Fürstin stellen. Jetzt stehst du vor mir, gebrochen, jedes Kampfeswillens beraubt. Nichts ist dir noch wichtig, alles ist dir egal – und du willst mir sagen, es sei nichts geschehen?«

Fayori biss sich auf die Unterlippe, um das Schluchzen, welches sich bei seinen Worten erneut in ihrer Kehle anbahnte, im Zaum zu halten.

Ihrer statt antwortete der Rabe, der noch immer auf Vorcus’ Unterarm hockte, mit einem Keckern.

»Ach, dir hat sie sich also anvertraut, soso …«, wandte sich der Alte an den Vogel, der sich nun aufplusterte und mit dem Kopf ruckte.

Einen Moment wirkte es, als würden die beiden Zwiesprache halten, dann sah Vorcus wieder zu dem Mädchen.

»Das ist in der Tat eine traurige Geschichte«, meinte er in mitleidigem Ton. »Dass Sedan sich so verhält, hätte ich tatsächlich nicht erwartet. Nun, er war schon immer für Überraschungen gut.«

Auch wenn Fayori weder verstand, wie der Rabe und der Elf kommunizierten, noch, woher der Vogel wusste, was zwischen ihr und Sedan vorgefallen war, spürte sie eine Art Erleichterung. Sie konnte sich Vorcus nun anvertrauen, da er Bescheid wusste, und Trost bei ihm suchen, ohne dass sie den Grund für ihre Verzweiflung erklären musste. Denn genau das war es, zu dem sie nicht fähig war. Schon der bloße Gedanke daran trieb ihr erneut die Tränen in die Augen.

»Ich habe es … so lange … nicht verstanden … aber jetzt … und als ich … endlich … dann hat er …«, begann sie, war aber nicht imstande, auch nur einen Satz zu beenden. Immer wieder wurde sie von heftigen Schluchzern unterbrochen, bis sie es schließlich aufgab und die Hände vors Gesicht presste.

»Ich weiß, ich weiß«, beruhigte Vorcus sie. »So fühlt sie sich nun mal an, die unerfüllte Liebe.«

Sie hoffte, er würde zu ihr kommen und sie in die Arme nehmen, so sehr sehnte sie sich jetzt nach tröstlicher Geborgenheit – und wenn es nur die eines alten Elfen war, den sie kaum kannte.

Stattdessen wandte er sich von ihr ab und begann, einige Schritte hin und her zu gehen. »Die Liebe ist wie die Sonne. Sie wärmt, spendet Licht und gibt Kraft, wo auch immer sie ihre Strahlen hinlenkt. Im Sonnenlicht erscheint jeder Weg hell, sicher und ungefährlich. Doch wehe, sie verschwindet hinter düsteren Wolken oder hinter dem Rand der Welt, dann lässt sie die Dunkelheit zurück, die uns bedrohlich vorkommt und ein Gefühl der Einsamkeit in uns weckt.«

Etwas zog sich in Fayori zusammen. Vorcus’ Worte beschrieben nur zu gut, was sie gerade empfand. Ja, er schien sie wirklich zu verstehen …

»Aber bedenke«, fuhr er fort, wobei seine Stimme plötzlich einen kühleren Ton annahm. »Würden wir das Licht nicht kennen, hätten wir dann trotzdem Angst vor der Dunkelheit? Würden wir die Wärme der Sonne vermissen, hätten wir sie niemals auf unserer Haut gespürt?« Er blieb stehen und richtete die verbundenen Augen auf Fayori.

Sie war irritiert. Das Gespräch schien plötzlich in eine ganz andere Richtung zu gehen. Vorcus wirkte nicht mehr verständnisvoll oder gar väterlich, sondern eher distanziert und abweisend.

»Deine Liebe zu Sedan ist nichts, was dir hilft, Mädchen«, erklärte er, als er ihren verwirrten Gesichtsausdruck sah. »Und sie sollte keinesfalls der Grund sein, alles, wofür du kämpfst, einfach aufzugeben.«

»Aber …«, wollte sie sich rechtfertigen, doch Vorcus ließ sie nicht.

»Eine Liebe, ob erfüllt oder nicht, ist kein Argument, deine Ziele aus den Augen zu verlieren. Du musst die Herrschaft über deine Gabe gewinnen, um …«

Nun war Fayori es, die ihm ins Wort fiel. »Aber wie soll ich das tun?«, brüllte sie ihn an. »Ihr selbst habt gesagt, ich bräuchte einen Anker, wenn ich das versuche. Sedan ist mein Anker! Meine Liebe zu ihm war es, die mich das letzte Mal davor bewahrt hat, von meiner eigenen Macht erstickt zu werden!«

»Du misst der Liebe eine viel zu hohe Bedeutung bei.« Auch Vorcus hatte die Stimme erhoben. Ihr barscher Klang ließ den Raben aufflattern, der bis dahin noch auf dessen Arm gehockt hatte. Laut krächzend kreiste er zwei Runden über ihnen und landete schließlich auf der Lehne von Vorcus’ Stuhl.

Fayori ignorierte das Tier und fixierte seinen Herrn. Sie wurde nicht schlau aus ihm. In der einen Sekunde hatte sie den Eindruck, er wäre eine Art übermächtiges Wesen, das alles wusste und dem nichts entging. Dann wieder wirkte er so zerbrechlich wie ein Mensch, zeigte Mitgefühl und Anteilnahme. Was er da aber gerade gesagt hatte, war schlichtweg dumm und hätte genauso aus dem Mund eines Trolls stammen können. Wusste er denn wirklich nichts über die Liebe?

»Nichts auf der Welt hat mehr Bedeutung, mehr Kraft als sie«, rechtfertigte sie sich. »Sie leiht uns Flügel, lässt uns eigene Grenzen überschreiten, befähigt uns zu Dingen, die wir ohne sie nie imstande wären, zu tun. Liebe ist wie Magie, wie die stärkste Magie, die es in dieser Welt gibt.«

Vorcus stieß ein abschätziges Lachen aus, das Fayori sich wie ein dummes Kind fühlen ließ. Dabei war er doch der Dumme, wenn er das nicht verstand.

»Nur durch die Liebe konnte meine Mutter ihr Feuer kontrollieren und den Flammenden Lord besiegen«, versuchte sie, es ihm anhand eines Beispiels zu erklären.

Das Lachen des Alten brach abrupt ab. »Bist du wirklich so töricht, das zu glauben?«, fuhr er sie an. »Meinst du, es war Liebe, was deine Mutter empfunden hat, als Orano Aerthas beinahe vor ihren Augen abgestochen hätte? Und Aerthas – was hat er in diesem Moment wohl empfunden? Liebe? Wohl kaum … Es war blanke Wut, ja schierer Hass, der ihnen die Kontrolle über ihre Kräfte gegeben hat.«

Fayori zuckte mehrmals zusammen, während er sprach. Seine Stimme war zu einem Dröhnen angeschwollen, das ihr bis ins Mark ging.

»Und im Kampf gegen Ardérus, als Aerthas die Wirbelklinge formte und deine Mutter dem Flammenden Lord damit den Garaus machte? War es da Liebe? Nein. Mit der Gewissheit, zu sterben, hat der Eisprinz die Klinge aus Todesangst erschaffen. Und getrieben von Verzweiflung und Zorn über seinen Verlust war Lysanna fähig, sie zu benutzen.« Vorcus spie Fayori die letzten Worte regelrecht entgegen. Dann war nur noch sein schwerer Atem zu hören.

»Ich habe geglaubt, nichts wäre so stark wie die Liebe …«, entgegnete Fayori matt. Sie hatte nicht mehr die Kraft, mit Vorcus zu streiten. Ihr Herz wog schwer wie Blei, ihre Augen brannten von vergossenen Tränen und ihr Kopf war nicht fähig, zu verarbeiten, was der Alte ihr sagen wollte.

»Wach auf, Mädchen. Nicht die guten Gefühle sind es, die uns zu wahrer Stärke führen. Echte Macht wird nicht aus Liebe geboren, und Liebe ist es auch nicht, was uns antreibt. Du musst das akzeptieren und deine wahren Beweggründe erkennen, wenn du deiner Mutter helfen willst.«

Fayori schloss die Augen. Irgendwie ergaben Vorcus’ Worte Sinn, auch wenn sie diesen noch nicht ganz begreifen konnte. Aber wie sollte sie denn auch, wenn sie sich auf nichts anderes konzentrieren konnte als den Schmerz in ihrem Herzen? Wie sollte sie so fähig sein, Lysanna aus den Klauen der Fürstin zu befreien?

Eines machten Vorcus’ Worte ihr jedoch klar: Sie würde nie wieder so töricht sein, Kraft in der Liebe zu suchen.

Kapitel 4 - Sedan

 

Keuchend und halb gekrümmt stand Sedan vor Jill. Das Gefühl, das in seiner Brust tobte, war kaum auszuhalten. In der einen Sekunde spürte er einen Druck, als wohnte ein wildes Tier dahinter, das mit aller Gewalt gegen seinen Brustkorb stürmte, um daraus hervorzubrechen. Im nächsten Moment zog es sich zurück und hinterließ eine Leere, die alles in ihm aufzusaugen drohte, bis es ihn selbst nicht mehr gab. Nur um dann erneut nach vorn zu preschen.

Die Verletzung an seiner Schulter spürte Sedan nicht mehr. Er spürte gar nichts außer der Bewegung in seiner Brust – den Schlag seines Herzens.

Keuchend presste er eine Hand gegen seinen Oberkörper. Es konnte nicht sein, es war unmöglich … Er war ein Seelenloser, er war tot! Sein Herz war tot und hatte seit Jahren keine Zuckung mehr von sich gegeben. Und doch spürte er selbst von außen, wie dieses fremde Ding in ihm schlug.

»Sedan, was hast du?«, fragte Jill, die noch immer vollkommen perplex vor ihm stand.

Auch sie war sichtlich überfordert, nicht nur wegen des roten Blutes, das seinen Arm hinablief. Er hatte ihr gerade offenbart, dass er sich an ihre gemeinsame Vergangenheit erinnerte, und noch konnte er nicht abschätzen, ob ihr das gefiel oder nicht.

Das interessierte ihn im Moment jedoch nicht. Der Schmerz nahm stetig zu und ließ alles um ihn herum immer mehr verblassen.

Konnte er das überstehen? War der Körper eines Seelenlosen stark genug, ein schlagendes Herz zu verkraften?

Er glaubte es nicht …

»Verdammt … Jizza, hilf mir hier mal!«, rief Jill hinter sich. Sie packte Sedan am Arm und zog ihn in ihre Kammer. Dann verschloss sie die Brettertür hinter ihnen.

Ihre Schwester kam aus einem Nebenraum hinzu. »Was schreist du …« Mitten im Satz unterbrach sie sich, als sie Sedan erblickte. »Bei den Ahnen, wie siehst du denn aus?«

Normalerweise hätte er eine bissige Bemerkung erwidert.

Die Elfe mit dem kurzen blonden Haar machte selbst nicht den besten Eindruck. Auf ihrem Jochbein lag ein blauer Schatten und an ihrem Unterarm prangte ein dicker Verband.

All das sah er aber nicht. Für ihn war sie nicht mehr als ein Schemen, dessen Identität er nur anhand ihrer Stimme erkannte.

Ihm fehlte die Kraft. Die Kraft zum klaren Sehen, zum Denken, ja selbst, sich auf den Füßen zu halten.

Nein, er ertrug es nicht, dieses Herz, und würde es nie ertragen können. Es musste aufhören, es musste weg!