Einsamkeit und Freiheit - Helmut Schelsky - E-Book

Einsamkeit und Freiheit E-Book

Helmut Schelsky

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Beschreibung

■Die soziale Idee der Universitätsgründung Humboldts Die Situation der deutschen Universitäten am Ende des 18. Jahrhunderts / Die Neugründung einer Bildungsanstalt / Einsamkeit und Freiheit / Universität und Staat ■Gestalt und Problematik der Universität in der Gegenwart Die sozialen Wandlungen der Wissenschaft und der Universität / Die Reform der Universität / Der Weg in die Zukunft ■Daten zur Universitätsgeschichte ■Literaturhinweise ■Personen- und Sachregister Erstmals erschienen 1963.

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Seitenzahl: 621

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Helmut Schelsky

Einsamkeit und Freiheit

Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

■ Die soziale Idee der Universitätsgründung Humboldts

Die Situation der deutschen Universitäten am Ende des 18. Jahrhunderts / Die Neugründung einer Bildungsanstalt / Einsamkeit und Freiheit / Universität und Staat

 

■ Gestalt und Problematik der Universität in der Gegenwart

Die sozialen Wandlungen der Wissenschaft und der Universität / Die Reform der Universität / Der Weg in die Zukunft

 

■ Daten zur Universitätsgeschichte

 

■ Literaturhinweise

 

■ Personen- und Sachregister

Über Helmut Schelsky

Helmut Schelsky (1912–1984) war ein deutscher Soziologe.

Inhaltsübersicht

VorwortErster Teil Die soziale Idee der Universitätsgründung HumboldtsI. Die Situation der deutschen Universitäten am Ende des 18. JahrhundertsII. Die Neugründung einer BildungsanstaltIII. Einsamkeit und FreiheitIV. Universität und StaatZweiter Teil Gestalt und Problematik der Universität in der GegenwartV. Die sozialen Wandlungen der Wissenschaft und der UniversitätVI. Die Reform der UniversitätVII. Der Weg in die ZukunftStatt eines enzyklopädischen Stichwortes: ‹Daten zur Universitätsgeschichte›I. Frühe UniversitätsgründungenII. Die Gründung der Berliner Universität 1810III. Moderne Gründungen und PlanungenÜber den VerfasserLiteraturhinweisePersonen- und SachregisterPersonenregisterSachregister

Vorwort

Diese Schrift zur Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen ist von einem Soziologen geschrieben, ohne deswegen eine soziologische Schrift zu sein. Sie ist ein Versuch der historischen Erinnerung und der Vergegenwärtigung geschichtlichen Geschehens mit der Absicht, uns von der bloßen Tradition und von der geistigen Herrschaft des Historischen zu befreien. Sie wirft dem deutschen Bildungs- und Universitätsdenken der letzten Generationen vor, in nur ideenhaft-geistesgeschichtlichen Vorstellungen von Bildung und Wissenschaft erstarrt zu sein, und wird doch selbst wieder die Dominanz der Idee in allen Versuchen, die Einrichtungen der Wissenschaft und Bildung zu erneuern, mit Emphase behaupten. Sie ist davon überzeugt und glaubt es beweisen zu können, daß die Ideen WILHELM VON HUMBOLDTs über das Wesen der Universität, der Bildung und der Hochschulpolitik auch heute noch ihre Gültigkeit und Gestaltungskraft für die Zukunft unserer Universität haben, und doch wird sie denen, die sich als die legitimen Bewahrer der Humboldtschen Ideen fühlen, ein Ärgernis sein.

Diese Widersprüche gehen zum großen Teil darauf zurück, daß ich es für berechtigt und fruchtbar ansehe, die Methode der soziologischen Analyse auch in der Erörterung der Idee der Universität anzuwenden. Ich halte es für eine Voreingenommenheit, zu glauben, die soziologische Betrachtung denaturiere sozusagen die Idee zur bloßen funktionalen Abhängigkeit von den sozialen Tatsachen. Gewiß besteht die Aufgabe der Soziologie nicht darin, die ‹Idee› in ihrem normativen Gehalt zu propagieren und zu predigen, wohl aber kann sie die Funktion der Idee für gestaltendes soziales Handeln aufweisen und die strukturellen Zusammenhänge zwischen der Freiheit der Idee und den sozialen Notwendigkeiten erhellen, Einsichten, die zur Entfaltung des ‹hellsten Bewußtseins des Zeitalters›, worin JASPERs mit Recht die unaufgebbare Idee der Universität erblickt (Nr. 40, S. 1)[1], heute dazugehören. Es ist auffällig, wie sehr sich das deutsche wissenschaftliche Denken bisher dem Gesichtspunkt der soziologischen Analyse der Universität verschlossen hat; während zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika seit Generationen (von THORSTEIN VEBLEN und UPTON SINCLAIR bis zu DAVID RIESMAN)[2] unbekümmert die sozialen Zusammenhänge der Universität soziologisch überprüft werden, zerfällt die deutsche wissenschaftliche Erörterung der Universität in pädagogisch-philosophische Ideenanalyse und hochschulrechtliche Untersuchungen, also beides unmittelbar normative Betrachtungsweisen, einerseits und in unmittelbar pragmatische, die sozialen Tatsachen meist sehr subjektiv in Betracht ziehende Universitätsplanungen andererseits; eine analytische Soziologie der Universität gibt es bei uns kaum in Ansätzen. Wenn dies verkannt wird und die vielfachen Ansprüche der sozialen Wirklichkeit an die Universität bereits als soziologische Erkenntnis verstanden werden, die von ‹der Verantwortung für die Substanz der Sache› abführen, so verwechselt man hier in einer heutzutage allzu häufigen intellektuellen Schwäche ‹sozial› und ‹soziologisch›, eine Infektion, vor der leider auch hervorragende Gelehrte nicht geschützt sind.

Wenn wir meinen, daß auch die normative ‹Idee› der Universität erst einmal einer absichtslosen soziologischen Analyse ihrer Handlungsstrukturen und -möglichkeiten zu unterwerfen ist und damit einer ideell gestaltenden Reform der Universität eher neue und reale Chancen des Zugriffs geboten werden, als daß die Erkenntnis der sozialen Zusammenhänge die Idee in der bloßen Anerkennung der Faktizität erdrosselte, so befinden wir uns in dieser wissenschaftlichen Handlungsvorstellung mit den Einsichten in Übereinstimmung, die der Gelehrte und Staatsmann geäußert hat, der in der Begründung der Idee und der Institution der deutschen Universität die hervorragendste Rolle spielt: mit WILHELM VON HUMBOLDT. In seiner Rede beim Eintritt in die Berliner Akademie der Wissenschaften im Januar 1809, also zu Beginn seines staatsmännischen kulturpolitischen Wirkens, hat er die bemerkenswerten Sätze gesprochen: ‹Dann gießt die Wissenschaft oft ihren wohltätigen Segen auf das Leben aus, wenn sie dasselbe gewissermaßen zu vergessen scheint›; ihr wahrer Wert zeigt sich darin, den menschlichen Geist so zu bilden, ‹daß er den schwer zu entdeckenden Punkt nicht verfehlt, auf welchem Gedanke und Wirklichkeit sich begegnen und freiwillig ineinander übergehen. Es gibt in allen wichtigen Geschäften des Lebens einen solchen Punkt, den nur der mit der reinen Wissenschaft Vertraute erreichen und nur das wahrhaft praktische Talent nie überschreiten wird›[3]. Auch uns geht es in dieser Erörterung der deutschen Universität und ihrer Reform darum, den Punkt zu finden, ‹auf welchem Gedanke und Wirklichkeit sich begegnen und freiwillig ineinander übergehen›. Die damit vertretene Auffassung der sozialen Handlung unterscheidet sich von der idealistischen darin, daß sie nicht deren Hybris teilt, die geschichtliche und soziale Wirklichkeit sei schlicht und unmittelbar bloßes Material der Idee, deren Überzeugungskraft sich das faktisch Vorhandene einfach zu unterwerfen hat. Auch wir hoffen auf eine ‹Begegnung›, auf ein ‹freiwilliges Ineinanderübergehen› von Idee und Wirklichkeit. Der ‹Gedanke› – und es ist wohl nicht zu bezweifeln, daß HUMBOLDT damit die ‹Idee› im Sinne des philosophischen Idealismus meint – ist Partner der Wirklichkeit, die dem Handelnden ihre eigenen Ansprüche stellt; diese müssen als solche erkannt und dürfen nicht von der vorgefaßten Idee vergewaltigt werden. Von HUMBOLDT stammen daher auch die Sätze: ‹Es ist zwischen Leben und Idee zwar ein ewiger Abstand, aber auch ein ewiger Wettkampf: Leben wird zur Idee erhoben, und die Idee in Leben verwandelt›[4]. ‹Es genügt nicht›, sagt KARL MARX später im gleichen Sinne gegen die bloßen ‹Idealisten›, ‹daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen›[5]. Beide gegensinnig verlaufende Vorgänge bedürfen heute der Hilfe der Wissenschaft: die Sublimierung der vorhandenen Wirklichkeit zur Idee bedarf der ‹absichtslosen› analytischen Erkenntnis der Wirklichkeit; die Planungen der Wirklichkeitsveränderung bedürfen der wissenschaftlich gefestigten Ideen und Prinzipien. So ist unsere Aufgabe auf der einen Seite, der vorhandenen sozialen Wirklichkeit unserer Universitäten die in ihnen steckenden normativen Möglichkeiten abzulauschen, auf der anderen Seite den Anspruch der so erkannten ideellen Ziele der Universität in die vorhandene soziale Wirklichkeit gestaltungskräftig hineinzudenken. Dieser Versuch soll hier gemacht werden. –

Der Erste Teil der Schrift ist der Untersuchung der Vorgänge gewidmet, die zur Gründung der Universität Berlin im Jahre 1809 geführt haben, mit der Absicht, die noch heute gültigen Strukturen der sozialen Handlungen aufzudecken, die zu einer so vorbildhaften Erneuerung der deutschen Universität geführt haben. Dabei ist das I. Kapitel im wesentlichen eine Schilderung der kultur- und universitätspolitischen Situation vor 1800, die sich auf die bereits vorhandene historische Literatur stützt und, dem enzyklopädischen Charakter der Reihe entsprechend, in der diese Schrift erscheint, vielfach auch einfach über Tatbestände unterrichtet, deren Kenntnis bei dem mit dem Gegenstand wissenschaftlich Vertrauten vorausgesetzt werden konnte. Auch die weiteren Kapitel des Ersten Teiles bringen vielfach informativ literarische Belege, die im Text unmittelbar auszubreiten uns fruchtbarer erschien, als sie in einen dokumentarischen Anhang zu verweisen; sie wollen darüber hinaus aber bereits die soziologischen Gesichtspunkte der Humboldtschen Universitätsgründung herausarbeiten, die nach unserem Urteil bisher in der geistesgeschichtlichen Tradierung der deutschen Universitätskonzeption allzusehr vernachlässigt wurden und dennoch gerade für die Gegenwart sehr aktuell sind. Der Zweite Teil der Schrift versucht eine soziologische Analyse der gegenwärtigen Universität und ihrer Reformbestrebungen. Da es sich herausstellen wird, daß diese Bemühungen um eine Erneuerung der Universität ohne eine klare Theorie der Wissenschaft und ohne eine zeitgemäße Idee der wissenschaftlichen Bildung vergeblich bleiben müssen, mußte der Versuch, eine Wissenschaftstheorie und eine universitäre Bildungsidee für die Gegenwart zu entwerfen, gewagt werden; der Unvollkommenheit dieses Unterfangens bin ich mir bitter bewußt.

Erster Teil Die soziale Idee der Universitätsgründung Humboldts

I. Die Situation der deutschen Universitäten am Ende des 18. Jahrhunderts

1. Mittelalterliche Wurzeln

Die Universität ist die soziale Institution, die in der abendländischen Geschichte das Streben nach einer geordneten Erkenntnis der Wahrheit, die Idee des gelehrten Wissens, verkörpert. Die Geschichte der Universität kann geschrieben werden als die Folge ihrer historischen Ereignisse, ihrer Gründungen und Leistungen und ihrer jeweiligen Bedeutung für Staat, Kultur und Gesellschaft; sie kann aber auch beschrieben werden als ein Ausdruck der geistigen Bewegungen, die die Geistesgeschichte unserer Tradition ausmachen. Beide Formen der Geschichtsschreibung weisen über das Leben der Universität hinaus auf umfassendere Zusammenhänge. Wir wollen hier beide Gesichtspunkte unter dem engeren und besonderen Aspekt vereinen, daß wir nach der Angemessenheit oder Unangemessenheit fragen, mit der die soziale Institution der Universität jeweils die Idee des gelehrten Wissens verkörpert und gestaltet hat. Unter diesem Gesichtspunkt stellt die Entwicklung der Universität eine Geschichte ihrer Versteinerungen und ihrer Befreiungen dar. Es gibt nicht nur eine Tradition der Lebensformen, Statuten und Personengruppen, deren Identität sich im geschichtlichen Wandel als die Gestalt der Universität aufweisen läßt, es gibt ebenso eine Tradition des Universitätsverfalls und der Universitätsreform. Die periodisch auftauchenden und zuweilen gelingenden Bestrebungen der Universitätserneuerung wenden sich zumeist gegen die institutionelle Erstarrung und die geistige Leere eben der Idee des gelehrten Wissens, die vor Generationen jeweils selbst die Universität zu einer neuen geistigen Lebendigkeit befreit hat. So ist die Universitätsreform stets eine Auseinandersetzung der Universität mit sich selbst, der ständige Versuch, eine immer ‹reinere› Idee des Wissens und der Wahrheit der eigenen, historisch verfallenden Gestalt entgegenzusetzen. Das ‹Sapere audete› (Habt den Mut zum Wissen), das MELANCHTHON seinen Kommilitonen zurief, als er seine Tätigkeit an der Universität Wittenberg als einundzwanzigjähriger Magister mit einer Rede über die Universitätsreform – ‹de corrigendis adolescentium studiis› – begann[1], ist der Grundton der Universitätsreformen, die sich als eine Befreiung des Geistes verstanden. Die Absicht, diese Tradition der Universitätsreform für die Gegenwart zu verlebendigen, ist der Leitfaden, an dem wir uns zunächst der Geschichte der deutschen Universität zuwenden. –

Die gesellschaftliche Sonderstellung der Universität

Als sich die Professoren und Studenten um 1200 in Paris und Bologna zur ‹universitas magistrorum et scolarium› oder ‹studentium› zusammenschlossen, faßten sie das schon seit der Mitte des 12. Jahrhunderts dort betriebene ‹Studium› der Wissenschaften zu einer korporativen Gesamtheit, zu einer Genossenschaft oder Gemeinschaft von Lehrern und Schülern, zusammen[1]. Sie schufen sich damit jene Form und Institution der korporativen Selbstverwaltung, die dann als ‹Universität› bis heute diese Tradition bewahrt hat. Zur Sicherung ihrer sozialen, rechtlichen und vor allem auch geistigen Selbständigkeit gegen die Übergriffe der lokalen geistlichen und städtischen Mächte suchten sie Rückhalt bei den übergeordneten politischen Kräften, bei Kaiser und Papst, die durch Privilegien oder Gründungsurkunden diese Autonomie der Universität stützten. Schon 1158 hatte Kaiser FRIEDRICH BARBAROSSA auf dem Ronkalischen Reichstag das erste kaiserliche Privileg für die Scholaren, insbesondere des geistlichen und weltlichen Rechts, erlassen. Zur Wahrung ihrer rechtlichen und geistigen ‹Freiheiten› drohten die Professoren und Studenten oft, die Stadt gemeinschaftlich zu verlassen, und machten diese Drohung zuweilen auch wahr, wovon die zahlreichen von Bologna und Paris ausgehenden neuen Universitätsgründungen in Italien und Frankreich zeugen. Sie fanden in diesem Selbstbehauptungswillen meist die Unterstützung von Papst und Kaiser; Papst HONORIUS III. selbst mahnte 1217 die Bologneser Studenten, lieber die Stadt zu verlassen, ohne ihre societas aufzulösen, als ihre libertas scholarium beeinträchtigen zu lassen. Da dieser ‹Exodus›, der Auszug von Professoren und Studenten aus der alten Universitätsstadt und die Neugründung der Universität an anderer Stelle, auch gegen die als untragbar angesehenen geistigen Bevormundungen angewandt wurde, können wir darin die Form der mittelalterlichen ‹Universitätsreform› erblicken.

Diese Autonomie der Universität wirkte jedoch nicht nur nach innen als Selbstverwaltung, in der eigenen Wahl der Rektoren und Dekane, in einer universitätseigenen Gerichtsbarkeit, im Prüfungs- und Promotionsrecht usw., sondern schuf auch eine Selbständigkeit des sozialen Standes der Professoren und Studenten in der mittelalterlichen Gesellschaft. Zunächst waren diese Universitäten international: Aus aller Herren Länder strömten Magister und Scholaren an die großen Universitäten. Auch in der sozialen Herkunft oder Stellung durchbrach die Universität die strengen ständischen Schranken der mittelalterlichen Gesellschaft: Adlige, Bürger- und Bauernsöhne, Reiche und Arme wurden unterschiedslos als Studenten oder Lehrer aufgenommen; der Hauptteil der Studierenden kam aus den Familien der Handwerker und des kleinen Gewerbes. Immer ist der Anteil von armen Studenten, die Gebührenfreiheit genossen und auf Stipendien angewiesen waren, hoch gewesen. Auch die kirchliche Ständescheidung in Kleriker, Mönche und Laien hatte für die Universität keine entscheidende Bedeutung: Zwar waren die Lebensformen weitgehend klösterlich – die Magister und Studenten lebten in ihren Bursen und Kollegien in klösterlicher Zucht zusammen –, aber Laien oder Kleriker hatten gleichermaßen Zugang zum Studium und zur Lehre. Während des Studiums, das im Mittelalter länger zu dauern pflegte als heute, gehörten also die Studenten einem anderen sozialen Stand an als vor oder nach dem Studium. Diese soziale Eigenständigkeit in einer Ständegesellschaft war von der anderen Seite gesehen eine Ausgliederung der Studenten und der ganzen Universität aus der politischen, kirchlichen und gewerblichen Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft, eine soziale Freiheit und Unabhängigkeit, die als Grundlage des gelehrten Wissens von ihren Trägern immer wieder verteidigt, von der Gesellschaft grundsätzlich anerkannt worden ist. So waren die mittelalterlichen Universitäten ‹weder kirchliche noch staatliche Anstalten im vollen Sinne des Wortes, sondern Korporationen, die in ihrer Entstehung und in ihrem Dasein durch Staat und Kirche bedingt, bei beiden Mächten Schutz und Förderung suchten, aber zugleich kraft ihrer Natur das Streben nach Unabhängigkeit in sich trugen› (BEZOLD)[2].

H. GRUNDMANN, der in seiner Abhandlung ‹Vom Ursprung der Universität im Mittelalter› (Nr. 25) diese Zusammenhänge darstellt, weist mit Recht darauf hin, daß diese eigentümliche Sonderstellung der Universität in der mittelalterlichen Gesellschaft nicht durch wirtschaftliche, politische oder soziale Interessen hinreichend begründet wird. Zwar steht das Aufblühen der mittelalterlichen Universität mit dem Aufkommen der Städte, den Anfängen des Frühkapitalismus und der Geldwirtschaft, dem wachsenden Handel und Verkehr usw. in Verbindung, aber diese Beziehungen sind für die Gestaltung der Universität nicht entscheidend gewesen. Gewiß waren die mittelalterlichen Universitäten immer auch Stätten der Berufsausbildung und boten zu allen Zeiten einzelnen ihrer Mitglieder große, sonst in der Gesellschaft kaum vorhandene Chancen des sozialen Aufstiegs – nicht ohne Grund sprach schon Papst HONORIUS III. von der Jurisprudenz und der Medizin als den scientiae lucrativae, den Wissenschaften mit goldenem Boden –, aber das Studium und der akademische Grad waren im Mittelalter nirgends Voraussetzung zur Ausübung eines Berufs, allenfalls eine Empfehlung. Dem entspricht auch, daß die meisten Studenten ohne akademische Grade oder Würden die Universität verließen; PAULSEN schätzt, daß etwa ein Viertel der Immatrikulierten das Backalaureat, und von diesem wiederum nur etwa ein Viertel die Magisterwürde erreichte (Nr. 55 I, S. 31). Dabei war der ‹baccalarius› eine niedrige akademische Würde, die den Abschluß der Studien in der ‹Artistenfakultät›, in den ‹sieben freien Künsten› – Latein, Logik, Rhetorik einschl. Briefschreibekunst, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie – dokumentierte; das Studium in dieser Artistenfakultät war die notwendige Vorstufe, die man zum Studium in den ‹höheren› Fakultäten der Theologen, Juristen und Mediziner durchlaufen mußte; daher gehörte dieser ‹niederen› Fakultät auch die überwiegende Mehrheit der Studenten an, so z.B. in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts an der Universität Köln über sieben Zehntel aller Studenten, während nur zwei Zehntel Juristen, der Rest Theologen und Mediziner waren. Die meisten Studierenden erwarben an der Universität allenfalls eine höhere Allgemeinbildung, wie sie etwa heute die Höheren Schulen vermitteln. Da man diese Allgemeinbildung aber auch an Dom- und Klosterschulen und bald auch an Stadtschulen lernen konnte, kann auch hierin nicht der entscheidende Grund für die Entstehung und Sonderstellung der Universitäten im Mittelalter liegen.

Aus diesen Zusammenhängen schließt GRUNDMANN: ‹Wahrhaft grundlegend und richtungweisend für Ursprung und Wesen der Universitäten als ganz neuartiger Gemeinschaftsbildungen, Lehr- und Lernstätten sind weder die Bedürfnisse der Berufsausbildung oder der Allgemeinbildung noch staatliche, kirchliche oder sozialökonomische Impulse und Motive, sondern … das gelehrte wissenschaftliche Interesse, das Wissen- und Erkennen-Wollen› (Nr. 25, S. 39). Schon bei ABÄLARD (1079–1142) oder später bei SIGER VON BRABANT (1235–1282) wurde die menschliche Ursprünglichkeit dieser Suche nach der Wahrheit als ‹häufiges, ständiges Fragen› anerkannt, ‹da ohne Wissenschaft zu leben der Tod ist und ein elendes Grab für den Menschen› (SIGER). Diesem unbedingten, sich selbst genügenden Streben des Menschen wurde die Universität als soziale Institution zugeordnet; das wissenschaftliche Studium war von vornherein wesentlich Selbstzweck. Die Erkenntnis, daß damit eine bestimmte soziale Stellung des Wahrheitsuchenden notwendig verbunden war, geht schon aus dem BARBAROSSA-Privileg hervor, in dem der Kaiser die Scholaren unter seinen besonderen Schutz nimmt, weil sie ‹aus Liebe zur Wissenschaft (amore scientie facti exules)› heimatlos geworden seien, auf Reichtümer verzichteten, sich allen Gefahren aussetzten und von den anderen ungerecht angegriffen würden. Die Exilierung dessen, der wissenschaftliche Wahrheit sucht, aus den Zusammenhängen der heimatlichen, familiären und gesellschaftlichen Bindungen steht schon am Ursprung der Universität; ihre ‹Freiheit› ist immer schon mit einem sozialen Außenseitertum bezahlt worden, mag sich dies dann in sich noch so sehr zu einer eigenständigen Korporation und Institution verfestigt haben. Fragt man aber, welche sozialen Kräfte dieses unbedingte Erkenntnisstreben schon im mittelalterlichen Menschen in dem Maße gestützt – nicht verursacht – haben, daß er aus allen Schichten so zahlreich auf die Universitäten strömte, so wird man das Streben des Individuums, insbesondere des jungen Menschen, sich von dem vorgelebten Leben der sozialen Zwänge und Schranken zu befreien, den Drang zur Freiheit des einzelnen von der Gesellschaft, gerade in einer so intensiv geregelten und bindenden Sozialverfassung wie der des Mittelalters stets mit in Rechnung stellen müssen. Die Universität versprach nicht nur geistige, sondern auch soziale Freiheit.

Die deutschen Universitätsgründungen

‹Diese Autonomie ist den deutschen Universitäten mühelos zugefallen als die Frucht langer und schwerer Kämpfe, die in Bologna und Paris darum geführt wurden›[1]. Als KARL IV.1348 in Prag die erste Universität im Reichsgebiet gründete, gab es bereits 15 ältere Universitäten in Italien, 8 in Frankreich, 6 in Spanien, 2 in England. Nach der Prager Gründung entstanden in den folgenden Jahrhunderten im deutschen Reichs- und Sprachgebiet ständig neue Universitäten, so daß zu Ende des 18. Jahrhunderts dieser Bereich mit 42 Universitäten am dichtesten mit Universitäten ausgestattet war. Man hat diese deutschen Universitätsgründungen nach ihren Gründungsimpulsen in ‹Wellen› eingeteilt: Die erste Welle bestand noch in der mittelalterlichen Form der Abwanderung von Dozenten und Studenten aus bestehenden Universitäten; in solcher Weise entstanden die Universitäten Wien (1384), Heidelberg (1385), Köln (1388), Erfurt (1392) und Leipzig (1409) durch den Abzug von Professoren und Studenten aus Prag und Paris. Eine zweite Welle von Gründungen kann man als die humanistischen Universitätsgründungen bezeichnen und von der Gründung der Universität Freiburg i. Br. (1455/56) bis zur Gründung der Universität Frankfurt a. Oder (1507) rechnen. In der dritten Welle von Gründungen entstanden 18 zumeist kleine Universitäten, die geistig durch die Glaubensauseinandersetzungen der Reformation und Gegenreformation bestimmt wurden; man kann diese Periode von der Gründung der Universität Marburg (1527) bis zu der von Innsbruck (1672) zählen. Als Produkte der Aufklärung sind schließlich 9 weitere Universitätsgründungen vor allem im 18. Jahrhundert zu verstehen; unter ihnen sind die Gründungen der Universitäten Halle (1694) und Göttingen (1734) als die für die Universitätsgeschichte bedeutsamsten zu nennen. Die nächste ‹Welle› von Gründungen ist vor allem durch die aus dem Geiste des Neuhumanismus und des philosophischen Idealismus entstehende Universität Berlin (1809) bestimmt, deren innere Gründungsgeschichte hier ausführlicher erörtert werden soll; daß die Universitätsgründungen in Breslau (1811) und Bonn (1818) ihr der Zeit und dem Geiste nach folgten, sei nur erwähnt.

Im Gegensatz zu den ältesten Universitäten in Italien und Frankreich entstehen die deutschen Universitäten von vornherein als obrigkeitliche Gründungen von fürstlichen Stiftern, allenfalls als städtische Gründungen, und sind daher der obrigkeitlichen Aufsicht und Leitung stärker unterworfen. Dieser Charakter der Staats-, Landes- oder Stadt-Universitäten begründet eine Territorialisierung der deutschen Universitäten, ja, der Wissenschaft und des geistigen Lebens überhaupt. Das Interesse der Landesfürsten an ihrer Staatsuniversität äußerte sich außerdem in dem verstärkten Anspruch an sie, eine gelehrte Berufsausbildung zu vermitteln. Insbesondere seit in den evangelisch gewordenen Gebieten nicht mehr die sakramentale Weihe, sondern die gelehrte theologische Vorbildung als entscheidende Grundlage des Priesteramtes angesehen wurde, war die wissenschaftliche Ausbildung in den theologischen Fakultäten das notwendige Komplement zum neuen weltlichen Kirchenregiment der Landesfürsten. Ebenso gewinnt die Ausbildung von Juristen an Wichtigkeit und Ausdehnung in dem Maße, als sich die Staatstätigkeit ausdehnt und sich das absolute Fürstentum auf wissenschaftlich vorgebildete Richter und Verwaltungsbeamte stützt. Im Zeitalter der Aufklärung wird der Nutzen der wissenschaftlichen Ausbildung für den Staat zu einer der Grundüberzeugungen, mit denen sich das kameralistische Denken der Universitäten annimmt. Gelehrte Ausbildung wird eine Form der ‹Staatsproduktion›, und jedes Land und Ländchen strebt danach, seinen Bedarf an Gelehrten durch inländische Produktion zu decken; so kommt es zu den Verboten der Fürsten an ihre Landeskinder, an fremden Universitäten zu studieren, und zu der Konkurrenz der Landesfürsten, eigene Universitäten zu gründen und sich namhafte Gelehrte abzuwerben. Auf der anderen Seite wird mit dieser Bevorzugung des gelehrten Staatsdieners durch das Landesfürstentum eine Einwirkung der Wissenschaft und ihrer Träger auf das staatliche und politische Leben geschaffen, wie sie die älteren Universitäten nicht kannten; indem der absolutistische Landesfürst sich auf seine gelehrten ‹Räte› stützt, werden diese – und mit ihnen alle wissenschaftlichen Berufe – zu einer zwar dienenden, nichtsdestoweniger aber staatstragenden Gesellschaftsgruppe.

EUGEN ROSENSTOCK-HUESSY hat in seinem Vortrag über ‹Das Geheimnis der Universität› auf diesen Zusammenhang eindringlich hingewiesen: ‹Die von den Universitäten gebildeten Räte bilden das Wissen und Gewissen der Fürsten … In der Form der universitätserzogenen Räte hat die Reformation aus Wissen und Gewissen eine Einrichtung des öffentlichen Rechts gemacht … Diese Institution des ‚besten Wissens und Gewissens‘ ist eine Institution, die so originell ist wie das englische Parlament. Sie hat den deutschen Beamtenstaat geschaffen. Sie ist der Kern des Staatsgebäudes, und von Wittenberg ist sie auf alle Staaten ausgestrahlt … Die evangelischen Räte der Theologie und die Justizräte, Kanzleiräte und Ökonomieräte lassen sich nicht trennen. Leider werden sie bei uns getrennt. Statt von dem öffentlichen Professor Luther hört das Volk nur von seinem privaten Gewissen, und in der Staatslehre lehrt man die Reihenfolge Machiavelli, Bodin, Hobbes … Die wirkliche Linie ist Luther, Melanchthon, Pufendorf und Thomasius, Wolff und Schloezer, Kant und Hegel, Schmoller und Wagner› (Nr. 65, S. 19).

In dieser reformatorischen Verbindung von Wissen und Gewissen liegt in der Tat zugleich ein Bildungsideal der Universität beschlossen, das schon auf den Humanismus zurückgeht. Daß gelehrte Bildung der Weg zur Tugend, das Studium der Wissenschaften und Künste ein Gott gefälliger und notwendiger Weg zur Glückseligkeit sei, ist schon die Summe der humanistischen Lebensweisheit; als Graf EBERHARD VON WÜRTTEMBERG1477 zum Besuch der von ihm gegründeten Universität Tübingen aufruft, versichert er, daß ‹ein reines und keusches Gemüt … auf keine Weise besser und auf keinem Wege kürzer als durch wissenschaftliche Bildung erworben werden kann›. Die Verbindung von wissenschaftlicher Vernunfteinsicht und moralischer Besserung des Menschengeschlechts bildet eine der Grundlagen des aufklärerischen Denkens. Das Ideal einer ‹Bildung durch Wissenschaft› ist in der Geistesgeschichte der deutschen Universität also von vornherein zugleich ein ethischer Anspruch.

Dieser einheitliche Grundzug des wissenschaftlichen Bildungsideals hat jedoch nicht verhindert, daß jede neue Wissenschaftsauffassung, die in den Universitätsgründungen oder -reformen zum Zuge kam, sich von der zeitlich vorhergehenden in der Überzeugung absetzte, die auf der Universität eingerissene Unbildung überwinden zu müssen. Immer bezweckten Universitätsreformen die ‹Austreibung der gesamten Barbarei›, wie es in einem von LUTHER mitverfaßten Entwurf zur Reformation des Wittenberger Studiums 1518 heißt. Diese polemische Selbsterneuerung der Universität bestimmt auch in hohem Maße die klassisch-idealistische Universitätsreform, die mit WILHELM VON HUMBOLDTs Wirken verbunden ist. Wenn wir im folgenden die Universitäten der Aufklärung und das Denken der Aufklärung über die Universität am Ende des 18. Jahrhunderts als Situation darstellen, gegen die das neuhumanistisch-idealistische Bildungs- und Universitätsideal gedacht und verwirklicht wurde, so sehen wir sie mit den Augen derer, die sie überwinden wollen, und tun ihnen im Sinne einer objektiven geschichtlichen Würdigung sicherlich unrecht. THOMASIUS und FRANCKE verwirklichten in der 1694 gegründeten Universität Halle die neuen Prinzipien der Aufklärung gegen den humanistischen Schulbetrieb, wie sie ihn beide auf der Universität Leipzig kennengelernt hatten; der weltliche Rationalismus des einen und der unorthodoxe Pietismus eines praktischen Christentums des anderen machten Halle zu der führenden, ‹modernen› Universität in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der Grundsatz des philosophischen Selbstdenkens und der freien Forschung, den später CHRISTIAN WOLFF in harten Kämpfen in Halle durchsetzte, ging als geistiges Fundament in die Universitätsvorstellungen der großen idealistischen Philosophen ein. Auch die Universität Göttingen, die 1734 nach den Plänen des Ministers VON MÜNCHHAUSEN im besten kameralistischen Geiste gegründet wird, stellt mit ihrer großzügigen Lehrfreiheit, ihren neuen Seminarmethoden und vor allem ihrer Pflege der Naturwissenschaften und der Altertumswissenschaften eine Vorstufe und in vieler Hinsicht noch ein Vorbild der neuhumanistischen Universitätsgründung von Berlin dar. Wenn die Denker, die das Universitäts- und Bildungsideal der nächsten ‹Welle›, der neuhumanistisch-idealistischen Universitätsgründungen und -reformen, schaffen und durchsetzen, sich trotzdem von der ‹Ideenleerheit, die sich Aufklärung zu nennen untersteht› (SCHELLING), oder von der ‹Seichtigkeit› der Aufklärungsphilosophie und -pädagogik (FICHTE) abwenden, so muß man in Rechnung stellen, daß sich auch die geistigen Impulse der Aufklärung bereits verflacht hatten und in den Universitäten schon wieder in Erstarrung geraten waren. Zudem hatten die meisten der zahlreichen Universitäten noch kaum die innere Gestalt gewonnen, die Halle und Göttingen für ihren Teil des Jahrhunderts vorbildlich gemacht hatten, sondern waren noch in älteren Formen des gelehrten und akademischen Lebens befangen. So mußte das Bild, das die deutschen Universitäten am Ausgang des 18. Jahrhunderts gerade den in die Zukunft ausgreifenden Geistern boten, ziemlich düster ausfallen.

2. Die ‹im Zunftwesen erstarrte Universität›

Man hat die neue Universitätskonzeption und wissenschaftliche Bildungsidee, die sich in der Gründung der Universität Berlin 1809 durchsetzten, zumeist von den Denkschriften her verstanden, die zur Gründung dieser Universität verfaßt worden sind, also vor allem der wahrscheinlich 1809 geschriebenen Denkschrift ‹Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten zu Berlin› WILHELM VON HUMBOLDTs, der 1807 von FICHTE eingereichten Denkschrift ‹Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe› und der 1808 von SCHLEIERMACHER veröffentlichten Denkschrift ‹Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende›. Oft zieht man dazu noch die von STEFFENS im Winter 1808/09 in Halle gehaltenen Vorlesungen ‹Über die Idee der Universitäten› oder gelegentliche Bemerkungen des bei der Gründung der Universität immer wieder gehörten Altphilologen FRIEDRICH AUGUST WOLF heran oder greift auf die Vorlesungen zurück, die SCHELLING1802 in Jena ‹Über die Methode des akademischen Studiums› gehalten hat, und verweist auf die verschiedenen Schriften, die FICHTE der ‹Bestimmung des Gelehrten› seit 1794 gewidmet hat[1]. Nun sind alle diese Dokumente zweifellos der engere literarische Grundbestand, aus dem man die Idee der neuen Universität um 1800 zu erklären hat. Diese Vorlesungen, Schriften und Denkschriften beruhen aber auf einer unmittelbaren Erfahrung über die Wirklichkeit der damals bestehenden Universitäten und ihrer sozialen Zusammenhänge, die nicht ausführlich in diese Veröffentlichungen eingegangen ist. Die Selbstverständlichkeit, dieses Wissen bei dem angesprochenen Publikum voraussetzen zu können, sowie die Neigung gerade der idealistischen Philosophen, soziale Tatbestände nur in ihrer ideellen Deutung zu Worte kommen zu lassen, machen diese literarischen Dokumentationen für uns heute ‹ideenhafter›, als sie es in ihrer Zeit waren. Daß gerade ‹Ideen› in dem Maße ungültig und unwirksam werden, wie sie sich von der historisch-sozialen Lage ihrer Entstehung und Durchsetzung entfernen, ist eine Erkenntnis, die sich gerade für die klassische ‹Idee› der deutschen Universität überzeugend nachweisen läßt. Ihre ‹Wahrheit› läßt sich für uns nur in einer historisch-soziologischen Besinnung wiederentdecken, gerade weil darin die Veränderlichkeit der sozialen Fakten und Strukturen deutlich wird, auf denen das unveränderlich Gültige von Bildungs- und Wissenschaftsideen beruht.

Allerdings enthalten die genannten Schriften zur Universitätsreform, wenn man genauer zusieht, genügend Hinweise, meist polemischer Art, auf die Zustände und Denkweisen der damaligen Universitäten und Gelehrten. Aus ihnen kann man gerade die gesellschaftlichen Vorstellungen und Zielsetzungen erschließen, die die idealistischen und neuhumanistischen Schöpfer dieser neuen Universitätsidee beseelten; allerdings muß man sich dazu die Zeitsituation der Universitäten sowie die herrschenden geistigen Strömungen der Pädagogik und Universitätspolitik umfassender ins Gedächtnis rufen, als sie in diesen Schriften zum Ausdruck kommen. Gerade wenn man das Bemühen HUMBOLDTs und seiner geistigen Helfer FICHTE, SCHLEIERMACHER, WOLF, SCHELLING, STEFFENS usw. als Kultur- und Universitätspolitik begreift, muß man zu verdeutlichen versuchen, daß sie ihre Universitätsidee gegen andere Institutionen und erziehungspolitische Auffassungen haben durchsetzen müssen, ‹wie es denn überhaupt ein fruchtbares heuristisches Prinzip ist, historische Erscheinungen über den Gegner, aus der Verneinung zu verstehen› (OTTO VOSSLER, Nr. 85, S. 261).

Die Gegner der neuen Universitätsidee waren damals zwei Gruppen und Positionen, die allerdings auch untereinander verfeindet waren:

1. Die ‹im Zunftwesen erstarrte Universität›, wie ein geläufiger Vorwurf jener Zeit die geistige Leere und die institutionelle Ohnmacht der in ihre traditionellen Formen eingemauerten Universitäten bezeichnet;

2. der Kampf der Aufklärung gegen die Universität und die aus dem sich verflachenden Geist der Aufklärung entspringenden utilitaristischen Versuche einer Universitäts- und Erziehungsreform.

Wir wollen diese beiden Tatbestände unter dem Gesichtspunkt darstellen, wie sie sich den kritischen Augen der neuen Wissenschafts- und Bildungsreformer um 1800 boten, und wollen auch Hinweise darauf nicht unterdrücken, daß in mancher Hinsicht der Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Bildungsreform von 1809 mit der heutigen Lage der Wissenschaften und Universitäten überraschende Ähnlichkeiten aufweist.

Studentenleben

Im Jahre 1792 bestanden im deutschen Sprachgebiet 42 Universitäten; davon erloschen bis 1818 mehr als die Hälfte, nämlich die Universitäten zu Straßburg, Stuttgart, Köln, Mainz, Bonn, Trier, Ingolstadt, Fulda, Bamberg, Dillingen, Altdorf, Paderborn, Helmstedt, Rinteln, Salzburg, Innsbruck, Frankfurt/Oder, Herborn, Erfurt, Wittenberg, Duisburg und Münster. Mitten in diesem Vierteljahrhundert des Universitätssterbens, einem scheinbaren ‹Tal› in der deutschen Universitätsgeschichte, erfolgt aber die wichtigste und folgenreichste der deutschen Universitätsgründungen. Man sieht bereits an diesem Tatbestand, wie sich in dieser Zeitspanne offensichtlich die verschiedensten Tendenzen der Universitätsentwicklung überschneiden. Für einige dieser Universitäten war gerade die Entstehung eines neuen Universitätstyps Anlaß zu ihrem Ende; andere wiederum gingen einfach an ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit ein, daß sie sich noch nicht einmal den aufklärerischen Reformen des Jahrhunderts anzuschließen vermochten und damit jede Anziehungskraft einbüßten. In den Jahren um 1800 betrug die durchschnittliche Hörerzahl in der Universität Duisburg 38, in Erfurt 43 Studenten.

Dabei ist der Vorwurf, daß die Universitäten an der Überfüllung von Studierenden litten, eine alte Klage in der deutschen Universitätsgeschichte. Man spricht im 16. und 17. Jahrhundert bis hin zur Wende ins 18. Jahrhundert überall von immensen Studentenzahlen; erst seit dem Siebenjährigen Kriege gingen die Hörerzahlen zurück. Noch im ganzen 18. Jahrhundert gehen die Bemühungen der Regierungen darum, die Studentenzahlen zu senken. Preußische Verordnungen von 1708, 1718, 1735 und 1788 versuchen, den Zustrom von schulisch halbausgebildeten jungen Leuten auf die Universitäten zu verhindern, schließlich mit einigem Erfolg, wenn die größten Universitäten um 1800 durchschnittlich nicht mehr als 500–700 Studenten aufweisen. Dabei ging das Bestreben dieser Verordnungen oft gerade darauf aus, die Studierenden aus den ärmeren Schichten von der Universität fernzuhalten. So besagt das preußische Edikt von 1708, ‹daß nicht ein jeglicher von niedrigem Stande seine Kinder zum Studieren, wenn sie dazu nicht geschickt, und in Ermangelung eigener Mittel auf gemeine Kosten anhalten, sondern solche unfähigen Köpfe bei Manufakturen, Handwerken, der Miliz oder dem Ackerbau angewendet und auf solche Art ihr Brot zu erwerben unterwiesen werden sollten›[1]. Die Universität Göttingen, die fortschrittlichste im 18. Jahrhundert, wünschte nach Möglichkeit überhaupt keine armen Studenten; man betrachtete die alten Anstalten zur Unterhaltung armer Studenten wie Konvikte und Kollegienhäuser als die Brutstätten der Zuchtlosigkeit, von denen Aufwiegelungen und Zusammenrottungen ausgingen[2]. Die Klage über die ‹Vermassung› der Universität ist also ebensowenig neu wie die Ansicht, daß das Stipendienwesen zuviel und falsche junge Leute an die Universität führe; die Politik der ‹Entrümpelung› der Universität hat auch ihre Tradition.

Die Ursachen der Überfüllung der Universität in jenen Jahrhunderten waren allerdings ganz andere als heute. Nachdem die Rechtsfreiheiten der Universität nicht mehr durch eine innere klosterhafte Lebensweise diszipliniert wurden, hatten sie dazu geführt, daß die Studenten in großer Zahl die Universitäten nicht zum Zwecke des Studiums, sondern um ein ‹freies Leben› zu führen, bevölkerten. Die bürgerliche Ungebundenheit des sozialen Status der Studenten war einer der Hauptanziehungspunkte der Universität. Man muß sich die Studentenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts leider als eine Sammlung der ‹Halbstarken› jener Zeit vorstellen. Raufereien und Skandale, der Terror der Studentenkorporationen, ein verfehltes Stipendienwesen usw. brachten die Übervölkerung der Universität mit Ungeeigneten zustande. Schon mit 16 Jahren konnte man die Universität beziehen, der Hauptteil der Studenten jener Zeit lag in der Altersstufe zwischen dem 16. und 22. Lebensjahr; da man aber zuweilen nach einigen Hauslehrerjahren wiederum zur Universität zurückkehrte, waren auch Studenten vom 25. bis 30. Lebensjahr auf den Universitäten gar nicht selten. Die schulische Vorbildung war meist außerordentlich gering, bestand oft nur in einigen Kenntnissen der lateinischen Sprache. Erst die preußische Instruktion von 1788 ordnet die Abiturientenprüfung an: ‹Alle von öffentlichen Schulen abgehenden Jünglinge sollen vorher auf der von ihnen besuchten Schule geprüft werden und ein detailliertes Zeugnis über ihre dabei befundene Reife oder Unreife erhalten›, ohne daß diese Bestimmung gleich allenthalben wirksam wurde. In ihren Jugendbünden, den Landsmannschaften und Korps, konnten die Studenten ein unbeaufsichtigtes, an Bürger- oder Erwerbspflichten nicht gebundenes Leben führen; die eigene Gerichtsbarkeit der Universität war schwach und gegen den studentischen Terror ohnmächtig.

Ein Hauptanziehungspunkt des Studiums lag darin, daß man sich als Student der Konskription, d.h. der Militärpflicht, entziehen konnte, was vor allem für Studenten aus ärmeren Schichten zutraf, dann dazu führte, daß die Militärbehörden immer wieder die Dienstpflichtigen von den Universitäten zurückverlangten, zuweilen gar zurückfingen. Die Studenten hatten sich aber auch längst von der Gerichtsbarkeit und Disziplin der Universitätsbehörden emanzipiert, sie nahmen eigene Gerichtsbarkeit unter sich in Anspruch, führten mit anderen Kavalierssitten das Duell ein, saßen in ihren Kneipen und tranken oder trieben sich mit Säbeln bewaffnet lärmend auf den Straßen herum. In den Kollegs fanden sich oft nur zwei bis drei Hörer ein, die übrigen trieben im wesentlichen Allotria. Obwohl gerade die aufklärerische Universitätsreform dagegen mit einer starken Verschulung des Universitätsbetriebes vorgegangen war, blieben die Klagen über Studentenunruhen bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts allgemein.

Schon LUTHER und MELANCHTHON hatten sich im Alter mit den Studentenausschreitungen an der Universität Wittenberg plagen müssen. Die von der Hochburg des studentischen Verbindungswesens und -unwesens ausgehende ‹Jenensische Lebensart› war das ganze Jahrhundert durch berüchtigt; GOETHE hatte sich um sie sorgen müssen, FICHTE sie heftig bekämpft. Die Geschichte der Universität Königsberg berichtet aus dem 18. Jahrhundert: ‹Kaum ein Gebiet des bürgerlichen Daseins gab es, in das der Studierende der damaligen Zeit nicht störend eingegriffen hätte. So kommt es mit dem Militär gelegentlich zu Zusammenstößen. Mit Vorliebe wird der katholische Gottesdienst gestört. Einmal sind polnische Magnaten anwesend. Die Regierung, die von diesen Vorkommnissen erfahren hatte, wollte einschreiten, aber die Polen beschworen sie, es nicht zu tun, denn sie befürchteten, daß dadurch die ‚unbändigen jungen Leute‘ aufsässig würden und ‚auch gar leicht Mord und Totschlag in der Kirche geschehen möchte‘. So wird denn nur angeordnet, daß es Studenten verboten ist, haufenweise in die katholische Kirche zu gehen, den Gottesdienst zu verlachen und sich zu Tätlichkeiten hinreißen zu lassen. Die Universität scheute sich meistens einzugreifen, aber auch die Regierung war stets in Sorge, es könnten aus solchen studentischen Exzessen allgemeine Unruhen entstehen, vielleicht sogar ein Blutbad. Tumulte auf den Straßen gab es genug. Friedliche Straßengänger wurden grundlos überfallen›[3].

Daß eine solche obrigkeitliche Furcht vor den Studenten nicht unbegründet war, zeigt die Erfahrung mit den Hallenser Studenten während des ganzen Jahrhunderts. Gerade die Auseinandersetzungen mit dem Militär nahmen hier härteste Formen an. Als 1796 in Halle wiederum Studentenkrawalle ausbrachen, die in ihrem Umfang jedes erträgliche Maß überschritten, und die Universitätsgerichtsbarkeit vor ihnen völlig versagte, erließ die königliche Regierung neue allgemeine Bestimmungen zur Besserung der Universitätszucht. Als im Jahre danach die Krawalle mit verstärkter Kraft losbrachen, begab sich der zuständige Minister VON MASSOW selbst nach Halle, um eine aus Professoren und Magistratsbeamten, also städtischer Polizei, gebildete Kommission zur Bekämpfung dieses Unwesens einzusetzen. Gegen diesen Bruch der korporativen Autonomie der Universität protestierte nur ein Professor. Da aber die Kommission zu keinen klaren Vorschlägen kam, erließ VON MASSOW selbst kurzerhand von Berlin aus 1798 die dann berüchtigt gewordene ‹Verordnung wegen Verhütung und Bestrafung der die öffentliche Ruhe störenden Exzesse der Studirenden auf sämtlichen Akademiien in den königlichen Staaten›, die die Aufsicht über die Studenten in der Stadt grundsätzlich der Polizei übertrug und den Studenten Gefängnis- und Prügelstrafen androhte. Erst jetzt erfolgte ein gewichtiger Protest der Professoren, der aber vor allem damit begründet war, daß eine solche Bestimmung zu einem Rückgang des Besuchs der preußischen Universitäten führen würde.

Diese Verhältnisse lassen erkennen, daß die korporative Selbständigkeit der Universität damals in sich selbst am Zusammenbrechen war; die Studenten hatten sich von der eigentlichen Sinnverpflichtung der Universität, dem Studium, in ihrer Lebensweise gelöst, ihre studentische Freiheit zu einer selbständigen Existenzform ausgebaut, die parasitär war. Wenn wir uns aus akademischen Traditionen heute noch mit den Studenten jener Zeit identifizieren und es etwa empörend finden, daß der ALTE DESSAUER als Gouverneur von Halle und zugleich Chef des dort liegenden preußischen Regiments die übelsten studentischen Ruhestörer einfach verhaften und als Rekruten in sein Regiment stecken ließ, so müssen wir in Würdigung der historischen Wahrheit wohl doch zugeben, daß diese da besser hingehörten als auf die Universität.

Diese geistige und moralische Verwahrlosung der Studenten in der Entartung der studentischen Freiheiten und des studentischen Korporationswesens zu bekämpfen, ist von vornherein eines der Hauptziele bei der Gründung der neuen Bildungsanstalt zu Berlin. Schon die den idealistischen Universitätsvorschlägen vorangehenden Denkschriften des Berliner Aufklärungsphilosophen JOHANN JAKOB ENGEL, des juristischen Professors SCHMALZ und des Mediziners HUFELAND betonen einheitlich, daß dieser Bildungs- und Lehranstalt zu Berlin die eigene Gerichtsbarkeit fehlen solle, um ‹die lächerlichen Bocksbeuteleien der Universitäten› (ENGEL) auszurotten.

So heißt es bei ENGEL: ‹Wo der Student einen Grad von Wichtigkeit, von Ansehen hat: da sieht er gern auf seine Mitbürger als auf eine geringere Menschen-Klasse hinab, er macht eine eigene Korporation aus, folgt Tonangebern, die insgeheim zu dem rohesten, ausschweifendsten, kecksten Haufen gehören, errichtet Landsmannschaften, Ordensverbindungen, bekommt einen falschen Ehrgeiz, ein falsches Interesse in der Seele, wird sittenlos in seinem Innern und ungesittet in seinem Äußern. Alles das fällt weg, wo der Student sich unbemerkt unter den übrigen Menschen verliert, wo er noch ebensowenig bedeutet, als [er] wirklich ist; wo er sogleich dem öffentlichen Gelächter bloßstände, wenn er sich’s einfallen ließe, Figur zu machen, eine eigene Kraftsprache zu reden, eine eigene Kleidertracht anzulegen.› Man sieht, daß hier bereits das Wesen der ‹Großstadt› gegen die soziale Überheblichkeit von Sondergruppen ausgespielt wird, die in engen, z.B. kleinstädtischen Verhältnissen allzu leicht zur Herrschaft kommen.

Der organisatorische Vorschlag ENGELs für die neue Lehranstalt lautet daher: ‹Die eigene Gerichtsbarkeit, die auf den Universitäten viel Unheil gestifet hat, fiele hinweg; alle Mitglieder der Anstalt, Lehrer und Schüler, ständen unter dem königlichen Kammer- und davon abhängigen Hausvogteigerichte.› Bei SCHMALZ: ‹Es ist unstreitig ratsam und nützlich, bei der Einrichtung dieser Anstalt alle Formen des alten Universitätswesens fallen zu lassen, welche einen Zunftgeist nähren, oder pedantischen Prunk, der ehemals Würde und Ansehen geben mochte, jetzt aber lächerlich macht … Nur liberale Form, nur kein Magnificus, keine Jurisdiktion, keine Zunft unter dem Namen Fakultät!›. Und schließlich am eindeutigsten bei HUFELAND: ‹Jeder Studierende tritt in die Rechte und Verbindlichkeiten jedes anderen Staatsbürgers und hat die nämlichen Gesetze und Obrigkeit, wie jeder andere Einwohner der Stadt. Es fällt also die ganze Idee einer besonderen akademischen Obrigkeit und Gerichtsbarkeit weg, die nur dazu dient, die Studenten in dem Wahn einer abgesonderten Menschenklasse zu bestärken und das Personale in Streitigkeiten mit anderen Behörden zu verwickeln›[4].

Die Lebensart des Studenten zu erneuern, die Entartung der studentischen Freiheiten aufzuheben, den ‹Pennalismus›, wie man dies damals nannte, zu beseitigen, ist als eine sehr deutliche Absicht auch bei allen Begründern des neuen wissenschaftlichen Bildungsideals festzustellen. FICHTE war in Jena schon laut gegen dieses studentische Unwesen zu Felde gezogen. Seine Antrittsrede als Rektor der neuen Berliner Universität trägt den Titel: ‹Über die einzig mögliche Störung der akademischen Freiheit› und ist eine Warnung vor dem ‹Pennalismus›: Nur wenn die Studenten ihrer Bestimmung zur wissenschaftlichen Denkfreiheit untreu würden, ‹wenn sie sich als Stand betrachten, der frei sei von den Verpflichtungen, welche sonst Sitte und Ordnung auferlegen, würde die akademische Freiheit erschüttert werden können. Und nun folgt eine lange Philippika gegen das alte Unwesen, mit dem der Eisenkopf schon in Jena den Kampf geführt hatte, gegen die Landsmannschaften und Orden, die mit dem Zwang des Trinkkomments und des Duellwesens eine unerhörte Tyrannei über Lehrer und Schüler aufrichten wollen und damit den eigentlichen Beruf der Studierenden, das Studium selbst, zerstören, also die akademische Freiheit vernichten und das Ziel aller Bildung aufheben würden› (Nr. 50 I, S. 403). Alle maßgeblichen Denker der neuen Universitätsidee waren daher gegen die Fortführung des studentischen Korporationswesens, insbesondere gegen das studentische Duell, eingestellt. Mit einer Ausnahme: SCHLEIERMACHER teilte zwar die neue Deutung, die die idealistischen Philosophen der akademischen Freiheit des Studenten gaben, war aber im Praktischen kompromißbereiter, mehr auf ‹Anpassung› bedacht, wie man heute sagen würde, und öffnete so mit seiner Autorität dem alten Korporationswesen in der neuen Universität Berlin wieder Tür und Tor.

In seiner Denkschrift zur Universitätsreform sieht er den ‹Zweikampf› als ‹eine höchst natürliche und unvermeidliche Erscheinung› an. ‹Darum wäre es in Berlin ganz notwendig, auch wieder das Untersichsein der Studenten, wo der eigene und freie Stil des Lebens seinen Platz hat, und ihren eigenen Gemeingeist zu befördern, notwendig, sie fühlen zu lassen, daß sie schon als Studenten, als diejenigen, auf denen die wichtigsten Hoffnungen des Vaterlandes ruhen, eines Grades von öffentlicher Achtung und Aufmerksamkeit genießen, deren sie sich nicht unwürdig machen dürfen, und deshalb zweckmäßig, daß man die landsmannschaftlichen Verbindungen, welche sich um so zuverlässiger bilden werden, als das Ganze den Charakter der Universität trägt und als die gymnastischen Übungen an der Tagesordnung sind, mit Klugheit dulde und leite, daß man nicht jede Art, sich äußerlich auszuzeichnen, verbiete, und daß man erlaube, daß bei gewissen Gelegenheiten die Studenten als Korporation öffentlich auf eine ehrenvolle Art erscheinen und repräsentieren dürfen› (Gelegentliche Gedanken, Anhang).

Indem der neue wissenschaftliche Bildungsgedanke, die neue Universitätsidee, gegen das ‹Zunftwesen› der Studenten gerichtet war, verbirgt sich in ihm die grundsätzliche Absicht, die für jede Universitätsreform konstitutiv ist: die Erneuerung der Universität auch von einer Erneuerung der studentischen Lebensweise her zu verwirklichen. Wir werden später sehen, wie bei HUMBOLDT, FICHTE usw. dieses Ziel seinen Ausdruck findet. Es mag aber gleich hier gesagt werden, daß diese Absicht der klassischen Universitätsreform nicht entscheidend zum Zuge gekommen ist; das Gewicht der Universitätstradition, verstärkt durch solche kompromißlerischen Haltungen und Argumente, wie sie SCHLEIERMACHER vertreten hat, haben das studentische Korporationswesen mit geringen Veränderungen noch über ein Jahrhundert an den deutschen Universitäten lebendig erhalten. Daß FICHTE als erster gewählter Rektor der Universität Berlin vor Ablauf seines Amtsjahres zurücktrat auf Grund eines Streites über den studentischen Zweikampf, in dem die Majorität des Senats unter SCHLEIERMACHERs Führung gegen ihn stand, ist zum mindesten ebenso symbolisch für die Entwicklung der deutschen Universität wie die oft zitierte Tatsache, daß er der erste Rektor der neuen Universität Berlin gewesen ist.

Professorenelend

Diesem Zustand der ‹im Zunftwesen erstarrten Universität› auf seiten der Studenten entsprach ein ähnlicher Zustand der Wissenschaften selbst und der Professorenschaft an den traditionellen Universitäten des 18. Jahrhunderts. Die humanistischen, reformatorischen und gegenreformatorischen Universitätsreformen hatten das Grundprinzip der mittelalterlichen Universitätslehre, einen gegebenen Lehrbestand des Wissens zu überliefern, durchaus bestätigt. Erst im 18. Jahrhundert wurde an den aufklärerisch-fortschrittlichen Universitäten wie Halle und Göttingen dieser Grundsatz der gebundenen Lehrnorm zugunsten der Lehrfreiheit erschüttert, worin aber die alten Universitäten keineswegs sehr schnell folgten. Die aus der älteren Wissenschaftsauffassung entwickelten traditionellen Lehrformen der lectio, einer Vorlesung an Hand eines vorgeschriebenen Textbuches, das der Vorlesende interpretierte und kommentierte, sowie der öffentlich vor der ganzen Fakultät stattfindenden disputatio (Disputation) waren zu Ende des 18. Jahrhunderts noch weitgehend üblich. Man weiß, daß KANT seine neue, revolutionäre Philosophie nach fremden ‹Textbooks› vorgetragen hat. Die Disputation, in der das Erlernte angewendet und geübt werden sollte, war überall zu einer reinen Formalie erstarrt, was nicht zuletzt darauf beruhte, daß der in diesen Disputationen geübte Wahrheitsbeweis nach anerkannten Autoren oder auf Grund anerkannter ‹Glaubenssätze›, also die dogmatische Kontroverse, der neuen Wissenschaftsauffassung nicht mehr entsprach. An den ‹moderneren› Universitäten war die Disputation daher zu Ende des Jahrhunderts bereits abgeschafft, nicht so an den alten Universitäten wie Leipzig, Wittenberg, Köln; Altdorf rühmt sich noch 1795 seiner Disputationen.

In den Universitätsdenkschriften um 1800 spielt die Frage, ob der Buchdruck nicht die Vorlesung überhaupt überflüssig gemacht habe, daher eine große Rolle. FICHTE weist im ‹Deduzierten Plan› (§ 2–4) darauf hin, daß die Vorlesung ursprünglich mit dem Mangel an gedruckten Büchern und ihrem teuren Preis zusammenhing, ein Argument, das von vielen noch um 1800 zur Verteidigung dieser Vorlesungspraxis vorgebracht wird. Daß dann vielfach anstatt des Textbuches der Brauch des Diktierens des Stoffes durch die Dozenten auftritt, eine Praxis, die man ja auch heute noch zuweilen finden kann, ist kaum als erheblicher Fortschritt anzusehen. Indem die neuhumanistischen Universitätsreformer allesamt eine neue Sinngebung der Vorlesung, also des geschlossenen mündlichen Vortrages, durchsetzten, trugen sie zu einer Reform der Lehrformen der Wissenschaft erheblich bei.

Im Sinne der traditionellen Universität war auch die philosophische Fakultät in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts noch weitgehend Vorschule für die Theologen, Juristen und Mediziner, die hier eine allgemein-wissenschaftliche Bildung erwerben wollten.

FR. NICOLAI berichtet von einem Besuch der Universität Wien im Jahre 1781: ‹Der philosophische Hörsaal ist der größte und die Zuhörer sind auch die zahlreichsten, es waren an 200 da. Bei denselben waren alle Merkmale der Inattention vereinigt, die ich in anderen Lehrstunden angetroffen habe. Weil aber die Philosophie die unterste oder Vorbereitungsklasse der Universität ist, so waren die Zuhörer meist Knaben und zum Teil wirkliche Kinder, wenigstens führten sie sich so auf. Einige lagen ungezogen auf den Bänken, andere plauderten, andere gafften kindisch umher, andere nickten. Dies wird noch verstattet; damit aber diese angehenden Liebhaber der Weisheit nicht so laut werden, daß sie den Professor stören, so sitzt an einem abgesonderten Ort neben dem Katheder ein gesetzter Student, … welcher, wenn sie zu laut werden, aufstehet und sie erinnert, was sie ihrem Lehrer schuldig sind›[1].

Das Ganze hatte dann auch weitgehend den Charakter des Schulunterrichts. Von den Professoren wurde verlangt, daß sie den ganzen Umfang ihres Fakultätsgebietes in Vorlesungen behandelten. KANT las daher ebenso über Naturwissenschaft und Mathematik wie über Metaphysik und Logik. Die Stundenanforderung an den Professor lag sehr hoch, im Durchschnitt zwischen 20–24 Stunden wöchentlich; KANT hat einmal bis zu 34 Stunden wöchentlich angekündigt, las nachweislich 26–28 Stunden.

Es ist also nicht zu verwundern, daß der Lehrbetrieb an den Universitäten schlecht war. Das ganze Jahrhundert hindurch wird überall geklagt, daß sich die Vorlesungen über mehrere Semester hinschleppen, nicht vollständig oder nicht in der sachlichen Reihenfolge gehalten werden. Mahnungen, dies abzustellen, kommen immer wieder von den Regierungen, oft begründet mit dem Vorwurf, die Professoren würden ihre Pflichtvorlesungen zugunsten finanziell einträglicherer Nebenbeschäftigungen oder Privatvorlesungen vernachlässigen. FRIEDRICH DER GROSSE schreibt:

‹Eigennutz und Faulheit der Professoren hindern, daß die Kenntnisse sich so reichlich ausdehnen, als zu wünschen wäre, sie begnügen sich damit, ihrer Pflicht so knapp als möglich zu genügen, sie lesen ihre Kollegien und das ist alles. Wenn die Studenten Privatstunden von ihnen wünschen, so können sie sie nur zu unerhörten Preisen erlangen› (Nr. 55II, S. 71). In SELLEs Geschichte der Universität Königsberg heißt es für die zweite Hälfte des Jahrhunderts: ‹Man ist in Berlin der Ansicht, daß sich die meisten Professoren nicht an Ordnung und Vorschrift kehren und ihre anderen Geschäfte den Pflichten ihres Lehramtes vorziehen. Es sollte doch nicht immer wieder die alte Klage über die schlechte Salarierung vorgebracht werden. Sie ist keine Entschuldigung, da demjenigen, der für den gebotenen Gehalt seine Obliegenheiten nicht erfüllen will, ‚täglich um seine Dimission zu bitten frey steht‘›[2].

Angesichts der Tatsache, daß die Professorengehälter überall gleich schlecht waren, haben solche Regierungshinweise auf Kündigungsfreiheit einen etwas pharisäischen Zug. Die Klagen über schlechte Besoldung der Professoren reißen die Jahrhunderte hindurch kaum ab, insbesondere wachsen sie im 17. und 18. Jahrhundert. Die Professoren waren, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, notwendig auf privaten Verdienst angewiesen, wofür Einnahmen aus geistlicher, juristischer oder medizinischer Praxis in Frage kamen; viele gaben Privatunterricht oder nahmen Pensionäre ins Haus. Hier lag auch der Grund dafür, daß so viele Stunden gelesen und nach Möglichkeit Privatvorlesungen angekündigt wurden, für die eine zusätzliche Hörergebühr gefordert werden durfte.

Eine amtliche Prüfung der akademischen Verhältnisse vom Jahre 1768 an der Universität Halle berichtet, daß die Professoren wegen der Dürftigkeit des Gehalts täglich 5–7 Stunden lesen müßten. Es wurde daher eine Anstandspflicht der besser situierten Studierenden, die nötigen Vorlesungen privatim zu hören; mit den öffentlichen Vorlesungen sich durchzuhelfen, wurde als Zeichen der Armut angesehen und darum gemieden. Daß die ‹armen Studenten› unter diesen Umständen ein Element des Aufruhrs waren, ist von hier aus nicht ganz unverständlich[3].

Auch in der Besetzung und Auswahl der Professoren herrschte weitgehend provinzielle Enge; soweit das Urteil der Fakultäten in Frage kam, regierte die Vetternwirtschaft der Selbstergänzung der Fakultäten aus eigenen Reihen, oft mehr nach Verwandtschafts- und Freundschaftsverhältnissen als nach Leistung. Man muß einmal die Schwierigkeiten nachlesen, die der Magister KANT zu überwinden hatte, um ein Ordinariat zu erhalten, obwohl der zuständige Minister in Berlin ihm bescheinigte, daß er ‹sich in der ganzen gelehrten Welt einen so großen Ruhm mit Recht (erworben hat), daß ich mich fast schäme, (ihn) noch nicht besser versorgt zu haben!›[4]. In der Tat waren die Kanzler oder Kuratoren der Universitäten an der personellen und wissenschaftlichen Reform der Universitäten meist mehr und sachlicher interessiert als die Professoren selbst. So haben der Minister GERLACH von MÜNCHHAUSEN für Göttingen, der Kanzler VON KORFF für die Universität Königsberg weit mehr geleistet als die jeweilige Universitätsselbstverwaltung der Professoren; daher werden gerade für die Universitäten Halle und Göttingen, in denen sich die Lehrfreiheit der Professoren in diesem Jahrhundert am klarsten durchsetzt, die Dozenten durch die Minister in Berlin und Hannover ausgewählt, bei Göttingen wird ausdrücklich betont: ohne Befragung der Fakultäten. Auf der anderen Seite führt gerade die landesfürstliche Betreuung dazu, daß den Professoren einfach die Annahme von Rufen anderer Universitäten verboten wird. So klagt der Kanzler VON KORFF von den Königsberger Professoren: ‹Die Einheimischen gehen nicht auswärts, die Auswärtigen kommen nicht hierher, daher bleibt es allhier in einer gewissen Schläffrigkeit und Sicherheit.›

Diese provinzielle Enge und Unbeweglichkeit von Dozenten und Studenten, diese Territorialisierung der Geistigkeit zu überwinden, ist eines der wesentlichen sozialen Ziele des neuen Bildungs- und Universitätsideals gewesen. ‹Die Universität im deutschen Sinn›, wie es bei SCHLEIERMACHER heißt, wird gegen die landesstaatliche Enge gefordert, die zu den Kennzeichen der ‹im Zunftwesen erstarrten Universität› gehörte. So sagt O. VOSSLER von HUMBOLDTs Absicht mit Recht: ‹Nicht zum Besten Preußens, sondern zum Besten Deutschlands will er die Universität schaffen, zum Besten einer politisch nicht bestehenden, oder noch nicht bestehende Sache› (Nr. 85, S. 261). Wir werden auf die Bedeutung dieses politischen und sozialen Vorgriffs auf die Zukunft, der diesen Bildungsgedanken geschichtlich erst zum Tragen gebracht hat, später noch einmal zurückkommen.

Wenn wir der Ablehnung dieser ‹im Zunftwesen erstarrten Universität› in allen Denkschriften der Universitätsgründer von 1809 begegnen, so muß doch betont werden, daß diese alte Universität für die Humboldtsche Universitätsidee sozusagen der Gegner ‹von vorgestern› war. Gegen diese Universität haben nämlich bereits die Aufklärer das ganze 18. Jahrhundert hindurch ihre Kritik vorgetragen und ihre Reformprogramme entworfen und zum Teil durchgesetzt. Die Erziehungsprogramme der Aufklärer, und zwar gerade in bezug auf die Universitäten, sind aber der eigentlich aktuelle Gegner, den die neuhumanistisch-idealistische Bildungs- und Wissenschaftsidee bekämpft. Diese neue Universitätsidee kannte also zwei Gegner: die Universität ‹von vorgestern›, die aber um 1800 noch weitgehend eine Realität war, und die Erziehungsreformer ‹von gestern›, also die Erziehungsplaner und ‹Universitätsreformer› der Aufklärung, denen wir uns jetzt zuwenden wollen.

3. Die Erziehungstendenzen der Aufklärung und die Universität

Wissenschaft außerhalb der Universität

Das wissenschaftliche Denken der Aufklärung hat gegenüber dieser veralteten Universität zwei Wege eingeschlagen, seine neue Wissensidee zu institutionalisieren. Einmal ist es den traditionellen Weg der Universitätsneugründung gegangen, wie wir es in der Erwähnung der Universitätsgründungen von Halle und Göttingen bereits kennzeichneten; zum anderen aber hat es die ‹wahre› Wissenschaft und Forschung in wissenschaftlichen Institutionen außerhalb der Universität zu gründen versucht. Sechs Jahre nach der Gründung der Universität Halle wird die auf einen Plan von LEIBNIZ zurückgehende ‹Gesellschaft der Wissenschaften›, die Preußische Akademie in Berlin, gegründet, um den forschenden Gelehrten wissenschaftlichen Austausch, Heimstatt und Förderung zu bieten. LEIBNIZ, der an der Universität Altdorf promoviert hatte, stand der Universitätsgelehrsamkeit sein Leben lang mit unverhohlener Geringschätzung gegenüber; er hielt die Universitäten für mönchische Anstalten, die sich mit gelehrten Grillen beschäftigten. Bedenkt man, daß die entscheidende Philosophie der vergangenen Jahrhunderte von BACON und DESCARTES über SPINOZA und HOBBES bis zu LEIBNIZ außerhalb der Universitäten entstanden war, daß die empirische Naturwissenschaft bis dahin kaum Eingang in die Universitäten gefunden hatte, so versteht man dieses Urteil.

Im 18. Jahrhundert entstehen überall in Deutschland die ‹Gelehrten Gesellschaften›, die oft die Vorstufen zu den dann staatlich anerkannten und unterstützten Akademien der Wissenschaften sind: Nach der 1700 gegründeten Preußischen Akademie wird 1751 von ALBRECHT VON HALLER die ‹Göttingische Gelehrte Gesellschaft› gegründet, aus der dann später die Göttinger Akademie hervorgeht, hier allerdings in Verbindung mit einem fortschrittlichen Universitätsgelehrtentum; 1759 entsteht die ‹Churfürstlich baierische Akademie› in München gegen den Klerus der Ingolstädter Universität; 1768 wird die ‹Fürstlich Jablonowskische Gesellschaft› als Stiftung in Leipzig ins Leben gerufen, aus der dann, allerdings erst 1846, die ‹Königlich Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften› als Akademie entsteht. In ihnen sammelte sich die wissenschaftliche Forschung der Zeit. In anderen Ländern, wie z.B. in Frankreich (1635 wird die ‹Académie française› von RICHELIEU gegründet) oder England (1662 die ‹Royal Society› in London), vor allem aber in Rußland, wo 1725 in Petersburg die ‹Akademie der Wissenschaften› ins Leben gerufen wird, haben diese Institutionen auf lange Zeit erschwert oder gar verhindert, daß die moderne Forschung, insbesondere die naturwissenschaftliche, in die Universitäten Eingang fand. Wenn das Wissenschaftssystem der Sowjetunion heute noch so organisiert ist, daß alle Forschung im wesentlichen an den Akademien und ihren Forschungsinstituten getrieben wird, die Universitäten aber nur die Aufgabe der Lehre und wissenschaftlichen Ausbildung haben, so ist hier die im 18. Jahrhundert angelegte Trennung von Forschung und Lehre nicht als eine Einheit in die Universität zurückgeholt worden, eine Leistung, die gerade die Humboldtsche Universitätsgründung für das deutsche wissenschaftliche Leben vorbildlich vollbracht hat.

Als allgemeine Einsicht zum Verhältnis von Wissenschaft und Universität sollten wir der Geschichte der wissenschaftlichen Akademien entnehmen, daß die Universität keineswegs notwendig die institutionelle Form der Wissenschaft zu sein hat. Die Geschichte der ‹reinen› Gelehrsamkeit und Wissenschaft könnte sogar in vieler Hinsicht als eine Geschichte der Opposition zur Universität geschrieben werden: Schon die platonischen Akademien der Renaissance sind als eine Auswanderung der führenden Geister einer Zeit aus der Universität anzusehen, wie es dann in der Aufklärung wiederum der Fall war; daß auch in neuerer Zeit sich immer wieder Teile der wissenschaftlichen Forschung von der Universität getrennt haben, und zwar gerade um der Intensität ihrer wissenschaftlichen Bemühungen willen, ist bekannt. Wir wollen vorgreifend hier gleich darauf hinweisen, daß die ‹höhere wissenschaftliche Lehranstalt›, die von den neuhumanistischidealistischen Gelehrten nach 1800 in Berlin gegründet werden sollte, zunächst ebenso als eine grundsätzliche ‹Auswanderung› aus der Universität überhaupt gedacht war. Daß sie dann zu einer exemplarischen Universitätsneugründung wurde, läßt die Frage aufwerfen, ob nicht eine weitreichende Erneuerung der Wissenschaft und wissenschaftlichen Bildung grundsätzlich gegen das institutionelle Wesen der jeweils bestehenden Universitäten gedacht werden muß, um überhaupt wirksam sein zu können, und sei es dann auch in der Form der Universitätsreform.

Allerdings zeigt die Geschichte der Universitätsgegnerschaft und der Auswanderung der Wissenschaften aus der Universität im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert auch das große institutionelle Gewicht, das die Universität in der Tradition unserer Gesellschaft besaß und besitzt: Selbst ein Jahrhundert der Mißwirtschaft, ein über Generationen dauerndes Versagen vor der eigentlichen Wissensidee des Zeitalters, ein Versagen in der Selbstverwaltung und Selbstdisziplinierung von Professorenschaft und Studentenschaft, wie es im 18. Jahrhundert vorlag, haben die Universität als Institution nicht auslöschen können, obwohl Kräfte und Pläne für eine grundsätzliche Aufhebung der Universität genügend wirksam waren. Unter dem Gesichtspunkt des Aufblühens der Wissenschaften und einer wissenschaftlichen Bildungsforderung kann ‹die Krise der Universität› historisch als ihr Normalzustand angesprochen werden, ohne daß dies am dauerhaften Bestand der Institution als solcher rüttelt. Auch dies dürfte ein aktueller Trost sein.

Brauchbare Kenntnisse

Der pedantischen und dogmatischen Gelehrsamkeit der alten Universitäten widersprach vor allem das Bedürfnis des Aufklärungszeitalters nach brauchbaren Kenntnissen und weltlich nüchterner Urteilsfähigkeit des Menschen. Der Erziehungswille des Zeitalters ging also auf die Ausbildung des Menschen zu sozialer und gewerblicher Nützlichkeit, und das heißt praktisch im wesentlichen auf Berufserziehung aus. Diese utilitaristische und pragmatische, auf Nützlichkeit und Anwendung des Wissens zielende Grundtendenz der Aufklärung ließ diese schon im Schulwesen sehr stark die Berufserziehung betonen, führte bei den höheren Formen des gelehrten Unterrichts aber dann zu einer solchen praxisbetonten Spezialisierung, daß die Einheit des Wissens fast aus dem Auge verloren wurde. Diese wurde allenfalls in einer enzyklopädischen Sammlung von allen Wissensbeständen gesehen, aber das organisierende Prinzip des Wissens war doch allenfalls seine Brauchbarkeit für ein vernünftiges Leben in der Welt. Diese Einstellung widersprach den Fehlern der veralteten Universitätsgelehrsamkeit, ihrer Pedanterie und Schulfuchserei, ihren Vorurteilen und ihrem Aberglauben, aber sie widersprach darüber hinaus so sehr dem Grundprinzip der Universität überhaupt, dem freien Erkennenwollen um seiner selbst willen, daß wohl nirgends in der Geschichte der deutschen Universitäten die Kräfte und die Gefahr ihrer Auflösung als Institution so stark waren wie am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Indem sich die idealistisch-neuhumanistische Denkweise gegen die Wissensauffassung und Philosophie und damit natürlich auch gegen die daraus abgeleitete Erziehungstendenz der Aufklärung wandte, ist sie zur Retterin der Universität geworden, die sie zunächst selbst durch eine andere Institution ersetzen wollte. Da sich die neue Universitätsidee also gerade in der Polemik gegen die Erziehungspolitik der Aufklärung durchsetzte, müssen wir diese in ihrer Gewichtigkeit und Breite hier verdeutlichen, um die aktuelle, politische Leistung jener Universitätsgründer von Berlin für ihre geschichtliche Situation erkennbar werden zu lassen[1]

In der Betonung der Berufserziehung kündigt die beginnende bürgerliche Gesellschaft ihre Erziehungsansprüche an. Ihr Rationalismus und Utilitarismus haben verschiedene Wurzeln: Die Verweltlichung des Staatslebens seit der Renaissance hat zur Abkehr von der Kirche, vor allem in Fragen der Bildung, geführt. Der landesfürstliche Absolutismus verbindet sich mit der säkularisierten Bildung; in den protestantischen Ländern verlieren die Kirchen ihre Universitätsgewalt. Die allgemeine Lebensstimmung des Menschen geht von der religiösen Spekulation und der dogmatischen Glaubensauseinandersetzung zur bürgerlich tüchtigen Bewältigung des Alltags und einer undogmatischen religiösen Verinnerlichung. Der aktive, sich im Beruf bewährende Mensch wird zum religiösen und humanen Vorbild: In dem Gedanken, daß die bürgerliche berufliche und gewerbliche Tüchtigkeit vernünftig, Gott wohlgefällig und der Weg zur menschlichen Glückseligkeit sei, finden sich Luthertum, Calvinismus und Aufklärung. Da der Träger dieser neuen Bildungsidee der aus dem Handwerkerstand kommende Erwerbsbürger ist, genießt die handwerkliche Arbeit, die ‹Industrie› im Sinne des Gewerbefleißes, hohe Achtung, so daß es z.B. zum guten Ton gehört, daß die gebildeten Fürsten Handwerke erlernen. Das Nützliche und Zweckmäßige der produktiven Tätigkeit, die in Verbindung mit Wissenschaften und Künsten als erfinderisch und vernünftig der zünftlerischen Selbstgenügsamkeit des alten Handwerks entgegengesetzt wird, geht in alle Ebenen der Erziehung ein: Die Philanthropisten nehmen in ihre neuen Realschulen die handwerkliche Ausbildung als Erziehungsmittel auf.

Man hat die Leistung dieser utilitaristischen Erziehungsideen der Aufklärung und insbesondere des Philanthropismus darin gesehen, daß sie ein nützliches Wissen popularisierten und so das Volk von Aberglauben und Primitivität befreiten. Der Gedanke einer ‹Nationalerziehung›, wie er etwa in den sehr wirksamen Schriften von STEPHANI und ZÖLLNER vertreten wird, zielt auf den Bürger der aufgeklärten absolutistischen Monarchie, der vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner Brauchbarkeit für Staatszwecke gesehen wird[2]. Ihn so zu erziehen, daß er sich in die Arbeitsteilung der Gewerbe und der sonstigen Staatszwecke nützlich und produktiv einordnet, war zunächst das Ziel, das man unter einer Erweckung des Nationalgeistes verstand. In der Gründung zahlreicher Real- und Fachschulen für praktische, gewerbliche und industrielle Bedürfnisse dokumentierte sich dieser Geist im Erziehungswesen. In dem Bestreben, die alte ‹gelehrte› Bildung durch die neuen ‹Geschäftswissenschaften› der Kameralistik, also der Verwaltung und Ökonomie, auch auf den Universitäten in den Hintergrund zu drängen, ist der Zugriff dieses Denkens auf der Ebene der Hochschulen zu sehen. Hier wurzelt die Tendenz, auch sie zu Spezialschulen der Fachausbildung zu machen, wovon gleich noch zu sprechen sein wird.

Eine nicht unwichtige Bestärkung dieser utilitaristischen Bestrebungen kam von religiöser Seite: Die leicht mystisch-schwärmerisch verklärte religiöse Innerlichkeit des Pietismus