EisTau - Ilija Trojanow - E-Book

EisTau E-Book

Ilija Trojanow

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Beschreibung

Ein Mann, der die Gletscher so sehr liebt, dass er an ihrem Sterben verzweifelt: Zeno hat sein Leben als Glaziologe einem Alpengletscher gewidmet. Als das Sterben seines Gletschers nicht mehr aufzuhalten ist, heuert er auf einem Kreuzfahrtschiff an, um Touristen die Wunder der Antarktis zu erklären. Doch auf seiner Reise verzweifelt er an der Ignoranz der Urlauber, der mangelnden Achtung vor der fremden Welt und der fortschreitenden Schmelze des Eises. Ilija Trojanows neuer Roman erzählt mit gewaltiger Wortkunst vom Drama eines jungen Mannes, von der Verletzlichkeit der Natur und des Klimas und von ihrer absoluten Schönheit. „EisTau“ ist ein aufrüttelnder Gesang auf das, was unsere Welt ausmacht und sie zerstört.

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Hanser eBook

Ilija Trojanow

EISTAU

Roman

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-23835-0

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2011

Satz: Gaby Michel, Hamburg

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

www.ilija-trojanow.de

Für S.

Meine Wortgefährtin

At each slow ebb hope slowly dawns that it is dying.

Samuel Beckett: Company

I.   S 54°49´1´´W 68°19´5´´

Es gibt keinen schlimmeren Alptraum, als sich nicht mehr ins Wachsein retten zu können.

Wir kommen zusammen, wie am Vorabend jedes Auslaufens, in einer der Spelunken Ushuaias, den Hang hinauf, den Durchlaufstraßen entrückt, wir treffen ein zu jener Tageszeit, da ein letzter Streifen Licht am tiefsten Himmel verglüht. Dichtgedrängt an einem der länglichen Holztische ist uns feierlich zumute nach einem halben Jahr Trennung, wir werden bedient von einem alten Mann, dem Gesicht nach kein Verwegener, aber eines Abschieds vertraute er mir an, es gehe ihm schon gut, wenn er nicht das Bedürfnis verspüre, sich mit einem Messer in die Hand zu stechen. Der Alte hat wenig im Angebot, doch gießt er zu kleiner Münze ein, es genügt mir, mit dem Glas in der Hand dazusitzen, umringt vom breiten Wiedersehenslächeln der Filipinos, die das fleißige Gros der Besatzung bilden. Sie emseln sich voran, mit jedem weiteren Soldtag an Bord kommen sie einem häuslichen Leben näher, dem schützenden Schatten einer Großfamilie, und legen eine erstaunliche Leichtigkeit an den Werktag. Sie werden mir ein Rätsel bleiben. Ushuaia kann ihrer Stimmung nichts anhaben, nicht die pochenden Erinnerungen, nicht das Echo der Schlächtereien, auf dieser Frequenz sind sie taub, das ist Teil des europäischen Erbes, das sind Wundmale des weißen Mannes. Sie lassen sich durch diesen Ort treiben wie durch all die anderen geschändeten Orte auf unserer Expedition (was für ein protziges Wort aus der Liturgie der Werbeprospekte), sie scheinen kaum den Boden zu berühren, wenn sie überhaupt Land betreten. Das trennt uns, wir haben keine gemeinsame Vergangenheit: was mich lähmt, scheint sie mit Leben zu erfüllen. Ansonsten sind sie gut zu handlen, wie der Hotelmanager an Bord bis zum Überdruß verkündet (und er meint damit: viel besser als die widerspenstigen Chinesen), als hätte er sie persönlich abgerichtet, so arbeitsam so geduldig so zahm. Diese Dienstbeflissenheit würde mich stören, wäre da nicht Paulina, die gerade damit beschäftigt sein dürfte, unserer gemeinsamen Kabine eine persönliche Note zu verleihen, mit einer künstlichen Blume und einer Vielzahl von Fotografien, die ganze Verwandtenmenagerie, vorn die vielen Großmütter auf Sesseln sitzend, die in den Garten hinausgeschleppt wurden, das Rohrgeflecht an mehreren Stellen durchbrochen, aufrecht dahinter die Töchter und die Söhne, treue Söhne allesamt, außer einem, der hat sich davongestohlen, man munkelt, er hacke in einem New Yorker Restaurant Gemüse klein. Ich proste Paulinas Landsleuten zu, Mechanikern, Köchen, Bootsführern und dem Restaurantleiter Ricardo, so unscheinbar wie ein eingeschweißter Koffer, doch achtgegeben, seine Macht wird sich im Laufe der Reise ausleiben, jeder Passagier wird ihn kennenlernen und manch einer ihn wertschätzen (Howzit Mr. Iceberger, er zeigt mir den nach oben gerichteten Daumen, stets bemüht, Mißverständnisse prophylaktisch auszuräumen). Es ist ein Anblick für die Götter, wie die Millionäre aus der nördlichen Hemisphäre vor seinem Pult Schlange stehen, bereitwillig buckeln und ihm mit zugesteckten Kuverts Dank erweisen für den begehrten Tisch, steuerbordseitig mit Logensicht auf Eisscholle und Seeleopard. Die Reichen, das habe ich in den letzten Jahren auf hoher See begriffen, sind bereit, beachtliche Summen für kleine Privilegien zu zahlen, das setzt sie ab von der Masse, das nährt Ricardos Zuversicht und finanziert den Ausbau seiner Pension in Romblon. Seeleoparden, Robben und Pinguine interessieren ihn genausowenig wie Gletscher oder Eisberge, er packt jeden günstigen Ausblick beim Schopfe, what a view, fantastic, fantastic, take your seats, er grinst breit, seine Zähne paradieren, er würde ebenso viele fantastics einsetzen, wenn es Zahlungswillige gäbe für einen Tribünenplatz bei einer Mülldeponie, unser Restaurantleiter bevorzugt allein nach Kriterien der Verkäuflichkeit. Wann immer wir im großen Kreis zusammensitzen, kokettiert er mit der blonden Walfischfrau zu seiner Linken, poliert seine running gags wie Fingernägel, one of these days hör ich mir deinen Vortrag an, wirklich, ich will die Fische verstehen, seitdem ich sie vom Restaurant aus gesehen habe, wie sie in die Luft spucken, sie seien schon sehr schön, aber wieso beautiful Beate die Wale mehr liebe als die Menschen, das frage er sich, weswegen er sich bei einem ihrer nächsten Vorträge in die erste Reihe setzen und jedes ihrer Worte mitschreiben werde, an unserem länglichen Holztisch voller unverbindlicher Einkerbungen verspricht er dies vor jedem Auslaufen, this time, swear to heaven, die Walfischfrau zwickt ihn in den Arm, Englisch spricht sie mit deutschem Akzent, Deutsch mit spanischem Anklang und Spanisch mit chilenischer Einfärbung. Und doch wird es nichts werden mit seiner education cetacean. Gewiß ist, am Ende dieser Reise wird er mit einer Kochmütze in der Hand herumgehen und Trinkgelder für die Männer in der Küche sammeln, während sich diese vor dem geschwungenen Büfett aufreihen, um alle miteinander ein Lied zum besten zu geben, auf tagalog. Es klingt wie die Hymne an den unbekannten Diener und wird jedesmal mit tosendem Beifall quittiert.

Am Tisch sind auch die Lektoren der MS HANSEN versammelt, Urlauberausbilder mit anderem Wort, so wie ich einer gewesen war, drei Jahre lang, bis mich gestern gleich nach meiner Ankunft der Kapitän zu sich rufen ließ, um mir zu eröffnen, daß der Expeditionsleiter überraschend in Buenos Aires ins Krankenhaus eingeliefert worden sei, mit Verdacht auf Schweinegrippe, er werde unter keinen Umständen auf diese Etappe zu uns stoßen können, im besten Fall würden wir ihn am Beagle-Kanal wieder aufsammeln, bis dahin müsse Ersatz gefunden werden, er traue mir die nötige Kompetenz zu, ich sei kundig, engagiert, lebensklug (wenn auch gelegentlich über das Ziel hinausschießend, ergänzte sein Blick), und über ausreichende Erfahrung an Bord verfügte ich zudem. Ich wollte weder zustimmen noch ablehnen, also nahm ich die Mappe mit den Instruktionen entgegen. Von nun an werde ich viel zuviel Zeit an Funkgerät und PA-System verbringen, um die Passagiere in Kenntnis zu setzen über das Wetter, die Route, das nächste Ziel. Ein jeder von uns Lektoren besitzt hochspezialisierte Kenntnisse der Ozeanographie, Biologie, Klimatologie oder Geologie, ein jeder von uns versteht es, unterhaltsam und lehrreich von Tieren Wolken Felsen zu erzählen, ein jeder von uns ist Flüchtling auf seine verquere Weise, we’re nowhere people, diesen Spruch hat El Albatros gemünzt, unser Ornithologe aus Uruguay. Mr. Iceberger, er nickt mir zu, auch er nennt mich so, manche haben meinen Taufnamen Zeno noch nie benutzt, andere wissen nicht, wie sie ihn aussprechen sollen, ob Zen-oo oder Ze-no oder Seij-no (aus dem Mund unseres kalifornischen Jungspunds Jeremy, dessen Großvater ich fast sein könnte). Das sind Nebensächlichkeiten, denen ich keine Bedeutung beimesse; mich beschleicht der Verdacht, die Kollegen verkleiden mit diesem Spitznamen ihre Überzeugung, ich sei ein Sonderling. Es ist merkwürdig, wenn man unter Passionierten als zu leidenschaftlich gilt.

Beate war tagsüber mit einer Gruppe von Passagieren im Nationalpark, wo die Pfade sich die Buchten entlangwinden, die Sonnenstrahlen seitlich einfallen und wie Schmetterlinge auf einzelne Blätter niedergehen, jeder von uns hat den leichten Spaziergang durch den patagonischen Urwald schon einmal unternommen, doch heuer ist ein neuer Gehweg eröffnet worden, und Beate, die Gewissenhafte, möchte nicht in die Verlegenheit geraten, weniger zu wissen als einer der Touristen, und sei es auch nur über einen gestrichelten Pfad zu einer weiteren Bucht. Daher ist sie, wie sie ausführlich erzählt, in einem der von »1« bis »5« durchnumerierten Autobusse mitgefahren, vorbei am südlichsten Golfplatz der Welt, über das Ende der Carretera Panamericana hinaus, bis zu einem breit ausgewalzten Parkplatz, zwei Exerzierplätze groß, auf dem aliens in der Natur landen, von wo aus es über eine kleine Treppe aus lackiertem Holz zum Pfad hinabgeht. Wie viele Wale hast du gesehen? fragt Ricardo im Scherz. Einen, antwortet Beate. Einen Wal, wie ist das möglich? Einen Einzelgänger? Ein Jungtier? Einen gestrandeten Wal, antwortet Beate, ein steinernes Tier, es liegt an Land und setzt Moos an, Kinder dürfen darauf reiten. Sie hält inne. Es liegt da wie ein Memento mori. Sie macht eine längere Pause. So massiv, als könnte es überdauern. Der neue Pfad ist alle zweihundert Meter mit einem Mülleimer ausgestattet und alle zweihundert Meter mit einer Sitzbank, Mülleimer Sitzbank Mülleimer Sitzbank, so pirscht man sich durch den Wald. Unser Führer, sagt Beate, war ein Widerling in hohen Stiefeln, ein porteño, der seinen Sommer in der Frische des Südens verbringen will, was er nicht wußte, machte er mit seinem Falsett wett, von den Ureinwohnern sprach er wie von wilden Tieren, nannte sie nicht einmal bei ihrem Namen, schimpfte sie »Grasfresser«, riß blöde Witze, wir wissen wenig über sie, sagte er, sie waren so scheu, kaum erblickten sie einen Menschen, zogen sie den Schwanz ein, wollte man sich ihnen nähern, zischten sie ab, wie Stachelschweine, versteckten sich im tiefsten Busch oder vergruben sich in die Erde, wie Stinktiere. Ich konnte nicht anders, ich mußte ihn vor den Passagieren belehren, die Menschen, die einst in diesem Wald gelebt haben, sie hießen Yahgan. Yah-gan, er wiederholte das Wort, als müßte er es knacken, der Name paßt zu einem Naturvolk wie die Faust aufs Auge, klingt fremdländisch, wie eine seltene Spinnenart. Habe ich seine Stiefel erwähnt? Sie hinterließen tiefe Abdrücke, irgendein Name, der Name des Herstellers, vermute ich, wurde mit jedem Schritt in die feuchte Erde geprägt. Kann mir einer von euch erklären, wie es dazu gekommen ist, zu diesem merkwürdigen Wort: »Naturvolk«? Beate verstummt, und auf einmal schweigen alle in der Runde, wie auf ein geheimes Zeichen hin. Die Frage haben nicht alle gehört, die Antwort wird sich über den ganzen Tisch verbreiten. Weil wir sie exterminiert haben, sage ich mit lauter Stimme. Weil wir alles zerstören, was sich auf die Seite der Natur stellt. Wir ehren die Ausgestorbenen, wir stellen ihre Masken aus, und Porträts von ihnen in Sepia, hingebungsvoll kümmern wir uns um jene, die wir ausgerottet haben. Ein Stöhnen hebt an unter den Lektoren, here he goes again, sie erwarten einen meiner Ausfälle, sie haben meine Wutlawinen schon mehrmals ertragen müssen, sie wissen aus Erfahrung, wenn Mr. Iceberger apodiktisch loslegt, endet es apokalyptisch. Es ist unser erster gemeinsamer Abend, ich beiße mir auf die Zunge und verstumme, während um mich herum weitere Gespräche zu rascheln beginnen.

Als einziger bleibe ich beim Alten zurück, der den ganzen Abend lang schweigend aufgetischt hat. Das ist uns zur Gewohnheit geworden, seit dem allerersten Mal, da ich ihn aufsuchte. Ich hatte in seiner Spelunke auf einer der Holzbänke meine Kamera liegengelassen und mußte durch die Kälte zurücklaufen, gegen den steifen Wind, verfroren trat ich ein, der Alte war allein und am Aufräumen, er mußte mir noch einen Warmmacher kredenzen, ein Gespräch zugestehen, wir wurden uns darüber noch fremder, zunächst, und legten dann, Satz um Satz, Stamperl um Stamperl, den Harnisch ab, bis unsere Verwundungen spürbar wurden. Wir ließen uns danach nicht mehr aus dem Sinn. Ruhig wischt er die Holztische ab, mit kreisenden Bewegungen, die Adern auf seinem Handrücken Eisrillen, die Haut an vielen Stellen leberbraun. Mit unversöhnlichem Zorn verflucht er sein Schicksal, in diesem Ushuaia, das seit jeher zu einem Provisorium zusammengezimmert wird, wo jeder Laden Finisterre heißt und Pinguine auf jeder Schürze prangen, geboren aufgewachsen vergreist zu sein, an diesem Fleck, der sich keinem erbarmt, nicht den Umherstreifenden, die einst barfuß über Dornen liefen, bis sie von Glückssuchern und Zwangsversetzten erschlagen wurden, nicht den Verbannten in schweren Ketten, denen die Sehnsucht nach Ausbruch immer tiefer ins Fleisch schnitt, nicht deren Nachkommen, die vor den Touristen zu Kreuze kriechen, als wollten sie die getrockneten Schlammbrocken unter ihren Sohlen aufsammeln, als enthielte die Erde von Tierra del Fuego immer noch Goldstaub. Wandelt sich ein Ort zum Besseren, wenn Menschen freiwillig hinziehen? Wärmt blutgetränkter Torf, wenn er im heimischen Ofen verfeuert wird? Kurz verschwindet der Alte, kehrt zurück mit zwei kleinen bauchigen Gläsern. Der Inhalt riecht nach Vanille und brennt gut in der Kehle. Der Alte bewegt sich unentwegt, von der Theke zu den Tischen, von Tisch zu Tisch, als wäre an jeder Stelle noch etwas zu vertäuen. Ich folge ihm ans Fenster, die spärlichen Straßenlampen verwischen im Nieselregen zu mattleuchtenden Rinnen. Wir überlassen uns den fernen Geräuschen. Auf einmal spricht er wieder.

– Als Kind, am Nachmittag, hockte ich vor unserem Haus, dieses Haus hier war damals unsere Baracke, ich starrte hinunter auf die Stadt. Wenn die Wolken tiefhingen, kam es mir vor, als würde sich die Straße mit dem Nebel davonstehlen. Ich rannte die Straße hinab, voller Erwartungen; jedesmal landete ich im Schmutz des Hafens.

Wir setzen uns hin, zum ersten Mal, bislang erfolgten unsere Gespräche zwischen Tisch und Tür, jetzt schenkt er nach, als hätten wir Vorrat genug. Seine Aussagen sind Punkte zwischen langen Sätzen des Schweigens:

– Wer sich hierzulande zu Lebzeiten aufrichtet, wird mit einem Genickschuß bestraft.

– Meines ermordeten Großvaters gedachten wir in ängstlichem Schweigen.

– Meine Mutter warnte mich vor Uniformierten wie andere Mütter ihre Kinder vor bissigen Kötern.

Er dreht sich auf einmal zu mir und spricht mir in die Augen.

– Du fährst wieder mit und läßt alles geschehen. Du entehrst dein eigenes Heiligtum.

Er reibt sich die Hand übers Gesicht, über seinen Bart.

– Ich habe dich beobachtet. Du bist nur Gerede. Deine Empörung ist ein Furz. Du läßt Luft ab, du stänkerst herum, ansonsten bist du wie alle anderen, nein, schlimmer noch, du weißt Bescheid, und du läßt dir dein Wissen versilbern.

Ich widerspreche nicht, und das facht seine Rage noch mehr an.

– Jeder, der das Vermeidbare hinnimmt, ist ein Schuft.

Fast schreit er. Und dann weist er mir die schwere Tür.

Als wäre ich mit einer Moräne verwachsen. So alpträumt es mich durch jede Nacht.

Die Passagiere kommen morgen an Bord. Tag 1 – Einschiffung. Ein Tag wie jeder andere auch. Noch sind wir nicht ausgelaufen. Der bevorstehende Aufbruch versetzt mich in Unruhe, ich bin kein Seemann von Haus aus, im Gegenteil, in den Bergen war ich heimisch, bevor ich verjagt wurde. Das Meer erblickte ich zum ersten Mal am Ausgang eines Gletschers, fast leckte dessen Zungenspitze am Strand, der Gletscherbach rann mir voraus, ich war Anfang Zwanzig und zuversichtlich, so zuversichtlich, daß ich mich absichtlich im Regenwald zwischen Strand und Gletscher verlaufen habe. Heute verhöhnt mich die Phantomzunge des Geschmolzenen, machtlos bin ich gegen die Untertanen des Alptraums. Paulina schläft schon, sie schläft schnell ein, noch schneller, wenn wir uns geliebt haben. Morgen brechen wir auf. Eine weitere Tour. Mein viertes Jahr.

Es steht geschrieben.

Wir lassen uns trösten von erniedrigenden Sätzen wie diesem. Nichts steht geschrieben; es wird geschrieben. Von einem jeden von uns. So wie ein jeder sein Scherflein beiträgt zu all den vergifteten Ruinen auf Erden. Deswegen dieses Notizbuch, deswegen mein Beschluß, aufzuzeichnen, was geschehen ist, was geschehen wird. Ich werde zum Worthalter des eigenen Gewissens. Etwas muß geschehen. Es ist höchste Zeit.

1.

Das sind Traummaße, kräht kein Hahn danach, das kannste dir abschminken, greifen Sie zu, solange der Vorrat reicht. Sir, Alarmsignal auf 406 MHz. Fassen Sie sich ein Herz, absolute Traummaße, danach leckt man sich die Lippen, dreizehn Monate Sonne, willkommen im Paradies, und Regen an jedem Tag. Notfunkbake? Ja, Sir. Welches Schiff? Nicht erkenntlich, Sir. Die Fresken werden seit letzter Woche renoviert, die Kapelle wird den ganzen Sommer geschlossen bleiben, es tut mir leid, daß Sie den weiten Weg hierher umsonst auf sich genommen haben, wir dürfen uns nicht unter Druck setzen lassen, eine Frage an Ihren Gast, Arche und Rache, nicht wahr, nur die Buchstaben vertauscht, was hat das zu bedeuten?, es bleibt etwas hängen, es bleibt immer etwas hängen. Ich habe eine Positionsangabe, Sir: S 43°22´ W 64°33´. Alle Krähen, ich habe es satt, unter dem Himmel, die gefühlte Temperatur lag höher, sind schwarz, was für Traummaße, im Windschatten fährt es sich leichter, du mußt mehr Butter bei die Fische geben, gilt bereits als beschlossene Sache. Etwas stimmt nicht, Sir, wir haben keinen Funkverkehr mehr mit der HANSEN. Was ist mit dem Funkoffizier? Meldet sich nicht, Sir. Ich bin an der Reihe, Finger weg, der BH gehört mir, halt die Luft an, Charly, auf eins, auf zwei, es will nicht, widerborstiges Teil, wenn’s darauf ankommt, hakt’s, es kommen wieder bessere Tage. Radar? Das Schiff bewegt sich in nordwestnördlicher Richtung. Sie haben es auf allen Frequenzen versucht? Ja, Sir. Versuchen Sie es weiter, ich kontaktiere die argentinische Seewacht. Ich hab da mal ’ne Verständnisfrage, wenn ich das richtig kapiert habe, kommen wir alle in den Himmel oder in die Hölle, aber irgendwohin kommen wir alle, also sind wir alle von Haus aus unsterblich? Prefectura Naval Argentina? Si … si … die letzte durchgegebene Position war S 54°49´ W 68°19´, wir haben seitdem keinen Kontakt mit der HANSEN gegabt. Die werden den Vogel abschießen, niemand stellt es in Frage, nimm es dir nicht so zu Herzen, einfach durchatmen, tief durchatmen, was für Traummaße, wir tun, was wir können, wir können was tun BREAKING NEWS ERNEUTE HAVARIE IN DER ANTARKTIS? BREAKING NEWS ERNEUTE HAVARIE IN DER ANTARKTIS? und trotzdem

II.   S 55°05´0´´W 66°39´5´´

Bevor wir ablegen, müssen alle Passagiere nachweisen, daß sie gesund sind (nicht kerngesund, gesund genug), sie steigen die Treppen hinauf oder hinab, die eingeschränkt Gesunden benutzen den Fahrstuhl, auf Deck 4 reihen sie sich auf vor dem Arzt aus Brasil, straff in Uniform, die Lockenpracht formvollendet, jede freie Minute verbringt er im sargengen Fitneßraum, Heavy Metal aus São Paulo im Ohr, den Blick starr auf den Notausgang gerichtet. Ich habe mich noch nie mit ihm unterhalten können. Die Eingesundeten halten die medizinische Exkulpation stolz in den Händen, wie eine Konzertkarte, die schwer zu ergattern war, sie lernen sich kennen, tauschen sich aus, da waren sie schon und dort auch, man sei ja für alles zu haben, aber die Hitze, aber die Rebellen, andererseits, es gebe so viele Ziele, man wisse gar nicht, wohin als nächstes, doch zuerst müsse man ja dieses Abenteuer überstehen. Aus aktuellem Anlaß sind sie alle gesund, und wären sie nur wenige Herzschläge vom Infarkt entfernt.

Beim letzten Tageslicht legen wir ab. Niemand winkt, weder vom Kai noch vom Deck aus. Es ist ein beiläufiger Abschied. In Ushuaia bleibt kaum jemand zurück, den wir vermissen werden. Ich genieße es, auf dem obersten Deck zu stehen, den Silhouetten nachzusinnen. Sonnenuntergänge sind mir ein Greuel, sie reduzieren das Mannigfaltige auf einen Effekt. Niemand spricht mich an, die Gäste kennen mich noch nicht, die Vorstellung der Lektoren samt Expeditionsleiter erfolgt erst morgen nach dem Frühstück. Wir haben ohne Fanfaren abgelegt, fahren östlich durch den Beagle-Kanal mit einer Geschwindigkeit von etwa sieben Knoten, so schätze ich, nach einigen Saisons an Bord schätze ich ziemlich exakt. Schaut mal rüber, ruft ein Passagier, der Felsen dort, wie wenn der Berg einen Sixpack hätte. Die Gruppe trommelt ihr Lachen in die Dämmerung. Es geht wieder los, die Verkleinerung der Natur vor laufenden Camcordern. Ich ziehe mich zurück, an die Backbordseite. Halt, nicht weglaufen! Der Pianist kommt schnurstracks auf mich zu, in seinem Schlepptau eine sich aus der Dunkelheit herausschälende Visage, ein leckgeschlagenes Gesicht unter bunten Lichterketten. Gestatten, darf ich vorstellen, Mrs. Morgenthau, dies ist unser neuer Expeditionsleiter, ein Kavalier, wie er im Buche steht (der Pianist ist Brite), er wird Ihnen Ihre Frage gewiß zufriedenstellend beantworten können, der Expeditionsleiter kann jede Frage zufriedenstellend beantworten (der Pianist gilt als great wit).

– Das ist freundlich von Ihnen, sehr freundlich, ich habe mich nämlich gefragt, dieser Berg, der da so dramatisch aufsteigt, dieser Berg hat bestimmt einen Namen?

– Mount Misery, antworte ich ihr geographisch korrekt, und die Amerikanerin beäugt mich, als sei sie kurz davor, mich der Lüge zu überführen. Der Pianist grinst, sein Jokus ist aufgegangen.

– Scheuen Sie sich nicht, den Expeditionsleiter während der Reise zu fragen, was immer Sie wissen möchten, wann immer es Ihnen ein Bedürfnis sein sollte, ich bin für das abendliche Wunschkonzert zuständig, ansonsten klimpere ich vor mich hin, Sie werden es hören.

– Die Menschen, fahre ich fort, die früher in dieser Gegend gelebt haben, waren Wassernomaden, sie hatten viele Namen für die Berge, die Flüsse, die Wälder, sie verfügten über einen reichen Wortschatz zu benennen, was sie umgab, ohne es in Besitz nehmen zu wollen. Diese Meerenge etwa nannten sie »das Wasser, das durch die Dämmerung sticht«.

– Und die Insel, an der wir gleich vorbeifahren, du weißt schon, welche ich meine, die hat doch einen ganz exquisiten Namen?

Der Pianist fragt im Wissen um die Antwort, auch wenn er scheinbar verwirrt ist. Ich werde ihm den Gefallen tun.

– Sie heißt Fury Island.

Ein weiterer mißgläubiger Blick.

– Ja, genau, Fury Island, das hatte ich so schön verdrängt. Kommen Sie, gnädige Frau, stören wir unseren neuen Expeditionsleiter nicht länger, allerdings muß ich Ihnen mitteilen, nicht daß Sie es später aus unzuverlässiger Quelle erfahren, mitten in der Nacht, wenn wir alle schlafen werden, hoffentlich tief, wird unser Schiff an der Last Hope Bay vorbeigleiten.

Das Lachen des Pianisten steigt auf und davon wie Abgasdämpfe.

An diesem ersten Abend endet Paulinas Schicht vor Mitternacht. Die Gäste hatten noch keine Zeit, miteinander Bekanntschaft zu schließen, die Gewohnheitstrinker und Hockenbleiber verlassen früh Bistro und Bar, Paulina forciert die last orders, komplimentiert einen alten Amerikaner in sein Bett, sie freut sich auf unsere geräumigere Kabine (dem Posten des Expeditionsleiters angemessen), auf mich, wir haben bislang noch nicht Wiedersehen feiern können. Ich bin zu Deck 6 aufgestiegen, zur Befehlselite des Schiffes, Tür an Tür mit dem Ersten Offizier und dem Navigationsoffizier, unweit der Brücke, als ich vorhin in den Gang trat, prallte ich unerwartet auf den Kapitän, sein Büro und Refugium befindet sich einige Türen weiter schräg gegenüber. The captain is in striking distance, lasse ich Paulina wissen. Und sie lacht, don’t hurt him, wir bringen uns gegenseitig zum Lachen, immer wieder, es erstaunt mich jedesmal, früher galt ich als Spaßverderber, das hatte seinen guten Grund: ich fand die Schenkelklopfer der anderen verderblich, ich hörte sie kichern und gackern, aber niemals lachen, mein Gespons von einst kuderte sich durch manch einen Abend, laut und aufdringlich, es schmeckte nie nach Ausgelassenheit. Anders bei Paulina, ihr gelingt es, mich ins Lachen zu ziehen, mich auszuziehen, als grundierte Blöße gute Laune. Ihre Libido ist nahe am Lachen gebaut.