Einmal kurz die Welt retten -  - E-Book

Einmal kurz die Welt retten E-Book

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Beschreibung

Die Welt steht vor dem Kollaps. Den führenden Wissenschaftlern zufolge werden im Jahr 2052 wichtige Ressourcen aufgebraucht und große Teile der Welt aufgrund des Klimawandels unbewohnbar sein. Milliarden Menschen drohen Obdachlosigkeit, Hunger und Armut. 24 dramatische, sarkastische, skurrile und tiefsinnige Kurzgeschichten deutschsprachiger Topautorinnen und -autoren widmen sich den drängendsten Themen unserer Zeit und regen zum Nachdenken an. Sie sind ein Appell an uns alle: Der Kampf um das Morgen muss heute beginnen! Mit Geschichten von Dieter Aurass, Raoul Biltgen, Katja Brandis, Veronika A. Grager, Anne Grießer, Petra K. Gungl, Reinhard Kleindl, Regine Kölpin, Beatrix Klamlovsky, Uwe Laub, Mari März, Günter Neuwirth, Regina Schleheck, Claudia Schmid, Ursula Schmid-Spreer, Ingrid Schmitz, Alex Thomas, Heidi Troi, Eva Maria Nielsen, Fenna Williams, Barbara Wimmer, Janet Zentel und Jennifer B. Wind.

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Seitenzahl: 447

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Jennifer B. Wind (Hrsg.)

Einmal kurz die Welt retten

Krimis

Zum Buch

Eine Minute vor zwölf Was passiert, wenn Erdöl Luxusgut wird und sich die Menschheit nur noch Synthetiknahrung aus dem Labor leisten kann? Wie wird Wasser rationiert, wenn es ausgeht, und wo kommt es dabei zu Korruption? Welchen Krankheiten öffnen Regierungen mithilfe des Militärs Tür und Tor, um das Problem der Überbevölkerung einzudämmen? Welche Gefahren birgt die fortschreitende Digitalisierung, und wer entscheidet, wer es wert ist, rettende Medikamente zu erhalten, wenn diese knapp werden? Diese Fragen, die heute in der westlichen Wohlstandsgesellschaft absurd klingen mögen, werden spätestens in 30 Jahren unseren Alltag bestimmen, so prognostizieren es führende Wissenschaftler.

23 deutschsprachige Topautorinnen und -autoren zeichnen in spannenden, dramatischen, skurrilen, tiefsinnigen und schockierenden Kurzgeschichten ein Bild der Welt von morgen. Sie unterhalten, regen zum Nachdenken an und zeigen auf, wie eine Wende zum Guten (noch) möglich sein kann.

Die Bestsellerautorin Jennifer B. Wind ist in der Steiermark geboren und lebt mit ihrer Familie südlich von Wien. Die ehemalige Flugbegleiterin mit Klavier-, Gesangs- und Schauspielausbildung schreibt für alle Altersklassen Romane, Drehbücher, Songtexte, Theaterstücke und Kurztexte. Ihr Debüt-Thriller „Als Gott schlief“ wurde zum Bestseller und war für den Wiener Nachwuchskrimipreis nominiert. Auch ihre weiteren Werke standen auf der Bestsellerliste und waren unter anderem für den Fine Crime Award 2020 nominiert. In ihrer Freizeit setzt sie sich aktiv für Umwelt- und Tierschutz ein wie beim Umweltfilmprojekt „Planet Life“. Darüber hinaus ist sie Mitglied bei „Writers for Future“.

Mehr über die Autorin unter: www.jennifer-b-wind.com

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

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© 2022 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © stux / pixabay

ISBN 978-3-8392-7080-6

Widmung

Das Buch ist allen gewidmet, denn nur gemeinsam können wir die Welt in jeglicher Hinsicht zu einem besseren Ort machen.

Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

Impressum

Widmung

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeberin

Fear

»Wunder« der Medizin

Beckmeisters Geschäfte

Hintergrundfakten zur Geschichte

VITA PRO VITA

Hintergrundfakten zur Geschichte

Wenn das Eis schmilzt

Nach der Flut

Hintergrundfakten zur Geschichte

Die Bienenkönigin

Hintergrundfakten zur Geschichte

Das kostbare Nass

Harzer Wasser: Egal!

Hintergrundfakten zur Geschichte

Kristallisationskerne

Hintergrundfakten zur Geschichte

Ernährung 2.0

New Age

Hintergrundfakten zur Geschichte

SOLVENT Rot

Hintergrundfakten zur Geschichte

Zwischen Frieden und Krieg

Handle stets

Hintergrundfakten der Geschichte

Der Kaiserinnen neue Neider

Hintergrundfakten zur Geschichte

Pandemie der Einsamkeit

Social Distance

Hintergrundfakten zur Geschichte

Afrika, mon Amour

Hintergrundfakten zur Geschichte

Gefährliche Cyberwelt

Cybergangster

Hintergrundfakten zur Geschichte

Knusprig braun, wie du sie magst

Hintergrundfakten zur Geschichte

Wohin mit all den Menschen?

Zwischen Ratten und Krähen

Hintergrundfakten zur Geschichte

Der Fahrstuhl

Hintergrundfakten zur Geschichte

Auf der Flucht

Der Boden unter den Füßen

Hintergrundfakten zur Geschichte

Sednas Hände

Hintergrundfakten zur Geschichte

Was wir werden …

Götterdämmerung

Hintergrundfakten zur Geschichte

Die Alte Rassel, seine gute Pumpe

Hintergrundfakten zur Geschichte

Aufbruch ins Weltall

(Un-)kontrollierte Zukunft

Hintergrundfakten zur Geschichte

Das Mondgeheimnis

Hintergrundfakten zur Geschichte

Neues Leben auf der Erde

Deep Station One

Hintergrundfakten zur Geschichte

Green Reset

Nachwort

Danksagung

Die Autorinnen und Autoren

Lesen Sie weiter …

Vorwort der Herausgeberin

Liebe*r Leser*in,

vielen Dank für Ihr Vertrauen und Interesse an diesem besonderen Buch, das mich einige schlaflose Nächte gekostet hat.

Seit vielen Jahren schlummerte die Idee zu dieser Anthologie schon in meinen Gedanken, Schubladen und Rechnern, aber vor allem in meinem Herzen. Seit meinem zwölften Lebensjahr bin ich dem Tier- und Umweltschutz verbunden und habe bereits als Teenager aktiv bei diversen Projekten mitgearbeitet. Mit vollem Enthusiasmus und viel Motivation. Ich habe damals geweint, wenn eine Tierart ausgestorben ist oder Lebewesen für medizinische oder kosmetische Experimente gequält wurden. Die Unsinnigkeit des Tragens von Pelz war mir als Kind schon klar. Ich kaufte von meinem Taschengeld ein Stück Regenwald und war ab da nicht mehr aufzuhalten. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt hat sich diese starke Motivation teilweise in Resignation verwandelt, weil ich mitansehen musste, dass sich nichts änderte, egal was wir Umwelt- und Tierschützer taten, egal was wir sagten. Im Gegenteil, Jahr für Jahr wird alles noch schlimmer … nicht nur, was wir der Umwelt abverlangen, sondern auch, was wir einander antun.

Lange blieb dieses Herzensprojekt ein Wunschtraum, bis ich mich endlich entschlossen habe, an einen Verlag meines Vertrauens heranzutreten, und das mitten in einer Krise. Die Coronapandemie hatte die Welt im Griff (den sie seither nicht gelockert hat), andere Buchprojekte wurden verschoben oder komplett gestrichen.

Umso mehr freue ich mich, dass das Team vom Gmeiner-Verlag mich von Anfang an voller Tatendrang unterstützt hat.

Die meisten Autor*innen, die bereits vor Jahren zugesagt hatten, freuten sich, dass das Projekt nun tatsächlich zustande kam.

Herausgekommen sind 24 Geschichten, die auf sehr unterschiedliche Art und Weise die drängenden Themen unserer Zeit behandeln und verarbeiten. Nicht alle Geschichten zeichnen unsere Zukunft in Grautönen oder malen sie komplett schwarz, manche zeigen, wie es sein könnte, wenn wir echte Lösungen fänden und alle zusammenhielten, anstatt uns mit Scheinlösungen und ineffektiven Alleingängen zufriedenzugeben.

Können wir diese Welt noch retten? Das betrifft nicht nur das Klima und die Umwelt, sondern auch unseren Umgang miteinander. Werden wir jemals das Rechthaben, Streiten und Kriegeführen beenden? Werden wir aufhören, die Erde auszubeuten, ohne die wir nicht leben können? Wird es jemals möglich sein, dass Mensch, Tier und Umwelt koexistieren, ohne sich gegenseitig existenziell zu bedrohen? Ich muss zugeben, ich weiß es nicht. Aber ich werde die Hoffnung niemals verlieren. Denn ich wünsche mir nicht nur für meine Kinder, Enkel und Urenkel, dass sie die Chance bekommen, auf einer gesunden Erde in einer friedlichen Umgebung zu leben. Ich wünsche mir das für alle Lebewesen auf diesem Planeten.

In dieser Hinsicht: Lassen Sie uns noch heute anfangen, die Welt von morgen zur schönsten zu machen, die wir uns vorstellen können.

Mögen diese kleinen Geschichten nebst Unterhaltung eine Anregung zum Nachdenken, Weiterdenken und Umdenken sein.

Aber vor allem wünsche ich Ihnen spannende Lesestunden.

Ihre Jennifer B. Wind

© Oktober 2021

Fear

Lying on stone bed

It’s cold outside

Sky’s full of shadows in red

Atomic clouds aren’t white

People without faces

Just pale mugs

I can see many places

Full of a million bugs

Can’t you hear poor children crying

Can’t you see all life on earth is dying

Stalks and trunks not overgrown

The grass isn’t green

No flowers, no blossoms blown

Most shocking picture I’ve ever seen

Although I know it’s a nightmare

I feel the fear inside

Although I know it’s only a nightmare

I feel the fear deep inside

I apprehend if people don’t care

Day will turn into a long night.

Suddenly wake up

Aching hot forehead

I feel like a cup

Full of cold sweat

Looking out of the window

See the blue sky

There’s no red shadow

Then I start to cry

You can’t hear the voices of nature

But I feel the fear of every creature

Stalks and trunks not overgrown

The grass isn’t green

No flower, no blossoms blown

Most shocking picture I’ve ever seen

Although I know it’s a nightmare

I feel the fear inside

Although I know it’s only a nightmare

I feel the fear deep inside

I apprehend if people don’t care

Day will turn into a long night.

Although I know it’s a nightmare

I feel the fear inside

I apprehend if people don’t care

Day will turn into a long night.

Although I know it’s only a nightmare

I feel the fear deep inside

©1991 Lyrics and Vocals by Jennifer B. Wind

Music by Martin Richter and Bernhard Nagel

»Wunder« der Medizin

 

Wer sich keine Gedanken darüber macht, was die Zukunft bringen könnte, wird von ihr kalt erwischt! Mir hat die Herausforderung gefallen, einen Krimi für diese originelle Zukunfts-Anthologie zu schreiben – ich wünsche allen Fans viel Lesespaß.

– Katja Brandis

 

Jeder von uns sollte seine Talente dafür einsetzen, den Lebensraum Erde für unsere Kinder zu erhalten.

Als Autorin versuche ich, nüchterne Zahlen und Fakten in eine Geschichte zu packen, die LeserInnen emotional berührt und für sie nachvollziehbar macht, was auf uns zukommt. Auf diese Weise werden abstrakte Schlagworte zu Bildern, die sich im Kopf festsetzen und zum Handeln auffordern.

– Petra K. Gungl

Beckmeisters Geschäfte

Von Katja Brandis

Gewidmet Sir Frederick Grant Banting und Charles Best, die das Insulin beim Menschen entdeckten und zum ersten Mal isolieren konnten.

Bayern 2052

»Was meinen Sie, Lunita, werden die Bauerntölpel im nächsten Kaff aus ihren Ställen kriechen, um uns Umsatz zu bescheren?« Quentin Beckmeister schnickte einen Staubfussel vom Ärmel seines Armani-Jacketts. Es tat ihm in der Seele weh, wie angeschmuddelt es inzwischen wirkte. Im letzten Ort hatte er zwar eine Reinigung gefunden, doch die war komplett ausgebrannt gewesen. Ärgerlich.

»Ist … mir … egal«, keuchte Lunita und trat kräftiger in die Pedale der Elektro-Fahrrad-Rikscha, die er in einem Anflug von Sentimentalität für seinen Kindheitshelden »Beckmobil« getauft hatte. Wegen des bedeckten Himmels zog der von Solarmodulen auf dem Dach gespeiste Motor nicht richtig, und seine einzige Mitarbeiterin war völlig verschwitzt. Ekelhaft. Und sie mochte das sogar, nannte es »fit bleiben«.

»Es sollte Ihnen nicht egal sein, schließlich zahlen diese Leute sozusagen Ihr Gehalt«, gab Beckmeister zu bedenken und hielt den Atem an, als sie an einer Wohnsiedlung vorbeikamen. Weil das Wasser- und Abwassersystem nur noch sporadisch funktionierte, hatten viele Leute sich in ihren Gärten Außenklos gebaut. Außerdem hing ein beißender Geruch nach brennendem Müll in der Luft.

»Nein, mein Gehalt zahlen Sie, und wo bleibt eigentlich die Erhöhung?«, fragte Lunita – sie war zehn Jahre jünger als er, noch nicht mal 30 – und strampelte weiter, ohne sich zu ihm umzuwenden. Was schade war, denn sie hatte ein Gesicht, das ihn an Marilyn Monroe erinnerte, und prachtvolle, wellige kastanienbraune Haare, die ihr über den Rücken fielen.

»Was für eine Gehaltserhöhung?«

»Die, die Sie mir versprochen haben, nachdem ich Sie letzte Woche rausgehauen habe. Als Ihnen dieser Typ auf den Fersen war, dessen Frau Sie …«

»Ach so, das«, meinte Beckmeister und lehnte sich entspannt auf seinem Polstersitz zurück. »Na gut. Aber nur, wenn wir diesmal ordentlich Umsatz machen.«

Lunita-Aldi Drechsler – ihre Eltern hatten bei ihrer Geburt offensichtlich Geld gebraucht – war eine ehemalige Nachbarin. Früher hatte sie ein Taekwondo-Studio geleitet, das nach dem Großen Kollaps pleitegegangen war, und sie war gezwungen gewesen, sich umzuorientieren. So wie er selbst. Er hatte seine Arbeit als Pharmavertreter wirklich gemocht. Zu schade, dass es keine Pharmaindustrie mehr gab.

Beckmeister lehnte sich aus dem Fenster und sah zu, wie das Ortsschild vorbeizog. »Olching«. Eins dieser langweiligen Käffer rund um München. Er hakte den Namen auf seiner schon leicht zerfledderten Landkarte ab, damit er nicht versehentlich noch einmal hierherkam.

Nicht sehr schwungvoll parkte Lunita die Rikscha vor dem Gasthaus »An der Amper« und schleppte die Alukoffer mit ihrer Ausrüstung auf ihre Zimmer, während Beckmeister sich darüber informierte, was die Küche hergab.

»Wir haben heute Ente«, wisperte ihm die Wirtin zu, eine Frau mit kurzen grauen Haaren, die sie garantiert früher gefärbt hatte. Bestimmt platinblond oder aubergine. »Die meisten sind natürlich längst weggefangen worden, doch ein paar sind gestern auf dem Fluss gelandet. Mein Sohn hat sie gleich erledigt. 100 Euro pro Stück.«

»Wunderbar – ich nehme eine«, sagte Beckmeister; für gutes Essen gab er gerne Geld aus. »Für meine Kollegin genügt ein Teller Nudeln.« Er zog ein paar Scheine hervor, denn ohne Vorkasse ging längst nichts mehr.

Zum Glück hatte die Frau nicht »Pferdesteak« gesagt, von dem hatte er für längere Zeit genug. Da fast keine Autos mehr fuhren, war er zu Anfang stilecht in einer Pferdekutsche gereist, bis der Gaul sich auf einer Wiese an Äpfeln überfressen hatte und eingegangen war. Da war es Glück im Unglück gewesen, dass Lunita aus einer Metzgersfamilie stammte.

»Was machen wir, wenn’s morgen Ärger gibt?«, brummte Lunita, während sie ihre Nudeln hinunterschlang und dabei abwechselnd seine Ente und ihn mit Blicken durchbohrte.

»Es wird keinen Ärger geben«, versprach Beckmeister und ließ ihre Blicke an sich abperlen, dabei löste er das Filet geschickt vom Knochen. Seine Mutter hatte sich so gewünscht, dass er Chirurg werden würde. Tja. Vielleicht war es besser, dass sie noch vor dem Großen Kollaps gestorben war – Brustkrebs, zu spät entdeckt, um selbst mit den tollsten Therapien noch etwas bewirken zu können.

»Ich check’s noch mal«, meinte Lunita und holte die Karte hervor, um zu überprüfen, ob der Ortsname abgehakt war oder nicht.

»Mein Gedächtnis ist perfekt«, sagte Beckmeister eingeschnappt. »Ich war noch nie hier, ganz sicher.«

Das war ein wichtiges Element seines Geschäfts. In den ersten sechs Wochen nach dem Großen Kollaps vor zwei Jahren hatte er endlich einen alten Traum wahr machen können – reich zu werden. Villa-mit-Pool-reich. Während die meisten Leute noch jammerten, klagten oder versuchten, mit der neuen Situation klarzukommen, hatte er die glorreiche Idee gehabt, Insulin zu verkaufen. Ohne das Zeug konnten Typ-1-Diabetiker – von denen es sehr, sehr viele gab! – schließlich nicht überleben. Bingo! Sie und ihre verzweifelten Angehörigen hatten jeden Preis für das Zeug gezahlt, das er ihnen anbot und das hauptsächlich aus Wasser mit etwas Desinfektionsmittel bestand. Seit das Internet nicht mehr funktionierte, verbreiteten sich Warnungen nicht mehr besonders schnell, und er hatte wenig Gegenwind bekommen. Leider waren nach sechs bis acht Wochen die meisten Typ-1-Leute weggestorben, doch für die Villa hatte es locker gereicht und Kranke mit anderen Leiden gab es nach wie vor reichlich.

Sicher auch hier in Olching, Oberbayern.

Am nächsten Morgen begaben Lunita und er sich früh zum Markt, der auf einem Platz neben der Kirche stattfand. Ohne Begeisterung blickte Beckmeister sich um. Dieser Brunnen aus Betonquadern hatte vor 50 Jahren bestimmt sehr modern gewirkt. Die Kirche aus rosabraunen und cremefarbenen Steinen sah ansehnlich aus, dafür wirkte die Hauptstraße abgewrackt, mit Geschäften, deren Schaufenster von Kleinunternehmern gekapert worden waren; Werbespots ihrer Holoprojektoren flackerten über dem Bürgersteig. Sämtliche Dächer waren mit Solarzellen und Regensammelgeräten zugepflastert.

»Sie bauen auf, Lunita, ja?«, bat Beckmeister seine Assistentin und drehte rasch eine Runde, um sich über die anderen Stände zu informieren. Die spannende Frage war wie immer – würde es den Stand eines richtigen Arztes geben?

Neben dem üblichen Obst, Gemüse und selbst geschlachteten Kleinvieh sah er einen Stand mit Gebrauchtpapier und einen mit Do-it-yourself-Gentechnik. Neben der üblichen Elektroschrott-Ecke betrieb ein frettchenhaft wirkender Mann einen Stand mit Fahrradteilen, Holoprojektoren, Batterien und Regenwasserfiltern. Seine auffallend muskulösen Oberschenkel in Kombination mit seinen dünnen Armen machten Beckmeister misstrauisch. So sahen Leute aus, die vom Richter zu mindestens 75 Kilowattstunden Stromerzeugung und damit bis zu 500 Stunden Strampeln auf einem Standfahrrad verurteilt worden waren. Auch der bärtige Kerl am Waffenstand nebenan wirkte nicht sehr vertrauenerweckend.

Unauffällig prägte Beckmeister sich ihre Gesichter ein und schaute sich weiter um. Eine drahtige Frau hatte ein Mobiltelefon und bot Anrufe oder Textnachrichten für fünf Euro das Stück beziehungsweise Tauschware im gleichen Wert an. Unter einem Sonnensegel hatte sich ein Geschichtenerzähler eingerichtet, der seinem Plakat nach eine mehrteilige Geschichte namens »Stranger Things« zum Besten gab.

Oh, verdammt. Ein Stück weiter hockte eine Ärztin – laut ihres Schildes »Dr. med. Andrea Bräuer, Allgemeinärztin« – hinter einem Klapptisch und sprach mit dem Patienten auf dem Stuhl daneben. Sie war etwa Ende 30 und hatte nackenlange blonde Haare; obwohl ihre Jeans löchrig war, hatte sie es geschafft, ihren Kittel halbwegs sauber zu halten. Die eingearbeiteten LEDs darin, die bestimmt mal eine Leuchtanimation für ihre Praxis gezeigt hatten, glommen nur noch matt.

Schade für dich, Mäuschen, dass du ein Namensschild aufgestellt hast, dachte Beckmeister, schlenderte zu seinem eigenen Stand zurück und setzte seine Maske auf (die verhinderte nicht nur, dass die Kranken ihm ein unschönes Souvenir bescherten, sondern praktischerweise auch, dass ihn jemand wiedererkannte).

»Konkurrenz vor Ort«, zischte er Lunita zu, die sich schon im Gasthaus in ihr Krankenschwestern-Outfit mit dem extrakurzen Rock geworfen hatte. »Einfach nicht reagieren, falls sie rüberkommt, klar? Ich mach das schon.«

»Klar«, knurrte Lunita, ebenfalls bereits mit Maske, über der ihre großen braunen Augen gut zur Geltung kamen. Dann verkaufte sie einem Mann, der ihr in den Ausschnitt starrte, innerhalb von zwei Minuten drei Fläschchen Wespengift gegen Haarausfall. Sie war gut. Schon war die Kundenschlange an ihrem Stand länger als die bei der deutlich weniger attraktiven und verbissen wirkenden Dr. Bräuer.

Die Kundinnen wandten sich meistens nicht an Lunita, sondern an Beckmeister, der keine Schwierigkeiten hatte, eine natürliche Autorität auszustrahlen.

»Haben Sie was gegen Herzrasen? Das bekomme ich hin und wieder, wirklich beängstigend«, sagte eine Frau im mittleren Alter, die ihrer schlaffen Haut nach früher mal dick gewesen war.

Beckmeister lächelte hinter der Maske. »Aber natürlich – wie wäre es mit ›Silexium D3 extrastark?‹« Er reichte ihr ein orangefarbenes Fläschchen, in dem er Löwenzahn-Extrakt – für den bitteren Geschmack, den man von Medizin erwartete – mit Wasser vermischt hatte. Das Etikett sah hochoffiziell aus. Gelobt sei der Placeboeffekt. Wahrscheinlich half das Zeug wirklich.

Zwei weitere Kunden kauften homöopathische Mittel gegen Schuppenflechte, Depressionen, Verstopfung, Covid-49 und diese seit einigen Jahren grassierende Katzenpest. Immer gerne. Die Fläschchen waren nicht teuer, für die Etiketten sorgte sein transportabler Laser-Farbdrucker und im Beckmobil hatte er noch einen ganzen Sack Milchzuckerkügelchen, von denen er gestern im Gasthaus ein paar in Einzelportionen umgefüllt hatte. Dass ohnehin niemand damit rechnete, dass in dem Zeug irgendein Wirkstoff war, erleichterte die Sache. Da schadete es nicht, wenn alle Kügelchen gleich waren.

»Haben Sie auch was gegen Krebs?« Der Alte, der das fragte, sah erschreckend aus, das reinste Skelett in einer fusseligen blau-grauen Strickjacke. Seine Mutter hatte auch so ausgesehen, als sie schon überall Metastasen gehabt hatte. Mehr als einen Monat hatte der Kerl bestimmt nicht mehr. »Sitzt in der Leber, hat der Doc gesagt.«

»Natürlich habe ich was dagegen.« Beckmeister zauberte einen Tiegel hervor. »Eine Ginseng-Vitamin-D3-Kombination, sehr hoch dosiert. Die wird Ihnen auf jeden Fall helfen, ist aber leider nicht ganz billig.«

Mit zitternden Händen reichte ihm der Mann ein dickes Bündel Scheine.

Beckmeister setzte eine sorgenvolle Miene auf. »Hm, ich fürchte, das reicht nicht ganz, hätten Sie vielleicht noch Tauschware?«

Erschrocken blickte sein Kunde ihn an. »Hab nicht mehr viel … aber die hier noch … würde die reichen?«

Ungläubig sah Beckmeister, dass der Alte eine Rolex Oyster Perpetual hervorzog. Wow. Und sie funktionierte anscheinend noch. Zum Glück hatte er lange Übung darin, sich seine wahren Gefühle nicht anmerken zu lassen. »Schon ein bisschen älter, das gute Stück, was? Na gut, ich will mal nicht so sein, hier haben Sie die Medizin.«

Während er sich die Rolex umlegte und sie bewunderte, kam die Ärztin anmarschiert, die offenbar gerade von ihm erfahren hatte. Ihr Kopf war hochrot und ihre Augen funkelten vor Zorn. »Schämen Sie sich denn überhaupt nicht, Sie Quacksalber?«

Auf solche Vorwürfe ging Beckmeister grundsätzlich nicht ein, das schadete nur. Stattdessen hob er die Stimme. »Da ist sie ja wieder, die Rentnerkillerin Dr. Bräuer! Geht ruhig zu Doktor Tod, das ist billiger, da kommt ihr mit einer Behandlung aus!«

»Sie unverschämter …«

»Wer jetzt noch auf die Schulmedizin setzt, hat die Wahrheit einfach nicht kapiert«, legte Beckmeister nach. »Was tun Sie ohne Ihren Rezeptblock, Bräuer? Na? Überweisen Sie die Leute doch einfach zum Spezialisten, nur zu!«

»Ich rufe die Polizei!«

Lunita wedelte mit einem ganzen Stapel hervorragend gefälschter Genehmigungen und Expertisen. »Machen Sie das – wir verstehen uns prima mit der Polizei.«

Schäumend zog die Ärztin ab, und das Geschäft konnte weitergehen. Es lief blendend.

Gegen Mittag kam der Mann mit dem langen blonden Bart und den schwarzen Lederhosen vorbei, der am Stand nebenan Armbrüste, Knüppel, grob geschmiedete Messer und Elektroschocker aus alten Feuerzeugen verkaufte. Lunita setzte vorsorglich einen drohenden Blick auf, doch der Kerl beachtete sie nicht. Er knurrte Beckmeister zu: »Ich hab üble Kopfschmerzen. Gib mir was dagegen, los.«

Beckmeister überreichte ihm feierlich ein Röhrchen Nux vomica C12, nahm als Bezahlung dafür ein Stück geräuchertes Kaninchenfleisch und flüsterte Lunita zu: »Wir packen zusammen.«

Seine Assistentin kapierte sofort. Wenn der Typ merkte, dass die Kopfschmerzen nicht weggingen, konnte es zu einer unschönen Situation kommen. Also verstauten sie ihre Ausrüstung und machten sich im Beckmobil auf den Weg zum nächsten Ort.

Lunitas durchtrainierte Waden sorgten dafür, dass sie gut vorankamen, doch am Horizont ballten sich Wolken zusammen, die Beckmeister an teuflischen Blumenkohl erinnerten. Bald wurde auch über ihnen der Himmel immer düsterer. Als Lunita nach oben starrte – vermutlich um abzuschätzen, wann mit den ersten Blitzen zu rechnen war –, rumpelte das Beckmobil durch ein tiefes Schlagloch im Asphalt.

Dann bewegte es sich nicht mehr, obwohl Beckmeister ausstieg und Lunita alles versuchte, um die Rikscha wieder flottzumachen. »Ist die Achse, schätze ich«, meinte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Sehr ärgerlich. Hätten Sie nicht besser aufpassen können? Ich könnte Ihnen die Reparaturkosten vom Gehalt abziehen!«

Lunita verdrehte die Augen, sagte jedoch nichts. Vermutlich war ihr klar, dass er ihr rhetorisch haushoch überlegen war.

Mit gerunzelter Stirn blickte sich Beckmeister um. Sie waren auf einer Landstraße, um sie herum nur offene Felder. Ein aufgegebener schwarzer SUV stand am Straßenrand und träumte vielleicht von Zeiten, in denen er noch hatte Sprit saufen dürfen. Eine Pferdekutsche fuhr an ihnen vorbei.

Etwa einen Kilometer entfernt sah Beckmeister etwas, das wie ein Vierseithof wirkte. »Schauen wir mal, ob die uns helfen können, und ein ordentliches Mittagessen wäre auch nicht verkehrt«, sagte er und öffnete den Kofferraum.

Man durfte nichts über Nacht in der Rikscha lassen, seit dem Kollaps klauten die Leute wie die Elstern. Lunita band sich den Sack mit den Milchzucker-Kügelchen auf den Rücken, damit sie die Hände frei hatte für die beiden Koffer mit den Produkten. Schlecht gelaunt schleppte Beckmeister seine Reisetasche und den Klapptisch.

»Was ist mit meiner Tasche?«, fragte Lunita entgeistert. »Die könnten Sie doch noch nehmen.«

»Ach, die klaut doch sowieso keiner mehr«, sagte Beckmeister nach einem Blick auf das rissige braune Kunstleder. Doch vielleicht war das sogar ein Vorteil? Niemand, der sie ausrauben wollte, würde das Ding eines Blickes würdigen. Spontan holte er seine Kasse, nahm die Hälfte der Scheine heraus und verstaute sie in Lunitas Kunstledergepäck. »Das ist nur vorübergehend, verstanden?«, teilte er seiner Assistentin mit und marschierte inklusive Tasche los.

Der Bauernhof war eindeutig bewohnt, gerade ging das große Holztor auf, um die Pferdekutsche durchzulassen, die sie vorhin überholt hatte. Sie wurde von einem Mann und einer Frau mit dunkler Haut gelenkt und von einem Schimmel gezogen.

»He! Hallo!«, schrie Beckmeister, setzte sein freundlichstes Lächeln auf und winkte. »Könnt ihr uns helfen?«

Lunita sagte nichts. Sie hatte ihre nordrhein-westfälische Heimat sehr plötzlich verlassen müssen, weil sie sich an den Notvorräten einer anderen Familie bedient hatte, die sich als großer arabischer Clan herausgestellt hatte. Seither hielt sie sich im Umgang mit Fremden, denen sie nichts verkaufen wollte, eher zurück.

Die beiden jungen Leute, deren Job es war, die Tore zu schließen, zögerten und blickten neugierig in ihre Richtung. Das nutzte Beckmeister, um zu ihnen hinüberzuhasten. Inzwischen waren die beiden anderen Leute vom Kutschbock geklettert und blickten skeptisch zu ihnen und zur Rikscha herüber.

»Achsenbruch, was?«, meinte die Frau, die ihre langen ebenholzfarbenen Haare hinten zusammengebunden trug. Sie wirkte tough, ihr Blick war klar und entschieden. »Wir haben ein paar Werkzeuge, vielleicht kriegen wir das wieder hin. Vor dem Kollaps bin ich Taxi gefahren, mit Fahrzeugen kenn ich mich aus. Ach ja, ich bin übrigens Jennifer.«

»Xaver«, sagte der etwas behäbig wirkende Mann mit der hellbraunen Pudelfrisur, vielleicht der Bauer, dem der Hof gehörte. »Bei uns gibt’s heute Kartoffelsuppe und gebratene Zucchini, ihr könnt gerne mitessen, wenn ihr wollt. Wir haben zwei Hektar Land, das reicht für eine halbe Tonne Gemüse, auch wenn uns leider viel vom Feld geklaut wird.«

»Danke, das ist echt nett.« Langsam schien Lunita aufzutauen, sie wagte sogar ein Lächeln. »Ich bin Lunita.«

»Dr. Quentin Beckmeister«, ergänzte Beckmeister huldvoll. Das »Doktor« vor seinem Namen hatte er sich nach dem Großen Kollaps gegönnt, es machte sich dort einfach gut.

»Hi, Doc. Übrigens hab ich gekocht – die Kartoffeln mussten dringend weg, die waren noch vom letzten Jahr, aber die Zucchini haben wir heute erst geerntet«, meinte ein junger Mann mit Rastalocken und lächelte sie an, während zwei Mädchen hinter ihnen die Torflügel zuschoben. »Wohin seid ihr unterwegs?«

Ein Instinkt ließ Beckmeister zögern, doch Lunita antwortete: »In den nächsten Ort, wo ein Markt stattfindet. Wir verkaufen Medizin.«

Sofort veränderte sich die Atmosphäre, wurde kühler. Verdammt. Leider war das Tor – drei Meter hoch mindestens! – gerade hinter ihnen eingerastet und von Xaver abgeschlossen worden.

»Aha«, sagte Jennifer nur, ging voraus ins Hauptgebäude und schob eins der Hühner, die um sie herumstolzierten, mit dem Fuß beiseite.

Eins der Seitengebäude war ein Stall, aus dem ein Duft nach Kuhdung hervordrang. Als sich Beckmeister umblickte, sah er durch die offen stehende Tür eines anderen Flügels nicht etwa weitere Ställe, sondern große Stahlbottiche, die mit Röhren verbunden waren. Brauten die hier ihr eigenes Bier? Oder hatten sie eine chemische Produktion irgendeiner Art?

Bevor er nachhaken konnte, brach das Gewitter los und Tropfen so groß wie Haselnüsse prasselten auf die festgestampfte Erde und den Küchengarten in der Mitte des Innenhofs nieder. Beckmeister beeilte sich, ins Innere zu kommen. Im Hauptgebäude roch es so appetitlich nach der Kartoffelsuppe, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Oh mein Gott, hatten die etwa Speck und Sahne aufgetrieben? Auch die Zucchini dufteten himmlisch.

Ein halbes Dutzend Leute, darunter eine Frau von etwa 80 Jahren, und die drei Jugendlichen ließen sich um den Holztisch nieder. Alle stellten sich vor, doch Beckmeister verzichtete darauf, sich ihre Namen zu merken – lange würden er und Lunita bestimmt nicht hier sein.

Seine Augen wurden groß, als er etwas Unerwartetes sah. Etwas, das er schon lange nicht mehr erblickt hatte. Eine schmächtige, jungenhaft wirkende und höchstens 20-jährige Frau, die sich »Kathi« genannt hatte, drückte sich eine Spritze in eine Bauchfalte und injizierte sich etwas. Eine Diabetikerin! Aber wieso lebte sie noch? Woher hatte sie das Zeug?

»Beckmeister …«, sagte Xaver nachdenklich. »Kommt mir irgendwie bekannt vor, der Name.«

»So nett von euch, uns einzuladen«, versuchte Beckmeister abzulenken. Er spürte, dass auch Lunita unruhig wurde. »Leider müssen wir wieder los. Dringender Termin im nächsten Ort.«

»Tja, mit der Achse können wir euch leider erst helfen, wenn das Gewitter vorbei ist.« Jennifer musterte ihn mit durchdringendem Blick und wünschte den anderen guten Appetit, schon hoben und senkten sich die Löffel. Notgedrungen setzte sich Beckmeister neben Jennifer, seine Assistentin ließ sich auf der anderen Tischseite nieder.

»Seid ihr alle verwandt? Oder wie seid ihr hier zu dem Hof gekommen?«, fragte Lunita, die sich ihre kastanienbraunen Haare hinter die Ohren klemmte und sich dann gierig über die Suppe hermachte. »Wow, das ist echt lecker!«

Der junge Rastamann lächelte ihr geschmeichelt zu.

»Moment mal«, unterbrach Kathi, die junge Frau, die sich eben Insulin gespritzt hatte, und warf Beckmeister einen Blick zu, der seine Speicheldrüsen und seine Geschmacksknospen dazu brachte, augenblicklich ihre Arbeit einzustellen. »Das Gesicht von dem Typen hab ich schon mal gesehen. Wartet mal.« Sie hatte ein Smartphone und wischte nun anscheinend durch ihre gespeicherten Bilder.

Nichts wie raus hier, dachte Beckmeister, doch eine feste Hand – nein, eine Pranke war es, eine Bärenpranke – drückte ihn wieder auf die Bank zurück. »Moment noch«, grollte Xaver.

»Da! Damals hat er sich noch anders genannt. Nollinger.« Kathi zeigte ihr Handy herum, und Beckmeister erkannte einen leicht unscharfen Schnappschuss von sich selbst. Dreck! »Der war es, von dem Mama damals in Bielefeld dieses angebliche Insulin gekauft hat.«

Beckmeister fragte lieber nicht, was aus ihrer Mutter geworden war. »Das war ich nicht, wie kommt ihr denn auf so was?«, versicherte er mit gespielter Empörung. »Ja, der Typ sieht mir ein bisschen ähnlich, aber das ist …«

Jennifer stand auf, und als Beckmeister ihren stahlharten Blick sah, hielt er den Mund. »Interessiert es Sie noch, wie wir hierhergekommen sind?«, fragte sie, und ihre Faust hatte sich um eine Gabel geballt. Eine Gabel mit scharfen, blinkenden Zinken, an denen Zucchinireste klebten. »Unser kleiner Clan hier ist aus einer Selbsthilfegruppe entstanden.«

Noch bevor sie weitersprach, ahnte Beckmeister, was sie sagen würde. Und er irrte sich nicht.

»Einer Selbsthilfegruppe von Diabetikern«, fuhr Jennifer fort. »Eins der Mitglieder war meine Tochter.«

Oh Scheiße, Scheiße!

»Unser Vater war auch dabei«, sagte der Junge mit den Rastalocken und nahm die Hand eines Mädchens, das Beckmeister hasserfüllt anstarrte. Jetzt fiel Beckmeister auf, dass neben dem Jungen ein Ledertäschchen lag, in dem sich vermutlich ein Spritzbesteck befand.

»Und meine Schwester«, ergänzte Xaver, dann nickte er der alten Frau zu. »Meine Mutter ist zum Glück nur Typ 2.«

Beckmeister wusste, dass er in ernsthafter Gefahr war.

»Lunita!«, schrie er. »Los! Schnell! Mach schon!« Seine Assistentin hatte den dritten Dan in Taekwondo und war durchtrainiert wie einer von Charlies Engeln. Er hatte gesehen, wie sie Türen eingetreten hatte. Wenn ihn jemand hier rausbringen konnte, dann sie!

Doch Lunita rührte sich nicht. »Damals habe ich noch nicht für ihn gearbeitet«, meinte sie ruhig. »Was war das für Insulin, das er verkauft hat? Hauptsächlich Wasser, oder? Er hat auch Kügelchen im Angebot, Insulin D30. Sauteuer. Das ist auch so ein Bullshit, schätze ich.«

»Absolut«, sagte Xaver. »Es gibt kein homöopathisches Insulin, in welcher Potenz auch immer. Auf diese Art den Blutzucker zu senken ist nicht möglich.«

Vielleicht war er doch kein Bauer. Im gleichen Moment ging Beckmeister auf, was das da in der Scheune war. Vermutlich ein Bioreaktor mit genmodifizierten E. coli, die Insulin produzierten.

»Wenn das wegen der Gehaltserhöhung ist, Mädel, dann …« Beckmeister konnte nicht fassen, dass sie ihn verriet – nach fast zwei Jahren in seinen Diensten!

Lunita würdigte ihn weder einer Antwort noch eines Blickes.

Jennifer und der Rastajunge hielten ihn fest, während Xaver seine Produktkoffer durchsuchte. »Tatsächlich, hier steht ›Insulin D30‹ drauf.« Mit spitzen Fingern hielt er das Röhrchen hoch. »Leider habe ich hier kein Spektrometer, um das zu analysieren.«

In der Zwischenzeit hatte diese verdammte Kathi eifrig Textnachrichten versandt, mit einem leisen Ping kamen Antworten rein. »Ein paar der anderen haben auch davon gehört, dass er eigentlich Beckmeister heißt und nicht Nollinger«, verkündete sie triumphierend. »Hier ist noch ein Foto. Es ist derselbe Kerl! Ich kann’s nicht glauben, wir haben ihn!«

Ein tiefes, giftiges Schweigen senkte sich über die Küche.

»Lunita, möchtest du vielleicht gehen?«, fragte Jennifer, ihre Stimme klang ausdruckslos.

»Äh … ja«, sagte Lunita und starrte Beckmeister an. Nie hatte er ihre schönen braunen Augen so voller Abscheu gesehen, und ihr Monroe-Näschen wirkte auf einmal gar nicht mehr so niedlich. »Ich kündige!«

»Gute Entscheidung«, sagte Kathi, auf ihren Wangen waren rote Flecken.

»Lunita!«, brüllte Beckmeister und fühlte, wie feucht das Hemd unter seinen Achseln war. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. »Das kannst du nicht machen!«

»Ach ja?«, fragte Lunita. Sie verpasste einem seiner Produktkoffer einen Profi-Tritt aus der Hüfte, der ihm eine tiefe Delle bescherte, packte ihre Reisetasche – da war das Geld drin, verdammt! – drehte sich um und ging. Eins der Mädchen begleitete sie, wahrscheinlich, um ihr das Tor aufzuschließen.

»Was machen wir jetzt mit ihm?«, fragte Xaver, auch seine Stimme klang nun eisig. »Die Polizei rufen?«

Ganz kurz erlaubte sich Beckmeister ein Gefühl der Erleichterung.

»Vergiss es, solche Leute haben die Polizei in der Tasche«, sagte Jennifer, und ihr Blick fühlte sich an, als würde er ihm jeden Moment ein Loch durch Jackett, Hemd und Haut brennen. »Das war bei meinem Zuhälter damals auch so. Ihr wisst schon, dem, bei dem ich war, bevor das mit dem Taxischein geklappt hat. Der Kerl hätte mir ein Auge ausstechen können und wäre damit durchgekommen. Schließlich musste ich mich doch selber um ihn kümmern.«

»Hm … wie wäre es mit einer Überdosis Insulin?«, schlug Kathi mit flammendem Blick vor. »Das wäre der Klassiker und so was wie poetische Gerechtigkeit.«

»Nein«, sagte Jennifer und schnappte sich ein Küchenmesser mit handlanger Klinge aus einem Holzblock. »Das ist zu wertvoll, um es an den da zu verschwenden. Ich hab eine bessere Idee. Glaubt jemand, dass dieser Drecksack seine Bauchspeicheldrüse noch braucht?«

Ungläubig glotzte Beckmeister sie an.

»Aber wir haben kein Chloroform«, wandte die ältere Frau ein, die Mutter von Xaver und seiner toten Diabetiker-Schwester.

»Genau das war der Gedanke dabei«, sagte der Rastajunge.

Seine Schwester schloss kurz die Augen und klammerte sich noch fester an seine Hand. Dann sagte sie: »Was ist? Legen wir los?«

Xaver nickte. »In meinem Bücherregal steht irgendwo ein Anatomie-Atlas. Wir kriegen das hin.«

»Das könnt ihr nicht machen!«, brüllte Beckmeister und wehrte sich mit aller Kraft gegen die Leute, die ihn festhielten. Viel brachte das nicht. Zum ersten Mal tat es ihm leid, dass er die körperliche Arbeit immer Lunita überlassen hatte.

»Doch, können wir«, sagte Jennifer.

Nicken rund um den Tisch, nur ein oder zwei Leute zauderten, blickten sich gegenseitig an. Schließlich nickten sie auch.

»Ekelhaft, was manche Leute tun«, sagte die ältere Frau. Leider meinte sie nicht die Pläne der anderen, jedenfalls blickte sie ihn an, als sie es sagte. Blickte ihn an, wie man eine Kakerlake anblickt. Oder Hundekacke unter dem Schuh.

Beckmeister spürte seine letzte Hoffnung verdunsten.

»Alles klar«, sagte Jennifer grimmig. »Machen wir’s am besten in der Waschküche. Wenn er Glück hat, überlebt er das Ganze sogar, wer weiß. Wenn auch nicht lange – von uns kriegt er jedenfalls kein Insulin. Aber er hat ja noch ganz viele Kügelchen D30.«

Beckmeister schrie und hörte, wie das Geräusch an den Mauern des Vierseithofs verhallte, als sie ihn zur Waschküche schleiften und dort festbanden.

Er schrie nur kurze Zeit.

 

Hintergrundfakten zur Geschichte

Falls aus welchen Gründen auch immer unsere hochkomplexe Zivilisation kollabiert, wird sich unser Leben drastisch ändern. Was ist dann mit denjenigen Menschen, die lebenswichtige Medikamente benötigen – gibt man sie einfach auf? Da meine Familie selbst davon betroffen ist, lag der Gedanke nicht fern, das in einer Geschichte anzupacken. Wenn die Apotheken dichtmachen, schlägt die Stunde der skrupellosen Quacksalber. Sie würden sicher davon profitieren, dass die meisten Menschen alles tun würden, um ihre Angehörigen am Leben zu erhalten. In Deutschland gibt es derzeit 8 Millionen Diabetiker, und da die Zahlen steigen, rechnet die Deutsche Diabetes-Hilfe damit, dass es im Jahr 2040 12 Millionen sein werden. Viele von ihnen könnten auch ohne Insulin auskommen und überleben, aber nicht die circa 341.000 Typ-1-Diabetiker. Was tun? Früher hat man Insulin aus der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) von Schweinen gewonnen, nur war das nicht sonderlich gut verträglich und man brauchte das Pankreas von 50 Schweinen, um den Jahresbedarf eines einzelnen Diabetikers zu decken. Heute wird das lebenswichtige Hormon mithilfe von modifizierten Bakterien und Hefezellen hergestellt – ein sehr komplexer Prozess, für den man Fachwissen braucht. In meiner Geschichte schafft es eine Gemeinschaft durch ihren Biotech-Experten, kleine Mengen des kostbaren Hormons zu erzeugen. Gegenseitige Hilfe in der Community … das kann und wird auch für andere Probleme eine Lösung sein, da bin ich mir sicher.

VITA PRO VITA

Von Petra K. Gungl

Der Wind roch nach Regen, jede Böe drückte das Ziergras in eine tiefe Verbeugung, manche Halme blieben liegen, den Blütenwedel im Kies ausgebreitet. Tanja zog die Strickjacke vor der Brust zusammen und erhob sich von der Parkbank. Es war Zeit. Sanft strich sie über die Wölbung ihres Bauchs und lauschte in sich hinein. Bewegte sich Cilia oder schlief sie? Im Uterus blieb es ruhig und Tanja setzte sich in Bewegung, ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Natürlich sah der Gärtner ihr nach. Dafür kreuzten Schwangere viel zu selten in der Öffentlichkeit auf. Selbst hier am Vita-pro-Vita-Areal mit seinen hohen Mauern und Absperrungen gaffte das Service- und Wachpersonal oft ungeniert auf ihren Bauch.

Spontane Schwangerschaften traten dieser Tage mit derselben Seltenheit auf wie Eisbären am Nordpol. Denn parallel zu den Polkappen waren in den vergangenen Jahrzehnten die kleinen Schwimmer in den Hoden der Männer verschrumpelt. Allerdings nicht wegen der Erderwärmung, sondern vielmehr wegen der mannigfaltigen Umweltgifte, denen man nicht entkam. Im Wasser, in der Erde, in der Luft – der Mensch war Teil der Welt, die er erschaffen hatte, und in demselben Zustand. Kinder kamen mit Gendefekten zur Welt oder starben zuvor im Mutterleib. Die einzig sichere Möglichkeit zur Fortpflanzung war eine Befruchtung in der Retorte.

Vor der Klinik wartete eine hochgewachsene Frau in mondäner Aufmachung, die Augen mit ungeduldiger Nervosität auf den Garten zwischen ihrem Standort und dem gegenüberliegenden Vita-pro-Vita-Appartementhaus gerichtet. Tanjas Kehle wurde bei dem Anblick der Frau eng. Kaum hatte die penibel frisierte Blondine sie entdeckt, streckte sie den Arm in die Höhe zu einem aufgeregten Winken. Auf hohen Absätzen trippelte sie ihr einige Schritte entgegen.

»Da sind Sie endlich! Ich war bereits in Sorge«, rief sie und ließ ihren Blick über Tanjas Bauch gleiten. »Geht es Ihnen gut?«

Unwillkürlich legten sich Tanjas Arme schützend um den eigenen Leib, eine Geste, die sie mit dem Zurechtrücken der Jacke zu tarnen versuchte.

»Guten Tag, Frau Hohenborn.« Tanja zwang sich zu einem Lächeln.

»Sie sollen doch Ida zu mir sagen, Liebes.« Ida hakte sich in bemutternder Art unter und erweckte den Eindruck, sie wolle Tanja auf den letzten Metern in die Klinik tragen.

»Bei mir ist alles in Ordnung«, sagte Tanja und konnte Idas Arm trotzdem nicht abschütteln. Mittlerweile zog sich ihre Muskulatur im Unterleib zusammen und Cilia versetzte ihr einen Tritt gegen die Blase. Die Kleine spürte stets, wenn etwas nicht in Ordnung war. Ein liebevoller Gedanke an den Winzling entspannte die Muskeln. Nein, damit musste sie aufhören. Keine Namen für Babys. Das durfte sie nicht, das wusste sie doch ganz genau.

Geistesabwesend ließ sich Tanja von ihrer Begleiterin in die Klinik führen, steckte die Gesundheitskarte in den vorgesehenen Schlitz und durchlief die Desinfektionsschleuse. Von dort waren es nur wenige Meter bis zum Schalter der gynäkologischen Abteilung. Es genügte neuerlich, die Chipkarte einzuscannen, die Begrüßung der Computerstimme abzuwarten und sich im Wartebereich niederzulassen, der bis auf eine weitere Schwangere in Begleitung einer Auftragsmutter gähnend leer war. Ringsum strahlendes Weiß. Keimfrei. Der Bahnhof ins Himmelreich. Das Atmen fiel Tanja von Augenblick zu Augenblick schwerer. Ida erzählte ohne Unterlass von einem Event und ihrem Auftritt mit einem bekannten Sänger.

»Die ganze Welt hat zugesehen!«

Die Worte rauschten an Tanja vorbei. Alles, was sie im Gesicht ihrer Auftraggeberin entdeckte, war die kunstvolle Arbeit der Schönheitschirurgie, die Idas Gesicht glatt und attraktiv hielt. Es war unmöglich, ihr Alter zu erraten. Seit dieses genetisch maßgeschneiderte Anti-Aging-Medikament zugelassen worden war, wurden diejenigen, die es sich leisten konnten, doppelt so alt wie jeder Normalsterbliche. Tat es Tanja leid, nicht selbst zu den Vampiren zu gehören? Die landläufig verwendete Bezeichnung für die beinahe Unsterblichen traf die Situation ziemlich gut, fand Tanja. Die Reichen saugten das Leben regelrecht auf. Hingegen bedeutete Armut, früh zu sterben, und das mit schlaffer Haut und Krebsgeschwüren. Tanjas Fruchtbarkeit war ihr einziges Kapital. Ein Glück letztlich, unter kargen Verhältnissen auf einem Bergbauernhof groß geworden zu sein. Und die Eltern konnten sich dank der Zuwendungen ihrer Tochter die besseren Medikamente leisten, was ihr Leben deutlich verlängerte.

Tanja dachte an ihr Bitcoin-Guthaben. Diese letzte Leihmutterschaft musste sie bewältigen, dann würde sie genug beisammen haben für ein eigenes Kind. Die spezialgereinigte Nahrung, die aufbereiteten Samenzellen, die künstliche Befruchtung – das alles kostete ein Vermögen. Das nächste Baby gehörte ihr, ihr ganz allein. Niemand würde es ihr aus dem Leib reißen und davontragen, sie mit einer leblosen Schwärze im Bauch zurücklassen. Nur so konnte dieser Abgrund in ihrer Seele verschwinden und mit ihm der nagende Schmerz, der sie von innen heraus auffraß.

Cilia streckte ihr Beinchen. Die Beule wanderte über Tanjas Bauchoberfläche, ohne dass Ida etwas davon mitbekam. Tanja umschlang ihren Bauch, wollte das Kind darin festhalten, die Entbindung absagen, davonrennen. Ihre Haut spannte. Alles war viel zu eng – das Gelände mit seinen Mauern ringsum, die bewaffneten Wachen an den Eingängen. In-vitro-Babys waren wertvoll, wurden manchmal entführt. Die Wände schoben sich auf Tanja zu, die Luft wollte kaum durch die Lungen strömen. Die Muskeln vibrierten und sie war kurz davor abzuhauen, da schob sich die gegenüberliegende Tür auf und in Leuchtschrift blinkte Tanjas Vita-Nummer über dem Durchgang.

»Sehen wir nach, wie es meinem Baby geht!«, rief Ida. Ihre exaltierte Stimme hallte von den Wänden wider. Einen Augenblick später stand sie vor Tanja, zog sie hoch und drängte auf den Durchgang zu. »In drei Wochen bin ich Mutter – das ist das größte Abenteuer meines Lebens!« Zum Glück achtete sie nicht auf Tanjas Augen.

Oder auf irgendetwas.

Ein schmaler Mann in weißem Overall stand neben dem »DocScan«, dem voll automatisierten Gesundheitsanalysegerät, das menschliche Ärzte weitgehend abgelöst hatte. In diesem Klinikbereich herrschte die gleiche penible Sauberkeit, die Tanja bereits im Warteraum das Atmen schwer gemacht hatte. Selbst das Bedienungsfeld seitlich, wo sich Monitore und Hocker befanden, glänzte in sterilem Chrom.

»Geht es dir gut, Tanja?« Die dunklen Augen des Operators musterten sie mit gewohnter Intensität. Es war die vierte Schwangerschaft, bei der Oliver sie begleitete, ein Faktotum aus Freundlichkeit und Rücksichtnahme. Sie mochte seine Adlernase, das rabenschwarze Haar, das er am Hinterkopf zusammengebunden trug, und vor allem mochte Tanja, dass er sie nicht überragte. Das Lächeln, das sie ihm schenkte, war voller Dankbarkeit, denn seine Gegenwart beruhigte das innere Zittern.

»Alles in Ordnung.« Kurz verschränkten sich ihre Blicke ineinander, bevor seine Augenlider zu flattern begannen und er sich geschäftig am »DocScan« zu schaffen machte.

»Du weißt ja – entkleiden und hier auf die Einschubfläche legen. Mit dem Laken kannst du dich bedecken. Gab es Probleme in der letzten Woche?«

Tanja trat hinter das Paneel, hängte die Jacke an den Haken und streifte ihre Schuhe ab. »Hin und wieder leichte Wehen.«

»Um Himmels willen! Und Sie haben nichts dagegen unternommen?«, kreischte Ida von ihrem Platz am Monitor.

»Das ist normal«, erwiderte Tanja und hoffte, damit ihre Auftraggeberin beschwichtigen zu können.

»Normal?«, fuhr Ida sie an. »Sie hätten sofort zur Untersuchung müssen – das ist vertraglich vereinbart!«

Ein Panikschauer loderte unvermittelt durch Tanjas Adern – kochendes Öl konnte nicht heißer sein. Dieser Fehler konnte eine empfindliche Pönale nach sich ziehen – dabei brauchte sie jeden einzelnen Bitcoin!

»Übungswehen sind vor dem Geburtstermin keine Komplikation, Frau Hohenborn. Der ›Medichip‹ unter Tanjas Haut hätte bei Problemen sofort Alarm geschlagen, seien Sie unbesorgt.« Olivers angenehmer Bariton im Zusammenspiel mit der Autorität seiner Operatoruniform nahm Ida sichtlich den Wind aus den Segeln.

»Zum Glück sehen wir gleich, was los ist«, knurrte sie und wandte sich wieder dem Monitor zu. Oliver trat neben sie ans Bedienungsfeld, aktivierte mit ein paar Knopfdrücken die Maschine, die surrend ansprang. Damit ließ er Tanja genug Privatsphäre, sich nackt auf die Einschubfläche zu legen und das Tuch über Brust und Leib zu ziehen. Gänsehaut breitete sich beim Kontakt mit der Glasplatte über ihren Körper aus. Sie atmete flach und schloss die Augen. »Ich bin so weit.«

Oliver ging um die Liege herum, kontrollierte ihre Position und betätigte einen weiteren Schalter. Fast lautlos fuhr die Platte in das Gerät hinein. An der Seite erschien Olivers Hand, die am Zipfel des Lakens zog und sie frierend in der Röhre zurückließ. Metallfühler legten sich klackernd um ihre Arme, Beine, ihren Bauch und ihre Stirn. Gleichzeitig erfüllte ein hochfrequenter Ton den Kokon. Auf dem Bildschirm über ihrem Kopf flackerte Cilias Abbild auf. Tanjas Atem stockte. Diese perfekten kleinen Finger, das süße Näschen, die angezogenen Beine – sie war ein Wunder.

Du wirst ein gutes Leben haben, dachte Tanja und versuchte dabei, den aufsteigenden Schrei abzuwürgen. Ein leises Krächzen entschlüpfte ihr dennoch.

»Ich sehe, es war deine eigene Eizelle, die zur Befruchtung herangezogen wurde, Tanja?« Olivers Worte drangen über den seitlichen Lautsprecher an ihr Ohr.

»Das ist richtig«, antwortete sie, »Idas Eierstöcke produzieren keine.«

Es blieb still.

»Ist alles in Ordnung mit Ci … mit dem Kind?« Tanjas Stimme klang in der Röhre ungewohnt schrill. Warum schwieg Oliver? Sonst plauderte er immer so nett mit ihr …

»Keine Sorge, dem Mädchen geht es prächtig.« Tanja meinte, erzwungene Sorglosigkeit aus seinen Worten herauszuhören. »Du bekommst jetzt die wöchentliche Injektion und damit sind wir fertig.«

Ein Piken an ihrem linken Arm folgte, die Fühler zogen sich zurück und die Liege fuhr mit leisem Sirren aus der Röhre heraus. Zuerst erschien das Laken, das Oliver ausgebreitet vor seinem Gesicht hielt und sogleich über ihre Blöße breitete, danach seine ernste Miene.

»Was ist los?« Tanja wickelte sich das Tuch um den Körper und stand Oliver gegenüber. Sah ihm in die Augen, konnte die schlechten Nachrichten darin sehen, ehe er sie aussprach.

»Das ist deine letzte Schwangerschaft, Tanja. Der ›DocScan‹ hat rasch wachsende Krebsgeschwüre an den Eierstöcken festgestellt. Sie müssen beide entfernt werden. Und zwar gleich kommende Woche im Zuge des Kaiserschnitts. Es tut mir leid.«

Tanja starrte ihn an. Leere breitete sich in ihrem Kopf aus. Alle Opfer waren vergebens gewesen. Man würde Cilia aus ihrem Bauch schneiden, sie unfruchtbar machen und aus den Diensten von Vita-pro-Vita entlassen. Gesunde Spermien und Eizellen kosteten ein Vermögen und die erforderliche Leihmutter ein weiteres. Geld, das sie nicht hatte. Ihr Blick klammerte sich an Olivers Pupillen fest, denn der Raum verwandelte sich in ein Karussell, drehte sich in zunehmender Geschwindigkeit um Tanja. Die Mauern, die Wachen – es gab kein Entrinnen. Vorsichtig tappten ihre Füße Richtung Paneel, zu den Kleidern hin. Raus hier, sagte sie sich. Irgendetwas musste ihr einfallen … Oliver griff nach ihrem Arm, wollte sie stützen. Tanja zuckte zusammen. Mit einem schnellen Ruck riss sie sich los und verschwand hinter dem Raumteiler.

»Wenn ihr mich sterilisiert, gebe ich dieses Kind nicht her! Es ist meins!«, rief sie laut, glaubte, ein Paravent könne ihr Schutz bieten.

Absätze klapperten über den Fliesenboden. Ein wütendes Stakkato, das Tanja überrollen wollte.

»Wir haben einen bindenden Vertrag«, ertönte Idas Stimme von der anderen Seite. »Alle meine Termine sind auf den Geburtstermin ausgelegt. Das Kinderzimmer ist bereit, die Kinderschwester eingestellt. Ich bestehe auf meinem Kind.« Der Boden schwankte unter Tanjas Füßen. Der Vertrag, die Entbindung, die Sterilisation – Informationen rasten durch ihren Kopf, stießen zusammen und fingen Feuer. Hektisch versuchte sie, in die Hose zu steigen, gleichzeitig brannte es in ihrem Kopf. Letztendlich war die Bluse schief zugeknöpft, und in die Schuhe schlüpfte sie, ohne sich die Mühe zu machen, Strümpfe überzuziehen.

»Ich habe keine Zeit für Diskussionen, ich muss zu einer Probe«, hörte Tanja ihre Auftraggeberin zu Oliver sagen. Mit einem Mal traf sie die volle Wucht der Realität – Cilia war ihr letztes Kind. Die einzige Chance, nicht vom Abgrund verschlungen zu werden. Wenn Flucht unmöglich war, half vielleicht … Tanja trat hinter dem Paneel hervor.

»Bitte – verzichten Sie auf dieses Kind! Ich bezahle Ihre Aufwendungen, alles – nur lassen Sie mir Cilia …«

Idas Frostaugen versprachen weder Halt noch Hoffnung. Sie sahen auf Tanja herab mit jener selbstgefälligen Arroganz aller Vamps. »Mein Kind heißt Viktoria und mein Anspruch ist unanfechtbar.«

Die Dunkelheit in Tanja kroch aus den Fugen jener Mauer, hinter die sie ihren Schmerz aus drei früheren Schwangerschaften verbannt hatte. Das Licht im Raum wurde fahl, alles um sie herum schmutzig grau. Die Panik schloss ihre Faust um Tanjas Herz, zwang sie buchstäblich auf die Knie, machte, dass Tanja die schlanken Fesseln der Auftragsmutter umklammerte und Tränen auf die Lackpumps tropfte.

»Lassen Sie mir das Kind, ich flehe Sie an! Bitte, ich brauche es, ich kann nicht leben …«

Idas Fuß hob sich, strampelte sie ab. Ein Tritt traf Tanja am Arm, sie ließ los und Ida brachte sofort einige Meter zwischen sich und sie.

»Sie kümmern sich um die Sache?«, herrschte Ida Oliver an. »Meinem Baby darf nichts geschehen.« Idas Tonfall zeugte von ihrem Willen, die eigene Macht auszuspielen.

»Natürlich, Frau Hohenborn, das ist schließlich meine Aufgabe«, beeilte sich Oliver mit dem nötigen Respekt zu antworten. »Gehen Sie ruhig zu Ihrem Termin. Ich kümmere mich um alles.«

Aus den Augenwinkeln nahm Tanja das knappe Nicken ihrer Auftraggeberin wahr. Sie machte sich nicht die Mühe aufzustehen. Wozu auch? Sie hatte verloren.

Alles.

Nun hallten die Absätze gleich Trommelschlägen von den Wänden wider, fort von ihr. Es wurde still.

»Geht es dir besser?« Oliver hockte sich vor sie, berührte ihre Hand, die Tanja sofort wegzog. »Ich bin verpflichtet, dich daran zu erinnern, dass du das Vita-pro-Vita-Gelände nicht verlassen darfst«, begann er in einem Tonfall, der sich kaum von dem eines Computers unterschied. »Es ist deine vertragliche Pflicht, von allen Handlungen Abstand zu nehmen, die dem Kindeswohl abträglich sein könnten. Ich werde dich ins Wohnheim begleiten und Sorge tragen, dass dir ein Pflegeroboter zugewiesen wird.«

Tanja bekam den Weg hinaus aus der Klinik kaum mit. Im Park, unter freiem Himmel, umgab sie eine feindliche Welt, die aus Überwachungskameras, Wachen und Mauern bestand. Die Wolken waren dunkel, der Duft der Blumen war verschwunden, das Gurren der Tauben verstummt. Cilia würde das letzte Kind in ihrem Bauch sein. Und einer anderen Frau gehören.

»Hier können wir sprechen, keine Kamera ist auf uns gerichtet.« Oliver ging an ihrer Seite, den Arm stützend um ihre Taille gelegt. »Du musst dich zusammennehmen. Deine Reaktionen werden allesamt protokolliert.«

Tanja nickte. Dem hatte sie zugestimmt. Genauso der unerschwinglich teuren Diät, die sich auf Nahrungsmittel beschränkte, die von sämtlichen Plastik-, Schwermetall-, Pestizid- und Herbizid-Rückständen befreit worden waren. Dazu kam der Verzicht auf das Verlassen des Geländes, Verzicht auf Sex, Verzicht auf alle Ansprüche gegenüber dem auszutragenden Kind.

»Warum willst du unbedingt ein eigenes Kind? Mit dem Geld kannst du dir ein schönes Leben machen – sogar ein Vamp werden.«

Tanja schüttelte kraftlos den Kopf. »Das verstehst du nicht, Oliver, du bist ein Mann. In mir ist Leben entstanden, mein Fleisch und Blut. Und ich habe es verkauft. Drei Mal. Du hast keine Ahnung, was mich das kostet. Keinen blassen Schimmer.« Tanja blieb stehen, um Oliver noch einmal direkt in die Augen zu sehen.

Er hielt ihrem Blick stand, ließ sie nicht los. Seine Pupillen weiteten sich und langsam atmete er aus. »Vielleicht bin ich nur ein Mann, aber glaub nicht, ich wünschte mir keine Familie. Was denkst du denn, warum ich hier arbeite?«

»Ich wollte nicht …«, begann Tanja, doch Oliver winkte ab.

»Ich habe meine Spermien untersuchen lassen – auf natürlichem Weg ist nichts zu machen. Sie sind allesamt bewegungsunfähig und verkrüppelt. Wäre genetisch ein zu großes Risiko. Um Kinder zeugen zu können, hätte ich mich bereits viel früher für das Samenprojekt melden und auf kontaminationsfreie Ernährung umgestellt werden müssen. Wahrscheinlich hätten sie mich in dem verdammten Zuchtbullen-Programm ohnehin nicht aufgenommen, weil ich nicht dem erwünschten Männerbild entspreche.« Olivers Augen schimmerten feucht und für einen Moment presste er die Lippen zusammen.

»Es tut mir so leid, Oliver.« Tanja fühlte seinen Schmerz und musste instinktiv seinen Nacken streicheln. So nahe war sie seit Jahren keinem Mann gewesen. Sie genoss die Wärme der Umarmung, in die er sie zog, genoss das Eingehülltsein, sich in einer Schutzschicht zu wähnen, die sie scheinbar von der Außenwelt abschirmte.

»Das braucht es nicht. Du sollst bloß wissen, ich verstehe dich.«

Im Wohntrakt angekommen, erwartete sie das beruhigende Plätschern des Springbrunnens – einer Wasserinstallation unterhalb der Galerie, bestehend aus unterschiedlich langen Metallstäben, aus denen Wasser sprudelte, das im beleuchteten Boden zwischen Gräsern versickerte. Oliver ließ Tanja nicht die Treppe hinauf zur Galerie nehmen, wo die Türen zu den Wohneinheiten abgingen, sondern bestand darauf, dass sie den Lift benutzte. Er stand immer noch neben dem Springbrunnen, als sie oben angekommen war. Sein fast unmerkliches Nicken gab ihr das Gefühl, nicht völlig verlassen zu sein. Sie wandte sich ab, entriegelte die Zimmertür mit der Chipkarte. In einer Woche würden sie sich wiedersehen, wenn man ihr Cilia entriss.

Tanja ließ sich in die Kissen fallen. Unter ihr knisterten die Seiten des Vertrages. Sie hatte kein Schlupfloch gefunden. Die einzige Chance wäre Idas Verzicht gewesen. Ein Kampf vor Gericht war aussichtslos.

Tanjas Blick strich über die Kochnische, wanderte zum Schrank und weiter zum vergitterten Balkon. Ihre kleine Wohnung würde sie in drei Tagen räumen – sterilisiert, ohne Hoffnung auf eine eigene Familie. Jetzt lebte eine kriechende Kälte in ihr, überzog die inneren Räume mit Frost und Dunkelheit. Schützend legte Tanja die Hände auf die Wölbung ihres Bauchs. Cilias Ferse wanderte unter der Oberfläche. Ihr kleines Mädchen wollte sie bestimmt damit aufmuntern. Tanjas Herz stolperte, verpasste einen Schlag. Auf keinen Fall würde sie Cilia aufgeben. Mühsam rappelte sie sich hoch, hielt kurz inne, um Atem zu holen. Die ganze Zeit über war ihr Blick auf die Kochnische gerichtet, genauer auf das Schneidbrett, den aufgeschnittenen Apfel und die 15 Zentimeter lange Klinge des Messers. Ein paar wenige Schritte waren es bis dorthin und doch lang genug, damit ein Plan in ihrem Kopf Form annehmen konnte. Kühl legte sich der Griff in ihre Hand, bohrte sich die Stahlspitze in den Zeigefinger der anderen. Ein Schmerzblitz durchfuhr sie und ein Tropfen Blut bildete sich, wuchs an, fiel auf das Fruchtfleisch des Apfels. Ida musste verzichten. So – oder so.

In Tanjas Kopf entstand ein alles beherrschendes Bild.

7 Uhr morgens, der Himmel von Regenwolken bedeckt. An der Gegensprechanlage ertönte ein Brummen. Sie war da. Wollte sich ihre Ware abholen. Tanjas Herz schlug gegen das Brustbein. Ohne nachzufragen, betätigte sie den Türöffner und wandte sich dann wieder ihrer Tasche zu. Sorgfältig steckte sie die Zahnbürste in ein Seitenfach und rückte den Griff des Messers so zurecht, dass sie es ungehindert herausziehen konnte. Die Überwachungskamera am Gang vor ihrem Zimmer hatte sie in der Nacht mit Kaugummi abgeklebt und vor acht würde niemand kommen, um den Schaden zu beheben.

Leises Klopfen an der Tür. Tanjas Muskeln vibrierten unter der Haut. Es war so weit. Ihre Finger umfassten den Messergriff in der Tasche, und zeitgleich zog sie die Tür auf …

»Oliver!«

Vor ihr stand der schmächtige Operator und sah sie verunsichert an. »Ich will dir beistehen – also … wenn es dir recht ist.«

War es nicht! Verdammt, er brachte ihren ganzen Plan zu Fall mit seinem Mitgefühl!

»Bitte geh, du hast bestimmt Dienst, und Ida wird jeden Augenblick …«

An der Gegensprechanlage ertönte erneut ein Brummen. »Verflucht noch mal, warum bist du gekommen?« Sie bekam kaum Luft.

Offensichtlich bemerkte Oliver ihre Kurzatmigkeit und machte einen Schritt auf sie zu. Sein Blick fiel auf ihre Hand in der Tasche. Er erstarrte. »Was hast du vor?«

Tanja sah nun selbst auf das Messer in ihrer Hand, blickte Oliver an und versteckte gleich darauf die Waffe in den Tiefen des Fachs.

»Tanja?«

»Du machst alles kaputt!«, keuchte sie.