Elbtier - Nicole Wollschlaeger - E-Book

Elbtier E-Book

Nicole Wollschlaeger

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Beschreibung

Kommissar Goldberg und seine Kollegen Hauke Thomsen und Peter Brandt stehen gewaltig unter Druck. Zwei externe Ermittler wurden ihnen vor die Nase gesetzt, um ihnen auf die Finger zu schauen. In dem kleinen Dorf formiert sich zudem eine Bürgerwehr, denn in Kophusen verschwinden zahlreiche Haustiere spurlos. Anstatt wie gewohnt auf ihre eigensinnige Art zu ermitteln, muss das Ermittler-Trio sich plötzlich peinlich genau an die Regeln halten. Während die Stimmung im Dorf zu kippen droht, beginnt ein verzweifelter Kampf gegen die Zeit, in dem es nicht nur um die Zukunft der Kophusener Polizeistation, sondern auch um Leben und Tod geht.

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Beim Abriss eines Einfamilienhauses entdecken die Bauarbeiter einen menschlichen Schädel. Doch anstatt die Ermittlungen aufnehmen zu können, müssen Philip Goldberg und seine beiden Kollegen sich um die Beamten der internen Ermittlungsgruppe DIVE kümmern, die Kophusens Polizeistation ins Visier genommen haben. Zeitgleich verschwinden zahlreiche Haustiere, und Goldberg sieht sich mit Rosis neugegründeter Bürgerwehr konfrontiert, deren unheilvolle Unterwanderung den dörflichen Frieden bedroht. Während der ehemalige Stationsleiter Alfred versucht, die Falldichte künstlich zu erhöhen, bereitet sich der Täter hingebungsvoll auf seinen letzten Einsatz vor. Die Haustiere sind Teil einer verzweifelten Mission, die er unter allen Umständen zu Ende bringen will. Auch wenn das bedeutet, dass er wieder töten muss.

Nicole Wollschlaeger, 1974 in Pinneberg geboren, absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin. 2004 schloss sie ihr Schauspielstudium in Hamburg ab. Bis 2016 lieh sie ihre Stimme der Kinderbuchreihe Das magische Baumhaus und tourte mit ihren Lesungen durch ganz Deutschland. 2013 erschien ihr erster Roman Schatten über Nargon im Carlsen Verlag.

Mit ELBSCHULD startete 2016 die Krimireihe um das Kophusener Ermittler-Trio.

Ausführliche Informationen finden Sie unter: www.nicolewollschlaeger.de

Der Titel ist auch als Paperback und Hörbuch erschienen.

Weitere Titel der Autorin:

ELBSCHULD ELBSCHMERZ ELBSPIEL ELBGIFT ELBFANG Schatten über Nargon

In liebevoller Erinnerung an Lieschen, Bob, Flauschi, Knubbel und Purzel.

»Ich bin nicht tot, tausche nur die Räume, ich leb’ in euch und geh’ durch eure Träume.«Michelangelo

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

1

Es war kurz nach sieben, als Katharina Ludwig ihren Jack-Russell-Terrier an die Leine nahm und das Haus verließ. Dank der Zeitumstellung war es bereits hell. Sonntags machte sie mit Sammy vor dem Frühstück einen ausgiebigen Morgenspaziergang. Sie hatte den braun-weißen Hund erst vor einigen Wochen aus dem Tierheim in Itzehoe geholt. Schon als Kind hatte sie sich einen Hund gewünscht, aber ihre Eltern waren immer dagegen gewesen.Nach dem Umzug nach Kophusen hatte sie sich ihren Wunsch endlich erfüllt. Sammy war ihr sofort aufgefallen, und als sie an den Zwinger getreten war, war er schwanzwedelnd auf sie zugestürmt, als hätten sie einander schon immer gekannt. Die Leiterin des Tierheims zeigte sich erstaunt über seine spontane Zuneigung. Normalerweise war Sammy eher zurückhaltend, wenn Besucher kamen. Doch nicht bei Katharina. Die beiden hatten sich auf Anhieb ins Herz geschlossen. Sie hatte ihr Glück kaum fassen können.

Letzten Freitag hatte sie Sammy bei einer Hundeschule in der Nähe angemeldet. Da es ihr erster Hund war, wollte sie alles richtig machen. Außerdem entpuppte sich der Terrier als Kraftpaket, das sich nur schwer bändigen ließ

Katharina liebte die frühmorgendlichen Spaziergänge, bei denen sie Kophusen oft ganz für sich allein hatte. Das Dorf war nicht groß, und sie hatte sich sofort in den kleinen Ort an der Elbe verliebt. Nach endlosen Besichtigungen hatte sie sich für eine kleine Reetdachkate entschieden. Mit einem Häuschen im Grünen hatte sie schon länger geliebäugelt.Zwar hatte es auf den ersten Blick ein wenig düster gewirkt, aber seit sie die dunklen Deckenbalken innen weiß gestrichen hatte, wirkte es wesentlich freundlicher und vor allem größer. Als Grafik-Designerin einer renommierten Hamburger Werbeagentur konnte sie ebenso gut von zu Hause arbeiten. Und falls nötig, fuhr sie einfach mit dem Zug in die Stadt. Sie hatte sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht. Seit der Trennung von ihrem Freund war in ihr der Wunsch nach Abgeschiedenheit größer geworden. Ihre Eigentumswohnung in Eimsbüttel hatte sie vermietet. Sie wusste nicht, ob das Landleben das Richtige für sie war. Manche Dinge musste man eben erst einmal ausprobieren.

Den Ortskern von Kophusen hatten sie schon ausgiebig erkundet. Sammy hatte sich gestern auf dem Kirchenvorplatz erleichtert, und da sie die Beutel vergessen hatte, hatte sie sich schnell aus dem Staub machen wollen. Doch eine Anwohnerin hatte ihr Vergehen entdeckt und lautstark gemaßregelt. Heute Morgen hatte sie daher beschlossen, die äußere Runde um Kophusen herum zu nehmen. Eine schmale Straße führte an Feldern entlang und verband die letzten Häuser des Dorfes mit dem Ortskern. Hier reihte sich ein Bauernhof an den nächsten. Sie mochte die riesigen Reetdachhäuser, von denen die meisten den Glanz vergangener Zeiten längst hinter sich gelassen hatten. Die Mehrzahl dieser Höfe machten den Eindruck, als würden sie nicht mehr betrieben. Zwischen den einzelnen Gehöften konnte man einen Blick auf einige Perlen der norddeutschen Architektur werfen. Oft deutlich kleinere Häuser, die ihren Charme nicht verloren hatten und liebevoll gepflegt wurden.

Katharina folgte der Straßenkurve vorbei an den Wiesen. Der Frühnebel hing tief zwischen den Bäumen und Sträuchern, die sich entlang des schmalen Grabens schlängelten. Sammy lief weit voraus, die lange, neongrüne Rollleine im Anschlag, sodass sie den Jack-Russell-Terrier mehr erahnte, als dass sie ihn tatsächlich sehen konnte. Heute Morgen lagen die Häuser verschwommen im Dunst. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, jemanden in Kophusen kennenzulernen. Einfach bei ihren Nachbarn zu klingeln und sich vorzustellen, dafür hatte ihr bisher die Zeit gefehlt. Sie hoffte, dass man sich zwanglos bei einem Spaziergang begegnen würde. Bislang war das allerdings nicht geschehen.

Die Leine spannte sich ruckartig. Vermutlich hatte Sammy ein Kaninchen auf dem Feld entdeckt. Mithilfe der Stopptaste verkürzte sie die Entfernung zu ihrem Hund, und die Leine rollte sich Stück für Stück eigenständig auf. Sie kam ihr wie ein Rettungsseil vor, an dessen Ende der Terrier unaufhörlich zog. Irgendetwas im Nebel hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Katharina folgte dem grellen Band, bis Sammy inmitten des feuchten Dunstes auftauchte. Er stand reglos vor einem grünen Bauwagen, der an der Straßenseite abgestellt war. Das kleine Haus dahinter konnte sie nur schemenhaft erkennen.

»Braver Sammy. Was hast du denn entdeckt?«

Katharina streichelte den kleinen Kopf, doch der Hund rührte sich nicht. Normalerweise reagierte das Tier auf jede Berührung von ihr. Stattdessen zog es ihn Richtung Haus. Er schien Witterung aufgenommen zu haben. Die Schnauze glitt dicht über den Boden.

»Riechst du ein Kaninchen?«

Sammy drängte vorwärts. Katharina hatte Mühe, ihn zurück auf den Weg zu bringen. Er hatte offensichtlich nicht vor, ihren Spaziergang fortzusetzen.

»Sammy, das ist ein Privatgrundstück, das dürfen wir nicht betreten. Komm!«

Katharina versuchte, den Hund zur Umkehr zu bewegen, doch er ließ sich partout nicht davon abbringen.

»Zu Hause gibt es ein Leckerli.«

Selbst diese Aussicht ließ ihn nicht erweichen. Stattdessen knurrte er leise. Plötzlich ergriff sie eine leichte Panik. Möglicherweise brach gerade jemand in das Haus ein. Katharina hielt sich nicht für einen ängstlichen Menschen, aber in diesem Nebel, mutterseelenallein, konnte sie auf eine solche Begegnung gern verzichten. Andererseits konnte auch jemand in Gefahr sein. Viel-leicht brauchte jemand Hilfe.

»Ist ja gut. Wir schauen kurz um die Ecke.«

Der Regen der letzten Tage hatte den Boden aufgeweicht. Skeptisch blickte Katharina sich um, konnte in den dicken Nebelschwaden aber nichts erkennen. Es war ein bisschen unheimlich. Sie verkürzte die Leine erneut und ging vorsichtig am Bauwagen vorbei. Sammy zog unermüdlich und folgte der unsichtbaren Fährte.

Nasses Laub bedeckte den Boden. Die Feuchtigkeit sog sich in ihre Turnschuhe. Kurz bereute sie, nicht doch Richtung Ortskern gegangen zu sein. Sollte sie umkehren? Katharina atmete die feuchte Luft ein und streckte den Rücken durch.

»Stell dich nicht so an«, flüsterte sie, »du wolltest ja unbedingt aufs Land ziehen. Also reiß dich zusammen.«

Entschlossen folgte sie Sammy, der ein leises Kläffen von sich gab, als wolle er ihr versichern, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Katharina schüttelte den Kopf, während ihr Blick auf ihre völlig durchnässten Schuhe fiel. Sie wollte sich nicht erkälten. Vielleicht sollte sie doch umkehren. Unschlüssig blieb sie stehen. Wie aufs Stichwort kam Sammy zu ihr und bellte. Dann lief er ein Stück voraus, um sich kurz darauf wieder zu ihr umzudrehen. So aufgeregt hatte sie ihren Hund noch nicht erlebt. Katharina wurde das Gefühl nicht los, dass er ihr etwas zeigen wollte.

»Na schön. Aber nur kurz. Und dann gehen wir zurück. Hörst du?«

Sammy bellte wie zur Bestätigung und setzte seinen Weg fort. Katharina fluchte leise. Was zum Teufel machte sie hier? Ließ sich von dem kleinen Pimpf zum Narren halten. Sicher hatte er nur ein totes Tier gewittert, das er ihr stolz präsentieren wollte, als hätte er es selbst erlegt. Sie beschloss, sich seinen Fund rasch anzuschauen, Sammy ihr Lob auszusprechen und sich dann sofort auf den Heimweg zu machen. Niemandem würde das auffallen. Hastig schritt sie an der Eingangstür des Bungalows vorbei. Je näher sie kamen, desto energischer zog Sammy an der Leine und drängte sie, sich zu beeilen. Katharina orientierte sich an der Hauswand. Mit der Hand tastete sie sich an den Backsteinziegeln entlang, während Sammy die Nase nicht vom Boden nahm. Ein Geräusch ließ Katharina zusammenzucken. Sammy blieb stehen und sie beide lauschten angestrengt in die Stille. Der schwache Laut schien aus dem Haus zu kommen. Es klang wie ein Kratzen. Panik erfasste sie. Wirre Gedankenfetzen rasten ihr durch den Kopf. Sie befand sich auf einem fremden Grundstück. War das nicht Hausfriedensbruch? Doch vielleicht benötigte wirklich jemand ihre Hilfe.

»Such«, flüsterte sie.

Sammy übernahm die Führung. In der Hauswand tauchte ein Fenster auf. Sie überwand ihre aufkeimende Angst und riskierte einen vorsichtigen Blick. Es war ein Badezimmer. Die Einrichtung schien aus den Achtzigerjahren zu stammen. Sammy zog an der Leine.

»Ist ja gut. Ich komme ja schon.«

Zielstrebig umrundete der Hund das Haus, bis sie an eine kleine Terrasse gelangten. Das Kratzen war lauter geworden. Unsicher, was zu tun war, kramte Katharina ihr Smartphone aus der Manteltasche. Sammy kläffte. Er verstand offenbar nicht, wie man so kurz vor dem Ziel stehen bleiben konnte.

»Aus.«

Sammy blickte sie erwartungsvoll an. Katharina wollte vorbereitet sein, wenn sie einen Blick durch die Terrassentür warf. Entweder musste sie einen Rettungswagen rufen oder auch die Polizei. Vorsichtig betrat sie die glitschigen Holzbohlen der Veranda. Das Schaben kam eindeutig aus dem Haus. Der Hund hatte die Scheibe erreicht und begann zu winseln. Katharina lief ein Schauer über den Rücken. Mit wenigen Schritten hatte sie die Glasfront erreicht und spähte durch das dreckige Fenster. Der Anblick verstörte sie. Und doch konnte sie sich nicht abwenden. Geistesgegenwärtig aktivierte sie auf ihrem Smartphone die Kamera. Hastig machte sie ein paar Fotos. Das Blitzlicht erleuchtete den Raum, und sie erschrak jedes Mal aufs Neue. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie musste das melden. Jemand musste dafür sorgen, dass diesem Leid ein Ende gesetzt wurde.

»Komm, Sammy. Lass uns verschwinden.«

Zitternd wählte sie auf dem Mobiltelefon die Tastatur aus, als eine Stimme hinter ihr erklang.

»Was tun Sie hier?«

Ihr Herz begann zu rasen. Mit einem heftigen Ruck drehte sie sich um. Der Mann, der vor ihr stand, blickte ihr direkt ins Gesicht. Auf dem dunklen Pullover und seiner braunen Cordhose erkannte sie Flecken. Reflexartig verkrampften sich ihre Muskeln.

»Ich … ähm, also mein Hund hat sich im Nebel verirrt.«

Etwas Besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein. Die Augen des Mannes fixierten sie. Seine Stiefel waren vom Schlamm verschmiert. Erst jetzt sah sie das Gewehr über seiner rechten Schulter baumeln. Panisch wandte sie den Blick ab.

»Ihr Hund ist angeleint«, bemerkte er.

»Ja, ich habe ihn gerade gefunden und sofort an die Leine genommen. Es tut mir leid, wenn wir Sie gestört haben. Aber in diesem Nebel konnte ich nichts sehen und plötzlich stand ich vor Ihrem Haus.«

Sein prüfender Blick wanderte von ihr zu dem Jack-Russell-Terrier.Vor Katharinas geistigem Auge erschien Sammy tot in einer riesigen Blutlache.

»Hören Sie, wir verlassen jetzt einfach Ihr Grundstück. Und alles ist gut.«

»Das geht nicht.«

Katharina schluckte trocken. Ihre Angst hatte sich zu einem dicken Klumpen geballt, der in ihrem Hals festsaß. Zitternd presste sie die Leine an sich.

»Sie haben Fotos gemacht. Geben Sie mir Ihr Telefon.«

Das Smartphone hatte sie sich erst letzte Woche für ein kleines Vermögen gekauft. Doch das war ein vergleichsweise geringes Opfer, wenn sie dafür mit dem Leben davonkam.

Der Fremde streckte die Hand aus. Katharina reichte ihm das Gerät.

»Und jetzt Ihren Hund.«

Sie starrte ihn ungläubig an. »Was?«

Er lächelte. Dann ließ er demonstrativ das Smartphone auf den Boden fallen und stampfte es mit der Hacke in den Schlamm.

»Sie werden jetzt gehen und niemandem etwas hiervon erzählen. Sonst hole ich mir Ihren Hund und …« Er brach mitten im Satz ab und griff nach seinem Gewehr.

Katharina packte Sammy und klemmte sich den kläffenden Hund unter den Arm. So schnell sie konnte, hastete sie durch den Nebel. Dieser Irre würde ihren Hund nicht töten. Auch wenn sie eben noch beabsichtigt hatte, ihren Fund der Polizei zu melden, sie würde es nicht tun. Selbst wenn ihr Schweigen ein Verbrechen deckte.

2

Der Schädel sah perfekt aus. Als hätte man ihn als Ausstellungsstück für eine wertvolle Sammlung hergerichtet. Er hatte etwas Ästhetisches, fast schon Erhabenes an sich. Ein derart gut erhaltenes Exemplar hatte Philip Goldberg trotz all der Jahre bei der Berliner Kriminalpolizei noch nie gesehen.

»Machst du jetzt einen auf Hamlet?«, fragte Hauke in seinem gewohnt spöttischen Ton.

»Wieso? Steht er mir?«

Hauke Thomsen schüttelte den Kopf. »Ich hätte dich sicher nicht besetzt. Du bist viel zu alt.«

»Sehr charmant, Herr Kollege.«

Goldberg erhob sich mühsam. Seine knackenden Knie würden irgendwann streiken. Dem Kommissar fielen solche Bewegungen zunehmend schwerer, obwohl man seinen Körper nur als hager bezeichnen konnte. Er war ungelenk. Und unsportlich. Ein Umstand, dem er leicht hätte Abhilfe schaffen können. Doch Goldberg verweigerte sich konsequent jeglicher sportlicher Betätigung.

»Du bewegst dich wie ein alter Knacker«, kommentierte Hauke grinsend.

Als Chef und Stationsleiter wollte er gerade etwas Respekteinflößendes entgegnen, aber einer der beiden Bauarbeiter unterbrach sie.

»Und jetzt? Wir müssen weitermachen, wir haben einen Zeitplan zu erfüllen.«

»Ihr macht hier gar nichts mehr«, rief Hauke dem untersetzten Mann zu, der ungeduldig in seinem kleinen Bagger saß. »Das hier ist ab sofort ein mutmaßlicher Tatort.«

»Nee, nä?«, rief der Mann.

»Du hast ganz richtig gehört. Wir rufen jetzt die Kollegen von der Kripo. Ihr könnt Mittag machen.«

»Es ist gerade mal halb zehn«, protestierte der Arbeiter.

Goldberg sah, wie der Mann Hauke entgeistert über die Reste einer Wand hinweg anstarrte. Die Fetzen der Siebzigerjahre-Tapete schrien ihm in einem grellen Mix aus Orange und Braun entgegen. Ein psychedelisches Muster, als hätte es höchstpersönlich den Schädel im Garten des Hauses platziert, um den Abriss abzuwehren.

»Das können Sie nicht machen«, bekräftigte der Bauarbeiter.

»Du hast keine Ahnung, was wir alles können.«

Hauke verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. Er war nicht gerade für seine Diplomatie bekannt und erst recht nicht für sein Feingefühl. Hauke war mehr der Mann fürs Grobe. Zumindest nach außen hin. Sein Kern hingegen war weich und zartfühlend, ein Umstand, den er mit allen Mitteln zu verbergen suchte.

»Ich rufe meinen Chef an«, drohte der Arbeiter und räumte widerwillig seinen Platz an der Abrissbirne.

Der Mann kramte sein Mobiltelefon hervor. Während er lautstark mit dem Bauleiter telefonierte, sahen die beiden Polizeibeamten sich um. Das Einfamilienhaus stand in beliebter Sackgassenlage am Rande von Kophusen. Einer der Bauarbeiter hatte ihnen vor gut zwanzig Minuten erklärt, dass die neuen Eigentümer das Haus abreißen ließen, um sich eines dieser KfW-Effizienzhäuser bauen zu lassen. Allerdings war man bei den Arbeiten auf einen menschlichen Schädel gestoßen. Klugerweise hatten sie Peter Brandt benachrichtigt. Vermutlich hatte der Arbeiter die leise Hoffnung gehabt, er und Peter, beide Kophusener Urgesteine, könnten das ohne viel Aufsehen regeln. Doch da kannte er Goldbergs Kollegen schlecht.

»Hier hat die alte Hintz gewohnt. Vielleicht haben ihre Kinder sie um die Ecke gebracht und kassieren die Rente.«

»Und vergraben die Dame ausgerechnet auf ihrem eigenen Grundstück?«

Hauke zuckte mit den Schultern. Goldberg nahm einen großen Asservatenbeutel aus der Innentasche seines Sakkos und tütete den Schädel ein. Wenn Dietmar Klose von der Kriminalpolizei aus Itzehoe eintraf, sollte der keinen Grund zur Beanstandung haben. Sie waren ohnehin nicht gut aufeinander zu sprechen.

»Ich fange schon mal an, die Scheiße hier abzusperren«, brummte Hauke und trottete zum Streifenwagen.

Sein Chef nickte und zückte sein altes Nokia-Gerät. »Peter, hier ist Philip«, begrüßte er seinen dienstältesten Mitarbeiter. »Finde bitte mal die Eigentümer der letzten zwanzig Jahre raus. Dem Schädel nach zu urteilen ist der, mit dem wir es hier zu tun haben, bereits länger tot.«

»Ist der wirklich echt?«, fragte Peter ungläubig.

»Das kann ich nicht sagen.«

»Ruf doch Bruno an.«

»Hab ich schon versucht, der geht nicht ran.«

»Tja, schade. Da ist der Rechtsmediziner in Kophusen zu Besuch und ist nicht erreichbar. Ist schon Ironie, oder?«

»Um genau zu sein, macht Bruno Urlaub. Ich bin mir nicht sicher, ob er auch noch seine Freizeit mit sterblichen Überresten verbringen möchte.«

»Auch wieder wahr. Meines Wissens hat in dem Haus immer nur Beate Hintz gewohnt. Aber ich checke das zur Sicherheit. Ist Dietmar schon unterwegs?«

»Ja.«

»Na denn, viel Spaß. Und pass auf Hauke auf.«

»Der ist wieder ganz der Alte.«

»Trotzdem. Der Schreck von seinem letzten Auftritt sitzt immer noch tief. Und hab ein Auge auf die hämischen Kollegen.«

»Im Notfall werfe ich mich schützend vor ihn.«

Sie unterbrachen die Verbindung. Hauke war inzwischen dabei, unter lautstarkem Protest der Bauarbeiter den Fundort abzusperren.

»Jetzt haltet den Rand, ja«, hörte er seinen Kollegen wettern. »Ich mach hier nur meine Arbeit. Das ist ein Totenschädel. Wenn dieses Haus nicht gerade als Theaterkulisse genutzt wird, ist das hier bis auf Weiteres ein Leichenfundort. Also stellt euch nicht so an. Ist ja nicht euer Geld.«

Mürrisch zogen sich die Arbeiter an ihren Bagger zurück und rauchten. Goldberg besah sich ihren Fund noch einmal. Es war komisch, auch er hatte sofort an das Stück von Shakespeare denken müssen. So tief hatte sich die markante Szene in die Köpfe der Menschen eingebrannt. Er versuchte erneut, seinen Freund Bruno zu erreichen. Dieses Mal nahm er das Gespräch an.

»Philip, hast du nichts zu tun? Ich sitze gemütlich auf deiner Terrasse und genieße die ersten Sonnenstrahlen des Tages.«

»Wir haben einen Schädel gefunden, und ich würde gerne wissen, ob der echt ist.«

»Wo findet man denn in Kophusen einen Schädel?«

»In den Trümmern eines abgerissenen Hauses.«

»Ich bin in den Ferien, schon vergessen? Ruf Mona an, die hat die Brücke, solange ich nicht da bin.«

»Macht dich das nicht neugierig?«

Bruno Leiser, der Chef der Kieler Rechtsmedizin, zögerte. Ein gutes Zeichen, fand Goldberg und setzte nach. »Du müsstest dich natürlich beeilen. Dietmar kann jeden Augenblick hier auftauchen und dann geht das Fundstück nach Kiel.«

»Habt ihr noch mehr Knochen gefunden?«

Sein alter Freund, mit dem er einst die Polizeischule besucht hatte, hatte angebissen.

»Bisher nicht. Aber so, wie ich die Sache sehe, ist das ein illegales Grab.«

»Wo seid ihr?«

Goldberg lächelte zufrieden und gab ihm die Adresse durch.

Hauke saß auf den Überresten des Treppenabsatzes, der zu der weggerissenen Haustür gehört hatte, und rauchte. Er hatte den Kampf der letzten Wochen wie so oft verloren und sich dem Nikotin ergeben. Bei seinem Job war es unmöglich aufzuhören, fand er. Um sich Philips vorwurfsvollen Blicken zu entziehen, hatte er sich in den Hintergrund verkrümelt. Gierig nahm er den letzten Zug, trat den Stummel aus und erhob sich. Sein Chef stand mit Bruno Leiser an der schief in den Angeln hängenden Gartenpforte und brütete fachsimpelnd über dem Totenkopf.

»Und? Echt?«, fragte er, als er sich zu ihnen gesellte.

»Ohne Labor kann ich das natürlich nicht mit Gewissheit sagen, aber ich denke schon«, erwiderte der große dunkelhaarige Rechtsmediziner.

»Und nu?«, fragte Hauke seinen Chef.

»Schauen wir, ob wir noch mehr Leichenteile finden«, erklärte Philip.

»Wir?«, fragte Hauke ungläubig. »Dietmar ist gleich hier. Und du weißt, wer uns auf dem Revier erwartet. Ich will nicht noch mehr Ärger haben«, protestierte Hauke.

»Das sagt ausgerechnet der Mann, der uns diesen Ärger eingebrockt hat«, erwiderte Philip.

»Ich glaube kaum, dass die Kollegen gegen uns ermitteln, weil ich ein angekokeltes Stück Holz auf der Wetter treiben ließ oder ich eine verdammte Kuh erfunden habe. Die sind hier, weil du dich mit meinem bisher sehr rechtschaffenen Kollegen in illegaler Mission auf Friedhöfen herumtreibst. Wer, bitte, stört die Totenruhe und gräbt eine Urne aus? Ich habe es euch gleich gesagt.«

»Die sind schneller wieder weg, als ihr gucken könnt«, mischte Bruno sich ein. »Bei der Falldichte, die hier in Kophusen herrscht, können sie sich gar nicht erlauben, eure Polizeistation zu schließen.« Er lachte.

Hauke schnaubte. »Sehr witzig. Das waren Fälle, für die wir gar nicht zuständig waren. Auf uns können die im Prinzip gut verzichten.«

Er war beunruhigt, seit die Beamten der DIVE, einer neugegründeten Dienststelle für interne Vorgänge und Ermittlungen, heute in aller Frühe bei ihnen auf der Wache aufgekreuzt waren. Wenn die sogenannten unabhängigen Kollegen auftauchten, war die Kacke ordentlich am Dampfen. Er hatte mit ansehen müssen, wie sie über die Jahre Dutzende Polizeistationen wie die ihre geschlossen hatten, und er wollte ganz sicher nicht nach Krempe zu Rolf. Die nächste Option wäre Glückstadt oder Itzehoe. Oder schlimmer noch Elmshorn. Hauke mochte Kophusen, er war hier groß geworden. Und auch wenn er phasenweise mit seinem Schicksal in diesem kleinen Kaff haderte, war er doch immer wieder zu dem Schluss gekommen, dass Kophusen seine Heimat war und er es nicht übers Herz bringen würde, ihr den Rücken zu kehren. Er war mit diesem Kleinod verwachsen. Sie mussten unter allen Umständen verhindern, dass die werten Herren in Kiel ihre Station dichtmachten.

»Hauke, hörst du mich?« Philip riss ihn aus seinen Gedanken.

»Was?«

»Wärst du so gütig, uns bei der Suche zu helfen?«, wiederholte sein Chef.

»Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache!«, protestierte er.

»Hauke, wann hast du schon mal ein gutes Gefühl? Außer in Begleitung einer Frau natürlich«, entgegnete Philip.

Hauke konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wo sein Chef recht hatte, hatte er recht. Er musste an Elsa denken. Mit der Landfrau hatte er im Frühjahr einige aufregende Nächte verbracht. Aber es hatte für ihn in einem äußerst peinlichen Desaster geendet, von dem er sich nur mühsam erholt hatte. Deswegen hatte er einige Chancen ungenutzt vorbeiziehen lassen. Und jetzt, wo auch noch die DIVE gegen sie ermittelte, war nicht einmal im Traum an Sex zu denken. So abgebrüht, wie alle dachten, war er nicht.

Das Geräusch einer eingehenden Nachricht unterbrach seine Überlegungen.

Sobald Du Zeit hast, musst Du ins Restaurant kommen. Dringend! Rosi

Seine Schwester hielt sich nicht lange mit Floskeln auf. Er mochte das an ihr. Das hatten sie gemeinsam. Allerdings hasste er diesen Befehlston. Der erinnerte ihn an seine Mutter. Seit die beiden Frauen so eng in ihrem Restaurant arbeiteten, wurden sie sich immer ähnlicher, fand Hauke. Es war schon genug, dass seine Schwester so dicht bei ihm wohnte, aber zwei von der Sorte waren eindeutig zu viel.

Bin bei einem Einsatz. Komme heute Mittag.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

Das ist zu spät! Komm, so schnell Du kannst.

Was war denn da schon wieder los, fragte er sich im Stillen. Wahrscheinlich waren ihr die Ökohühner ausgegangen. Neuerdings bot Rosi in ihrem Restaurant nur noch Biofutter an. Das tat dem Laden keinen Abbruch. Im Gegenteil. Die gesamte Elbmarsch schien nur darauf gewartet zu haben.

»Hauke, wenn du nicht gleich kommst, werte ich das als Verweigerung und muss es den Kollegen der Dienststelle für interne Vorgänge und Ermittlungen melden.«

»Damit macht man keine Scherze!« Hauke verstaute das Telefon in der Brusttasche seiner Uniformjacke und stieg über den kläglichen Rest der Außenwand. »Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass hier eine ganze Leiche rumliegt? Müssten die Knochen dann nicht beim Schädel sein?«

»Kann sein, muss aber nicht«, entgegnete Bruno.

Zum Glück hatte er seinen Berliner Slang weitestgehend abgelegt. Hauke hasste dieses »icke« und »wa«.

»Aha.«

»Es gibt eine Reihe von Gründen, warum Knochen nicht an der Stelle im Erdreich bleiben, wo sie bestattet wurden«, erklärte Bruno, wobei er das Wort »bestattet« mit den Fingern in Gänsefüßchen setzte. »Grabende Tiere, Bewegungen im Erdreich, Grundwasser. Oftmals ist es sogar Nachlässigkeit. Normalerweise vergräbt man Leichen in einer Tiefe, die nicht für Tiere erreichbar ist und bei der Regen und Frost eben nicht zum Hochdrücken führen können.«

»Wir wissen ja noch gar nicht, ob die Leiche überhaupt vergraben worden ist. Vielleicht ist die auch in der Vorratskammer verfault«, wandte Hauke ein.

»Sehr appetitlich, Hauke«, erwiderte sein Chef.

Bruno grinste. »Philip, du hast den Bundesverdienstorden verdient. Wie hältst du diesen Griesgram aus?«

»Jetzt mach mal halblang, ja? Du bist gerade mal zwei Tage hier. Das ist nicht repräsentativ«, protestierte Hauke.

»Doch, ist es. Glaub mir, Bruno«, entgegnete Philip. »Mein Kollege ist nicht sehr vielschichtig.«

»Sehr witzig. Vielschichtig genug jedenfalls, um dem wehrten Herrn Kommissar den Arsch zu retten.«

Ein dunkler Kombi unterbrach ihr Geplänkel und kam mit quietschenden Reifen neben ihnen zum Stehen. Kaum hatte der Fahrer die Wagentür schwungvoll aufgestoßen, begann er auch schon mit einer Schimpftirade. Hauke atmete tief ein und wappnete sich für die Auseinandersetzung mit dem Anzugfritzen. Der wütende Bauleiter kam ihm gerade recht.

»Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst! Wissen Sie, was mich die Unterbrechung kosten wird? Nur weil ein paar Kinder sich einen Scherz erlaubt haben, erklären Sie meine Baustelle zum Tatort? Haben Sie überhaupt eine gerichtliche Anordnung für so etwas?«

»Die brauchen wir nicht, Herr …?«, erwiderte Hauke.

»Bauer.«

Wie passend, dachte Hauke, verkniff sich allerdings eine Bemerkung. »Herr Bauer, bis wir geklärt haben, ob dieser Totenkopf ein schlechter Scherz ist oder nicht, steht Ihre Baustelle still. Da können Sie so viel reden, wie Sie wollen. Haben wir uns verstanden?«

»Das ist doch wirklich …«

Zwei Einsatzfahrzeuge unterbrachen seine Entgegnung.

»Noch mehr Beamte?«, entfuhr es dem Bauleiter.

»Darf ich vorstellen, die Kripo. Wir sind nur die Schutzpolizei und für die Absperrbänder zuständig. Alles Weitere klären Sie bitte mit meinen Kollegen aus Itzehoe.«

Hauke kletterte über einen Haufen Betonreste und begrüßte Dietmar Klose, der aus dem ersten Wagen stieg. Zur Abwechslung war es ihm nicht egal, was die Kollegen von ihm und ihrer Arbeit hielten. Hier stand die Zukunft der Kophusener Polizeistation auf dem Spiel. Solange Hauke nicht wusste, wer sie angeschwärzt hatte, mussten sie höllisch aufpassen. Es hatte sie alle drei kalt erwischt, als die ebenso knappe wie schwammige Ankündigung eines Besuchs der DIVE hereingeflattert war. Hauke war felsenfest davon überzeugt, dass dies ein abgekartetes Spiel war. Jemand wollte ihn und seine Kollegen loswerden. Wonach die externen Beamten tatsächlich suchten oder gegen wen sich die interne Ermittlung in Wahrheit richtete, war ihm nicht klar. Die DIVE kam angeblich nur zum Einsatz, wenn es ein Vorfall von Brisanz und öffentlicher Tragweite war. Hauke hatte noch keinen Schimmer, was hier genau vor sich ging, aber dass sie tief in der Scheiße saßen, das wusste er. Doch das Innenministerium hatte die Rechnung ohne ihn gemacht. Er würde schon noch herauskriegen, wer dahintersteckte. Und wenn es das Letzte war, was er als Kophusener Polizeibeamter tat.

3

»Also, was zur Hölle ist so wichtig, Schwesterherz?«, fragte Hauke entnervt, als er die Tür zu Rosis Bar aufschlug, die sich inzwischen zu einem respektablen Restaurant gemausert hatte.

Es war noch nicht mal Mittag und auf der Station durchwühlten sogenannte Kollegen sämtliche Akten. Kein guter Start in diese Woche. Wenn seine Schwester nicht einen verdammt guten Grund hatte, sich bei ihm zu melden, konnte sie sich warm anziehen. Und seine Mutter gleich mit.

»Murle und Hilde sind verschwunden«, erklärte Rosi.

»Was?«

»Ja, die beiden sind seit drei Tagen weg.«

Hauke starrte sie entgeistert an, ehe er seine Sprache wiederfand. »Du lässt mich wegen der verfluchten Katzen hier antanzen? Was soll ich bitte schön deiner Meinung nach tun? Eine Vermisstenanzeige aufnehmen? Sie zur Fahndung ausschreiben?«

»Jetzt mach dich nicht lächerlich«, erwiderte Rosi, die damit beschäftigt war, hinter dem Tresen Biergläser zu polieren. Offenbar brauchten ihre Hände Beschäftigung. Rauchen war in ihrer Ökobude natürlich strengstens verboten. Auch sie selbst durfte ihrer eigenen Sucht nur noch draußen vor der Tür frönen.

»Warum bin ich dann hier?«

»Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu.«

Hauke atmete tief ein und verordnete sich eine Pause, sonst wäre er gleich explodiert. Er setzte sich auf einen der Barhocker und ließ den Blick über die rot-weiß karierten Tischtücher wandern. Die Stoffservietten waren kunstvoll gefaltet. Rosi legte viel Wert auf einen bodenständigen und zugleich stilvollen Eindruck. Als er sich wieder umwandte, sah er, dass seine Schwester mit den Tränen kämpfte. Bitte nicht weinen, dachte er. Er konzentrierte sich auf ihre Falten im Gesicht, die sich noch tiefer gegraben hatten. Das Päckchen Zigaretten, das sie täglich rauchte, tat ihr nicht gut. Ihr besorgter Ausdruck rührte ihn. Hauke mochte die Katzen, auch wenn er das öffentlich nie zugeben würde. Aber die Viecher waren schon öfter einige Tage auf Swutsch gewesen, ohne dass sie sich veranlasst gesehen hatte, die Polizei zu rufen.

»Bruderherz, ich weiß genau, was du jetzt denkst. Ich kann es in deinem Gesicht lesen. Aber dieses Mal ist es anders.«

»Und was genau ist so anders?«

Hauke bemühte sich, die Fassung zu bewahren. Seine Unbeherrschtheit würde sie nur unnötig anstacheln.

»Die beiden sind nicht die einzigen Tiere, die spurlos verschwunden sind.«

Ihr Blick krallte sich förmlich in sein Gesicht. Das konnte ja heiter werden. Zum Glück war seine Mutter nicht hier. Wenn die zwei sich gegen ihn verbündeten, hatte er keine Chance.

»Was soll das denn heißen?«, fragte er unwillig.

»In Kophusen werden Tiere entführt. Und zwar durch die Bank weg. Nicht nur Katzen, auch Hunde und Kaninchen sind schon entführt worden.«

»Entführt? Und woher willst du das wissen? Hat eines der Entführungsopfer bei dir angerufen und um Hilfe miaut?«

»Ha, ha, ha. Hauke, mir gehört das einzige Restaurant und gleichzeitig die einzige Kneipe in Kophusen und Umgebung. Meinst du nicht, ich kriege einiges mit?«

»Du stehst die meiste Zeit in der Küche und kochst.«

Sie rollte mit den Augen. »Mama ist der gleichen Meinung.«

»Als ob mich das überzeugen könnte.«

Hauke schnaubte. Rosi wollte gerade mit ihrem Bericht beginnen, als sich die Tür öffnete und Haukes ehemaliger Chef eintrat. Alfred Wilke war viele Jahre Stationsleiter in Kophusen gewesen und inzwischen ein Freund, auch wenn sie nicht mehr viel Kontakt hatten. Seinen stämmigen Körper hielt er mit sanftem Krafttraining fit.Außerdem sah ihn Hauke neuerdings mit diesen lächerlichen langen Stöckern herumlaufen.

»Moin«, begrüßte Alfred sie und setzte sich zu ihnen an den Tresen.

»Was machst du hier?«, fragte Hauke verdutzt.

»Rosi hat mich hergebeten.«

Hauke schloss die Augen für einen kurzen Moment und zählte bis drei.

»Mach nicht so ein Gesicht. Ich wusste, dass du mich nicht ernst nehmen würdest, und da habe ich Alfred angerufen.Vielleicht glaubst du ihm mehr als deiner eigenen Schwester.«

»Du jetzt auch noch?« Hauke sah ihn resigniert an.

»Hauke, du weißt, ich bin nicht leicht zu beeindrucken, aber hier stimmt wirklich was nicht. Hast du dich mal im Ort umgeguckt? Überall hängen Zettel, auf denen nach verschwundenen Tieren gesucht wird. Ich habe mich schon mal umgehört, in Kophusen gibt es bereits zehn Fälle. Sogar ein Schaf und ein Huhn fehlen.«

»Schon mal was von Füchsen gehört?«

»Das war kein Fuchs. Seit wann macht sich ein Fuchs an Hunde und Katzen heran?«, wandte Alfred ein.

»Sag es ihm«, forderte Rosi.

»Hier treibt jemand sein Unwesen und stiehlt die Tiere der Kophusener. Meistens sind sie über Nacht verschwunden. Die Fälle häufen sich, das ist kein Zufall.«

»Alfred, ich schätze deinen kriminalistischen Spürsinn, aber denkst du nicht, das ist eine Spur zu voreilig?«

»Siehst du. Mein Bruder glaubt uns nicht.« Rosi warf buchstäblich das Handtuch.

»Schwesterherz, selbst wenn ihr beiden recht habt, wir haben keine Zeit, um uns um entführte Haustiere zu kümmern. Die internen Ermittler sind seit heute Morgen bei uns. Du hast keine Ahnung, was auf der Station los ist. Die wollen uns plattmachen. Und ich weiß immer noch nicht, wer uns da was anhängen will.«

Alfred sah ihn überrascht an. »Was? Die DIVE ist bei euch?«

»Die ermitteln hochoffiziell gegen uns. Amtsmissbrauch heißt das in dem Wisch, aber sie sagen uns nicht, was genau man uns vorwirft. Wenn ihr mich fragt, ich glaube, die suchen bloß einen Grund, um die Dienststelle zu schließen.«

»Das ist ja ein Ding.« Alfred schaute ihn nachdenklich an. »Soll ich mich mal schlaumachen? Schließlich kenne ich noch den einen oder anderen Kollegen.«

»Wenn du willst, gern.« Hauke klopfte ihm auf die Schulter, bevor er sich zu seiner Schwester wandte. »Sei mir nicht böse, aber ich kann nicht so lange wegbleiben.« Im Aufstehen warf er Rosi einen aufmunternden Blick zu. »Ich halte die Augen offen, versprochen! Die beiden Racker tauchen schon wieder auf.«

»Dein Wort in Gottes Ohr. Wenn nicht, muss ich eben selbst etwas unternehmen.«

Jetzt fixierte Hauke sie mit seinen stahlblauen Augen. »Mach bloß keine Dummheiten! Hörst du? Wir haben keine Zeit für Selbstjustiz.«

Demonstrativ nahm seine Schwester den Lappen vom Zapfhahn und begann den Tresen zu wischen. Das Gespräch war beendet.

Draußen vor der Tür sog er die frische Oktoberluft ein und versuchte sich zu sammeln. Tierdiebe! Die hatten sie ja nicht alle. Offensichtlich hatten die beiden zu viel Zeit. Er wandte sich Richtung Bürgersteig, als sein Blick auf den nächsten Baum fiel. Ein Stöhnen entwich ihm. Ausgerechnet. Von dem weißen DINA4-Blatt, das an den Stamm gepinnt war, schaute ihm ein Kätzchen entgegen, das ihn an White Sock erinnerte. Er musste an ihren Fall vor einigen Jahren denken, als sie die drei Katzenbabys mitsamt ihrer kratzbürstigen Mutter in der Dücker Mühle gefunden hatten. Rosi hatte sie aufgenommen, und seitdem gehörten sie zu ihrem Restaurant wie das Essen und die verfluchten Tiffin-Lunchboxen, mit denen sie ihr ökologisches Gewissen beruhigte. Statt der normalen Einwegsachen musste man fünf Euro Pfand für diese sperrige Metallbox bezahlen, die aus mehreren Ebenen bestand. Seine Schwester war völlig durchgeknallt. Fehlte nur noch, dass sie auf vegan machte. Dann wäre er aber die längste Zeit Gast in ihrem Schuppen gewesen. Kopfschüttelnd setzte er seinen Weg zur Wache fort.

Kophusen war klein. Außer Rosis Gaststätte und Jaspers Supermarkt gab es nichts, was das konsumverwöhnte Herz beglücken konnte. Auf den nächsten Metern fielen Hauke insgesamt sieben dieser Zettel auf. Und immer verschiedene Tiere. Hauke schob den Gedanken beiseite. Die zwei Fellnasen würden schon wieder auftauchen. Sicher waren sie unterwegs oder aus Versehen irgendwo eingesperrt worden. Nichts, worüber man sich ernsthaft Sorgen machen musste.

Als er um die Ecke kam, warf er einen wehmütigen Blick auf das Einfamilienhaus, in dem ihre Station seit jeher residierte. Für Hauke war das alte Backsteinhaus seine zweite Heimat geworden. Der Dienstwagen parkte in der Einfahrt. Das Schild, das rechts neben der Tür angebracht war, zeigte das Wappen von Schleswig-Holstein. Er konnte sich nicht vorstellen, dass in diesem Haus jemals etwas anderes sein würde als ihre Station.

Dieses Mal betrat er das Haus mit einem mulmigen Gefühl. Der ockerfarbene Tresen, die beiden Schreibtische dahinter, an denen er und Peter normalerweise saßen, ließen ihn trübsinnig werden. Die Tür zu Philips Büro stand offen. Der Duft von altem Kaffee hing in der Luft. Sein Blick fiel auf die beiden Eindringlinge. Er hatte sie vom ersten Moment an gehasst. Jede Dienststelle im nördlichsten Bundesland verfügte über einen Kollegen, der sich im Fall der Fälle für eine interne Ermittlung zur Verfügung stellen musste. Man hatte ihnen Maren Knopf und Ole Kühn geschickt. Die Frau kam aus Hamburg, Ole aus Kiel. Ausgerechnet aus der Großstadt. Hatten sie nicht wenigstens Kollegen aus der Umgebung nehmen können? Der Spott über ihren ländlichen Einsatzort hatte nicht lange auf sich warten lassen. Schon beim Betreten der Polizeistation heute Morgen hatten sie sich ein Grinsen verkneifen müssen. Die beiden spielten sich fürchterlich auf. Selbst Peter gingen sie gehörig auf den Zeiger, und der war normalerweise tiefenentspannt. Die tägliche Yogapraxis hatte ihn zu einem sanftmütigen Kerl werden lassen, mit dem man sich nur noch selten richtig zoffen konnte.

»Hauke, wie war die Befragung?«, lautete die knappe Begrüßung seines Chefs.

Bei dem Einsatz an der Baustelle hatten sie abgemacht, dass sie in Gegenwart der externen Kollegen nur noch über Dienstliches sprachen und so taten, als hätten sie alle Hände voll zu tun.

»Fehlalarm. Über den Einbruch konnte mir die mutmaßliche Zeugin nichts Sachdienliches sagen.«