Elesztrah (Band 2): Asche und Schnee - Fanny Bechert - E-Book

Elesztrah (Band 2): Asche und Schnee E-Book

Fanny Bechert

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Beschreibung

Während sich die Bewohner Elesztrahs in Frieden wähnen, bleibt die Beziehung zwischen Lysanna und Aerthas angespannt. Die Pläne des Elfenkriegers stehen wie eine Mauer zwischen ihnen und gleichgültig, wie sehr sie sich bemühen – eine gemeinsame Zukunft scheint unmöglich zu sein. Lysanna sieht schließlich nur noch einen Ausweg: Sie will ihr Schicksal selbst bestimmen, auch wenn sie sich dem Hüter der Zeit entgegenstellen muss. Doch in den Lauf der Dinge einzugreifen, ist nicht so leicht, wie es sich die Jägerin vorstellt. Denn die Schicksalsweberin lässt sich die Fäden nur ungern aus der Hand nehmen. Zudem bahnt sich in Elesztrah eine weitere Bedrohung an, die nicht nur Aerthas' Leben in Gefahr bringt …

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Sammlungen



Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Informationen zum Buch

Landkarte

Landkarte Elesztrah

Prolog

Kapitel 1 - Lysanna

Kapitel 2 - Lysanna

Kapitel 3 - Lysanna

Kapitel 4 - Lysanna

Kapitel 5 - Aerthas

Kapitel 6 - Aerthas

Kapitel 7 - Aerthas

Kapitel 8 - Aerthas

Kapitel 9 - Aerthas

Kapitel 10 - Lysanna

Kapitel 11 - Lysanna

Kapitel 12 - Aerthas

Kapitel 13 - Aerthas

Kapitel 14 - Lysanna

Kapitel 15 - Lysanna

Kapitel 16 - Lysanna

Kapitel 17 - Lysanna

Kapitel 18 - Lysanna

Kapitel 19 - Lysanna

Kapitel 20 - Lysanna

Kapitel 21 - Lysanna

Kapitel 22 - Lysanna

Kapitel 23 - Lysanna

Kapitel 24 - Lysanna

Kapitel 25 - Lysanna

Kapitel 26 - Lysanna

Kapitel 27 - Aerthas

Kapitel 28 - Lysanna

Kapitel 29 - Aerthas

Kapitel 30 - Aerthas

Kapitel 31 - Aerthas

Kapitel 32 - Aerthas

Kapitel 33 - Lysanna

Kapitel 34 - Lysanna

Kapitel 35 - Lysanna

Kapitel 36 - Aerthas

Kapitel 37 - Aerthas

Epilog

Ende?!

Glossar

Dank

Interview mit Fanny Bechert

6 Fragen zu Elesztrah

6 Fragen zu Fanny Bechert

Buchempfehlungen

 

Fanny Bechert

 

 

Elesztrah

Band 2: Asche und Schnee

 Fantasy

 

www.sternensand-verlag.ch | [email protected]

 

1. Auflage, April 2017

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2017

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski | alexanderkopainski.de

Karte: Corinne Spörri | Sternensand Verlag GmbH

Bilder: shutterstock.com | fotolia.de

Elesztrah-Wappen: Fanny Bechert

Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Martina König

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

ISBN-13: 978-3-906829-36-4

ISBN-10: 3-906829-36-4

 

 

 

 

 

Elesztrah – Feuer und Eis

 

Während sich die Bewohner Elesztrahs in Frieden wähnen, bleibt die Beziehung zwischen Lysanna und Aerthas angespannt. Die Pläne des Elfenkriegers stehen wie eine Mauer zwischen ihnen und gleichgültig, wie sehr sie sich bemühen – eine gemeinsame Zukunft scheint unmöglich zu sein.

Lysanna sieht schließlich nur noch einen Ausweg: Sie will ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, indem sie den Hüter der Zeit aufsucht.

Doch in den Lauf der Dinge einzugreifen, ist nicht so leicht, wie es sich die Jägerin vorstellt. Denn die Schicksalsweberin lässt sich die Fäden nur ungern aus der Hand nehmen. Zudem bahnt sich in Elesztrah eine weitere Bedrohung an, die nicht nur Aerthas’ Leben in Gefahr bringt …

 

 

Die Autorin

 

Fanny Bechert wurde 1986 in Schkeuditz geboren und lebt heute mit ihrem Mann und ihrer Katze Lucy im Thüringer Vogtland. Im »realen Leben« Physiotherapeutin, griff sie erst 2012 mit dem Schreiben ein Hobby ihrer Kindheit wieder auf. Was zuerst ein Ausgleich vom Alltag war, nahm bald größere Formen an, und so veröffentlichte sie im Juni 2015 ihren ersten Roman im Fantasy-Genre.

Auch heute geht sie noch ihrem Hauptberuf nach, obwohl die Tätigkeit als Autorin einen immer größeren Stellenwert in ihrem Leben einnimmt.

 

Prolog

 

Schwerfällig drehte sich Orano unter der erdrückenden Daunendecke auf die andere Seite. Schatten wirrer Träume geisterten durch seinen vernebelten Verstand. Bilder seiner ehemaligen Gemahlin Lysanna, der wunderschönen Jägerin, und seiner Tochter Fayori, die sich in jeder Nacht aufs Neue von ihm abwendeten. Und von diesem verdammten Elfenkrieger Aerthas, dem er es zu verdanken hatte, dass er beim Prinzen Elesztrahs in Ungnade gefallen war.

Der einstige General strich sich mit beiden Händen über das Gesicht und tastete dann mit der flachen Hand neben sich. Doch die andere Hälfte des großen, aus Eisen geschmiedeten Himmelbettes war leer. Das überraschte ihn nicht.

Nachdem er Lawinia in der Himmelsfestung begegnet und mit ihr noch vor dem großen Kampf der Schöpfungen gegen den Flammenden Lord geflohen war, hatte sie ihn mit auf ihre Burg in den Netherlanden genommen und teilte seitdem ihr Bett mit ihm. Doch nicht ein einziges Mal waren sie nebeneinander aufgewacht. Die Fürstin hatte große Pläne und keine Zeit, den halben Tag im Bett zu verbringen, so wie er es gern tat. Jedenfalls sagte sie das immer.

Stöhnend richtete er sich auf. Und schon kamen sie wieder, diese elenden Kopfschmerzen, mit denen er jeden Morgen erwachte.

Blindlings tastete er auf dem Nachttisch umher, bis seine Finger einen kalten, glatten Gegenstand fanden. Er griff nach der Flasche und schwenkte sie hin und her. Wenigstens war er am gestrigen Abend noch so klar gewesen, einen Rest Wein darin zu belassen, mit dem er nun den Kater bekämpfen konnte, der seine Gedanken lähmte und seinen Schädel dröhnen ließ.

Begierig setzte er die Flasche an die Lippen und leerte sie in einem Zug.

»Schon besser …« murmelte er. Kurz blieb er noch liegen, bevor er die Beine aus dem Bett schwang. Sofort griff eine unangenehme Kälte nach seinem nackten Körper und er begann hektisch, sich anzuziehen.

Welche Tageszeit mochte es wohl sein? In diesen Gemäuern konnte das niemand genau sagen, denn auf Geheiß der Fürstin hatten alle Fenster stets verhangen zu sein. Lawinia hatte sich voll und ganz der Dunkelheit hingegeben und war darauf bedacht, jedes Tageslicht aus ihrer hochheiligen Festung auszuschließen. Auch Feuer fand man im Schloss keines, außer man besuchte den Küchentrakt, wo es zum Kochen unabdingbar war.

Dort hielt Orano sich gern auf. Es herrschte eine fast heimelige Wärme in der Nähe des Ofens und außerdem versorgten ihn die leichtgläubigen Küchenmädchen ständig mit Wein und Zwergenbier, wenn er nur etwas freundlich zu ihnen war. Zu Beginn hatte es ihn einige Überwindung gekostet, denn der Zustand der seelenlosen Mädchen, die im niederen Dienst arbeiteten, stand in keinem Vergleich zu dem makellosen Elfenkörper der Fürstin, über den er seine Finger nur zu gern wandern ließ. Aber der Zweck heiligte die Mittel und man gewöhnte sich ja bekanntlich an alles.

Heute jedoch würde ihm ein Intermezzo mit den Mägden erspart bleiben, denn für den Abend hatte Lawinia einige Verbündete zu einem Festessen geladen. Er wusste nicht, um wen es sich dabei handelte. Es war ihm auch egal. Wichtig war nur, dass es gutes Essen und reichlich Alkohol geben würde.

Bis dahin mochten aber noch ein paar Stunden vergehen und ihm gelüstete es danach, diese mit Lawinia zu verbringen und damit weiterzumachen, wofür ihm in der Nacht zuvor vom Alkohol benebelt die rechte Ausdauer gefehlt hatte.

Er befestigte noch zwei Flaschen Feuerschnaps an seinem Gürtel, die er als Reserve in der Truhe mit seiner Kleidung aufbewahrte. Damit konnte er die Zeit bis zum Abend überbrücken, falls die Fürstin keine Lust auf ihn hatte. So ausgerüstet, verließ er das Schlafzimmer.

 

Wie erwartet fand er Lawinia im Thronsaal. Er kam aus ihren eigenen Gemächern und so konnte er den Saal unbemerkt durch eine kleine Tür im hinteren Teil betreten, die diese Räumlichkeiten miteinander verband.

Da er sich dem Thron von der rückwärtigen Seite näherte, konnte er von der Fürstin, die darauf saß, nichts weiter erkennen als ihre langen, schlanken Beine, die sie über eine Armlehne des hohen Herrscherstuhls gelegt hatte, und ihr rotbraunes Haar, welches auf der anderen Seite hervorschimmerte. Diese halb liegende Position nahm sie oft ein, wenn sie ihrem Gegenüber ihre Überlegenheit demonstrieren wollte. Wo andere Herrscher Arroganz zeigten, mimte sie eher Langeweile.

Die Gestalt, die vor dem Thron kniete, erweckte Oranos Interesse umso mehr. Es handelte sich um General Kaznek, einen der führenden Befehlshaber der Orks. Das waren also die geheimnisvollen Gäste, die Lawinia erwartet hatte.

Beim Anblick dieses widerwärtigen Grünlings, der sabbernd vor seiner Herrin kauerte, verging ihm jede Lust auf ein Schäferstündchen. Angewidert griff er nach einer der beiden Flaschen an seinem Gürtel.

»Dann sind wir uns also einig, General Kaznek. Ich werde Euch die versprochenen Waffen schicken, sobald sie fertig sind. Dafür bekomme ich zwei Dutzend Pekkets und einen Stallmeister.«

Orano wunderte sich über das soeben Gehörte. Pekkets waren die Spürhunde der Orks, die zur Jagd auf Elfen abgerichtet waren. Was wollte Lawinia, die ja selbst zu diesem Geschlecht gehörte, mit solchen Viechern?

»Aber natürlich, meine schöne Herrin, so soll es sein«, grunzte der Ork und lenkte damit Oranos Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Schon jetzt ist unser Kriegsherr hocherfreut über unsere Zusammenarbeit.«

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte Lawinia mit honigsüßer Stimme.

Orano verzog das Gesicht und spuckte den Schluck Schnaps aus, den er gerade im Mund hatte. Die Grünhäute waren es einfach nicht würdig, dass sie so mit ihnen sprach.

Er legte eine Hand an eine der großen Steinsäulen, die die Decke des Raumes abstützten, um sein Gleichgewicht zu halten. Immer wieder unterschätzte er die Brennereikunst der Zwerge. Dieser Feuerschnaps war ein echtes Teufelszeug …

»Dann könnt Ihr jetzt gehen.« Lawinia winkte General Kaznek mit einer eleganten Handbewegung hinaus. »Und vergesst nicht das Festessen, welches ich heute Abend zu Ehren Eures Herrn veranstalte.«

Als sich die große Tür am anderen Ende des Saales hinter dem Ork geschlossen hatte, stöhnte Lawinia laut auf. Sie schwang die Beine von der Armlehne und erhob sich.

»Idiotenpack … Nun, wenigstens hat dieses Exemplar annähernd Manieren.«

Orano wollte sich schon von der Säule abstoßen, an der er mittlerweile mit dem Rücken lehnte, als sich eine andere Gestalt unterhalb des Throns aus den Schatten löste.

»Da tut es gut, ein geliebtes Gesicht zu sehen«, sagte Lawinia, als sie den Mann bemerkte.

Sie stieg die Stufen hinab und ging zu ihm.

Einige der Silberkugeln, die anstelle von Fackeln zur Beleuchtung dienten, schwebten ihr hinterher. Nun konnte Orano sehen, wer dort stand.

»Hast du deine Studien für heute beendet?«, fragte Lawinia und legte eine Hand an die blasse Wange des Mannes.

Dieser nickte.

»Und hat es dir irgendwelche neuen Erkenntnisse gebracht?«

Er schüttelte mit dem Kopf.

»Ich habe es dir doch gesagt. Das ist reine Zeitverschwendung. Frag mich – ich kann dir alles erzählen, was du wissen musst.«

Sie schmiegte ihren grazilen Körper an den des Mannes und Orano spürte, wie ihm bei diesem Anblick übel wurde. Vieles im Leben konnte er ertragen. Konkurrenz gehörte nicht dazu – schon gar nicht von ihm.

»Genau darüber habe ich nachgedacht«, sagte der Mann mit dunkler Stimme. »Wenn das, was ich bisher von dir erfahren habe, der Wahrheit entspricht …«

»Nie würde ich dich anlügen. Alles hat sich so zugetragen, wie ich es dir erzählt habe.« Lawinia strich ihm mit ihren langen Fingern über das stoppelige Kinn.

Der Mann schien das nicht mal zu bemerken. Ohne jede Reaktion auf diese liebevolle Geste sprach er weiter. »Dann werde ich tun, worum du mich gebeten hast.«

Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Recht so. Es wird Zeit, dass du deine Ehre wiederherstellst.«

»Und die deine«, sagte er und gab ihr nun doch einen zärtlichen Kuss.

Das reichte Orano. Genau das war der Grund, weshalb er so viel trank. Nüchtern hätte er diesen Mann noch weniger ertragen können. Doch gerade als er beschlossen hatte, die beiden Turteltauben zu unterbrechen, lösten sie sich voneinander.

»Dann geh jetzt«, sagte Lawinia. »Finde heraus, was wir wissen müssen.«

Der Mann verbeugte sich und verließ mit federnden Schritten den Saal.

»Denk nicht, ich hätte dich nicht bemerkt, Liebling«, sagte sie nun.

Orano löste sich von der Säule und ging leicht schwankend auf sie zu. Als er nach ihr griff und sie an sich ziehen wollte, verzog sie das Gesicht.

»Du stinkst schon wieder, als hättest du in Zwergenbier gebadet.«

»Feuerschnaps«, entgegnete er grinsend und hielt die fast leere Flasche hoch.

»Widerlich!«

»Was findest du nur an diesem Kerl?«, fragte er lallend und ignorierte ihren angewiderten Blick. »Was willst du mit ihm, wenn du doch mich hast?«

Lawinia lachte schallend. »Du warst einmal ein mächtiger Mann, Orano, in einer einflussreichen Position und mit großartigen Zielen. Aber sieh dich doch an! Deine Zeit ist vorbei. Seine jedoch fängt gerade erst an.« Bei diesen Worten sah sie zu der Tür, durch die der Mann gerade verschwunden war. »Er wird mir helfen, die Macht zu erlangen, die ich verdient habe.«

Sie ging an ihm vorbei in Richtung ihrer Gemächer. »Es ist noch ein wenig Zeit bis zum Abendessen. Kommst du?«

Einen Moment noch stand er da, unschlüssig, was er tun sollte. Er dachte darüber nach, was sie gesagt hatte und welche Möglichkeiten es nun für ihn gab: weiter Lawinias Lustknaben zu spielen oder hinauszuziehen in eine Welt, die ihn nicht haben wollte.

Dann trank er den letzten Schluck Feuerschnaps, warf die leere Flasche beiseite und folgte ihr zurück in ihre privaten Gemächer.

Kapitel 1 - Lysanna

 

Es war noch früh am Morgen, doch in dem kleinen Städtchen Frostwall, das hoch im Norden des Elfenlandes Elesztrah lag, herrschte schon geschäftiges Treiben.

Obgleich der Clan der ›Angelus Mortis‹ bereits seit zwei Wochen wieder hier lebte, gab es immer noch genug zu tun, um die Stadt vollkommen bewohnbar zu machen. Die Arbeiter und Baumaterialien, die der Prinz ihnen zur Unterstützung geschickt hatte, waren eine große Hilfe gewesen. Doch noch immer klafften große Löcher in der mannshohen Mauer, die die Stadt umgab, und auch einige Häuser waren noch halb zerstört oder verwüstet.

Aus einiger Entfernung beobachtete Lysanna, wie Arbeiter aus dem Stadttor traten, sich an dem angrenzenden Wachturm oder der Mauer zu schaffen machten und wieder im Stadtinneren verschwanden. Viele waren ihr fremd, aber ab und an konnte sie auch ein bekanntes Gesicht erkennen.

Gerade traten die beiden Zwerge Bruhn und Tessel aus dem Stadttor und trugen einen schwer aussehenden Stoffballen in Richtung des Wachturms.

Lysanna konnte erkennen, dass Bruhn noch immer hinkte, doch ansonsten schien er die Verletzungen, die er im Kampf gegen den Flammenden Lord erlitten hatte, gut verkraftet zu haben.

Erschöpft setzte sie sich auf einen der massiven Felsbrocken, die in dieser Gegend zuhauf zu finden waren, und zog die Knie an den Bauch. Sie schlotterte. Ihre Kleidung war durchtränkt vom Regen, der die ganze Nacht unbarmherzig auf sie herabgeprasselt war, und der kalte Wind, der als Vorbote des Winters unablässig aus dem Norden heranwehte, vermittelte ihr das Gefühl, einen Eispanzer auf der Haut zu tragen.

Die weiße Tigerin Bella, die wohl spürte, dass ihre Herrin fror, sprang ebenfalls auf den Felsen und rollte sich an ihrem Rücken zusammen.

Dankbar ließ Lysanna sich in das warme Fell des Tieres sinken.

Während sie den Zwergen dabei zusah, wie sie auf der oberen Plattform des Wachturms ein Banner mit dem Signum der ›Angelus Mortis‹ entrollten, um es an der Außenwand zu befestigen, führten ihre Gedanken sie zu den Geschehnissen der Vergangenheit.

Drei Wochen war es erst her, dass sie gemeinsam mit dem Clan gegen den Flammenden Lord gezogen war und ihn am Ende mit dessen Hilfe besiegt hatte. Ihr kam es jedoch vor wie eine Ewigkeit. Während der Clan scheinbar dem Beschluss der Ratsmitglieder gefolgt und in seine alte Heimatstadt zurückgekehrt war, hatte sie die letzten zwei Wochen wie in einem Nebel verbracht.

Nach der Offenbarung, dass der Mann, den sie liebte, eine andere heiraten würde, hatte sie Hohenfels fluchtartig verlassen. Dabei hatte sie nicht einmal wahrgenommen, wie er ihr nachgelaufen war in dem Versuch, sie aufzuhalten. Auch jener Jubel und Beifall, den ihr das Volk Elesztrahs entgegengebracht hatte, war nicht zu ihr durchgedrungen, als sie sich einen Weg durch die wartenden Massen auf dem Burghof gebahnt hatte. Dem erstbesten Soldaten, dem sie begegnet war, hatte sie die Zügel seines Pferdes aus der Hand gerissen, war in den Sattel gesprungen und hatte die Stadt in wildem Galopp hinter sich gelassen. Erst in den schützenden Schatten des Waldes war sie stehen geblieben und hatte das Pferd schließlich zurück nach Hause geschickt. Ziellos war sie danach durch den Laubschattenwald geirrt und doch hatten ihre Schritte sie immer wieder zu altbekannten Orten gelenkt.

Das Erste, was sie erkannt hatte, war ihr Elternhaus gewesen. Sie hatte einige Tage damit zugebracht, es zu beobachten, ihren Vater unbemerkt bei der Jagd zu begleiten und ihrer Mutter bei der Feldarbeit zuzusehen. Mehrmals war sie kurz davor gewesen, sich ihnen zu erkennen zu geben. Doch die Angst, dass ihre Eltern sie noch immer ablehnen und zurückweisen würden, war zu groß gewesen. So hatte sie ihnen nur die Federmaske des Feuervogels, welche sie noch bei sich getragen hatte, und einen ihrer unverkennbaren Pfeile vor die Tür gelegt, bevor sie weitergezogen war. Ihre Eltern würden diese Botschaft verstehen und vielleicht würde es ihnen helfen, ihrer Tochter zu verzeihen.

Ihr unsichtbarer Weg hatte sie weiter nach Westen geführt, nach Klingensang, wo sie einst ihre Kampfausbildung absolviert und ihren späteren Ehemann Orano kennengelernt hatte. Von dort war es weiter nach Süden gegangen, bis sie schließlich die Geisterfelder und damit jene kleine Lichtung erreicht hatte, auf der sie Aerthas zum ersten Mal begegnet war.

Dort hatte sie lange einfach nur dagesessen und versucht, all ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen und dadurch zu verstehen, was in den vergangenen Monaten geschehen war – ohne zu irgendeinem Ergebnis zu kommen.

Sie hätte sich wohl gänzlich in ihren Grübeleien verloren, wenn nicht plötzlich Bella aufgetaucht wäre. Vollkommen unerwartet hatte die Tigerin vor ihr gestanden und ihr mit ihrer rauen Zunge über die tränennassen Wangen geleckt.

Sie hatte einen Brief bei sich gehabt, in dem Fayori ihr den Beschluss des Clans, nach Frostwall zurückzukehren, mitgeteilt und sie gebeten hatte, ihnen zu folgen, wenn die Gespräche mit dem Prinzen beendet waren. Natürlich hatte Bella gewusst, dass sie sich längst nicht mehr in Hohenfels aufhielt, so eng wie die Freundschaft der beiden war, und es musste ein Leichtes für sie gewesen sein, Lysanna hier zu finden.

So hatten sie sich gemeinsam in ihre alte Heimat im Norden aufgemacht, um der Bitte von Fayori zu folgen.

Jetzt saß Lysanna hier auf diesem Stein, zitternd vor Kälte und Erschöpfung nach dem tagelangen Fußmarsch, der hinter ihr lag, und traute sich doch nicht, die wenigen Schritte, die sie noch von der Stadt trennten, zurückzulegen.

Sie würde einiges erklären müssen: wo sie gewesen war, was die Unterhaltung mit dem Prinzen ergeben hatte und vor allem, warum sie allein gekommen war. Schließlich waren sie und Aerthas in den Tagen nach dem Sieg über den Flammenden Lord einander kaum von der Seite gewichen.

Natürlich wusste sie bereits, was sie auf derlei Fragen antworten würde. Doch selbst wenn die anderen die Lügen, die sie sich dafür ausgedacht hatte, glaubten, würde es ihr selbst jedes Mal die schmerzliche Wahrheit wieder ins Gedächtnis rufen.

Sie saß noch ein paar Minuten so da. Dann gewann die Sehnsucht nach einem warmen Feuer und einem weichen Bett die Oberhand.

Sie streckte die Beine aus und glitt von dem Stein herunter. Sofort setzte sich auch Bella in Bewegung und gemeinsam gingen sie hinüber in Richtung des Wachturms.

 

»Schau sich das einer an, wer da kommt!«, stieß Tessel lauthals aus und knuffte Bruhn in die Seite.

»Lysanna, schön, dich endlich wieder hier zu haben!«

Sie hob die Hand und winkte den Zwergen zu. »Bruhn, wie geht es deinem Bein?«

»Jeden Tag besser. Auch wenn ich es wohl vergessen kann, jemals wieder ein Wettrennen gegen Tessel zu gewinnen.«

Die beiden Zwerge schubsten sich grölend hin und her und auch Lysanna ließ sich zu einem Lächeln hinreißen.

»Wenn ihr vom Turm stürzt, wird selbst die alte Shurya in Zukunft schneller sein als ihr!«, rief sie noch, eh sie ihnen den Rücken zukehrte und die Stadt durch das hölzerne Tor betrat.

Schon wenige Meter weiter traf sie auf die nächste bekannte Gestalt.

»Hallo, Sedan«, begrüßte sie den jungen Seelenlosen, der ihr mit einem großen Baumstamm auf der Schulter entgegenkam.

»Zurück? Du siehst ja furchtbar aus. Ist etwas passiert?«

»Nein, nein. Es war einfach nur eine anstrengende Reise. Und das launenhafte Wetter der letzten Tage hat es nicht gerade angenehmer gemacht.«

Sie lachte, aber Sedans Miene blieb ernst.

»Bist du allein gekommen?«

»Ja.«

Er musterte sie, als erwarte er eine Erklärung, doch sie zuckte nur mit den Schultern.

»Habt ihr euch schon gut eingelebt?«, versuchte sie stattdessen, das Thema zu wechseln.

»Mehr oder weniger …« Ungeduldig verlagerte er das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Er wollte weiter, was angesichts des massigen Stammes auf seiner Schulter nachvollziehbar war.

»Dann werde ich jetzt erst einmal nach Hause gehen und mich etwas ausruhen«, beendete sie das Gespräch.

Sie ging an ihm vorbei und wollte bereits in eine Seitengasse abbiegen, an deren Ende ihr Haus auf sie warten würde, als Sedan sie aufhielt.

»Vielleicht solltest du als Erstes zu deiner Tochter gehen. Sie hat sich Sorgen gemacht. Du findest sie in der Kaserne.«

»Was macht sie denn dort? Trainiert sie immer noch so verbissen?«

Lysanna bekam keine Antwort. Sedan war bereits weitergegangen.

So lenkte sie ihre Schritte auf die große Pflasterstraße, die quer durch die ganze Stadt führte und am Ende in das Militärviertel mündete. Während sie auf ihr entlangging, schaute sie mal rechts, mal links in die Gassen. Mehr als einmal nickte ihr ein bekanntes Gesicht entgegen oder winkte jemand euphorisch, um sie zu Hause willkommen zu heißen. Überrascht stellte sie fest, wie gut es ihr tat, sich wieder in dem lebendigen Treiben einer Stadt aufzuhalten.

Als sie diese fast durchquert hatte, verbreiterte sich der Weg vor ihr zu einem weiten Platz. Auf der linken Seite war er fast leer, bis auf einige Übungsgegenstände wie Attrappen, Zielscheiben und Hindernisse. Nur wenige trainierten an diesem Morgen hier, war der Boden doch aufgeweicht und matschig vom Regen der letzten Nacht.

Eine Gruppe Bogenschützen stand in einer Reihe und zielte auf einige Scheiben, die an der Stadtmauer befestigt waren. Hinter ihnen lief Semei auf und ab und korrigierte ihre Haltung, bis sie auf sein Zeichen hin alle gleichzeitig die Sehnen ihrer Bögen losließen und die Pfeile auf ihren Flug schickten. Bis auf einen trafen alle ihr Ziel, was Lysanna schon vorher klar gewesen war. Allein wie der Mann den Bogen gehalten hatte, konnte es kein treffsicherer Schuss werden …

Die Jägerin in ihr war kurz davor, zu Semei hinüberzugehen und ihm beim Unterricht zu helfen, aber das musste warten. Sie wollte Fayori begrüßen und dann nach Hause gehen und schlafen, einfach nur schlafen.

So wandte sie sich nach rechts, wo mehrere Gebäude standen. Hier war alles untergebracht, was mit dem Heer zu tun hatte. Das große Haus, das ihr am nächsten stand, war die Kaserne, in der die Soldaten schlafen und essen konnten und die Ratsversammlungen abgehalten wurden. Danach kamen die Stallungen und als Letztes, gut erkennbar an dem hohen Schornstein und dem schwarzen Rauch, der daraus hervorquoll, Schmiede und Waffenkammer.

Bella, die die ganze Zeit brav neben ihr hergetrottet war, stieß ihr mit dem Kopf grob gegen den Oberschenkel.

»Du hast Hunger, stimmt’s? Geh nur, ich komme jetzt allein zurecht.«

Die Tigerin schnurrte und leckte noch einmal kurz ihre Hand, eh sie in Richtung der Ställe davon trabte.

Lysanna betrat die Kaserne und sofort schlug ihr der muffige Geruch entgegen, der hier schon immer geherrscht hatte. Die meisten Soldaten, vor allem die männlichen unter ihnen, hielten nicht allzu viel von Körperpflege und auch das Reinigen der Rüstung war vielen fremd. Oft wurde sie ohnehin irgendwann durch eine neue ersetzt.

Da Sedan ihr nicht gesagt hatte, wo genau Fayori sich in der Kaserne aufhielt, spitzte Lysanna zunächst die Ohren, bevor sie damit beginnen würde, das ganze Gebäude nach ihrer Tochter abzusuchen.

Tatsächlich vernahm sie gedämpfte Stimmen, gefolgt von einem hellen Lachen. Sie folgte den Geräuschen, welche sie direkt zu den Schlafstuben führten. Die dritte Tür in dem lang gezogenen Gang war nur angelehnt und die Stimmen kamen eindeutig von dort. Erleichtert stellte Lysanna fest, dass eine davon zu Fayori gehörte.

Nachdem sie zwei Mal gegen die hölzerne Tür geklopft hatte, zog sie diese auf.

Der Raum dahinter war eine der kleineren Stuben. Er beherbergte lediglich zwei Betten, einen hohen Kleiderschrank und eine Kommode mit einem Spiegel darüber.

Fayori saß auf dem linken Bett, auf dem rechten die Seelenlose Rawena. Beide waren mit ihrem Eintreten verstummt und sahen sie jetzt mit großen Augen an. Als ihre Tochter erkannte, wer sie besuchte, sprang sie auf und fiel ihr um den Hals.

»Lysanna, da bist du ja endlich! Du bist wieder da! Ich habe dich so vermisst!«

Überrascht davon, wie nah ihr diese überschwängliche Begrüßung ging, schloss Lysanna die Arme um das Mädchen und drückte sie an sich.

Kurz darauf löste sich Fayori von ihr. Sie musterte sie und noch während ihre Hände auf Lysannas Schultern lagen, verschwand der freudige Ausdruck von ihrem Gesicht und ihre Stirn legte sich in Falten.

»Also mal ehrlich – wenn man so nach einem Besuch bei Hofe aussieht, kann ich gut darauf verzichten. Was ist denn passiert?«

Lysanna schob die Hände des Mädchens sanft von sich. »Gar nichts. Die Reise war nur sehr anstrengend. Ich hatte noch ein paar Dinge zu erledigen, weswegen ich nicht den direkten Weg von Hohenfels hierher nehmen konnte.«

»Dinge? Was denn für Dinge?«

»Das erzähle ich dir später. Jetzt brauche ich erst einmal trockene Kleidung und ein wenig Schlaf. Wenn du später nach Hause kommst, können wir uns gern ausgiebig unterhalten.«

Sie wollte sich bereits zur Tür wenden, als Fayori sie am Arm zurückhielt.

»Warte noch«, sagte sie zögerlich. »Ich muss dir erst etwas zeigen.«

Lysanna folgte ihr, als sie an ihr vorbei aus dem Zimmer trat und bis zum Ende des Ganges ging. Dort öffnete das Mädchen die letzte Tür und schob ihre Mutter sanft hinein.

Diese Stube war etwas größer als die vorherige. Neben dem Schrank und der Kommode gab es ein Doppelbett, einen Schreibtisch mit einem Schemel davor und einen Kamin. Es musste einst die Stube des obersten Befehlshabers gewesen sein.

Lysanna sah sich kurz um, konnte aber nichts entdecken, das so wichtig wäre, dass sie es sich sofort hatte ansehen sollen.

»Setz dich«, wies Fayori sie an und zeigte auf das Bett. Sie selbst nahm auf dem Schemel Platz. »Unser Zuhause … das Haus, in dem wir vor unserer Flucht vor ein paar Jahren gelebt haben … es existiert nicht mehr.«

Lysanna hielt den Atem an.

»Oranos Männer haben die Stadt weitestgehend verschont, dafür aber wohl all ihre Wut darüber, dass wir ihnen abermals entwischt waren, auf unser Haus gerichtet. Es ist bis auf die Grundmauern zerstört und alles, was wir darin zurückgelassen haben, ebenfalls.«

Lysanna schluckte trocken. Ihre Hoffnung, in den Mauern ihrer Vergangenheit ein wenig Ruhe und Trost zu finden, war zerschlagen. Sie hatte das Gefühl, dass in diesem Moment auch noch der letzte Funken Kraft, der es ihr ermöglicht hatte, aufrechten Schrittes in die Stadt zu treten, in ihr erlosch.

Fayori gab ihr einen Moment Zeit, diese Neuigkeit zu verdauen. Als sie nicht reagierte, sprach das Mädchen weiter.

»Da ich sowieso die meiste Zeit auf dem Übungsplatz verbringe, habe ich ein Zimmer hier bezogen, zusammen mit Rawena. Dieses hier habe ich für dich und Aerthas hergerichtet. Ich hoffe, das ist in Ordnung?«

»Sicher …«, antwortete Lysanna knapp.

Fayori sah sie verunsichert an, unfähig, einzuschätzen, wie sehr diese Nachricht ihre Mutter traf.

»Vielleicht solltest du erst einmal ein Feuer machen. Holz dafür habe ich bereits besorgt.« Sie deutete auf den Kamin und sah Lysanna auffordernd an.

Dieser war klar, dass ihre Tochter erwartete, sie würde mit der Kraft ihrer Gabe die hölzernen Scheite in Brand setzen. Aber diese Zeit war vorüber.

Ein Klopfen an der Tür erlöste die beiden aus der angespannten Situation.

Rawena trat ein. In den Händen hielt sie ein Tablett, auf dem eine große Schüssel mit Suppe und ein Becher dampfender Tee standen. Sie setzte es auf dem Fußende des Bettes ab und verließ den Raum wieder, ohne nur ein einziges Wort gesprochen zu haben.

»Sie ist noch immer so schweigsam«, stellte Lysanna fest.

Fayori zuckte mit den Schultern, lächelte aber. »Sie braucht eben eine Weile, um sich einzuleben und Vertrauen zu fassen. Sie ist sehr schüchtern. Mit mir redet sie allerdings sehr viel.«

Da Lysanna keinerlei Hunger verspürte, griff sie nur nach dem Tonbecher. Die Wärme, die in ihre Finger floss, als sie sich darum schlossen, tat gut. Vorsichtig kostete sie den Tee und als sie merkte, dass er nicht zu heiß zum Trinken war, nahm sie einen kräftigen Schluck. Er schmeckte nach Kräutern mit einer angenehm süßen Note. Noch zwei weitere Schlucke und ihr ganzer Körper schien sich von innen zu erwärmen.

»Das Feuer«, erinnerte Fayori sie.

»Das ist nicht so einfach …«

 

Sie saßen noch eine ganze Weile zusammen. Dank der erfrischenden Wirkung des Tees fing Lysanna an, zu reden.

Sie erzählte ihrer Tochter von dem Gespräch mit dem Prinzen, davon, wie offen und freundlich er gewesen war und welche Zugeständnisse er ihnen aus Dankbarkeit gemacht hatte. Auch von Feranemnons Besuch berichtete sie und was er ihr über die Gabe erzählt hatte – dass er sie verschlossen hätte und weder Aerthas noch sie jemals versuchen sollten, ihre Fähigkeiten erneut einzusetzen.

Als Fayori nach Aerthas’ Verbleib fragte, eröffnete Lysanna ihr, dass genau das eingetreten war, was sie früher so oft vermutet hatte – mit der Gabe waren auch jegliche Gefühle, die sie und der Krieger füreinander gehabt hatten, verschwunden. Im Moment zumindest erschien ihr diese Erklärung besser als die Wahrheit. Für ihre verzögerte Rückkehr machte sie den Besuch in ihrem Elternhaus verantwortlich, was ja auch nicht vollends gelogen war.

Fayori hörte ihr aufmerksam zu und unterbrach sie nicht, auch wenn Lysanna in ihrem Gesicht lesen konnte, dass ihre Tochter nicht ganz überzeugt von dem war, was sie da hörte. Doch sie gab sich damit zufrieden und verabschiedete sich schließlich. Bevor sie ging, entzündete sie noch mit geübten Griffen das Feuer im Kamin, damit ihre Mutter nicht fror, wenn sie sich frisch machte.

Als sich die Tür hinter Fayori geschlossen hatte, sah sich Lysanna in Ruhe in dem Zimmer um. Dabei entdeckte sie eine Truhe, die in einer Ecke abgestellt worden war. Sie ging zu ihr und kniete sich davor. Versonnen strich sie mit den Fingern über die beiden verschnörkelten Lettern, die darauf eingeritzt waren und ihre Initialen widerspiegelten. Es war die Truhe, die sie jedes Mal als einziges Möbelstück mitgenommen hatte, wenn sie ihren Aufenthaltsort geändert hatten.

Mit einem knarrenden Geräusch öffnete sie den Deckel und besah sich die Dinge, die darin verstaut waren. Alles war da: Kleidung, Werkzeuge, Erinnerungsstücke.

Als sie den Inhalt so betrachtete, wurde ihr bewusst, dass ihr ganzes bisheriges Leben in eine einzige hölzerne Kiste passte. Mehr noch: Ihr wurde klar, dass sie im Leben nicht mehr brauchte als das, was sie vor sich sah.

Sie entnahm der Truhe ein frisches Hemd sowie eine Wildlederhose und ein Paar Stiefel. Während sie ihre Kleidung wechselte, überlegte sie, was sie nun tun würde.

Sie sollte schlafen, die letzten Wochen hatten viel Kraft gekostet – aber sie war nicht mehr müde.

Sie sollte zu Yokumo gehen. Der Ratsherr musste wissen, welche Neuigkeiten sie aus Hohenfels zu überbringen hatte – aber sie wollte jetzt nicht alles noch einmal erzählen.

Sie musste darüber nachdenken, wie ihre Zukunft nun aussehen sollte – doch diese würde ohnehin anders sein, als sie es sich ausmalte. So war es immer gewesen.

Also entschloss sie sich, das zu tun, was ihr gerade am sinnvollsten erschien: Sie griff nach ihrem Bogen, den Fayori für sie auf der Kommode bereitgelegt hatte, und ging nach draußen, um Semei beim Unterricht zu unterstützen.

Kapitel 2 - Lysanna

 

Nachdem Lysanna für ein paar Stunden Semeis Aufgabe übernommen hatte, die jüngeren Rekruten in der Kunst des Bogenschießens zu unterweisen, hatte die Müdigkeit doch wieder nach ihr gegriffen. Pflichtbewusst hatte sie sich noch zu Yokumo aufmachen wollen, um Bericht abzulegen. Von Semei hatte sie jedoch erfahren, dass er sich gerade im Hospital der Stadt aufhielt. Nikka lag in den Wehen.

So hatte sie das Militärviertel nicht noch einmal verlassen und war stattdessen einfach in ihr neues Zimmer zurückgekehrt, hatte sich dort in voller Montur auf das viel zu große Bett fallen lassen und war sofort eingeschlafen.

Als sie die Augen nun wieder aufschlug, brauchte sie einen Moment, um sich zu orientieren. Richtig, sie war in Frostwall, in einer Schlafstube in der Kaserne. Anhand des Winkels, in dem vereinzelte Sonnenstrahlen in ihr Zimmer fielen, konnte sie erkennen, dass es kurz vor Mittag sein musste. Sie hatte also fast einen ganzen Tag verschlafen.

Mühsam rappelte sie sich auf. Hinter ihren Schläfen spürte sie einen unangenehmen Druck und sie fror. Doch ansonsten schien sich ihr Körper von den Strapazen der letzten Wochen recht gut erholt zu haben. So gab es keinen Grund, noch weiter im Bett liegen zu bleiben.

Im Raum war es kalt. Sie ging zum Kamin, in dem nichts weiter als kalte Asche lag, und versuchte, das Feuer erneut zu entzünden. Dies war einer der Momente, in denen sie ihre Gabe geradezu vermisste. Nicht nur aus dem Grund, dass sie nun gezwungen war, ein Feuer mit trockenen Ästen und einem Feuerstein zu entfachen. Vielmehr war es die Kälte, die hier im Norden so allgegenwärtig war. Daran, zu frieren, musste sie sich erst wieder gewöhnen. Schon schweiften ihre Gedanken zu Erinnerungen an wärmere Zeiten, als es zaghaft an der Tür klopfte.

»Wer ist da?«, fragte sie.

»Ich bin es, Tanafeh. Darf ich hereinkommen?«

Die Tür öffnete sich und eine junge Frau schob sich durch den Spalt. Sie trug eine lange schwarze Robe aus dick gewobenem Stoff und einen ebenso dunklen Mantel über den Schultern. Ihr braunes Haar, welches ihr sonst glatt auf den Rücken fiel, war struppig und zerzaust und in ihren Augen erkannte Lysanna den gelben Glanz des Mondes. Es war eindeutig, dass Tanafeh momentan mehr Zeit in der Gestalt des Wolfes als in der eines Menschen verbrachte.

Sie hatte die Wolfsfrau nicht mehr gesehen, seit sie ihr geholfen hatte, sich auf das Fest in der Himmelsfestung vorzubereiten.

»Tanafeh … Das, was mit Kirkon geschehen ist, tut mir wahnsinnig leid.«

Kirkon war ebenfalls ein Wolfsblut gewesen und Tanafehs Gefährte. Er hatte in der Schlacht gegen den Flammenden Lord sein Leben gelassen, wie so viele andere Mitglieder der ›Angelus Mortis‹ auch.

Die Wölfin lächelte sie matt an.

»Wir sind wohl in einer ähnlichen Situation. Auch ich will dir mein Beileid aussprechen. Da ich nicht wusste, ob wir uns vor der Totenweihe irgendwo zufällig über den Weg laufen, habe ich gedacht, ich komme einfach bei dir vorbei. Ich will dir vorher noch etwas geben.«

»Totenweihe?«, fragte Lysanna irritiert.

»Kirkon wird heute Abend beigesetzt. Da sein Körper der einzige ist, den unsere Männer vom Sternenberg zurückgebracht haben, hat der ›Hohe Rat‹ beschlossen, symbolisch mit ihm auch all den anderen glorreichen Opfern zu gedenken, die in diesem Kampf gefallen sind. Natürlich werden die Ratsmitglieder besonders geehrt. Ich würde nicht teilnehmen, wenn meine Anwesenheit dafür nicht erforderlich wäre. Genau wie die deine. Neben Kirkon wird auch deinem Gefährten Mitzum die Kriegsehre zuteilwerden …«

Tanafeh kam weiter in den Raum hinein und legte das Bündel, welches sie die ganze Zeit umklammert gehalten hatte, auf Lysannas Bett.

»Ich weiß, dass es bei euch Elfen üblich ist, die Reinheit der Toten mit weißen Gewändern zu unterstreichen. Bei uns Menschen ist das anders. Wir tragen unsere Trauer nicht nur in uns, sondern zeigen sie auch äußerlich, indem wir uns in den vier folgenden Wochen nach einer Beisetzung in Schwarz hüllen. Da Mitzum ein Mensch gewesen ist, habe ich mir gedacht, du würdest ihn mit den Bräuchen seines Volkes ehren wollen. Fayori meinte allerdings, dass du gar keine schwarze Kleidung besitzt. Deswegen habe ich dir diese hier besorgt. Ich hoffe, sie sagt dir zu.«

Sie wandte sich bereits wieder zum Gehen.

»Der Trauerzug wird in zwei Stunden auf dem Marktplatz beginnen. Yokumo wird die Grabrede halten. Es wird also nichts weiter von dir verlangt, als anwesend zu sein«, erklärte sie über die Schulter hinweg.

Neben der Tür blieb sie noch einmal kurz stehen und besah sich einen Tonbecher, der auf der Kommode stand. Es war jener, in dem Rawena gestern den Tee serviert hatte.

»Wie geht es deinem Kopf?«, fragte die Wolfsfrau.

»Nicht besonders«, murmelte Lysanna und rieb sich mit zwei Fingern die pochende Schläfe.

Tanafeh griff nach dem Becher und führte in zu ihrer Nase. Wie bei einer Elfe das Gehör, so war es bei einem Wolfsblut der Geruchssinn, der überdurchschnittlich stark ausgeprägt war. Sie schnupperte und stellte den Becher dann lächelnd wieder ab.

»Kopfschmerzen sind eine unliebsame Nebenwirkung nach dem Konsum von Lappskraut …«

Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Lappskraut war allerdings eine plausible Erklärung, und zwar nicht nur für den süßlichen Geschmack. Rawena musste es in den Tee gegeben haben. Es beflügelte, brachte neue Energie und dämpfte Kummer und Sorgen. Allerdings war die Wirkung nur von kurzer Dauer. Wenige Stunden später fiel der Berauschte zurück in das Loch, aus welchem es ihn zuvor herausgeholt hatte.

Lysanna hatte das Kraut vorher noch nie selbst probiert, aber es war interessant, zu wissen, wie gut es wirkte.

Sie fuhr damit fort, das Feuer zu entzünden. Als es wohlig im Kamin knisterte, besah sie sich die Kleidungsstücke, die Tanafeh ihr gebracht hatte. Es handelte sich um ein schwarzes Baumwollhemd mit weiten, bauschigen Ärmeln und eine ebenfalls schwarze, schmal gefasste Hose, die aus einem dicken, dehnbaren Gewebe bestand. Eingeschlagen war beides in ein weiches Cape aus dunkelgrauem Pelz, welches so kurz geraten war, dass es wohl gerade ihre Schultern bedecken würde.

Schnell zog sie sich um, denn die Luft im Zimmer hatte sich bisher kaum erwärmt. Die Sachen passten, auch wenn die Hose am Bund etwas weit war. Ein Gürtel schaffte hier Abhilfe.

Bevor sie den Pelz über ihre Schultern legte, sah sie in den Spiegel, der an einer Wand neben dem Bett angebracht war. Die neuen Kleider standen ihr wirklich gut, vor allem der weit ausgeschnittene Kragen des Hemdes schmeichelte ihrem schlanken Hals und dem ansehnlichen Dekolleté, wenngleich er dieser Witterung nicht ganz angemessen war.

Das war es aber nicht, was Lysanna auffiel, als sie ihr Ebenbild betrachtete. Sie verstand jetzt, wieso Fayori so erschrocken gewesen war, als sie sich wiedergesehen hatten, und auch, warum sie ihr ihre Geschichte nicht wirklich geglaubt hatte.

Die Frau im Spiegel ließ sich fast als mager bezeichnen. Sie hatte müde Augen, eingefallene Wangen und war so blass, dass jede Adelige sie um ihren Teint beneidet hätte. Das dunkle Hemd unterstrich diesen Eindruck noch, ebenso das dunkelrote, fast schwarze Haar, das ihr leicht zerzaust auf die Schultern fiel.

Feranemnons Worte fielen ihr wieder ein: ›Ich kann Euch die Gabe nicht nehmen, aber ich habe sie tief in Euch verschlossen, auch wenn Spuren davon immer wieder an die Oberfläche dringen werden.‹

Sie hatte erwartet, das innere Feuer würde sich melden oder sie könne weiterhin Pfeile nur mit ihren Gedanken in Brand setzen. Dass es ihr Haar war, auf dem die Spur erkennbar sein würde, war ihr nicht in den Sinn gekommen. Vielleicht war dies einfach die Farbe, die es nun für immer haben sollte, und hatte nichts mit den Gefühlen zu tun, die Aerthas’ Abwesenheit in ihr auslösten.

Sie durchsuchte die Kommode, bis sie eine Bürste gefunden hatte, und glättete ihr Haar, so gut es möglich war. Kurz überlegte sie, es zusammenzubinden, entschied sich aber dagegen. So wie sie selbst, sollten sich auch alle anderen an diesen Anblick gewöhnen.

Lysanna verließ ihr Zimmer und ging in den Speisesaal, wo sie ein ausgiebiges Mittagsmahl zu sich nahm, um wieder etwas zu Kräften zu kommen.

 

An dem Dröhnen in ihrem Kopf änderte ein voller Magen nur wenig, aber es brachte ihr zumindest Kraft in die Glieder.

Da bis zur Totenweihe noch etwas Zeit war, beschloss sie, noch einen kleinen Spaziergang zu machen und die Stadt neu kennenzulernen.

Als die Elfe aus der Kaserne trat, schlug ihr sofort die Kälte entgegen.

Überrascht sah sie, dass Yokumo bereits auf sie wartete.

»Willkommen zu Hause, Jägerin!«

Sie ging auf ihn zu und sie umarmten sich herzlich.

»Ich wollte gestern schon zu dir, doch Semei sagte mir, Nikka liege in den Wehen. Wie geht es ihr?«

»Den Umständen entsprechend …« Er drehte sich um und winkte Tâlie heran, die bisher etwas abseits gestanden hatte. Behutsam nahm er ihr ab, was sie in den Armen trug, und reckte es Lysanna entgegen.

»Darf ich dir meinen Sohn Delovan vorstellen?«, fragte er mit unverhohlenem Stolz in der Stimme.

Eingewickelt in eine helle, samtene Decke blickte Lysanna ein kleiner Elfenjunge aus großen blauen Augen entgegen. Sein Gesicht war faltig und so wie sich seine Lippen kräuselten, schien es ihm in dieser Welt nicht sonderlich zu gefallen. Sicherlich würde der Kleine einmal ein hübscher Kerl werden, wenn er sich erst etwas entfaltet hatte.

Lysanna war alles andere als eine geborene Mutter und hatte Kindern noch nie etwas abgewinnen können, schon gar nicht so kleinen. Trotzdem lächelte sie, da sie wusste, wie viel es Yokumo bedeutete.

»Ich gratuliere dir. Er hat deine Augen.«

»Und meine Kraft. Hier!« Er nahm einen ihrer Finger und legte ihn in die kleine Hand des Jungen.

Sofort griff Delovan zu.

»In der Tat, dein Händedruck ist genauso sanft«, witzelte Lysanna und zog ihren Finger vorsichtig zurück.

Yokumo lachte. »Ich werde den Kleinen jetzt erst einmal wieder zu seiner Mutter bringen. Er hat sicher schon wieder Hunger. Wir sehen uns dann bei der Totenweihe, oder?«

Lysanna nickte. »Danach werde ich dir dann auch berichten, was sich in Hohenfels ergeben hat.«

»Das ist nicht nötig«, antwortete der Ratsherr und wandte sich zum Gehen. »Aerthas hat mich schon über den Stand der Dinge in Kenntnis gesetzt. Du kannst dir nachher also alle Zeit nehmen, die du brauchst.« Damit ließ er Tâlie und sie stehen.

Vor diesem Moment hatte sich die Jägerin regelrecht gefürchtet. Tâlie war ihre beste Freundin, aber sie war auch die Schwester von Aerthas, was die Freundschaft zwischen ihnen mit einem Schlag kompliziert machte.

»Ich werde mir noch ein wenig die Beine vertreten«, meinte Lysanna und ging auf die gepflasterte Hauptstraße zu, die ins Zentrum der Stadt führte.

Tâlie setzte sich ebenfalls in Bewegung. »Ich werde dich begleiten, wenn du es mir gestattest …«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher, bis Lysanna die Spannung zwischen ihnen nicht mehr ertrug.

»Du hast es die ganze Zeit gewusst, nicht wahr?«, fragte sie, ohne Tâlie anzusehen.

»Nicht die ganze Zeit«, antwortete diese ernst. »Er hat es mir erzählt, nachdem ihr euch zum ersten Mal geküsst habt.«

»Und von da an hast du ihn geschützt … Ich dachte, wir wären Freunde. Aber da lag ich wohl falsch.«

Tâlie packte sie am Arm und brachte Lysanna dazu, sie anzusehen.

»Er ist mein Bruder! Was hätte ich tun sollen? Außerdem glaube ich, dass er das Richtige getan hat. Ihr beide musstet zueinanderfinden, nur so konntet ihr dem Flammenden Lord mit all eurer Stärke entgegentreten.«

»Das Erreichen des Sieges auf Kosten eines Einzelnen, ja?«, sagte Lysanna zornig. Doch schon in der nächsten Sekunde ebbte ihre Wut ab und sie bereute ihre harten Worte.

Tâlie war ein Kind des Krieges – und genau so wurde Krieg geführt: Es mussten Opfer gebracht werden, damit das Wohl aller gesichert war. Sie konnte ihrer Freundin keinen Vorwurf machen.

»Es tut mir leid«, flüsterte Tâlie und senkte den Blick. »Ich hoffe, du kannst mir irgendwann vergeben. Denn du … bist mir … sehr wichtig.«

Lysanna kannte Tâlie gut und wusste, wie schwer ihr solche Worte der Zuneigung fielen. Sie trat vor und umarmte die Elfenkriegerin.

»Du hast getan, was du tun musstest. Diese Sache soll nicht zwischen uns stehen.«

Schnell löste sich Tâlie wieder von ihr, sah sie aber dankbar an.

»Dann sollten wir jetzt zum Marktplatz gehen, damit wir nicht zu spät kommen. Immerhin bist du einer der Ehrengäste bei der Weihe.«

Kapitel 3 - Lysanna

 

Als sie den Marktplatz erreichten, quoll dieser bereits über von Elfen, Menschen und anderen Geschöpfen, die den Trauerzug begleiten wollten.

An der Spitze erblickte Lysanna einen großen, hölzernen Sarg, der von mehreren Männern geschultert wurde. Auf der ihr zugewandten Seite erkannte sie Sedan, Rawenas seelenlosen Gefährten Kenric und Bosco, einen Menschen, der ebenfalls mit ihnen in der Himmelsfestung gekämpft hatte.

»Sei stark«, sagte Tâlie noch leise, bevor sie sich trennten. Sie würde hinter dem Sarg laufen, während Lysanna einen Platz an der Spitze einnehmen sollte.

Yokumo hatte sich ebenfalls schon eingefunden und sprach gerade mit Tanafeh, die mit ihnen den Zug anführen würde.

Als sie sich zu den beiden gesellte, erkannte sie auch, wer neben Sedan auf der anderen Seite den Sarg trug. Es war Aerthas.

Der Elfenkrieger trug die weiße Uniform der Leibgarde des Prinzen. Die purpurnen Stickereien und die Abzeichen auf den Schultern kannte Lysanna nur zu gut. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass die Uniform des Generals Aerthas weit besser kleidete, als es bei ihrem ehemaligen Gemahl Orano der Fall gewesen war. Das Einzige, was die Aufmachung der beiden unterschied, war der weite Umhang, der an den Schultern befestigt war. Orano hatte stets einen getragen, der mit Goldfäden durchwebt und mit dem purpurne Wappen Elesztrahs bemalt gewesen war. Bei dem, den Aerthas trug, handelte es sich um einen ganz anderen. Er strahlte weiß und war am Saum mit einigen Schneeflocken verziert. Der Elf trug den Umhang des Eisprinzen.

Ihn so unerwartet wiederzusehen, traf sie wie ein Schlag. Eigentlich hatte sie gehofft, er würde sich nicht so bald bei den ›Angelus Mortis‹ blicken lassen, wenn er den Posten des Generals annahm. Doch er war hier. Wieso?

Auch Aerthas hatte sie entdeckt und suchte ihren Blick, doch sie wandte den Kopf zur Seite und widmete ihre Aufmerksamkeit Yokumo. Sie konnte und wollte sich jetzt nicht mit diesem Elfen auseinandersetzen. Seine Anwesenheit hatte jede Erleichterung zerstört, die ihr die Aussprache mit Tâlie verschafft hatte.

Aber wenn sie nicht wollte, dass die anderen Zweifel an ihrer Geschichte von den erloschenen Gefühlen hegten, musste sie zumindest Haltung bewahren.

»Lysanna, sehr gut … Dann können wir ja aufbrechen«, sagte Yokumo mit belegter Stimme.

Auf sein Zeichen hin setzte sich die versammelte Menge in Bewegung. Ihr Weg führte sie quer durch die ganze Stadt, hinaus aus dem großen Haupttor und dann rechter Hand eine Anhöhe empor.

»Du wirst erstaunt sein. Haudrauf arbeitet schon seit Tagen an dem Grab«, wisperte Yokumo ihr leise zu, um die Stille, in welcher der Zug voranschritt, nicht zu stören.

Als sie die Kuppe des Hügels erreicht hatten, war Lysanna in der Tat beeindruckt. Sie hatte ein einfaches Erdloch erwartet, vielleicht geschmückt mit einem Kreuz oder einer Tafel, welche die Opfer des ›Krieges der Essenzen‹ ehrte. Doch Haudrauf hatte ein wahres Monument geschaffen.

Drei Stufen führten zu einem Sockel, in welchem nun Kirkons Sarg versenkt wurde. Dahinter stand ein Obelisk, höher als zwei Elfen groß, mit unzähligen Gravuren versehen.

Lysanna vermutete, dass er die Namen all jener trug, die ihr Leben in der Himmelsfestung verloren hatten.

An der Spitze waren die Worte ›Für den Frieden‹ eingraviert.

Als der Sarg komplett in der Tiefe des Sockels verschwunden war, reihten sich die Träger wieder unter den Trauernden ein. Lysanna beobachtete mit angehaltenem Atem, wie auch Aerthas herabstieg, und fürchtete und hoffte zugleich, er würde sich zu ihr stellen. Doch er nahm ein Stück entfernt neben Bruhn und Tessel Position ein.

Dafür trat Tanafeh neben sie und drückte ihr eine rote Rose in die Hand. »Die kannst du später auf den Sarg legen, für Mitzum.«

Lysanna nickte. Betreten lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf den Ratsherrn, der die wenigen Stufen erklomm und sich vor das Grabmal stellte, den Blick zur Menge gewandt.

»Wir haben eine schwere Zeit hinter uns. Und ich weiß, welche Frage euch beschäftigt: War es das wert? Wir Einzelnen haben so viel verloren in einem Krieg, den doch andere hätten führen müssen. Wir haben so viel aufgegeben für einen Frieden, der von fragwürdiger Dauer ist. Wir haben geholfen, dieses Land zu retten, doch wo bleibt nun unser persönliches Glück?«

Er machte eine kurze Pause und leises, zustimmendes Gemurmel erhob sich.

Lysanna jedoch hörte schon jetzt nicht mehr richtig zu. Diese ganze Veranstaltung schien ihr wie eine große Heuchelei. Sicher trauerte sie um Mitzum, das würde sie immer tun. Doch es war nicht sein Verlust, der ihr Herz so schwer machte. Darüber war sie hinweg. Der Tod war etwas Endgültiges, das jeder akzeptieren musste. Es gab andere Dinge, die in und auf ihrem Kopf für Dunkelheit sorgten.

Irgendwann bemerkte sie, wie Fayori, die neben ihr stand, zitterte. Die Wangen des Mädchens glänzten feucht und es fiel ihr zunehmend schwerer, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Lysanna legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Dankbar lehnte Fayori den Kopf an ihre Brust.

Yokumo redete noch eine ganze Weile. Als er endlich geendet hatte, trat einer nach dem anderen an die Grube und warf eine Gabe des Abschieds hinein. Meistens handelte es sich um Blumen, manchmal erkannte Lysanna aber auch persönliche Gegenstände, welche die Anverwandten den Toten mit auf ihre Reise geben wollten. Einige verweilten auch kurz, um sich in Ruhe zu verabschieden. Wer von dem Sockel herabgetreten war, verließ die Zeremonie.

So leerte sich der Platz nach und nach.

Lysanna selbst war nicht nach oben gestiegen, ebenso wenig wie ihre Tochter, die immer noch eng an sie gepresst dastand und weinte.

Nun trat Sedan neben sie. Auch er wirkte bedrückt und verloren. Vorsichtig löste er Fayori von Lysanna und legte seinerseits einen Arm um sie. Behutsam führte er sie zur Graböffnung, warf gemeinsam mit ihr eine Rose hinein und geleitete sie dann wieder hinab. Er sah Lysanna an, als wolle er sie bitten, es ihm gleichzutun, doch sie schüttelte leicht den Kopf. Kurz noch betrachtete er sie, bevor er mit Fayori an seiner Seite den Hügel verließ.

Jetzt war die Jägerin allein.

Wieder dachte sie über Mitzum nach, den sie so geliebt hatte und der nun einfach nicht mehr war. Und trotzdem wollte nicht eine Träne seinen Verlust betrauern. Wäre es anders, wenn er selbst in diesem Sarg hier vor ihr liegen würde?

Dann kam ihr ein anderer Gedanke. Wenn das, was in den Wurzeln des Gezeitenbaums geschehen war, wirklich real gewesen wäre, dann würde jetzt Aerthas hier vor ihr liegen und sie müsste mit der Gewissheit leben, dass er sich für sie geopfert hatte …

Nun kam sie doch, die Trauer. Nun flossen sie doch, die Tränen. Nun fühlte sie ihn doch, den Schmerz.

Sie schaffte es nicht, vor die Grube zu treten. So legte sie die Rose einfach auf der untersten Steinstufe ab und trat ein paar Schritte zurück.

In diesem Moment begann es zu schneien. Große, dicke Flocken tanzten vom Himmel zu Boden und bedeckten ihn in Windeseile mit einer dünnen weißen Schicht.

Lysanna griff nach dem Kragen ihres Pelzes und zog ihn enger. Doch er war viel zu klein, um sie vor der Kälte zu schützen, die sich mit dem Schnee über den Hügel legte, sodass sie sofort heftig zu zittern begann.

Ein plötzliches Knirschen in ihrem Rücken verriet ihr, dass sie nicht mehr allein war.

Niemand hätte es ihr sagen müssen. Sie spürte genau, wer da hinter ihr stand. So unauffällig wie möglich hob sie eine Hand und fuhr sich über Augen und Wangen, um die verräterischen Zeichen der Schwäche fortzuwischen.