Eisenblume - Frida Skybäck - E-Book

Eisenblume E-Book

Frida Skybäck

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Beschreibung

Eine verlassene Psychiatrie und ein grausamer Mord: Die schwedische Bestseller-Reihe geht weiter In einer Wand der verfallenen Lunder Psychiatrie werden menschliche Überreste gefunden. Schnell wird die Verbindung zu einem Cold Case von 1987 hergestellt, bei dem zwei Patienten in einer Oktobernacht spurlos verschwanden. Was ist damals geschehen und warum gibt es nur eine Leiche? Fredrika Storm und Henry Calment begeben sich auf die Spuren einer grausamen Tat und fördern dabei Erschreckendes zutage. Und dann fordert der Fall ein weiteres Todesopfer.

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Seitenzahl: 504

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Beim Einbruch in eine verlassene Psychiatrie entdecken zwei Jugendliche eine in die Wand eingemauerte Leiche. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht von dem schrecklichen Fund.

Schnell stellen Fredrika und Henry eine Verbindung zum Verschwinden zweier Patienten in den Achtzigerjahren her, das bis heute nicht aufgeklärt werden konnte.

Handelt es sich bei dem Körper um die damals siebzehnjährige Marie-Louise und ist Tommy, der mutmaßliche Täter, noch auf freiem Fuß? Die Wiederaufnahme des Falls reißt alte Wunden bei Marie-Louises Angehörigen auf, die nach dem Versagen der Polizei vor fünfunddreißig Jahren die Ermittlungen jetzt selbst in die Hand nehmen.

Bis ein weiterer Mensch stirbt.

 

Von Frida Skybäck ist bei dtv außerdem erschienen:

Schwarzvogel

Frida Skybäck

Eisenblume

Ein Fall für Fredrika Storm

Aus dem Schwedischen von Julia Gschwilm

Vorwort der Autorin

Im Jahr 1879 eröffnete das Lunder Hospital, das später in Sankt-Lars-Krankenhaus umbenannt wurde. Es handelte sich um eine große psychiatrische Klinik, in der bis zu 1600 Patienten Platz fanden.

 

Zu dieser Zeit hatte man kein adäquates Wissen über psychische Krankheiten und ein großer Teil ihrer Behandlung war experimentell. Im Sankt-Lars-Krankenhaus führte man beispielsweise Lobotomien durch, es gab Injektionen, die epileptische Anfälle auslösen sollten, und Langbäder, bei denen die Patienten über Monate hinweg den ganzen Tag in Badewannen festgebunden wurden. Das Ziel war, entweder die Patienten in einen Zustand der Passivität zu versetzen oder ihren Körpern Schocks zuzufügen, in der Hoffnung sie zu heilen.

 

1935 wurde zusätzlich die Vipeholms-Anstalt in Lund eröffnet, eine Einrichtung für sogenannte »Zurückgebliebene«, der damalige Begriff für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. In Vipeholm ging man bei den Experimenten noch einen Schritt weiter und nahm diverse Versuche an den Anstaltsbewohnern vor, beispielsweise das bekannte Vipeholms-Experiment. Bei diesem wurden den Patienten über einen längeren Zeitraum hinweg speziell hergestellte Bonbons mit besonders hohem Zuckergehalt verabreicht und das Zähneputzen verweigert, um die Entstehung von Karies zu untersuchen.

Darüber hinaus wurden ohne Erlaubnis der Angehörigen nach dem Tod der Patienten Experimente an deren Gehirnen durchgeführt.

Eine Zeit lang gab es eine hohe Übersterblichkeit unter ihnen und mehrere Personen in leitenden Positionen erklärten, die Patienten besäßen keine Menschenwürde. Eine Aussage, die die Vorstellungen der damaligen Zeit deutlich macht.

 

Noch heute gibt es Spuren der Behandlung, die die Patienten im Sankt-Lars-Krankenhaus und in der Vipeholms-Anstalt erfahren mussten, unter anderem in Form von Massengräbern auf dem nördlichen Friedhof in Lund und eines Gräberfeldes mit rund zweitausend anonymen Gräbern in der Nähe des Sankt-Lars-Geländes.

 

Ich hoffe, durch diesen Roman einigen der Patienten eine Stimme geben zu können.

 

Frida Skybäck

Lund, Januar 2025

1

Dienstag, 10. März

»Hier ist es.«

Jakob wandte sich um, und Emilia lächelte ihm zu. Die ganze Strecke vom Coop hierher waren sie schweigend nebeneinander hergegangen, waren über die Hecke geklettert und hatten Abkürzungen durch kleine Waldstücke mit struppigen Bäumen und wucherndem Unterholz genommen. Obwohl er die Gegend kannte, war es immer schwer, sich im Halbdunkeln zurechtzufinden, und im matschigen Lehm, den der Regen hinterlassen hatte, waren sie mehrmals ausgerutscht.

Jakob strich sich über den Handrücken, ein ordentlicher Riss brannte auf der Haut. Er sah zu der alten psychiatrischen Klinik hinauf. Wie ein Schatten aus einer anderen Zeit türmte sich das Gebäude vor ihnen auf, halb überwuchert von Vegetation. Sich selbst überlassen wäre es bald vom Wald verschlungen, dachte er. In den Pflanzen verschwunden und in Vergessenheit geraten.

In der Ferne hörte man den Höje rauschen, der sich durch den Sankt-Lars-Park schlängelte. Das feuchte Laub am Boden war rutschig und blieb an den Schuhen kleben.

Jakob blickte verstohlen zu Emilia hinüber. Er kannte sie nicht, hatte sie zuvor nur aus der Entfernung betrachtet. Aber sie hatte etwas an sich, das er wirklich mochte, und als sie gefragt hatte, ob er ihr Abteilung C zeigen könnte, hatte er Ja gesagt.

Und jetzt waren sie hier.

Nur sie beide.

Allein.

Jakob stieg über ein paar heruntergefallene Dachpfannen, um zu der Holzterrasse an der Rückseite des Hauses zu gelangen. Sie war von einem modrigen Grün und genauso mit Algen überwachsen wie die Steine am Pier in Lomma, wo er im Sommer manchmal baden ging.

Emilia stellte einen Fuß auf die Treppe, sie wollte prüfen, ob sie hielt. Das Holz antwortete mit einem lang gezogenen Knarzen, gab aber nicht nach, und sie deutete auf die Tür, die schief in den Angeln hing.

»Wir gehen rein.«

Die Beschwingtheit, die er gerade noch verspürt hatte, schlug in Angst um. Die Übereinkunft war gewesen, dass Jakob ihr den Weg hierher zeigen sollte, nicht, dass sie in das Gebäude hineingehen würden. Gleichzeitig wollte er nicht, dass sie ihn für feige hielt.

»Komm schon«, sagte sie und warf ihm einen Blick zu, der etwas in seiner Brust zum Flattern brachte. Bevor er protestieren konnte, war sie schon im Haus verschwunden, und Jakob hatte keine andere Wahl, als ihr zu folgen.

Das letzte Abendlicht verlosch allmählich, und an den Wänden strichen schroffe Schatten entlang. Die beiden blieben in der Vorhalle stehen, vor dem plötzlichen Ernst der Situation verstummt. Betrachteten die gelben Krankenhauswände mit dem bunten Graffiti, die Spinnennetze in den Ecken und den schmutzigen Boden voller leerer Getränkedosen und Laubhaufen, unter denen glänzende Chipstüten hervorlugten. Hier und da standen zurückgelassene Möbel wie eine schaurige Erinnerung daran, dass hier einmal Menschen gewohnt hatten.

Jakob schluckte. Einige der Fenster waren noch immer vergittert, doch das Glas war fort und die Öffnungen starrten sie leer an. Das Haus konnte der Natur nicht länger standhalten, sie drängte sich durch sämtliche Löcher, breitete sich aus und beherrschte alles.

Er betrachtete Emilias Hand, spürte ein Verlangen, sie in seine zu nehmen, ließ es aber sein.

»Wo ist sie?«

»Wer denn?« Jakob stellte sich dumm.

Emilia legte den Kopf schief. Sie war ihm auf einmal so nahe, und er wandte sich verlegen ab.

»Na die, die hier ermordet, aber nie gefunden wurde. Ich hab gehört, es gibt eine Stelle, wo sie sich manchmal den Leuten zeigt.«

»Im dritten Stock«, antwortete er. »Aber ich weiß nicht, ob es sicher ist, da raufzugehen.«

Sie warf ihm einen weiteren Blick zu und verschwand in den engen Korridor.

»Warte! Die Treppe ist alt, sie hält vielleicht nicht!«, rief er ihr nach. Aber es war sinnlos, Emilia war schon auf dem Weg nach oben. Jakob spürte, wie etwas in seinen Körper kroch. Irgendetwas war hier drinnen mit der Luft. Die Feuchtigkeit hatte sich in die Wände gefressen, und der Geruch von vermoderndem Laub kratzte ihm im Hals. Er wollte nicht allein sein und ging ebenfalls die Treppe hinauf, bis er Emilia auf der Schwelle des Gemeinschaftsraums im obersten Stockwerk fand.

Es war der Ort, von dem es hieß, hier würde sich die tote Frau manchmal den Besuchern zeigen.

An der Wand davor hing ein Spiegel mit verbeultem poliertem Stahlrahmen, sorgfältig festgeschraubt, damit niemand sich daran schneiden konnte, und den Flur entlang öffnete sich Zimmer um Zimmer. Im nächstgelegenen entdeckte Jakob schmutzig weiße Kacheln und mehrere Waschbecken aus Emaille, nackt und abgewetzt. Er konnte die Pritschen mit Fixiergurten vor sich sehen, die unruhigen Rufe hören.

Emilia streckte den Rücken durch und schloss die Augen. »Ich glaube, ich spüre sie«, sagte sie andächtig.

»Echt?«

»Hm. Still jetzt. Du musst dich konzentrieren.«

Jakob kniff ebenfalls die Augen zusammen. Er hatte einiges über das psychiatrische Krankenhaus gelesen und furchtbare Geschichten gehört. Dennoch übte dieser Ort eine merkwürdige Anziehungskraft auf ihn aus.

Hier oben war es noch dunkler, und Jakob trat einen Schritt vor, sodass er direkt neben Emilia stand und spürte, wie ihr Arm den seinen berührte.

Es war nicht gut, dass sie hier waren, das wusste er, und er wusste auch, dass man ihm die Schuld geben würde, wenn etwas schiefging. Aber er konnte sich nicht losreißen, brachte es nicht über sich, Emilia zu sagen, dass sie gehen sollten.

Sie waren nicht die Ersten, die hierhergekommen waren. In einer Ecke lag eine speckige Matratze neben ein paar Kerzenstumpen, in einer anderen standen Kisten und Bierdosen in zerknitterten Papiertüten, und vor dem kaputten Fenster, dessen Gitter abgerissen worden war, hing als Windschutz ein fleckiger Vorhang.

Jakob blickte auf. Die halbe Deckenverkleidung hatte sich gelöst und hing bedenklich durch, er dachte an den intensiven Regen der letzten Tage. An einigen Stellen waren gar keine Platten mehr vorhanden, ein Balken war heruntergestürzt und hatte eine Wand halb eingerissen.

»Sie ist doch damals einfach verschwunden, oder?«

Emilia schaute ihn wieder an, und zum ersten Mal schaffte es Jakob, ihren Blick festzuhalten. Er spürte ein Ziehen in der Magengrube, er wollte lächeln, beherrschte sich jedoch.

»Komm schon«, fuhr sie fort. »Erzähl! Ich weiß, dass du es weißt. Dein Großvater …«

Sein Mut sank. Sie kannte also seine Familiengeschichte. Deshalb natürlich hatte sie ihn gebeten mitzukommen, nicht, weil sie an seiner Gesellschaft interessiert war.

»Ich hab keine Ahnung.«

Sie schnaubte, schien ihm nicht zu glauben und ging weiter in den Raum hinein. Jakob warf einen besorgten Blick auf die losen Deckenplatten.

»Nicht, dass das Dach einstürzt!«

»Ach Quatsch, das passiert schon nicht.«

Sie stieß mit dem Fuß an eine der Papiertüten und die Bierdosen klapperten.

»Hier waren schon viele andere«, stellte sie fest und sah ihn erneut an. »Bitte, du kannst es doch erzählen. Ich sage auch nichts.«

»Pass auf, das Fenster ist kaputt.«

Emilia lächelte und ging rückwärts auf die schlaffe Gardine vor dem großen klaffenden Loch zu.

»Du meinst das hier?«

»Ja.«

Sie machte noch ein paar Schritte und Jakob bekam plötzlich Atemnot. Er dachte an die scharfen Glasscherben, an den Asphalt dort unten und daran, was passieren würde, wenn sie fiel.

»Tu das nicht.«

»Hast du Angst um mich?«, fragte sie und ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

Jakob wandte sich halbherzig um. »Das ist nicht lustig. Ich gehe, wenn du nicht aufhörst.«

»Wenn du erzählst, was du weißt, komme ich zurück.« Sie lächelte und blickte über ihre Schulter. »Das sieht gefährlich aus. Wer wird mir helfen, wenn etwas schiefgeht und du nicht da bist?«

Jakob blieb stehen. Emilia spielte mit ihm, und das gefiel ihm nicht. Er versuchte, durch das ganze Gerümpel einen Weg zu ihr zu finden, doch die Dämmerung verwischte die Konturen.

»Ich gehe jetzt.«

»Bitte, Jakob«, sagte sie und steckte den Kopf zwischen Fensteröffnung und Vorhang. »Du musst mir helfen.«

Emilia rückte noch ein Stück weiter, ihre Augen funkelten. Dann rutschte sie plötzlich aus und verlor das Gleichgewicht, schrie auf, bekam mit den Händen fuchtelnd den alten Vorhang zu fassen, der sich unter ihrem Gewicht straffte, bevor er nachgab.

Jakob eilte auf sie zu, blieb jedoch auf halbem Weg mit dem Fuß an dem herabgestürzten Balken hängen und zog ihn mit sich, als er der Länge nach hinschlug. Ein Krachen war zu hören, der Balken drang noch weiter durch die Rigipswand. Ein Teil davon löste sich und fiel zu Boden.

Keuchend blickte er zum Fenster, wo Emilia stand, den heruntergerissenen Vorhang in den Händen. Sie starrte das Stück Stoff an und warf es dann weg.

»Scheiße, entschuldige.«

Jakob stand auf und wischte sich die Jeans ab. Er war auf dem Arm gelandet und ein pochender Schmerz breitete sich in seinem Ellenbogen aus.

»Schon gut«, murmelte er. »Alles okay bei dir?«

»Ja, aber …« Sie verstummte, den Blick starr auf etwas gerichtet. »Was ist das da?«

Emilia zeigte auf die beschädigte Wand. Hinter der ersten Rigipsplatte war etwas zwischen die Holzlatten gedrückt.

Jakob fokussierte den Blick und versuchte, sich einen Reim auf das zu machen, was er sah, mehrere Schichten Plastik, gewickelt um etwas, das ihn anzustarren schien.

Der ganze Raum kam ihm plötzlich eiskalt vor. Jakob bekam eine Gänsehaut.

Emilia schlang die Arme um ihren Körper.

Es wurde still, dann holte sie tief Atem. »Ich glaube, wir haben sie gefunden.«

2

Fredrika Storm war genervt. Natürlich wurde sie an dem einzigen Abend zur Arbeit gerufen, an dem sie sich hatte freinehmen wollen. Als ihr Handy klingelte, saß sie im Italia il Ristorante in der Lilla Fiskaregatan und sah sich gezwungen, die dampfende Pasta mit Rinderfiletstreifen und Trüffel zurückzulassen, die ihr gerade serviert worden war. Jetzt knurrte ihr der leere Magen. Außerdem fand sie sich im Stadtteil Sankt Lars nur schwer zurecht. Das Gebiet war groß, es gab viele Abzweigungen, die nirgendwo hinzuführen schienen, und sie hatte das Gefühl, im Kreis zu fahren, doch schließlich tauchte ihr Kollege Henry Calment am Straßenrand auf und winkte sie heran.

»Hast du dir die Leiche schon angesehen?«, fragte sie, sobald sie die Autotür geöffnet hatte.

Er lächelte. »Ebenfalls hallo.«

»Hallo«, sagte sie entschuldigend. »Weißt du, wie alt sie ist?«

»Die Leiche?«

»Ja, wer denn sonst?«

»Hast du schlechte Laune?«

Fredrika ließ die Schultern sinken und seufzte. »Ich wollte gerade zu Abend essen.«

»Mit Jonas?«

Seit sie mit dem Rechtsmediziner Jonas Chen zusammen war, gab es eine gewisse Distanz zwischen Henry und ihr. Fredrika begriff nicht richtig, warum, aber jedes Mal, wenn ihre Beziehung zur Sprache kam, wurde Henry leicht gereizt. Sie hatte daher beschlossen, dass er nicht alles wissen musste, was sie tat und mit wem.

Anstatt zu antworten, deutete sie mit einem Kopfnicken auf das hohe Ziegelgebäude, das einen Steinwurf entfernt in einem Waldstück lag.

»Was ist das für ein Ort?«

»Das ist eines der älteren Gebäude, die zum Sankt-Lars-Krankenhaus gehörten. Es war eine Anstalt für psychisch Kranke.«

»Ist das Krankenhaus noch in Betrieb?«

Er schüttelte den Kopf. »Die letzte Abteilung ist 2013 geschlossen worden. Inzwischen sind die meisten Gebäude vermietet, aber mehrere Jahrzehnte lang war es eines der größten Krankenhäuser in Südschweden. Sie hatten bis zu eintausendsechshundert Patienten, und viele der Mitarbeiter wohnten auf dem Gelände, es war also wie ein eigenes kleines Dorf. Diese Abteilung hier wurde Anfang der Neunziger geschlossen, seitdem steht das Haus leer.«

»Du hast dich schon eingelesen«, sagte sie und wühlte in ihrer Tasche nach einem Kaugummi.

»Nicht direkt, ich weiß nur zufällig, dass das Haus eine besondere Geschichte hat.«

»Was für eine Geschichte?«

»Im Herbst 1987 sind dort zwei Patienten verschwunden, und es gab einen ziemlichen Aufstand.«

»Es klingt nicht sonderlich überraschend, dass Patienten aus einer psychiatrischen Einrichtung abhauen.«

»Das ist ja gerade der Punkt, nicht jeder glaubt, dass sie abgehauen sind.«

Fredrika zog die Augenbrauen hoch. »Was meinst du?«

»Eine der Patientinnen, Marie-Louise Sparre, war erst siebzehn Jahre alt und ihre Familie war sicher, dass sie Opfer eines Verbrechens geworden ist.«

»Wie kamen sie darauf?«

»Sie waren überzeugt, dass sie von dem anderen verschwundenen Patienten entführt wurde, Tommy Svensson. Er war auch ziemlich jung, in den Zwanzigern, meine ich mich zu erinnern. Die Familie hatte jede Menge Kontakte und verbreitete ihre Theorie in den Medien, und so glaubten viele, dass Tommy schuldig war. Die Schwester, Greta Sparre, hat außerdem ein Buch geschrieben. Ich glaube, es hieß Der Fall Marie-Louise.«

»Okay«, sagte Fredrika nachdenklich. »Gab es irgendwelche polizeilichen Ermittlungen?«

»Ja, sie dauerten mehrere Jahre, ohne zu einem Ergebnis zu führen.«

»Die Patienten wurden nie gefunden?«

»Nein, beide nicht. Das Personal behauptete, sie seien ausgerissen, aber offenbar gab es keine Spur von ihnen. Sie haben sich einfach in Luft aufgelöst.« Er wandte die Handflächen zum bleigrauen Himmel.

»Und jetzt wurde in der Abteilung, aus der sie weggelaufen sind, eine Leiche gefunden?«

»Ja, in Plastik eingewickelt und in einer Wand versteckt.«

Fredrika spürte, wie ihr Hunger in Übelkeit umschlug, steckte sich einen Kaugummi in den Mund und zerbiss die harte Oberfläche. »Lässt sich feststellen, wie lange sie dort gelegen hat?«

»Die Rechtsmediziner sind unterwegs, wir werden sehen, was sie sagen.«

Sie gingen schweigend den kleinen Hügel hinauf, der zu dem Ziegelbau führte. Das Haus vor ihnen war in Dunkelheit gehüllt und sah ziemlich mitgenommen aus. In dem schräg abfallenden Dach waren große Löcher, alle Fenster schienen eingeschlagen zu sein und einige waren notdürftig mit Sperrholzplatten vernagelt worden.

»Wer hat sie gefunden?«

»Zwei Teenager.« Henry deutete auf den Weg, der ums Haus führte. »Sie stehen auf der anderen Seite, mit ihren Eltern und den Streifenbeamten, die zuerst vor Ort waren. Ich dachte, du möchtest sicher erst mal den Fundort sehen, bevor wir mit ihnen sprechen, aber vielleicht willst du auch lieber auf die Techniker warten?«

Fredrika blickte zu dem gespenstischen Haus auf. Verlassene Gebäude hatten etwas Unheimliches an sich, vermittelten ein seltsames Gefühl. Nie wusste man, was sich im Inneren verbarg. Sie bekam eine Gänsehaut. Die beiden Teenager mussten von dem Fund völlig traumatisiert sein.

»Am besten, wir bringen es gleich hinter uns.«

Henry holte eine Taschenlampe heraus und ging voran. Der Boden des Hauses war mit Müll und Glassplittern bedeckt, die im Licht der Lampe glänzten, und jedes Mal, wenn der Wind durch eine Öffnung zog, pfiff es in den Wänden.

Fredrika führte die Hand zum Mund. Der Schimmelgeruch stach in der Nase, aber da war noch etwas anderes, ein stärkerer, aufdringlicherer Geruch von Verwesung. Ein Würgereiz stieg in ihr auf, und sie presste die Lippen zusammen.

Henry blickte sie von der Seite an. »Hier muss irgendwo ein totes Tier liegen.«

»Es müsste verboten sein, diesen Ort zu betreten«, murmelte Fredrika und trat gegen den Boden eines kaputten alten Blecheimers mit scharfkantigen Rändern. »Du bist hoffentlich gegen Tetanus geimpft?«

Obwohl es dunkel war, ahnte sie ein Lächeln in Henrys Gesicht.

»Wir müssen jetzt ein paar Treppen hoch und es ist eng, nur damit du vorbereitet bist.«

Sie nickte und folgte ihm.

Als sie im obersten Stockwerk ankamen, zeigte Henry mit dem Lichtkegel in einen der Räume. Fredrika blickte sich missmutig um. Das Haus sah aus, als könnte es jeden Moment einstürzen. Auf dem Boden lagen Teile der zerbröckelten Decke, und ein heruntergefallener Balken hatte eine halbe Wand eingerissen. Was hatten Jugendliche hier zu suchen? Es war reines Glück, dass niemand verletzt worden war.

Der Lichtkegel hob sich vom Boden und bewegte sich flackernd durch den Raum, bis er auf der kaputten Wand landete. Vorsichtig trat Fredrika vor und betrachtete das, was dort versteckt war. Das Plastik war staubig, in den Falten hingen Schmutzstreifen und das Paket war in sich zusammengesunken, aber es bestand kein Zweifel, dass sich etwas darin befand, das an einen menschlichen Körper erinnerte.

»Kannst du was sehen?«, fragte Henry.

»Es ist viel zu dunkel.«

»Man kann vermutlich davon ausgehen, dass das hier einer der verschwundenen Patienten ist.«

»Wer auch immer es ist, die Person ist wohl kaum versehentlich dort gelandet.«

Fredrika wischte sich die Hände an der Jeans ab. Ihr Blick fiel auf eine Kanüle, die halb versteckt unter einer alten Bettpfanne lag. Sie erschauderte.

»Ich bin fertig. Lass uns gehen.«

»Keine Sekunde zu früh«, antwortete Henry mit zusammengebissenen Zähnen.

 

Auf der anderen Seite des Hauses, unter einer der Straßenlaternen, die zum Park gehörten, standen ein Junge und ein Mädchen um die sechzehn, jeder mit einem Erwachsenen. Alle vier wirkten nervös. Sie schielten unruhig zu den uniformierten Polizisten hinüber und fummelten an ihren Handys herum, richteten sich jedoch auf, als Henry und Fredrika sich näherten.

»Jakob und Emilia«, sagte Henry, »das ist meine Kollegin Fredrika Storm.«

Die Frau, die vermutlich Emilias Mutter war, grüßte nur mit einem Kopfnicken, doch der Mann streckte Fredrika die Hand hin.

»Carl Rudberg. Ich bin der Vater von Jakob.« Er gab ihr einen festen Handschlag. »Es tut uns wirklich leid, was passiert ist. Ich weiß nicht, wie oft ich Jakob gesagt habt, dass er nicht auf dem alten Krankenhausgelände herumrennen darf.«

Jakob senkte den Kopf, und sein blauschwarzer Haarschopf fiel ihm ins Gesicht.

»Wart ihr schon früher einmal im Haus?«, wollte Fredrika wissen.

»Ich nicht«, antwortete Emilia und warf Jakob einen verstohlenen Blick zu.

»Ein paarmal«, flüsterte er.

»Wir wohnen da drüben«, ergänzte Carl und zeigte auf ein nahe gelegenes Wohngebiet.

Fredrika hob den Kopf und bemerkte einen Mann in grünem Parka, der etwa zwanzig Meter entfernt halb hinter einem Baum versteckt stand. Vermutlich machte er gerade einen Abendspaziergang.

»Bist du im Haus mal jemand anderem begegnet?«, fragte sie.

»Nein.« Jakob schüttelte den Kopf.

»Und du hast …«, Fredrika suchte nach einem neutralen Ausdruck, »… das, was in der Wand war, vorher noch nie gesehen?«

»Als ich zuletzt hier war, war die Wand noch ganz. Was haben wir da eigentlich gefunden?«

Eine besorgte Falte erschien auf Carls Stirn. »Das geht dich nichts an.«

»Es sah nämlich aus wie ein toter Mensch«, fuhr Jakob fort.

»Stopp!«, fuhr sein Vater dazwischen und griff nach seinem Arm. »Hör jetzt auf.«

»Was denn, ich darf doch wohl fragen.«

»Nein, darfst du nicht.«

Jakob riss sich los. »Du bestimmst nicht über mich«, zischte er und stampfte davon.

»Komm zurück, wir sind noch nicht fertig!«, rief Carl ihm nach, bevor er sich resigniert an Henry wandte. »Ich bitte um Entschuldigung. Teenager.« Er verdrehte die Augen. »Ist es in Ordnung, wenn wir jetzt Schluss machen?«

»Natürlich. Wir haben Ihre Kontaktdaten, wir melden uns, wenn etwas ist.«

»Danke«, sagte Carl und lief seinem Sohn nach.

Fredrika blickte wieder zu dem Baum hinüber und sah, dass der Mann im Parka immer noch dastand. Er war halb abgewandt, doch trotzdem hatte sie das Gefühl, dass er versuchte, ihr Gespräch zu belauschen. Wenn er nur spazieren ging, dann war es seltsam, dass er einfach so stehen blieb. Andererseits war es nicht ungewöhnlich, dass die Leute neugierig wurden, wenn die Polizei auftauchte, und aus dieser Entfernung konnte er unmöglich hören, worüber sie sprachen.

Emilias Mutter legte einen Arm um ihre Tochter. »Dann gehen wir jetzt auch, wenn das okay ist?«

Die Tochter nickte, machte aber keine Anstalten, sich zu bewegen. Es war offensichtlich, dass sie noch etwas zu sagen hatte. »Ist sie es?«

»Wer denn?«, fragte Fredrika.

»Ja, also, die gestorben ist. Es gibt total viele, die sagen, sie hätten sie im Haus gesehen«, fuhr Emilia fort, ohne ihren Eifer verbergen zu können. »Ich meine, ihren Geist oder so was.«

Henry räusperte sich. »Sie können gehen. Und es wäre schön, wenn Sie niemandem erzählen würden, was Sie gesehen haben.«

»Natürlich. Nicht wahr, Emilia?« Die Mutter stieß ihre Tochter an, die widerwillig lächelte.

»Glaubst du das?«, wollte Fredrika wissen, sobald die beiden außer Hörweite waren.

»Dass es spukt?«

»Dass sie nichts erzählen werden.«

»Weiß nicht.« Henry blickte auf seine Armbanduhr. »Aber mit ein wenig Glück haben wir wenigstens noch ein paar Tage, bevor die PE-Gruppe loslegt.«

»Die PE-Gruppe?«

»Ja. Hast du in Stockholm nie davon gehört?«

Fredrika schüttelte den Kopf.

»Privatermittler. Eine Freiwilligenorganisation, die versucht, Kriminalfälle zu lösen.«

»Aha. Und, sind sie gut?«

»Nicht wirklich. Die meisten sind Eigenbrötler, die zu Hause sitzen und völlig wirklichkeitsferne Theorien austüfteln, aber ein paarmal haben sie es tatsächlich geschafft, entscheidende Spuren zu finden. Und es gibt eine lokale Fraktion, die sich auf Tommys und Marie-Louises Verschwinden spezialisiert hat. Sie waren zuletzt vor ein paar Jahren aktiv. Ich habe sie in einem Fernsehinterview gesehen, als Marie-Louises Schwester Greta eine aktualisierte Version ihres Buches herausgebracht hat.«

»Über das Verschwinden?«

»Ja. Sie hat eine neue Theorie lanciert, dass die Polizei und das Krankenhaus unter einer Decke stecken und vertuschen, was eigentlich passiert ist. Die halbe PE-Gruppe war sofort auf ihrer Seite.«

»Echt jetzt?«

»Hm.«

Fredrika blickte zum Baum hinüber, doch der Mann im Parka war verschwunden. Sie suchte das Waldstück mit den Augen ab, konnte aber in der Dunkelheit nichts entdecken.

Die Streifenpolizisten waren damit beschäftigt, das Gebiet abzusperren, und Henry hob die Hand, um die Techniker zu grüßen, die gerade unten an der Straße geparkt hatten.

Fredrika dachte an den Teller Pasta, den sie vorhin noch vor sich gehabt hatte, und spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Sie hatte sich geschämt, weil sie Jonas allein im Restaurant zurücklassen musste, hatte sich Sorgen gemacht, dass er sauer sein würde, weil sie sich so abrupt verabschiedet hatte. Aber was hatte sie für eine Wahl gehabt?

Für einen Moment wünschte Fredrika, Jonas wäre zum selben Einsatz gerufen worden, sodass er ihr nicht die Schuld an dem misslungenen Abendessen geben konnte. Andererseits war es ihr lieber, nicht mit ihm zusammenzuarbeiten. Sie wusste aus Erfahrung, dass es chaotisch werden konnte, wenn man Arbeit und Privatleben vermischte.

Sinatra kam mit zwei schweren Taschen auf sie zu. Er sollte die kriminaltechnische Arbeit leiten. Fredrika hatte ihn bisher nur einmal getroffen, aber er hatte einen sympathischen Eindruck gemacht.

»Guten Abend«, sagte er mit seiner tiefen Stimme und fuhr sich über das dunkle Haar. »Wo habt ihr uns denn da hingeschleift?«

»Sie haben eine Leiche gefunden«, antwortete Henry. »Da drin.«

Sinatra verzog verdrießlich das Gesicht.

»Es ist also ein verlassenes Gebäude«, stellte er fest. »Ohne Heizung und Strom, nehme ich an.«

»Ja, und es ist voller Gerümpel.«

»Das klingt nach einem langen Abend. Ihr habt nicht zufällig Lust, hierzubleiben und uns Gesellschaft zu leisten.«

»Ich glaube nicht«, lachte Henry. »Ich brauche meinen Schönheitsschlaf und Storm hat ein Date, das auf sie wartet.«

»Eine Kriminalerin mit Privatleben. Gratuliere«, sagte Sinatra amüsiert und schenkte Fredrika ein freundliches Lächeln, das sie nicht erwiderte, weil sie damit beschäftigt war, Henry wütend anzustarren.

»Aber viel Glück!«, fuhr Henry fort.

»Danke. Wir sehen uns im nächsten Leben.«

Sinatra und sein Team verschwanden den Hügel hinauf. Der Abend war bereits so kühl, dass die Luft, die sie ausatmeten, zu kleinen Wolken wurde. Fredrika knöpfte ihre Jacke vollends zu.

»Warum wird er eigentlich Sinatra genannt?«

»Weißt du das nicht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Lass es mich so ausdrücken«, erwiderte Henry grinsend. »Er hat noch mehr Talente als Kriminaltechnik. Warte nur bis zur nächsten Personalfeier, dann wirst du schon sehen.«

Sein Handy gab ein Signal von sich, und er holte es aus der Manteltasche.

»Das ist Kent. Er schreibt, wir sollen nach Hause fahren und morgen früh zur Besprechung erscheinen.«

»Klingt gut, auch wenn hier eine Menge Arbeit auf uns wartet.«

»Ja«, sagte Henry. »Wer auch immer das in der Wand ist, es wird ein ziemliches Gewese geben, wenn die Sache an die Öffentlichkeit kommt.«

3

Mittwoch, 11. März

Das schrille Klingeln des Weckers riss Fredrika aus dem Schlaf. Sie hatte die halbe Nacht dagesessen und die PE-Gruppe und die verschwundenen Patienten aus dem Sankt-Lars-Krankenhaus gegoogelt und war danach nicht mehr zur Ruhe gekommen. Um drei hatte sie den Wecker neu gestellt, um ihre Schlafzeit zu maximieren, und jetzt war Eile geboten. Das Meeting begann in zwanzig Minuten.

Schlaftrunken stand Fredrika auf, schlüpfte in die Jeans, die auf dem Boden lag, rollte sich schnell Deo in die Achseln, steckte die Nase in ein Hemd, das an einem Stuhl hing und glücklicherweise eher nach Parfüm roch als nach Schweiß, und zog es an.

Auf dem Weg ins Badezimmer schaltete sie die Kaffeemaschine ein und fuhr sich dann mit einem Waschlappen übers Gesicht, den sie mit warmem Wasser angefeuchtet hatte.

Die Geschehnisse des gestrigen Tages wollten sie nicht loslassen. Ihr ging das traurige Gesicht nicht aus dem Kopf, das sie unter der Plastikfolie gesehen zu haben meinte, und sie war froh, dass Jonas nicht zu ihr gekommen war, wie er zunächst vorgeschlagen hatte. Er mochte es, auch unter der Woche gemeinsam zu übernachten, aber Fredrika brauchte Zeit für sich. Besonders, wenn sie mit wichtigen Ermittlungen beschäftigt war.

Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und begann mit der Suche nach ihren Schlüsseln. Durchforstete schnell das spärlich möblierte Wohnzimmer und stellte fest, dass sie dort nicht waren. Jonas zog sie immer wieder damit auf, dass ihre Wohnung noch nicht fertig eingerichtet war. Er fand, es fehlten Möbel, aber Fredrika hatte es gern geräumig und ein wenig improvisiert. Sie wollte nicht, dass ihr Zuhause vollgestopft war. Wenn nötig, könnte sie ihre Habseligkeiten auf einen Anhänger packen und innerhalb weniger Stunden woandershin aufbrechen, und diese Freiheit erfüllte sie mit Ruhe.

Fredrika trank den letzten Schluck aus der Kaffeetasse, fand die Schlüssel unter der Bank im Flur, warf sich die Jacke über und verließ die Wohnung. Die Morgenluft war kühl, aber die Sonne schien. Sie blinzelte ins Sonnenlicht und ging zur Stora Södergatan, der Hauptstraße von Lund, die wie eine pulsierende Vene durch den mittelalterlichen Stadtkern führte. Dort drängten sich Busse, Radfahrer und Fußgänger im Berufsverkehr, und sie lief zwischen ihnen hindurch in Richtung Polizeistation.

 

Das Erste, was sie beim Betreten des Gebäudes bemerkte, war Greta Sparre. Fredrika hatte nachts noch etliche Zeitungsartikel gelesen und erkannte die Frau wieder. Mit einem silbergrauen Pelz über den Schultern sah sie aus, als wartete sie in einem besseren Restaurant auf einen Tisch.

Fredrika warf dem uniformierten Polizisten hinter dem Tresen einen Blick zu, der mit einem kaum merklichen Nicken antwortete, allerdings nicht diskret genug, wie sich zeigte, denn die Besucherin reagierte sofort.

»Sind Sie zuständig für den Sankt-Lars-Fall?«, fragte sie herausfordernd und legte eine Hand auf ihre Brust. »Greta Sparre. Sie haben sicher von meiner Schwester Marie-Louise gehört. Sie wurde 1987 in diesem Krankenhaus ermordet, und ich weiß, dass Sie gestern Abend dort etwas gefunden haben.«

Fredrika schwankte und trat einen Schritt zurück. Was sollte sie antworten? Sie hatten noch nicht einmal über den Fall sprechen können.

»Leider sind wir mit den Ermittlungen noch nicht so weit.«

»Ich muss nur wissen, ob es meine Schwester ist.«

»Es tut mir leid, aber momentan kann ich nichts dazu sagen.«

»Was meinen Sie damit?« Greta schüttelte den Kopf. »Sie müssen den Fund doch wohl identifizieren können?«

Henry erschien in einem marineblauen Dreiteiler und mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht. In den Händen hielt er zwei Pappbecher von Love Coffee. Fredrika musste den Impuls zurückhalten, sich darauf zu stürzen.

»Mein Kollege, Henry Calment. Das ist Greta Sparre«, sagte sie erleichtert, als Greta sich Henry zuwandte.

»Guten Morgen. Ich möchte nur bestätigt bekommen, dass es meine Schwester ist, die Sie in Sankt Lars gefunden haben.«

Henry wirkte perplex. Sie hatten noch keine Informationen dazu herausgegeben, dass in dem verlassenen Krankenhausgebäude eine Leiche zum Vorschein gekommen war, aber Greta hatte offenbar gute Kontakte.

»Der Fund, den wir gemacht haben, ist in der Rechtsmedizin.«

»Aber es sind die Überreste eines Menschen, oder?«

Auf Henrys Stirn erschien eine tiefe Falte.

»Ja, aber sie sind leider noch nicht identifiziert.«

Greta atmete lange aus, und in ihrem bemerkenswert glatten Gesicht veränderte sich etwas.

»Bitte«, sagte sie. »Ich muss es wissen.«

Henry reichte Fredrika den Kaffee und legte vorsichtig eine Hand auf Gretas Schulter.

»Wir verstehen, dass es dringlich für Sie ist.«

»Dringlich? Wir haben über dreißig Jahre gewartet. Irgendetwas müssen Sie doch wohl sagen können!«

»Ich verspreche, dass wir uns bei Ihnen melden, sobald wir mehr wissen«, antwortete Henry ruhig.

Greta blickte auf den dunklen Steinboden und schien sich zu sammeln.

»Ich hoffe, Sie nehmen die Sache dieses Mal ernster«, erwiderte sie mit deutlich härterer Stimme. »Tommy Svensson war ein Monster, und meine Familie hat nie irgendeine Wiedergutmachung erfahren. Das ist ein Skandal, offen gesagt.«

Sie blickte die beiden wütend an, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und ihrer Wege ging.

Fredrika sah sie die Außentreppe hinunterlaufen und weiter über den kleinen Platz in Richtung Klosterkyrkan verschwinden.

»Wie zum Teufel hat sie so schnell davon erfahren?«

Henry nahm sein Handy.

»Die PE-Gruppe arbeitet schon auf Hochtouren«, stellte er fest.

»Wie kann das sein? Wir haben doch noch nichts an die Öffentlichkeit gegeben.«

»Das ist es ja, die PE-Gruppe hat ihre Augen überall.«

Fredrika dachte an den Mann im grünen Parka, den sie am Abend zuvor auf dem Krankenhausgelände hatte herumstreichen sehen. Konnte er der PE-Gruppe berichtet haben, was er gesehen hatte, oder war er sogar einer von ihnen? Sie überlegte, ob sie Henry von ihm erzählen sollte, beschloss aber, es bleiben zu lassen. Er sollte sie nicht für paranoid halten.

»Okay«, seufzte sie und pustete in den Edelkaffee, den Henry ihr mitgebracht hatte. »Ich nehme an, wir wissen noch nichts über die Identität?«

»Ruth Henker ist für die rechtsmedizinische Analyse zuständig, und das Institut lässt ausrichten, dass die Untersuchung vermutlich Zeit brauchen wird.«

»Glaubst du, wir können davon ausgehen, dass es einer der verschwundenen Patienten ist?«

»Das ist wohl ziemlich wahrscheinlich, leider.«

Fredrika nahm einen Schluck Kaffee und spürte, wie der aromatische Geschmack mit Noten von Vanille und gerösteten Nüssen ihren Mund erfüllte.

»Wir sollen auf jeden Fall Tommy Svenssons Familie aufsuchen, damit sie von uns erfährt, was passiert ist. Jetzt, wo die Neuigkeit offenbar schon draußen ist.«

»Du hast recht«, sagte Henry. »Wir fahren direkt nach dem Meeting hin.«

4

Kent Holmström, Chef der beiden Ermittlerteams der Kriminalpolizei in Lund, stand an der Tafel und starrte mit leerem Blick darauf. Obwohl er für sein Alter gut in Form war, hatten der Stress, die unregelmäßigen Arbeitszeiten und das ständige Fast Food Spuren hinterlassen, seine Haut war schlaff, tiefe Furchen verliefen über die Wangen.

»Hat die Rechtsmedizin wissen lassen, wann sie die Identität feststellen kann?«

Henry streckte sich auf seinem Stuhl.

»Das ist noch völlig unklar. Die Leiche war ziemlich mitgenommen.«

»Aber sie sollten doch relativ schnell herausfinden können, ob es sich um eine männliche oder eine weibliche Leiche handelt«, wandte Fredrika ein. »Sobald wir das wissen, ist es einfacher weiterzumachen.«

Helmi Mäkinen schob den kleinen Papierstapel, den sie vor sich liegen hatte, so zurecht, dass die Kanten eine perfekte glatte Linie bildeten. Wie immer hatte sie Kekse gebacken und in einer geblümten Schüssel auf den Tisch gestellt, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Sie hatte etwas Mütterliches an sich, was Fredrika sehr schätzte. Als Helmi jedoch eines Tages zu ihr gekommen war, um zu diskutieren, wie sie das Arbeitszimmer mit neuen Gardinen und Pflanzen im Fenster gemütlicher machen könnten, hatte Fredrika sich schnell entschuldigt und das Weite gesucht.

»Wie schwierig ist es, eine Leiche in einer Wand verschwinden zu lassen?«

»Schau nicht mich an«, sagte Henry und wandte sich zu Fredrika. »Nicht so schwer, würde ich meinen, vorausgesetzt, die Längsstreben waren schon da. Ein paar Rigipsplatten anbringen und tapezieren kann man theoretisch in ein paar Stunden.«

»Es hätte also eine Person allein bewerkstelligen können?«

»Ja, solange er oder sie in der Lage war, die Leiche hochzuheben.«

Kents Finger wanderten zu seinem Ohr. Seine Hände waren nie still, und wenn er zuhörte oder überlegte, schien er völlig die Kontrolle über sie zu verlieren. Es war, als müsste er an irgendetwas herumfingern oder sich kratzen, um denken zu können.

»Vermutlich war die Wand schon mehr oder weniger fertig.«

»Trotzdem schrecklich, eine Leiche auf diese Art zu verstecken«, erwiderte Helmi. »Ich frage mich, wie lange sie dort gelegen hat?«

Fredrika verschränkte die Arme auf der Brust. »Es ist wohl anzunehmen, dass es sich um Marie-Louise Sparre oder Tommy Svensson handelt.«

»Stütz dich nur nicht zu sehr darauf, bevor die Identität bestätigt ist«, warf Kent ein. »Der Fall ist sensibel, und alle Augen werden auf uns gerichtet sein, also bitte, macht alles genau nach Vorschrift.«

»Natürlich«, sagte Henry, obwohl alle im Raum wussten, dass Kents Ermahnung an Fredrika gerichtet war. Seit dem Fall in Harlösa war er ihr gegenüber eher unfreundlich. Ganz offensichtlich war er der Meinung, dass sie sich bei den Ermittlungen zu große Freiheiten genommen hatte.

»Und jedes noch so kleine Detail, das ans Licht kommt, bleibt unter uns«, fuhr Ken mit ernster Miene fort. »Wir wollen keinen Medienzirkus.«

»Apropos, die Neuigkeit ist schon draußen im Netz«, berichtete Helmi. »Die PE-Gruppe spekuliert bereits intensiv darüber, wer gefunden worden sein könnte, und es ist nur eine Frage der Zeit, bevor die Zeitungen es aufgreifen.«

Kent lehnte sich resigniert an die Wand. Er hatte etwas Abgehärtetes an sich, strahlte aber trotz seines erschöpften Äußeren auch Stolz und Würde aus.

»Wie in aller Welt konnte das passieren?«, seufzte er.

»Vermutlich hat uns gestern Abend jemand gesehen«, mutmaßte Henry. »Blaulichter ziehen oft Aufmerksamkeit auf sich, und die Absperrbänder und die Techniker vor Ort könnten bemerkt worden sein. Man muss ja kein Kernphysiker sein, um sich auszurechnen, dass wir etwas gefunden haben.«

Fredrika fingerte an den Manschetten ihres Hemdes herum, die sehr eng am Handgelenk saßen. Wieder kam ihr für einen Moment der Mann im Parka in den Sinn. Bevor sie jedoch überlegen konnte, ob sie ihn erwähnen sollte und was das bringen würde, fuhr Kent schon fort.

»Okay«, murmelte er. »Von jetzt an ist auf allem, was mit dem Fall zu tun hat, der Deckel drauf. Ich möchte nicht, dass ihr außerhalb des Polizeigebäudes auch nur ein Wort über das Sankt-Lars-Krankenhaus verliert. Und alle, mit denen ihr sprecht, müssen darüber informiert werden, dass sie der Geheimhaltungspflicht unterliegen.«

Bengt »Blitz« Runge hatte sich gerade einen von Helmis Keksen in den Mund gesteckt. »Willst du mich auch dabeihaben?«, grunzte er.

Kent nickte, und Fredrikas Miene hellte sich auf.

»Hast du 1987 schon hier gearbeitet?«

Nachdenklich wischte Blitz sich ein paar Krümel aus dem Mundwinkel, schenkte sich dann langsam eine Tasse Kaffee aus der Thermoskanne ein, ohne sich auch nur im Geringsten darum zu kümmern, dass alle dasaßen und auf seine Antwort warteten. Trotz seiner Langsamkeit war es schwer, ihn nicht zu mögen. Blitz hatte eine lange, gediegene Karriere hinter sich, und es konnte vorkommen, dass er im Pausenraum Hof hielt und den Polizeianwärtern von den größeren Fällen erzählte, an denen er mitgearbeitet hatte. Fredrika hatte ihn schon über vieles frotzeln hören, unter anderem darüber, dass er instrumentell an der Ergreifung des achtzehnjährigen Serienmörders Anders Hansson beteiligt gewesen war. Ende der Siebzigerjahre hatte Hansson elf Patienten eines Malmöer Krankenhauses mit einem ätzenden Putzmittel vergiftet. Blitz behauptete steif und fest, er habe den Täter allein niedergerungen, nachdem der Rest der Streifenpatrouille sich auf dem Krankenhausgelände verlaufen hatte.

»Ja, allerdings habe ich leider nicht am Sankt-Lars-Fall mitgearbeitet«, antwortete Blitz nach einer langen Minute, nahm unbeschwert einen weiteren Keks und ließ ihn in seinem großen Mund verschwinden. »Aber ich kann die Ermittlungsakten ausgraben, wenn ihr wollt.«

»Das klingt gut«, sagte Kent. »Helmi muss ein Auge darauf haben, was die PE-Gruppe schreibt, und nur damit ihr informiert seid, Becker und Niclas sind vorübergehend zum Team A gewechselt.«

Helmi hustete. »Du meinst wohl Team eins.«

»Ja, genau.«

»Alles klar, wir B-Polizisten kriegen das hin«, erwiderte Helmi trocken.

Kent nickte. Entweder hatte er Helmis Sarkasmus nicht bemerkt, oder er kümmerte sich nicht darum. »Gut. Dann legen wir los. Dragan hat zwei Wochen Elternzeit genommen, ihr müsst also zu viert zurechtkommen. Fredrika, kannst du noch kurz hierbleiben?«

»Klar.« Sie blickte Henry an. »Ich komme gleich.«

Als die anderen aus dem Zimmer verschwunden waren, setzte sich Kent auf die Tischkante und sah sie an.

»Ich weiß, dass du eine gute Polizistin bist, aber das, was in Harlösa passiert ist, darf nicht noch einmal passieren.«

Fredrika versuchte gelassen zu wirken, befürchtete aber, dass es ihr nicht besonders gut gelang. Es war gelinde gesagt unglücklich gewesen, dass ihr erster Fall bei der Kriminalpolizei in Lund ihren Heimatort betroffen hatte. Am liebsten hätte sie einfach alles vergessen und noch einmal von vorn angefangen. Es bestand das Risiko, dass Kent und der Rest der Chefetage ein Muster zu erkennen glaubten, zuerst die Schießerei in Hallunda und dann Harlösa.

»Es war eine Extremsituation«, antwortete sie und bemühte sich, nicht zu defensiv zu klingen. »Und es ist alles gut ausgegangen.«

»Auf dem Papier, ja.« Kent wechselte die Stellung und beugte sich vor, sein Blick wurde schärfer. »Ich weiß nicht, wie das in Stockholm so üblich ist, aber hier bauen wir unsere Arbeit auf Vertrauen auf. Wir müssen uns aufeinander verlassen können, damit es funktioniert.«

»Ich sehe nur nicht, was ich hätte anders machen können«, protestierte sie.

»Den Fall abgeben, zum Beispiel.«

Kent strich sich über den Nacken, sodass seine Fingernägel hörbar über die Haut kratzten. Das graue Haar ging langsam in Weiß über, und Fredrika fragte sich, wie viele Jahre er noch bis zur Pension hatte. Obwohl sie seine Ansichten über die Arbeitsführung nicht immer teilte, mochte sie ihn. Er war deutlich besser als viele der Chefs, die sie bei der Stockholmer Polizei gehabt hatte.

»Es war ja nicht nur dein Fehler«, seufzte Kent. »Du warst neu im Team und ich hätte dich besser beaufsichtigen sollen.«

Fredrika blickte zu Boden. Sie hatte Gerüchte gehört, dass Kent für das Geschehene zurechtgewiesen worden war, und schämte sich, dass er ihretwegen Ärger bekommen hatte. Die Wahrheit war, dass niemand wusste, wie tief Fredrikas Familie in die Geschehnisse verstrickt war, als sie zu ermitteln begannen, warum Nomi Pederson auf das Eis des Vombsjön gehetzt worden war. Dass ihr Onkel Lasse der jungen Frau hinterhergejagt war, weil er Angst hatte, diese würde seine Verwicklung in einen Mord gut zwanzig Jahre zuvor verraten. Fredrika hatte diverse Theorien über die Sache aufgestellt, sie aber größtenteils für sich behalten.

Das bereute sie sehr.

»Diesmal will ich, dass ihr mich über alles, was passiert, auf dem Laufenden haltet. Ich weiß, es ist nicht optimal, dass ich zwei Ermittlerteams leite, aber das bedeutet nicht, dass ihr mit der Berichterstattung schlampen könnt.«

»Natürlich nicht.«

»Gut«, sagte er, und seine Stimme wurde vertraulich. »Und wenn du spürst, dass es dir zu viel wird, dass die Ermittlungen Dinge wieder aufreißen, die im Winter passiert sind, oder dass du nicht richtig bereit dafür bist, musst du Bescheid sagen, dann kann ich dich an etwas anderes setzen.«

Fredrika schluckte. Das Letzte, was sie wollte, war, aus dem Team herausgenommen zu werden. Sie hatte hart gearbeitet, um zur Kriminalpolizei zu kommen, und wollte ihren Posten keinesfalls riskieren. Eine so gefragte Stelle verlor man leicht an jemand anderen. Man wurde allmählich in die Peripherie verschoben, bekam unwichtigere Aufgaben und Stunden wurden gekürzt, bis sie einen irgendwann nicht mehr benötigten. Die Arbeit war das Einzige, was Fredrika ein richtig gutes Gefühl gab. Sie brauchte einen vollen Terminplan, musste spüren, dass sie gut in ihrem Job war und etwas Sinnvolles mit ihrer Zeit anfing.

Nach der Schießerei in Hallunda ein knappes halbes Jahr zuvor hatte sie mit allen Mitteln darum gekämpft, nicht krankgeschrieben zu werden, aber der Psychologe hatte darauf bestanden. Zwei Monate lang hatte Fredrika fast die ganze Zeit zu Hause gesessen, eingesperrt in ihrer Wohnung. Sie hatte Fertiggerichte gegessen und ferngesehen und ihr war irgendwann langsam, aber sicher die Decke auf den Kopf gefallen. Als wäre das nicht Strafe genug, hatte sie sich Sorgen gemacht, wie ihre Kollegen sie ansehen würden, wenn sie zurückkam. Im Polizeiberuf ging es vor allem darum, tough zu sein, und alle wussten, was mit denen passierte, die dem Druck nicht standhielten.

Zu ihrer Zeit als Streifenpolizistin in der Stockholmer Innenstadt hatte Fredrika einen Kollegen namens Naser gehabt, der direkt von der Polizeihochschule gekommen war. Er war immer fröhlich, scherzte und lachte und hob die Stimmung im Pausenraum. In seiner vierten Dienstwoche wurde Naser zu einem Wohnungsstreit geschickt, bei dem ein Mann damit drohte, sich mit einer Schusswaffe das Leben zu nehmen. Naser versuchte ihn zu beruhigen, doch es gelang ihm nicht, und der Mann schoss sich vor seinen beiden kleinen Kindern in den Mund.

Naser war danach nicht mehr derselbe gewesen. Der gut gelaunte Junge aus Järva war still und verschlossen geworden, und allmählich bemerkte Fredrika, wie die anderen aus dem Team von ihm Abstand nahmen. Niemand wollte mehr mit Naser unterwegs sein, gerade so, als fürchteten sie, seine Angst wäre ansteckend. Und eines Tages war er einfach weg gewesen, krankgeschrieben auf unbestimmte Zeit. Fredrika hatte ihn nie wiedergesehen, und sie wollte auf keinen Fall selbst in einer derartigen Situation landen. Einmal vorübergehend vom Dienst suspendiert worden zu sein, war mehr als ausreichend.

Glücklicherweise schien Kent willens zu sein, ihr noch eine Chance zu geben.

»Ich verspreche, alles, was passiert, mitzuteilen«, sagte sie und blickte ihn entschlossen an.

Kent lächelte. »Schön. Übrigens möchte Flood auch mit dir sprechen, also schau doch bei ihr vorbei, wenn du kurz Zeit hast.«

Fredrika erstarrte. Dass die Polizeichefin mit ihr reden wollte, verhieß nichts Gutes.

»Okay«, sagte sie und eilte aus dem Raum, bevor Kent sehen konnte, wie beunruhigt sie war.

Und sie hatte geglaubt, er sei der Einzige, den sie überzeugen musste.

Offenbar hatte sie die Situation völlig falsch eingeschätzt.

5

Tommy Svenssons Familie wohnte in Igelösa, einem Ort, der nur aus einer Handvoll zwischen den Feldern verstreuter Häuser zu bestehen schien. Wenn Henry schon Harlösa als klaustrophobisch empfand, fragte sich Fredrika, was er wohl über dieses kleine Dorf dachte. Hier konnte man wahrscheinlich nicht einmal niesen, ohne dass jeder es mitbekam.

»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte sie, als er sie bat anzuhalten.

»Ja«, antwortete Henry, warf aber zur Sicherheit noch einen Blick auf die Karte im Handy. Das Haus, vor dem sie standen, sah alt und verwittert aus und schien sich zur Wiese hin zu neigen. Die sandfarbenen Mauern waren schmutzig, und im Garten hatten Gras und Büsche die Herrschaft übernommen. Neben dem Gebäude gab es einen Schuppen, der aussah, als würde er beim nächsten Windstoß zusammenfallen, und an der Tür stand eine rostige Tonne voller Regenwasser neben mehreren Säcken Schrott und einer Kiste mit Holzresten.

Fredrika schauderte. Heute früh hatte die Sonne vom klaren blauen Himmel geschienen, und sie hatte ihre Übergangsjacke angezogen, doch jetzt zogen dunkle Wolken am Horizont auf. Sie warf einen neidischen Blick auf Henrys dicken Wollmantel.

Im Garten des Hauses gegenüber hüpften zwei Kinder mit flachsblondem Haar auf einem riesigen Trampolin. Fredrika lächelte über ihre Begeisterung. Ihr Blick schweifte über die offenen Felder, und trotz der heruntergekommenen Umgebung spürte sie ein Ziehen in der Magengrube. Sie hatte es geliebt, auf dem Land aufzuwachsen und sich mit um den Hof in Harlösa zu kümmern. Erst jetzt im Nachhinein begriff sie, wie viel es ihr bedeutet hatte, schon als Kind ernst genommen und mit Verantwortung betraut worden zu sein.

Sie sah sich am frühen Morgen in der Küche ihrer Großmutter, an den Tagen, an denen sie und ihre Cousins keine Schule gehabt hatten. Wie sie Haferbrei mit selbst gemachter Himbeermarmelade bekommen hatten, bevor die Familie hinausging, um gemeinsam die anstehenden Aufgaben zu erledigen. Die Arbeit ließ die Muskeln schmerzen, aber sie schuf auch ein Gefühl der Zugehörigkeit. Es war bestimmt nicht erlaubt, dass Kinder so viel arbeiteten, aber Fredrika war nie glücklicher gewesen als damals. Es tat ihr gut, etwas zu tun, das sichtbare Resultate zeigte. Zur Mittagessenszeit kam die Großmutter mit Kaffee und Saft und einem Korb mit in Papier gewickelten Sandwiches heraus. Dicke Brotscheiben mit viel Butter und Käse. Und abends versammelten sie sich um den Tisch in Großmutters Küche und aßen lachend und plaudernd gemeinsam zu Abend.

Fredrikas Magen krampfte sich zusammen. Nach allem, was im Winter passiert war, würde die Familie Storm nie mehr dieselbe sein. Ihretwegen saß Onkel Lasse im Gefängnis, und der Zusammenhalt in der Familie war für immer verloren.

Henry ging die Treppe zur Eingangstür hinauf und klopfte an die Tür. Sie wurden von einer Frau mit kurzem, rot gefärbtem Haar und freundlichen Augen eingelassen, die sich als Ewa vorstellte. Es war Tommy Svenssons jüngere Schwester, mit der Fredrika kurz zuvor telefoniert hatte.

Wenn das Haus von außen mitgenommen aussah, war das noch gar nichts gegen den Eindruck, den es im Innern machte. Auf dem Boden lag ein grün karierter Kunststoffteppich, der an den Ecken eingerissen war, die schmutzig gelben Tapeten lösten sich von den Wänden, und aus der Küche drang ein ranziger Geruch. Ewa schien ihre Reaktion zu bemerken und warf ihnen einen verlegenen Blick zu.

»Papa weigert sich umzuziehen«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich selbst wohne in Eslöv und habe versucht, ihn dort in einem Heim unterzubringen, aber er will nicht. Und er verweigert jegliche Hilfe. ›Selbst ist der Mann‹ und all dieser Quatsch.«

»Wie lange wohnt er schon hier?«, fragte Fredrika.

»Seit Anfang der Sechzigerjahre. Ehrlich gesagt glaube ich, er hofft immer noch, dass Tommy zurückkommt. Papa sperrt nie ab, und die ersten Jahre haben Mama und er abends Essen rausgestellt. Kleine Päckchen mit eingewickelten Broten, falls Tommy auftauchen und sich nicht reintrauen sollte.«

Sie gingen an einer Küche mit verblichenen blauen Schränken, braun gemusterten Kacheln und dem gleichen grünen Plastikboden vorbei und betraten das spärlich möblierte Wohnzimmer. Um einen blauen Webteppich herum standen ein abgewetztes Sofa und drei Sprossenstühle aus Kiefernholz mit grünen Sitzkissen. Auf der anderen Seite des Zimmers hatten Möbel, die nicht mehr da waren, helle Flecken auf dem Boden hinterlassen.

»Ich hole Papa. Wollen Sie Kaffee?«

»Alles gut, danke«, antwortete Henry.

Ewa verschwand, und Henry deutete in eine Ecke, in der die Feuchtigkeit eingedrungen war und dunkle Spuren an der Tapete hinterlassen hatte.

»Ich kann nicht begreifen, dass jemand so wohnen will.«

»Geht mir genauso«, stimmte Fredrika zu. »Aber was soll sie machen, wenn er sich weigert auszuziehen?«

Ihr Blick blieb an einem großen Schwarz-Weiß-Foto hängen, ein Familienfoto, das offenbar in dem Zimmer gemacht worden war, in dem sie sich gerade befanden. Die beiden Kinder saßen auf dem Schoß der Erwachsenen, und alle vier lächelten in die Kamera.

»Aber irgendwie verstehe ich ihn auch«, fuhr sie fort. »Er hat den größten Teil seines Lebens hier gewohnt, und es gibt sicher viel, das ihn hält. Nicht zuletzt die Erinnerungen.«

Ewa tauchte wieder auf, Arm in Arm mit dem Mann, der auf dem Foto zu sehen war. Er hatte ein markantes Aussehen mit länglichem Gesicht und tief sitzendem Mund. Seine Schritte waren schleppend, und er setzte sich mühsam.

»Hallo, Yngve. Mein Name ist Fredrika Storm, und das ist mein Kollege Henry Calment. Wir kommen von der Kriminalpolizei in Lund und wollen gern mit Ihnen sprechen.«

»Aha«, sagte er mit rauer Stimme und nahm die Hand seiner Tochter, als sie sich neben ihn setzte.

»Gestern ist in Sankt Lars eine Leiche gefunden wurden«, erklärte Henry.

Yngve blickte sie an, die Augen wachsam unter der schweren Stirn, und Fredrika fiel auf, dass seine Haut an zerknittertes Papier erinnerte. Die gleiche Art von Haut, wie ihr Vater sie nach Jahrzehnten der Arbeit draußen auf den Feldern hatte.

»Was bedeutet das?«

»Das wissen wir noch nicht, aber wir wollten Sie trotzdem informieren.«

»Wo in Sankt Lars?«

»Die Leiche lag in Abteilung C versteckt.«

Yngve holte tief Luft, dann schien er in sich zusammenzusinken, seine Augen wurden feucht.

»Dann ist es also das Mädchen«, erwiderte er traurig. »War es Tommy, der …« Er stockte und wandte das Gesicht ab. Ewa strich ihm über die Hand.

»Schon gut, Papa. Du weißt, was wir immer sagen: Alles ist besser, als es nicht zu wissen.«

Yngve atmete schwer und hob den Blick. »Ihr müsst wissen, dass wir mit dem Jungen unser Bestes gegeben haben«, sagte er. »Wir haben es wirklich versucht. Es ist nicht leicht, sich einzugestehen, dass das eigene Kind anders ist als alle anderen, nie das Leben führen wird, das man sich erhofft hatte. Wir haben es schon kurz nach der Geburt gemerkt.«

Er führte die Hand zum Gesicht und rieb sich die Augen.

»Willst du eine Pause machen?«, fragte ihn Ewa, doch er schüttelte nur den Kopf.

»Ich habe so lange geglaubt, dass Tommy irgendwann einen Beruf erlernen und sich selbst versorgen kann, dass sich noch alles zum Guten wendet. Ich hielt es für das Wichtigste, dass er keine Bürde für die Gesellschaft wird. Und er war tüchtig mit den Händen, konnte Dinge bauen und sich um Tiere kümmern. Aber dann, als Ewa von zu Hause auszog, da verzweifelte er und wollte wissen, warum er nicht auch ausziehen konnte. Er wollte eine eigene Wohnung haben und träumte davon, eine Familie zu gründen, ein Mädchen zu finden, das ihn heiraten wollte. Es beunruhigte mich ein bisschen, dass er in diesen Bahnen dachte. Ich wusste ja, dass er nicht gut mit anderen Menschen konnte. Dass er nicht verstand, wie man sich verhalten sollte. Ich habe versucht, es ihm beizubringen, aber es war schwer.«

»War er jemals gewalttätig?«, fragte Fredrika.

Yngve seufzte und die zitternde Unterlippe ließ eine unregelmäßige gelbliche Zahnreihe sehen.

»Einmal ist er in eine Schlägerei geraten. Ein paar Jungen aus der Nachbarschaft haben ihn immer geärgert, Schimpfworte gerufen und Steine geworfen. Sie nannten ihn einen Idioten. Er hat einen von ihnen erwischt und ihm einen Faustschlag ins Gesicht verpasst. Das war das erste und einzige Mal, dass er jemanden verletzt hat, aber ich bekam Angst, dass es wieder passieren würde. Dann kamen die Polizei und dieser Arzt und sagten, es wäre am besten für Tommy, wenn er in einer speziellen Einrichtung untergebracht wird und dass es da ein Krankenhaus gibt, wo man ihm helfen konnte, also beschlossen Ulla und ich, es zu versuchen. Aber er fühlte sich nie wohl dort.«

»Warum ist er gerade in Sankt Lars gelandet?«

»Sie sagten, Tommy hätte schizophrene Züge, aber ich weiß nicht. Es ging ihm gut, solange er hier auf dem Hof war.«

Yngve setzte an aufzustehen, doch Ewa hinderte ihn daran.

»Was möchtest du? Ich kann es dir holen.«

»Das Kästchen«, sagte er. »Es liegt in der Kommode im Schlafzimmer.«

Ewa ging hinaus und kam mit einer abgewetzten grünen Blechdose zurück, die sie ihrem Vater reichte. Auf dem Deckel rankte sich eine Blume.

»Sehen Sie.« Er nahm einen Stapel Postkarten heraus. »Die hat er alle geschrieben und gebeten, nach Hause kommen zu dürfen. Tommy glaubte, wir hätten ihn ins Krankenhaus geschickt, um ihn zu bestrafen, er sah es als eine Art Gefängnis. Ulla hat es nicht ertragen, ihn dort zu sehen, seine Tränen, jedes Mal, wenn wir wieder fuhren, aber ich habe ihn jeden zweiten Sonntag besucht. Habe ihm Saft und Hefegebäck mitgebracht, weil er das Krankenhausessen nicht mochte. Er ist an diesem Ort schrecklich abgemagert, zum Schluss war er nur noch Haut und Knochen.«

Es wurde still im Raum, und Fredrika wand sich. Es tat weh, zu hören, wie schlecht es Tommy in Sankt Lars gegangen war, dass man sich nicht so um ihn gekümmert hatte, wie es hätte sein sollen, und Fredrika dachte an ihre Mutter Annika, die man auch in eine Klinik eingewiesen hatte, aus der sie dann verschwunden war. Wenn es etwas gab, das Fredrika wusste, dann wie furchtbar es sich anfühlte, einen geliebten Menschen zu verlieren, ohne die geringste Ahnung zu haben, was passiert war. Die Ungewissheit war schrecklich und quälend.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Wir werden uns selbstverständlich wieder melden, sobald wir mehr wissen.«

Yngve nickte und legte seine breite Hand auf die Postkarten. »Er hat die Zimtschnecken seiner Mutter geliebt, den Hagelzucker hat er immer abgeknibbelt und zuerst gegessen.« Er lächelte schwach. »Tommy war kein schlechter Mensch, er hat nur die Dinge nicht so verstanden wie wir. Der Arzt hat gesagt, er würde im Kopf immer wie ein Siebenjähriger bleiben und nie über dieses Alter hinauskommen. Aber er war nicht böse.«

Er strich mit den Fingern über die Karten mit den krakeligen Buchstaben, die aussahen wie die eines Kindes, und Fredrika registrierte die verfärbten Fingernägel mit den Trauerrändern. Schmutz, der so tief eingedrungen war, dass man ihn nicht entfernen konnte.

Es fühlte sich schlimm an, zu hören, wie Yngve sich für seinen Sohn entschuldigte. Er hatte genau wie Greta Sparre ein Familienmitglied verloren und dasselbe Recht zu trauern.

Als das Gespräch vorbei war, begleitete Ewa sie in den Flur hinaus.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie. »Das wissen wir wirklich zu schätzen.«

»Wir melden uns, wie gesagt, sobald wir können.«

»Das ist gut. Werden Sie das, was passiert ist, öffentlich machen?«

»Geplant ist es nicht«, antwortete Henry, »aber leider scheint es, als hätte die Nachricht bereits den Weg nach draußen gefunden.«

Ein Hauch von Bekümmertheit legte sich auf Ewas Gesicht. »Die PE-Gruppe«, seufzte sie müde.

»Kennen Sie sie?«

»Ja. In den Monaten nach dem Verschwinden haben sie mehrmals hier angeklopft. Sie wollten meine Eltern interviewen, sie dazu bringen, mehr über Tommy zu erzählen. Ein paar von ihnen sind sogar bei uns eingebrochen, weil sie die fixe Idee hatten, dass mein Bruder sich im Haus versteckt hielt. Meine Eltern waren zum Glück nicht zu Hause, aber es war trotzdem sehr unangenehm. Die PE-Gruppe hat nicht aufgegeben. Diese Leute sind mehrere Wochen am Stück jeden Tag aufgetaucht und haben meine Mutter gefilmt, wenn sie das Haus verließ, um die Post zu holen oder zum Einkaufen zu fahren. Dann war ein paar Jahre lang Ruhe, bis Anfang der Neunzigerjahre außerhalb von Malmö eine Leiche gefunden wurde. Offenbar hatte die Polizei den Verdacht, es könnte Marie-Louise sein, und das hat die Spekulationen wieder angeheizt. Das war zu viel für meine Mutter, sie bekam Herzprobleme und ist im Jahr darauf gestorben.

»Das tut mir leid«, antwortete Fredrika.

»Ehrlich gesagt glaube ich, sie hat die Schande nicht ertragen. Niemand, der es nicht erlebt hat, begreift, wie sich das anfühlt, wenn die Blicke der Leute sich verändern. Plötzlich waren wir mit einem Mörder verwandt, aber wir waren ja genauso verzweifelt über das, was geschehen war, wie alle anderen. Tommy war auch verschwunden, und wir wussten nicht mehr darüber als jeder andere. Trotzdem war es, als würden wir verantwortlich gemacht.«

Ewa kniff die Augen zusammen.

»Entschuldigen Sie. Es sitzt noch immer so tief.«

Fredrika blickte sie mitfühlend an. »Was haben Sie damals vom Krankenhaus über das Verschwinden erfahren?«

»Nicht viel. Sie haben nur erzählt, dass Tommy weggelaufen ist.«

»Haben sie gesagt, ob an diesem Tag etwas Besonderes passiert ist?«

»Nein, wir haben überhaupt kaum Informationen bekommen oder eine Entschuldigung, wenn wir schon dabei sind. Es klang immer so, als wäre alles, was Tommy getan hat, unsere Schuld.«

»Haben Sie irgendwelche eigenen Gedanken, was passiert sein könnte?«, fragte Fredrika.

»Ich hatte meinen Bruder die Woche davor besucht und ihm von meiner neuen Wohnung in Malmö erzählt«, seufzte Eva. »Ich hatte sogar ein Foto dabei, das ich ihm gezeigt habe, und er hat gefragt, ob er nicht zusammen mit mir dort einziehen könnte. Ich habe mich schrecklich gefühlt, als ich Nein gesagt habe, ich habe ja gemerkt, dass er sich im Sankt Lars nicht wohlfühlte, aber ich war gerade einundzwanzig geworden und glaubte nicht, dass ich es schaffen würde, mich um ihn zu kümmern. Heute bereue ich es. Hätte ich ihn zu mir genommen, wäre vielleicht nichts von alldem passiert.«

Fredrika zögerte. Sie hatte auf der Diskussionsseite der PE-Gruppe inzwischen eine ganze Menge über Tommy gelesen, grauenvolle Ausführungen, was mit ihm passieren sollte, wenn er gefunden würde. Obwohl der Vorfall lange zurücklag, ließ das Ereignis die Gefühle immer noch hochkochen. Todesdrohungen mischten sich mit Wünschen, dass Tommy in einem Straßengraben verrotten sollte. Die Leute schienen gern schreckliche Dinge zu schreiben, und es war ein schmerzhafter Gedanke, dass Tommys Familie die Kommentare ebenfalls sehen konnte.

»Glauben Sie, er war fähig zu dem, was ihm vorgeworfen wird?«

Ewas Wangen wurden aschfahl. Sie nestelte an ihrem silbernen Ohrring herum, und eine bläuliche Tätowierung wurde am Oberarm sichtbar. Sie stellte eine Taube dar, deren Schwanzfedern ein verschnörkeltes T formten.

»Ich weiß, was sie sagen, aber Tommy war der liebste Mensch, den ich je getroffen habe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jemandem etwas zuleide getan hätte.«

6

Auf der Rückfahrt bekam Henry eine neue Nachricht von Helmi.

»Greta Sparre hat sich schon zweimal gemeldet und um ein Update gebeten«, las er Fredrika vor. »Wir sollten vielleicht auch zu ihr fahren und ihr die Chance geben, ihre Version der Geschehnisse zu erzählen.«

»Hat sie das nicht schon getan?«, murrte Fredrika. »Aber ja, klar. Warum nicht.«

Eine gute Viertelstunde später bogen sie in eine Allee aus knorrigen Weiden ein, die zu einem großen weiß verputzten Steinhaus führte. Gut Fjelie stand auf einem Schild aus schwarzem Schmiedeeisen.

Eine Frau in einem gepflegten dunkelgrauen Kleid öffnete eine der beiden Türflügel.

»Wir möchten zu Greta Sparre«, sagte Fredrika unsicher.

Die Frau ließ sie in eine große Vorhalle ein.

»Einen Moment.« Sie verschwand durch eine Tür.

Fredrika sah sich um. In der Mitte des Raumes stand ein runder Tisch mit einer stattlichen Keramikvase voller rosafarbener Blumen, die einen intensiven Duft verströmten, und dahinter lag eine gewundene Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte.

»Ich glaube nicht, dass du das machen musst«, sagte Henry zu ihr, als sie Anstalten machte, sich die Schuhe auszuziehen.

»Nein, das ist schon klar. Ich wollte mich nur kratzen«, antwortete Fredrika defensiv. Sie fühlte sich in dieser Art von Umgebung immer fehl am Platz, hasste es, nicht hineinzupassen. Dort, wo sie herkam, war es höflich, sich die Schuhe auszuziehen, wenn man zu jemandem nach Hause kam, aber wenn man eine Haushälterin hatte, die mehrmals am Tag putzte, war das natürlich nicht nötig.

Die Frau erschien wieder, und Fredrika bemerkte, dass auch sie Schuhe trug.

»Greta kann Sie jetzt empfangen«, erklärte sie und bedeutete ihnen mitzukommen.

Sie gingen durch ein großes Esszimmer mit einem riesigen Tisch und Ölgemälden in schweren Goldrahmen an den Wänden. In einer der Ecken stand ein mit glänzend weißen Keramikplatten verkleideter Kachelofen, und an der Decke funkelte ein kristallener Kronleuchter. Im nächsten Raum gab es den gleichen Kachelofen, doch dieser war mit hellblauen Blumen dekoriert, die sehr gut zu den weichen Pastellfarben des Zimmers passten.

Greta Sparre saß in einem Sessel neben einer älteren Frau, und obwohl vermutlich dreißig Jahre zwischen ihnen lagen, sahen sie sich sehr ähnlich. Das gleiche platinblonde Haar, der gleiche eiskalte Blick und die gleichen teuren Kleider, dachte Fredrika und strich mit der Hand über ihr ausgewaschenes Hemd von H&M.

»Endlich!«, rief Greta und stand auf. »Wir haben auf Sie gewartet.«

Sie streckte ihnen die Hand entgegen und grüßte, zuerst Henry, dann Fredrika.

»Das ist meine Mutter, Theodora Sparre.«