Elbpakt - Nicole Wollschlaeger - E-Book + Hörbuch

Elbpakt E-Book und Hörbuch

Nicole Wollschlaeger

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Beschreibung

Ursula Neumann meldet einen Einbruch. Doch als Kommissar Philip Goldberg und sein Kollege Hauke Thomsen bei der betagten Dame ankommen, behauptet sie plötzlich, sie habe sich geirrt, und schlägt den Beamten die Tür vor der Nase zu. Bereits am nächsten Tag werden die Kophusener Polizisten zu einem aufgestellten Grabkreuz gerufen. Was sie dort vorfinden, ist ebenso rätselhaft wie makaber. Als im Park des Seniorenheims wenig später ein zweites Grab auftaucht, und Ursula Neumann spurlos verschwindet, ist sich Goldberg sicher, dass beide Ereignisse zusammenhängen. Das Ermittler-Trio kommt einem weit zurückliegenden Geheimnis auf die Spur, dessen gefährlicher Schatten bis in die Gegenwart reicht.

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Seitenzahl: 306

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Zeit:6 Std. 44 min

Sprecher:Nicole Wollschlaeger

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Als Kommissar Philip Goldberg und sein Kollege Hauke Thomsen einen Notruf überprüfen, weist Ursula Neumann die Beamten mit einer fadenscheinigen Begründung an der Tür ab. Doch schon am nächsten Tag entdecken sie ein Kreuz im Park des Seniorenheims Deichgraf und einen Karton mit makabrem Inhalt.

Polizeiobermeister Peter Brandt taucht in die Geschichte der alten Villa ab und stößt dabei auf brisante Informationen, die Ursula Neumanns plötzliches Verschwinden in einem anderen Licht erscheinen lassen. Zu allem Überfluss stellt sich heraus, dass auch Hauke Thomsens Familie in den alten Fall verwickelt zu sein scheint.

Als Goldberg und seine Kollegen endlich auf der richtigen Fährte sind, versuchen sie den Tod eines weiteren Menschen zu verhindern und geraten dabei selbst in tödliche Gefahr.

Nicole Wollschlaeger, 1974 in Pinneberg geboren, absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin. 2004 schloss sie ihr Schauspielstudium in Hamburg ab. Seit 2009 lieh sie ihre Stimme der Kinderbuchreihe „Das magische Baumhaus“ und tourte mit ihren Lesungen durch ganz Deutschland. 2013 erschien ihr erster Roman „Schatten über Nargon“ im Carlsen Verlag. Mit ELBSCHULD startete 2016 die Krimireihe um das Kophusener Ermittler-Trio.

Ausführliche Informationen finden Sie

unter: www.nicolewollschlaeger.de

Der Titel ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.

Weitere Titel der Autorin:

ELBSCHULD

ELBSCHMERZ

ELBSPIEL

ELBGIFT

ELBFANG

ELBTIER

Schatten über Nargon

Kinderbuch ab 10 Jahren

Für das innere Kind in uns.

»Alle unsere Irrtümer übertragen wir auf unsere Kinder, in

denen sie untilgbare Spuren hinterlassen. «

Maria Montessori

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

1

Ihre Hand fühlte sich warm und weich an. Ganz anders als die kalten, knochigen Finger ihrer eigenen Mutter, die sie immer nur dann bei der Hand nahm, wenn sie etwas falsch gemacht hatte. Gemeinsam schritten sie die Kiesauffahrt hinunter. Sie hatte ihre besten Schuhe anziehen sollen, die, die sie eigentlich nur sonntags trug. Vorne waren sie ein wenig eng. Den Keilabsatz war sie nicht gewohnt. Auf den ersten Metern war sie oft umgeknickt. Sie hatte sich mehrmals entschuldigt, weil sie fürchtete, dass ihre Unbeholfenheit als Trödelei ausgelegt worden wäre Nach ihrer Rückkehr würden ihr die Füße wehtun. Aber das war es wert.

Auf dem Weg ins Dorf fiel nie ein böses Wort. Nie war sie freundlicher zu ihr. Ihr Lächeln war ansteckend und ihre Stimme klang liebevoll. Im Haus lächelte sie nie. Außer manchmal heimlich, wenn sie beide allein waren. Aber das war selten. Sowie sich die mächtige Tür hinter ihnen geschlossen hatte, verwandelte sie sich auf magische Weise. Aus der bösen Hexe wurde eine gute Fee. Und andersrum.

Unterwegs begegneten ihnen nicht viele Menschen. Doch sobald sie den Ortskern erreichten, zogen sie sämtliche Blicke auf sich. Das Mädchen konnte das sehr gut verstehen, schließlich ging sie an der Hand einer Fee. Sie genoss es heimlich. Artig grüßte sie jeden, der ihnen entgegenkam, so wie es ihr die Fee beigebracht hatte.

An der kleinen Kreuzung bogen sie nach rechts ab und gingen an der Kirche vorbei. Spätestens jetzt erfasste sie das Kribbeln in ihrem Bauch, das sie sonst nur vom Heiligen Abend her kannte. Ihr kam es vor, als würde jeden Moment das kleine Glöckchen erklingen und sie und ihre Geschwister dürften in die gute Stube treten. Es war etwas ganz Besonderes. Genauso wie dieser Ausflug ins Dorf. Niemand außer ihr durfte an der Hand der Fee zum Einholen mitgehen. Alle anderen aus dem Haus kannten sie nur als Hexe und hassten sie. Nach dem ersten Mal hatte das Mädchen versucht, den anderen zu erklären, dass sie sich in eine gute Fee verwandelte, sobald sie das Haus verließ, doch sie hatten sie nur ausgelacht. Die Alteren waren ihr über den Mund gefahren und hatten sie als Lügnerin bezeichnet. Sie war das Lieblingskind der Hexe, das schloss sie aus der Gemeinschaft aus. Es gab nur zwei Menschen, die ihr glaubten. Ihre besten Freunde. Doch auch denen konnte sie die Verwandlung nicht genau erklären. Sie rieten ihr, auf der Hut zu sein. Der Hexe nicht zu vertrauen und ihr auf keinen Fall etwas über sich zu erzählen. Je weniger die Hexe wusste, umso besser.

Das Mädchen fühlte sich hin- und hergerissen. Die Ausflüge ließen sie vergessen, wie schrecklich es im Haus war. Sie lebte in zwei völlig verschiedenen Welten. In der Welt, in der die Hexe herrschte, und in der Welt der guten Fee, der sie vertraute und die ihr das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein. Deshalb hatte sie entschieden, die beiden Welten voneinander zu trennen. Die Ausflüge in ihr Innerstes einzuschließen und wie einen kostbaren Schatz zu hüten. Einen Schatz, den ihr niemand nehmen konnte.

Vom Kirchenvorplatz war es nicht mehr weit. Zuerst hielten sie an der Bäckerei, wo sie jedes Mal eine dunkle, runde Kugel in die Hand bekam, die von Schokoladenstreuseln umhüllt war. Die knackten in ihrem Mund, wenn sie sie zerbiss. Während die Fee mit der Bäckersfrau sprach, gab sich das Mädchen mit geschlossenen Augen der süßen Mixtur aus Teig und Schokolade hin. Sobald sie den Laden verließen, beugte sich die Fee zu ihr hinab, lächelte sie an und zupfte ein duftendes Taschentuch aus ihrer Handtasche. Damit wischte sie ihr behutsam über den Mund.

»Du bist mein Lieblingskind. Lass dir nie etwas anderes einreden, hörst du?«

Die Fee gab ihr einen Kuss auf die Stirn, und sie gingen weiter bis zu dem Kaufmannsladen, in dem es nach gebratenen Frikadellen roch. Noch berauscht von dem Geschmack der dunklen Kugel, betrat sie an der Hand der Fee das Geschäft. Die kleine Glocke über der Tür erklang. Hier war es noch viel schöner als in den Geschäften, die sie von zu Hause kannte. Es war alles kleiner und gleichzeitig größer. Sie konnte es nicht besser beschreiben. Wie der ganze Ausflug war auch der Besuch im Laden ein Ritual. Zuerst gingen sie an die Fleischtheke, wo sie ein Würstchen bekam. Sie hatte einmal versucht, es unter ihrer Bluse zu verstecken und so in die andere Welt hinüberzuretten, doch die Fee bestand darauf, dass sie es auf der Stelle aß. Darum ließ sie sich nicht zweimal bitten. Danach gingen sie zielgerichtet durch den Verkaufsraum. Die Fee kaufte immer die gleichen Dinge: eine Schachtel Zigaretten, eine Flasche Limonade, ein Päckchen Butter und ein Glas Marmelade.

Die ganze Zeit über hielt die Fee die Hand des Mädchens fest. In der anderen trug sie den Einkaufskorb. Sie war eine Fee, sie konnte alles. Zum Schluss kamen sie an die Kasse. Dahinter stand meistens ein Mann, der sie freundlich begrüßte.

»Na, Lieblingskind«, sagte er und lächelte sie an.

In dem gleichen Maße, wie es ihr peinlich war, gefiel es ihr. So viel Aufmerksamkeit war sie von daheim nicht gewohnt. Auch nicht im Haus, wo es sehr streng zuging und man aufpassen musste, was man tat und sagte. Hier nicht. Hier wurde sie wie eine Prinzessin behandelt. Wurde beschenkt. Einfach so, ohne erkennbaren Grund. So musste sich das Paradies anfühlen.

»Erlaubt die Tante dir wieder etwas Süßes?«

Sie beide blickten gespannt zu der Fee. Wie eine Königin schloss diese kurz die Augenlider, und ihr Kopf neigte sich sanft nach unten und wieder nach oben.

»Da hast du aber Glück.« Der Mann an der Kasse zwinkerte ihr zu.

Dann kam der große Augenblick. Er trat zur Seite und gab den Blick auf die Süßigkeiten frei. Lauter bunte Köstlichkeiten, die in ihren großen Glasbehältern darauf warteten, verspeist zu werden. Vorsichtig tippte sie auf drei der Gläser. Der Verkäufer nahm die Zange, mit der er die Süßigkeiten in eine spitz zulaufende Papiertüte gleiten ließ. Das Herz des Mädchens hüpfte, als er ihr lächelnd den Schatz überreichte.

»Danke«, flüsterte sie, wobei ihr Blick verstohlen auf den großen, bunt gestreiften Kreisel fiel, der neben der Kasse stand. Wenn sie artig war, hatte die Fee ihr versprechen, würde sie ihr das Spielzeug zum Abschied schenken. Rasch wandte sie den Blick ab. Es war ihr Geheimnis.

»Aber nicht alles auf einmal essen, sonst gibt es Bauchschmerzen«, sagte der Mann.

Wie gern hätte das Mädchen seinen Rat befolgt. Nicht um Bauchschmerzen zu verhindern, die bekam sie nie. Sondern um den Schatz zum Haus zu bringen und mit ihren Freunden zu teilen. Aber auch das durfte sie nicht. Dort waren Süßigkeiten streng verboten. Bis sie am Haus ankamen, musste die Tüte leer sein. Das war die Abmachung. Niemand durfte davon erfahren. Daran hielt sie sich. Auch wenn es sich falsch anfühlte, ihre Freunde zu hintergehen. Die Ausflüge waren der einzige Lichtblick. Der Grund, warum sie es hier überhaupt aushielt. Das wollte sie nicht preisgeben, auch wenn ihr Verhalten egoistisch und dumm war.

An der Kasse war der einzige Moment, in dem die Fee ihre Hand losließ, um die Waren auf den Tresen zu legen und zu bezahlen. Gehorsam wich sie nicht von ihrer Seite. Denn das war nicht erlaubt. Für diesen Ausflug gab es Regeln, die sie peinlich genau befolgte.

Nachdem die Fee alles in ihren Beutel gelegt hatte, streckte sie ihre Hand aus. Das Mädchen ergriff sie und spürte, wie die weichen, warmen Finger der Fee sie sanft umschlossen. Sie verabschiedeten sich und die Glocke ertönte wieder. Vor dem Laden kniete sich die Fee nieder. Sie nahm die Schultern des Mädchens in beide Hände.

»Du weißt, das bleibt unser Geheimnis?«, fragte sie.

Das Mädchen nickte und dachte im Stillen an den Kreisel.

»Die Tüte muss leer sein, wenn wir zurückkommen.«

»Ja.«

»Mein Lieblingskind. Du wirst es noch weit bringen. Wenn du dich nur an die Regeln hältst. An unseren geheimen Pakt. Dann kauf ich dir zur Belohnung den schönen bunten Kreisel.« Sie zwinkerte.

»Das werde ich, versprochen.«

»Schwörst du es, bei dem Leben deiner Mutter?«

Sie hob den rechten Arm und spreizte drei Finger zum Schwur. »Ich schwöre.«

»So ist es gut.«

Die Fee lächelte und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Das Mädchen genoss die mütterliche Zärtlichkeit, solange sie währte. Gleich würde es vorbei sein und die Fee würde sich wieder in die böse Hexe verwandeln. In die Frau, die alle schikanierte. Es war das Haus, das an ihrer Verwandlung schuld war. Davon war das Mädchen überzeugt. Die Fee konnte nichts dafür. Sie war unschuldig. Das Mädchen wusste das. Das würde sie immer wissen. Ihr Pakt würde ihrer beider Geheimnis bleiben. Bis in den Tod. Und darüber hinaus.

2

Seufzend blickte Peter Brandt auf die Unmengen von Zuschriften, die er auf die Anzeige in einer großen Wochenzeitung erhalten hatte. Offensichtlich gab es ziemlich viele Frauen, die sich einen neuen Partner an ihrer Seite wünschten. Er selbst kannte diese Sehnsucht nicht. Nach dem Tod seiner Frau Marion war er damit ausgefüllt gewesen, sie zu vermissen. Der Gedanke an eine andere Frau war ihm nie in den Sinn gekommen. Sogar als er Henriette kennengelernt hatte, war es ihm nicht richtig vorgekommen. Zum Glück, denn einige Wochen später war sie tot gewesen. Ausgerechnet mit Greta Jansen hatte sich seine Meinung geändert. Es war keine bewusste Entscheidung gewesen. Es war einfach passiert. Sie war seine langjährige Nachbarin, die er eigentlich nie hatte ausstehen können, deren plumpe Annäherungsversuche ihm immer zuwider gewesen waren. Selbst die für seinen Geschmack viel zu intime Zusammenarbeit bei den Proben zum Kophusener Jedermann hatte nichts an diesem Zustand ändern können. Passiert war es dennoch. Letztes Jahr, als ihr zwei Vögel aus der Voliere gestohlen worden waren und sie völlig aufgelöst vor seiner Tür gestanden hatte. Trotz seines Berufs als Polizeihauptmeister konnte er sich nicht erklären, wie es dazu gekommen war. Zugegeben, sie hatten auf den Schock einen Schnaps getrunken und dann noch einen, und zu allem Überfluss hatten sie einige Biere zu sich genommen. Aber warum er sie plötzlich hatte küssen wollen, blieb ihm ein Rätsel. Der Morgen danach war seltsam, aber nicht unangenehm gewesen. Und seitdem hatte es ihm zunehmend gefallen. Das schlechte Gewissen Marion gegenüber hatte er durch einen einfachen Trick außer Kraft gesetzt. Er und Greta hatten einen Pakt geschlossen. Sie würden nie versuchen, ihre verstorbenen Partner zu ersetzen. Greta und Eduard waren ein halbes Leben lang zusammen gewesen. Sie hatten sich geliebt, so wie er und Marion sich geliebt hatten. Ihre Ehen waren unantastbar. Sie schworen sich, diese Liebe in Ehren zu halten und sie nie mit dem zu vergleichen, was sie beide miteinander verband. Seltsamerweise funktionierte das. Immer wenn Peter an Marions Bild im Flur vorbeiging, schien sie zu lächeln. Zu verstehen.

»Die ist es!«, rief Greta begeistert und tippte mit dem Finger auf den Ausdruck der E-Mail, der auf dem Küchentisch lag.

»Meinst du?«, fragte Peter, der neben ihr saß.

»Lies ihn noch mal«, schlug sie vor, während sie aufstand und eine frische Kanne Tee aufsetzte.

Peter war die anfängliche Euphorie für ihren Plan, eine Frau für seinen Kollegen und besten Freund Hauke Thomsen zu finden, abhandengekommen. Er hatte sich diese Aufgabe leichter vorgestellt. Einige dieser E-Mails waren deprimierend, andere wiederum strotzten vor Lebensfreude und Intelligenz.

Greta schien ihm seine Stimmung anzusehen. »Nun komm schon. Niemand hat gesagt, dass es einfach wird«, sagte sie, während sie ihm mit der Hand durch sein dünner werdendes Haar strich.

»Ja, aber«, er nahm das Foto einer Mittvierzigerin vom Tisch, »im Ernst?«

Greta lachte. Er mochte ihr Lachen. Es war nicht mehr so laut und künstlich, wie er es noch vor einem Jahr empfunden hatte. Überhaupt war sie ganz anders als vorher. Und trotzdem war es Peter immer noch ein bisschen unheimlich, ausgerechnet mit der Frau, die er jahrelang gemieden hatte, zusammen zu sein. Sie hatten sich über mehrere Monate langsam angenähert und beschlossen, ihre Beziehung für sich zu behalten, solange sie sich nicht ganz sicher waren.

»Du wolltest unbedingt eine Zeitungsannonce.«

Peter nickte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die meisten der Frauen studiert hatten und auf den Fotos aussahen, als wären sie Professorinnen oder CEOs von internationalen Konzernen.

»Kannst du dir die an Haukes Seite vorstellen? Wenn der den Mund aufmacht, nimmt die doch sofort Reißaus.«

»Na, na, nun übertreib mal nicht. Hauke ist ein gut aussehender und kluger Mann.«

»Ja, aber das weiß er gut zu verbergen. Wenn du den manchmal reden hörst, ist das wie ein Unfall. Du willst weghören, aber du kannst nicht.«

»Es muss ja nicht gleich eine Amtsrichterin sein.«

»Nee, bitte nicht. Dann dauert es nicht lange und Hauke hat eine Strafanzeige wegen Beleidigung an der Backe. Die interne Ermittlung gegen uns haben wir gerade eben so überlebt, da hole ich uns nicht auch noch die Judikative ins Haus.«

Greta strich ihm zärtlich über die Wange. Sie wusste, wie sehr ihm diese ganze Sache mit der DIVE, der internen Ermittlungsgruppe, zugesetzt hatte. Die Sitzungen bei seinem Yogi Sohanraj hatte er verdoppeln müssen.

Sein Chef und Freund Philip Goldberg war haarscharf an der Suspendierung vorbeigeschrammt. Anfangs war Peter misstrauisch gewesen, da die Ermittlung sich allzu rasch in Wohlgefallen aufgelöst hatte. Doch der Kommissar würde nicht mit der Sprache rausrücken, da waren Hauke und er sich ausnahmsweise einmal einig. Philip war nicht gerade eine Plaudertasche. Natürlich hatte Peter das nicht auf sich sitzen lassen können und Operation Blaues Auge ins Leben gerufen. Nach wenigen Wochen hatte er allerdings erkennen müssen, dass seine Beziehungen nicht weit genug reichten, um hinter Philips Geheimnis zu kommen. Wenn es denn überhaupt eines gab. Sie hatten sogar versucht, ihn betrunken zu machen. Aber auch dieser Plan war fehlgeschlagen. Es hatte nicht lange gedauert, bis er sie durchschaut hatte.

Zuerst war Peter enttäuscht gewesen. Doch er hatte begriffen, dass auch er Geheimnisse hatte, die er vor seinen Kollegen verbarg. Greta zum Beispiel. Und er hatte es akzeptiert. Den wiederkehrenden Impuls, der Sache auf den Grund zu gehen, unterdrückte er fortan. Vielleicht war es tatsächlich besser so.

»Ich bin froh, dass das Gutachten über deinen Chef zu seinen Gunsten ausgefallen ist«, bemerkte Greta.

»Und ich erst. Nicht auszudenken, wenn sie die Kophusener Polizeistation geschlossen hätten. Womöglich wären wir nach Krempe zu Rolf versetzt worden. Das wäre übel ausgegangen, sage ich dir. Sowohl für ihn als auch für uns.«

»Also, mein Lieber, ich werde die Flinte auf keinen Fall so mir nichts, dir nichts ins Korn werfen.« Greta setzte sich ihm gegenüber und schob ihm einen frischen Becher Tee vor die Nase. »Ich schlage vor, wir gehen systematisch vor. Wir sortieren sie in drei Gruppen. Die, die wir getrost vergessen können, die, die im Bereich des Möglichen liegen, und die, die sich ganz passabel anhören.«

Peter hielt den Ausdruck der E-Mail in die Höhe. »Und die findest du passabel?«

»Warten wir das persönliche Kennenlernen ab, bevor wir sie aussortieren. Manche Dinge brauchen Zeit. Wir zwei sind doch das beste Beispiel.«

Ihr Lächeln ließ ihn kapitulieren. »Na gut. Aber ich habe ein Vetorecht. Immerhin kenne ich diesen Mann besser als er sich selbst.«

»Wenn du dich da mal nicht zu weit aus dem Fenster lehnst.«

»Glaub mir, Hauke würde sein Glück nicht erkennen, wenn er neben ihm im Bett aufwachen würde. Das hat er oft genug bewiesen.«

»Ist er wirklich so ein Schürzenjäger, wie alle behaupten?«

»Schlimmer.«

»Du übertreibst.« Sie lachte.

»Nee, bestimmt nicht. Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen. Unser lieber Kollege macht ja keinen Hehl aus seinen sogenannten Eroberungen. Mich würde nicht wundern, wenn er für jede Frau, die er rumkriegt, eine Kerbe in sein Bettgestell haut. Und immer dann, wenn er sich mal so richtig verliebt hatte, waren das genau die Falschen. Und was für welche! Das eine Mal hat er sich vor lauter Liebeskummer so besoffen, dass er sich tagelang in der Kirche verkrochen hat. Hätte Philip ihn nicht entdeckt, wäre er vermutlich längst tot.« Peter biss sich auf die Zunge. Sie hatten Hauke versprechen müssen, nichts über diesen peinlichen Vorfall zu erzählen. Niemandem. »Das darfst du aber nicht weitersagen! Hörst du?«

»Ich stelle mich doch nicht zwischen dich und deinen besten Freund.«

Peter nickte erleichtert. »Ganz zu schweigen von der letzten Katastrophe. Ein Wunder, dass die Kollegen dichtgehalten haben. Wenn diese Fotos jemals an die Öffentlichkeit gelangen sollten, du, dann ist mächtig was los. Die Frau ist untergetaucht, aber wer weiß, was die inzwischen ausheckt. Ganz schussecht war die ja nicht.«

»Das klingt, als müssten wir Hauke vor sich selbst schützen.«

Sie hatte recht. Sein Kollege würde noch über seinen eigenen Penis stolpern, wenn er nicht endlich solide werden würde. Anders konnte man das nicht ausdrücken. Diese unsäglichen Affären würden ihn irgendwann zu Fall bringen, das predigte er seinem Freund schon seit Jahren. An Hauke prallte das jedoch ab.

»Gut, wir bilden drei Haufen.« Peter ordnete die Zuschriften akkurat zu einem großen Stapel. Er nahm das erste Blatt. »Renate aus Husum, fünfundsiebzig Jahre alt. Pensionierte Lehrerin. Mehr braucht man wohl nicht zu sagen, oder?«

Greta nickte sanft.

Peter legte ihre Zuschrift auf den Stapel der Kategorie Getrost vergessen. Hauke brauchte nicht noch eine Mutter, er brauchte eine ebenbürtige Partnerin in seinem Alter. »Lisa, achtundvierzig, aus Hamburg. Optikerin. Ist geschieden, hat einen Sohn und sieht doch sehr nett aus.«

»Auf jeden Fall Stapel eins.«

»Obwohl ...« Peter überlegte kurz. »Hauke als Vater?«

»Warum denn nicht?«

»Der Mann hat noch nicht einmal ein Haustier.«

»Wollte er nie Kinder?«

Peter zuckte die Achseln. »So persönlich reden wir nicht zusammen.«

»Das nennt ihr persönlich? Worüber redet ihr denn? Das Wetter?«

»Auch.«

Greta griff kopfschüttelnd nach dem nächsten Ausdruck. Insgesamt waren es über hundert E-Mails, die in dem eigens dafür eingerichteten Postfach eingegangen waren. Und das bereits nach dem ersten Tag des Erscheinens. Sie mussten rigoros aussortieren, wenn sie der drohenden Flut Herr werden wollten. Die Anzeige war drei Wochen geschaltet. Sie hatten bis Mai gewartet. Im Frühjahr, glaubten sie, würde es leichter sein, weil die Menschen zu neuem Leben erwachten. Ihr Plan war es, die geeigneten Kandidatinnen zu einem persönlichen Treffen nach Bielenberg einzuladen. Wenn es ihnen ernst war, mussten die Damen schon etwas Einsatz zeigen und bereit sein, zu ihnen an die Elbe zu kommen. Den Anzeigentext hatten sie kurz gehalten. Daraus ging natürlich hervor, dass das Objekt der Begierde sich nicht selbst auf die Suche machte. Sie wollten mit offenen Karten spielen. Dass das besagte Objekt selbst nichts von dem Vorhaben wusste, war ein Umstand, den sie zu gegebener Zeit preisgeben wollten. Ein bisschen kam Peter sich vor wie in einer dieser schauderhaften Kuppelshows aus dem Fernsehen. Nicht dass er diese Art von Sendungen ernsthaft verfolgte, aber man kam auch nicht recht an ihnen vorbei. Mit Marion hatte er sich früher gern die Sendung Herzblatt angeschaut, als sie noch von Rudi Carrell moderiert worden war. So viel Aufwand würden sie natürlich nicht betreiben. Wie sie Hauke stattdessen ihre Vorauswahl präsentieren wollten, daran wagte er im Moment noch nicht zu denken. Insgeheim hoffte Peter, Haukes Flirtreflex würde die Oberhand über die drohende Empörung gewinnen. Er schob den Gedanken beiseite und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Stapel vor sich.

Nacheinander gingen sie sämtliche Bewerbungen durch. Die meisten der Frauen schienen überproportional gebildet und gut situiert zu sein. Also nichts für Hauke. Nicht dass er dumm gewesen wäre. Im Gegenteil. Ebenso wenig litt sein Freund unter einem Minderwertigkeitskomplex. Aber er reagierte allergisch auf alle Menschen, die sich etwas auf Herkunft, Bildung oder gar Geld einbildeten. Im Grunde war Hauke ein Snob, nur dass er im Vergleich zu anderen auf der deutlich weniger vermögenden Seite stand. Er verabscheute alle Personen, die mit dem, was sie besaßen, angaben oder sich in Szene setzten. Plötzlich kam Peter eine Idee. Vör seinem inneren Auge sah er eine Wand mit einem verspiegelten Fenster zum Nebenraum. Eine Gegenüberstellung, in der Hauke sich hinter dem Spiegel die Frauen aussuchen konnte, die ihm gefielen. Anhand von Nummern. Würde das funktionieren? Bewies er damit Humor oder war es nicht eher zutiefst politisch inkorrekt? Er blickte verstohlen zu Greta, die über dem vorletzten Brief brütete. Würde sie lachen oder ihm eine fette Ohrfeige verpassen? Besser, er ließ diese Frage unbeantwortet. Hauke fände es sicher komisch. Allein das war Antwort genug.

»Stapel eins«, sagte Greta. »Oder was meinst du?«

Peter schüttelte das Bild ab und griff nach dem Papier, das ihm seine Freundin entgegenstreckte. Er stockte. Seine Freundin, wiederholte er in Gedanken. Waren sie schon so weit? War Greta jetzt seine Freundin?

»Olivia, sechsundvierzig Jahre alt, wohnt in Elmshorn. Sie wirkt sehr sympathisch. Ledig, noch nie verheiratet. Apothekerin.«

»Die sieht nett und frech aus.« Peter schaute auf das Foto, das sie an den Bogen getackert hatten. »Hoffentlich erwischen wir bei unserer Auswahl keine aus Haukes umfangreicher Sammlung«, kam es ihm in den Sinn.

»Das wäre aber ein arger Zufall, oder?«

»Ja, das stimmt. Manchmal geht das Schicksal allerdings verschlungene Wege. Und bei dem Verschleiß, den Hauke an den Tag legt, kann man's nicht hundertprozentig ausschließen.«

Ihre Blicke trafen sich. Ihr Lachen war ansteckend. Hoffentlich hatte Hauke dieses Mal auch so viel Glück.

3

Goldberg lag auf dem Sofa. Seinen Kopf in Magdas Schoß, beobachtete er, wie seine Freundin aufmerksam die nächste Seite ihres Buches aufschlug. Sie war eine von den Buchhändlerinnen, die ihren Beruf sehr ernst nahmen und auch am Wochenende viel Zeit mit Büchern verbrachten. Goldberg dagegen las eher selten. Ihm fehlte es an Konzentration. Er versuchte, diesen Augenblick der Ruhe zu genießen, doch das Lesebändchen kitzelte ihn. Der Kommissar pustete es mit einem kräftigen Stoß beiseite. Magda hob das Buch und sah ihn an.

»Brauchst du Aufmerksamkeit?«, fragte sie und lächelte.

Dieses spöttische Lächeln mochte er noch immer und hoffte, dass es ihm nie über werden würde. Goldberg nickte gespielt traurig. Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss.

»Reicht das?«

Goldberg machte eine vage Geste.

»Ich will noch die Mitte schaffen.«

Das war die Art, wie sie Bücher las, die ihr nicht besonders gefielen. Fünfzig Seiten vom Anfang, fünfzig von der Mitte und ebenso viel vom Ende. Eine Buchhändler-Krankheit, so nannte sie es. Hauptsache, man konnte etwas über Inhalt und Schreibstil sagen, damit man es der passenden Kundin verkaufen konnte. Sie warf ihm einen Luftkuss zu und widmete sich wieder dem ungeliebten Roman.

Goldberg erhob sich und ging in die Küche. Einen Espresso dürfte er für heute noch trinken. Er hatte erst zwei gehabt.

»Machst du mir auch einen? Mit Milch bitte.«

»Sehr wohl, Madame.«

Magda antwortete nicht, aber er wusste, dass sie amüsiert mit den Augen rollte. Die Maschine gab ein geräuschvolles Ächzen von sich und begann, sich warm zu laufen. Mittlerweile hatte er sich in ihrem kleinen Domizil, einer schmucken Reetdachkate in Kollmar, eingelebt. Magda hatte ihren Mann Georg nach der Scheidung ausbezahlt. Der Kredit, den sie dafür aufnehmen musste, war fast getilgt. Sie spielten mit dem Gedanken, den Mietvertrag für das Häuschen, in dem er gewohnt hatte, zu kündigen. Sie würden eine Menge Geld sparen. Goldberg konnte sich trotzdem nicht recht durchringen, das Kleinod am Rande von Kophusen endgültig aufzugeben. Es war für ihn der Beginn einer neuen Zeitrechnung gewesen. Dieses Haus hatte ihn nach dem Tod seiner Ziehtochter Muriel mit schützenden Armen aufgenommen. Der Apfelbaum im Garten hatte ihm viele Male Schatten und Trost gespendet. Wie Balsam hatte die Ruhe sich auf seine Wunden gelegt und nicht unwesentlich zur Heilung beigetragen. Doch spätestens jetzt, da er Stationsleiter in Kophusen bleiben durfte, sprach eigentlich nichts mehr dafür, sein Haus zu behalten.

Es gab genau zwei Menschen, die wussten, wie er diesen Coup, seine Stelle nicht zu verlieren, bewerkstelligt hatte. Magda zählte nicht dazu. Nachdem er sich im November einer umfangreichen psychologischen Begutachtung hatte unterziehen müssen, war er nach Berlin gereist. Unter dem Vorwand, sich mit Jens Steirer, seinem besten Freund und ehemaligen Therapeuten, zu treffen, hatte er sich einige Tage in einem Hotel einquartiert. Seine Eigentumswohnung in Berlin war vermietet. Allerdings hatte er sich nicht nur mit Jens getroffen, der einer der beiden Geheimnisträger war, sondern auch mit Axel, seinem früheren Kollegen, der inzwischen weit oben in der Hierarchie mitspielen durfte.

Bei der Erinnerung an diese Begegnung spürte Goldberg das drängende Gefühl, seinen Mageninhalt zu entleeren. Rasch schob er den Gedanken beiseite. Axel sollte nicht länger sein Problem sein. Mit routinierten Handgriffen bereitete er zwei duftende Espressi zu. Er fügte dem einen den gewünschten kleinen Schubs heiße Milch hinzu und brachte ihn Magda. Mit dem anderen machte er es sich gerade auf dem Sofa gemütlich, als das Telefon klingelte. Goldberg stand auf und warf einen Blick auf das Display.

»Für dich?«, fragte Magda.

Nickend nahm der Kommissar das Gespräch an. »Hauke, was ist los?«

»Scheiße, das ist los!«

Goldberg sah Magdas Grinsen. Die Stimme seines Mitarbeiters drang so laut aus dem Telefon, dass sie das Gespräch mithören konnte.

»Geht es etwas konkreter?«, fragte er und nahm einen Schluck aus der kleinen Tasse.

»Wir haben einen Notruf erhalten.« Hauke schnaubte.

»Und?«

»Verdacht auf Einbruch. Ich hol dich ab.«

»Ja, gut. Bis gl...«

Ein. Klicken am anderen Ende. Goldberg stellte das Telefon zurück auf die Station.

»Ein Einbruch?«, erkundigte sich Magda.

»Sieht so aus. Mehr war nicht aus ihm rauszukriegen.«

Hauke hatte mächtig schlechte Laune. Die Aussicht, an einem nebligen Sonntag im feinsten Nieselregen nach vermeintlichen Einbrechern zu suchen, schlug sich auf sein Gemüt. Er parkte den Streifenwagen am Straßenrand und stellte den Warnblinker an.

»Philip, die Alte hat sie nicht alle. Ich sage euch schon seit Jahren, dass wir endlich die Behörden einschalten sollen. Die lebt allein in diesem Bunker. Wer bricht denn da bitte freiwillig ein?«

»Die Nachbarn jedenfalls nicht«, kommentierte Goldberg.

»Jetzt kriegt die auch noch Wahnvorstellungen. Als ob die Alte nicht schon verrückt genug wäre.«

Hauke stieg aus und stapfte voran. Sie kannten diese Adresse zur Genüge. Ursula Neumann war um die achtzig Jahre alt und wohnte in diesem Haus, lange bevor Goldberg seine Stelle in Kophusen angetreten hatte. Die ältere Dame war alleinstehend und schien eine obsessive Vorliebe für Abgeschiedenheit zu haben. Das Innere des Hauses hatten sie noch nie zu Gesicht bekommen. Frau Neumann ließ niemanden in diese heiligen Hallen. Ihr gesamtes Grundstück hatte sie durch hohe Holzzäune inklusive Maschendrahtabschluss gesichert. In der Vergangenheit hatten sie mehrmals ausrücken müssen, da sie regelmäßig Dinge in ihrem Garten verbrannte, die verdächtig nach Kunststoff rochen und dichte Rauchschwaden produzierten, durch die sich ihre Nachbarn gestört fühlten. Jedes Mal hatten sie sie belehrt, aber es nützte nichts. Im Gegensatz zu seinem Kollegen zweifelte Goldberg nicht an dem Verstand der betagten Dame. Vielmehr glaubte der Kommissar, dass sie alte Geister plagten, und dafür hatte er durchaus Verständnis.

Die Haustür unterschied sich auf den ersten Blick nicht von denen der Nachbarschaft. Die beiden Fenster links und rechts jedoch ließen auf ihre eigensinnige Lebensart schließen. Mit Zeitungspapier abgeklebt, verhinderten sie jeglichen Einblick. Und Ausblick. Das war nicht verboten, entlockte Hauke allerdings jedes Mal eine unflätige Bemerkung.

»Die Zeitungen sind von anno schieß mich tot«, sagte Hauke. »Wir sollten die Bude ausräuchern, wenn du mich fragst.«

»Ich frage dich aber nicht«, erwiderte Goldberg und betätigte den Klingelknopf.

Hauke wusste aus Erfahrung, dass er sich bei diesen Besuchen im Hintergrund zu halten hatte. Sein Temperament trug nicht zur Deeskalation bei. Im Gegenteil. Goldberg klingelte noch einmal, und es dauerte einige Minuten, bis Schritte zu hören waren. Dann endlich erklang das vertraute Klacken diverser Schlösser. Selbst wenn jemand den Mut aufbrachte, in dieses Haus einzudringen, Goldberg glaubte nicht, dass es ohne Weiteres gelingen würde.

»Das werden auch immer mehr«, murmelte Hauke. »Als würde sie in Fort Knox wohnen.«

Goldberg ignorierte seine Bemerkung und wartete geduldig, bis das Klacken verklang. Normalerweise war Ursula Neumann eine resolute Erscheinung, die sich nicht einschüchtern ließ. Aber dieses Mal öffnete ihnen eine verhuschte Frau die Tür. Durch den schmalen Spalt erkannte er ihr ungewohnt bleiches Gesicht. Ihre Kurzhaarfrisur wirkte, als käme sie gerade aus dem Bett. Goldberg ließ sich sein Erstaunen nicht anmerken.

»Guten Tag, Frau Neumann. Sie erinnern sich vielleicht an mich? Goldberg. Philip Goldberg.«

Ihr stummes Nicken war ebenfalls ungewöhnlich. Bei den letzten Besuchen war sie nicht so schweigsam gewesen.

»Sie haben den Notruf alarmiert. Was ist passiert?«, erkundigte Goldberg sich.

Ihre Augen wanderten von ihm zu Hauke. Den Bruchteil einer Sekunde schien sie zu überlegen, was sie tun sollte. »Ich habe mich geirrt«, sagte sie knapp.

»Dürfen wir vielleicht reinkommen? Dann könnten wir zur Sicherheit nachsehen, ob auch wirklich alles in Ordnung ist«, meinte der Kommissar.

Instinktiv gab sie der Haustür einen winzigen Ruck, der den Spalt noch schmaler werden ließ.

»Sie wissen, dass ich Sie nicht reinlasse. Das brauche ich auch nicht. Ich kenne meine Rechte. Es ist alles in Ordnung. Keine Einbrecher. Ich habe mich getäuscht.« Ihre Stimme klang fest und entschlossen. Allerdings schielten ihre Augen kurz nach hinten in den dunklen Flur, als würde sich dort jemand verbergen.

Das leise Schnauben seines Kollegen überhörte Goldberg geflissentlich. »Sind Sie sicher? Wir schauen gerne für Sie nach.«

»Nein, nicht nötig. Es war nur Filou, mein Kater. Er hat eine Tasse vom Regal geschmissen. Guten Tag.«

Sie nickte kurz und drückte ihnen die Tür vor der Nase zu. Den Polizeibeamten blieb nichts anderes übrig, als dem Klacken der Schlösser zu lauschen, die nacheinander einrasteten.

»Verrückte Alte«, kommentierte Hauke und wandte sich zum Gehen. »Was für eine beschissene Zeitverschwendung. Und dafür sind wir extra hergekommen.«

Goldberg blieb stehen, bis das Klacken verklungen war und sich ihre Schritte wieder entfernt hatten. Sein Gefühl sagte ihm, dass in diesem Haus etwas nicht stimmte. Doch das gab ihnen nicht das Recht, gewaltsam in ihr Heim einzudringen und es zu durchsuchen. Ein Bauchgefühl bot ihm keine Handhabe. Ein Gang um das kleine Einfamilienhaus war nicht möglich. Die Zäune versperrten jeglichen Zutritt. Sie wollte nicht gesehen werden. Und das war ihr außergewöhnlich gut gelungen.

»Kommst du jetzt endlich? Ich fahre dich zu deiner Angebeteten zurück.«

Goldberg gab den Widerstand auf und folgte seinem Kollegen, der bereits in den Streifenwagen stieg.

»Kam dir das nicht seltsam vor?«, fragte er, als er auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.

»Die Alte ist und bleibt seltsam.«

»Ja, aber hast du ihren Blick bemerkt?«

»Wahrscheinlich haben wir sie aus dem Bett geholt. Die hat doch nichts anderes zu tun, als den lieben langen Tag zu pennen.«

»Aber sie wählt doch nicht den Notruf und legt sich dann ins Bett.«

»Die Frau ist irre, Mann! Wahrscheinlich bereitet sie sich auf den Untergang der Welt vor.«

Goldberg zückte sein altes Nokia-Gerät aus der Innentasche seines Leinensakkos.

»Wen rufst du an?«

»Peter.«

»Wegen der Lappalie? Der hat heute frei.«

Der Kommissar überlegte es sich anders. »Du hast recht. Stören wir ihn besser nicht.« Er musste lächeln.

»Was ist so lustig?«, fragte Hauke.

»Peter hat ein neues Hobby: Puzzeln. Das hat er mir jedenfalls gestern weismachen wollen, als ich ihn fragte, was er mit seinem freien Tag anstellen will.«

Hauke schnalzte mit der Zunge. »So nennt man das also im gesetzten Alter?« Er grinste breit. Dieses Thema wirkte immer bei ihm. Haukes Laune hatte sich schlagartig verbessert. »Der Mann verarscht uns, wenn du mich fragst. Langsam nehme ich das persönlich. Warum zeigt er uns seine neue Flamme nicht? Ist die so hässlich?«

»Vielleicht ist es ihm peinlich.«

Hauke riss die Augen auf. »Du meinst, sie ist so jung, dass sie seine Tochter sein könnte?«

»Nein. Ich meine, dass er ein schlechtes Gewissen gegenüber Marion hat.«

»Ach, Quatsch. Die ist jetzt bald zehn Jahre tot. Wird endlich Zeit, dass er mal wieder in den Sattel springt. So lange ohne hält doch keiner aus. Da kriegt man ja einen Knoten im Dödel.«

»Damit hast du sicher keine Probleme.«

»Ich kann nichts für mein gutes Aussehen. Das ist Natur.«

»Darwin ist also schuld.« Goldberg sah, wie Hauke den Mund öffnete, und wechselte rasch das Thema: »Hast du das schon einmal gemacht?«

»Einmal? Machst du Witze?«, erwiderte sein Kollege lachend.

»Hauke, ich rede vom Puzzeln.«

»Ach so, dachte schon, du brauchst ein paar Ratschläge.«

Goldberg zog seine rechte Augenbraue hoch und warf seinem Kollegen einen unmissverständlichen Blick zu.

»Ist ja schon gut. Ja, ich habe es ein paar Mal probiert, war aber nicht so mein Ding. Mir fehlt die Geduld für so etwas. Außerdem hasse ich es, wenn diese kleinen Pappdinger ständig vom Tisch fallen und ich sie nicht wiederfinde.«

Hauke startete den Motor. Goldberg warf einen letzten Blick auf das Haus, das wie eine heruntergekommene Festung aussah. Sein Kollege schien sein Unbehagen zu spüren.

»Lass es gut sein, da ist niemand eingebrochen. Bei der sind nur die Schrauben locker. Das ist alles«, beschwichtigte Hauke ihn.

Der Streifenwagen fuhr an und ließ das Haus im Seitenspiegel immer kleiner werden. Goldberg blieb ein mulmiges Gefühl im Magen. Er hoffte, sein Kollege würde ausnahmsweise recht behalten.

4

Hauke schloss die Tür zur Polizeistation auf. Es kam in letzter Zeit auffällig oft vor, dass er der Erste morgens war. Normalerweise war das Peters Job. Aber der lag wahrscheinlich noch in den Armen seiner ominösen Unbekannten und verlängerte das Wochenende. Beneidenswert, fand er. Bei ihm war es schon einige Monate her, dass er in den Armen einer Frau gelegen hatte. Nicht, dass er es nicht versucht hätte. Aber er hatte sich verändert. Ben hatte ihn verändert. Nicht im Kern. Er war kein anderer Mensch geworden. Allerdings ließ diese Begegnung seine zahlreichen Affären in einem anderen Licht erscheinen. Das Schicksal dieses Mannes hatte etwas in ihm ausgelöst, dass er nicht näher beschreiben konnte. Hauke hatte sogar überlegt, ihn zu besuchen. Ben war nach Schleswig in die Forensische Psychiatrie gebracht worden. Hauke verfolgte den Prozess im Norddeutschen Kurier. Der arme Kerl hatte alles verloren. Es gab niemanden, der sich um ihn kümmerte. In dem Verfahren drehte es sich nur um die Grausamkeiten, die er angerichtet hatte, und um seinen geistigen Zustand. Niemand machte sich die Mühe, über seine wahren Beweggründe nachzudenken. Außer Hauke Thomsen. Ausgerechnet er. Immer wenn er Anstalten machte, eine Frau anzusprechen, spürte er Bens Arme um seine Schultern, und jegliche sexuelle Energie verpuffte auf der Stelle. Es war wie ein Reflex. Er musste diese Bilder loswerden. Mit Ende vierzig war er zu jung, um nie wieder Sex zu haben. Wobei er zugeben musste, dass es ihm nicht unbedingt fehlte. Der Sex an sich schon, aber die verzweifelte Jagd danach wirkte seltsam schal. Möglicherweise war es Zeit für etwas Festes, Ernsthaftes. Etwas, das sein Herz berührte, wofür es sich zu kämpfen lohnte, das länger hielt als ein paar Stunden. Das letzte Mal, als er es ernst gemeint hatte, ging gründlich daneben. Sophie hatte ihn eiskalt abserviert. Seit der wilden Affäre mit Elsa war sein Bett ebenso kalt geblieben. Er war nicht verliebt gewesen, die Demütigung hatte ihn dennoch tief getroffen. Doch sie war nichts gegen die Begegnung mit Ben. Er hatte niemandem von diesem Moment zwischen ihnen erzählt. Es war ihm peinlich. Er wollte nicht, dass die anderen auf komische Gedanken kamen.