Elefanten-Freddy - Jana Denole - E-Book

Elefanten-Freddy E-Book

Jana Denole

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Beschreibung

Wohin führt ein mit Verderbtheit erfüllter Lebensweg? Von einem rumänischen Dorf in die Schweizer Untersuchungshaft - doch letztlich von der Amoral zur Moral. Was eine Kurtisane aus Rumänien alles erlebt, ist kaum vorstellbar. Doch "Elefanten-Freddy" beruht auf realen Ereignissen: Von spanischen und Schweizer Bordellen, über gescheiterte Freundschaften und Affären, eine Hochzeit mit einem Marokkaner aus reichem Elternhaus - ein Callgirl im Gefängnis hat viel zu erzählen und knüpft hier zum ersten Mal eine Freundschaft, die hält und auch ihren Weg von der Amoral zurück zur Moral übersteht. Wer hätte gedacht, dass man es von der Prostitution in die Medizin schaffen kann?

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Seitenzahl: 903

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Impressum 2

Vorwort 3

Der sexy Elefant! 5

Gefangenentransport 16

Grüezi, Schweiz! 19

Der Dornenweg eines Luders 46

Auf nach Spanien! 49

3.1 120

Nichts als Plackerei in Sicht … 200

4.1 283

4.2 311

In Madrid angekommen 386

Hallo, Hannover! 477

Wieder am Weg zu ihren Wunschzielen 554

Fang, hier hast du deine rosarote Brille! 580

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-489-2

ISBN e-book: 978-3-99107-490-8

Lektorat: Mag. Elisabeth Pfurtscheller

Umschlagfoto: Jana Denole

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Vorwort

Das Buch wurde in einem schweizerischen Untersuchungsgefängnis geschrieben.

Kehrseite der Paradiesmedaille!

Was machen die Tiere nachts, wenn keine Kinder im Zoo sind?

Inwieweit sind die Schweizer pervertiert? Zu welch abscheulichen Umtrieben verführt das sorglose Leben die Millionäre …

J. Denole

Der sexy Elefant!

Nacht. Geheimnisvolle, mit dem Schleier des Reichtums umhüllte schweizerische Dunkelheit, begleitet von umwerfendem Wind und Sprühregen, die Blätter von den Bäumen fegen und an den Mantelsaum kleben. Bei solchem Schmuddelwetter, das den Teil der Menschheit mit entsprechender Neigung in die Depression treibt, wünschen sich die Menschen mit Hunden einen Garten zum Gassigehen, sodass sie keinen Schritt weitergehen müssen als auf die Freitreppe ihrer Villa, den Hals mit einem Schal aus weichem Kaschmir umwickelt. In einer solchen Villa, die nicht anderes als eins der berühmtesten Bordelle der ganzen Schweiz war, klingelte das Telefon und zerriss das warme Puffidyll. Leise Musik klang kaum hörbar im Boudoirambiente, wo sich die anschmiegsamen Kätzchen schläfrig auf den Sofas langweilten. Jedes von ihnen beschäftigte sich mit seinen Angelegenheiten. Eines schärfte seine Krallen, ein anderes starrte die glitzernde Zimmerdecke an, die in vulgärem Stil gestaltet und angeblich mit Swarovski-Kristallen übersät war. Zwei von ihnen schimpften leise und zischten einander wegen des letzten Kunden an, um den sie sich gestritten hatten, vielleicht auch wegen des Trinkgeldes. In dieser stillen, schlichten Atmosphäre war es nicht möglich, jedes Wort zu hören, das sie sprachen. Unter den Schönen spürte man einen gewissen sorglosen Charme und allgemeine Nettigkeit. Um diese Arbeit zu bekommen, mussten sie alle einen Auswahlwettbewerb durchlaufen. In Etablissements dieser Art werden nur die erlesensten professionellen Verführerinnen und echte Kennerinnen der männlichen Untugenden aufgenommen.

Das Bordell platzte fast vor unverwüstlicher Energie und angesichts des Drucks der Geheimnisse der superrreichen, perversen Kunden, die tierisch scharf auf Neuheiten waren. Unter ihnen gab es Banker, Politiker, Geschäftsleute und Topmanager der größten Unternehmen der Welt. Ausgerechnet dieses merkwürdige Gebäude lockte ungewöhnliche Personen mit einem leicht abgehobenen Verständnis der Welt an. Natürlich garantierte das verruchte Schlangennest, dass die kleinen Sünden und schmutzigen Fantasien der Menschen mit kranker Einbildungskraft, die von Millionen oder gar Milliarden Franken auf dem Bankkonto verwöhnt sind, wie sie dem gewöhnlichen Verstand grundsätzlich nicht zugänglich sind, nicht an die Öffentlichkeit gebracht werden.

Das liebreizende Mädchen an der Rezeption ließ das Telefon eine Minute klingeln, dann hob sie den Hörer ab und lauschte einer wie eine nicht geölte Tür quietschenden Stimme. Als sie dem Anrufer antwortete, verwandelte sich das Gesicht des süßen Mädchens in eine leblose Grimasse, in der ein Albtraum geschrieben stand.

Die Mädchen erstarrten, Grabesstille lag in der Luft. Nur eine der netten Persönchen verstand nicht, worum es ging – eine kleine Rumänin, die neu an diesem ungewöhnlichen, vom Schweigen umhüllten Ort war, erst vor zwei Stunden war sie eingetroffen. Die Mädchen reckten sich ein wenig, fast als ob sie Männchen machen wollten, wie unglückliche, unschuldige Frettchen, mit der Bitte in den Augen: „Wähle nicht mich!“

„Wer geht zu Freddy?“, rief das Mädchen mit dem Hörer in der Hand. Es sah aus, als ob sie schwere Luft durch ihre mit Silikon aufgepumpten Lippen pustete, die mit grellem Permanent-Make-up bedeckt waren. Keine Antwort. Stille herrschte im Raum.

„Zu Krueger?“, erklang eine Stimme aus der Menge.

„Tut nicht so, als hättet ihr nicht verstanden, zu wem! – Mädels, es tut mir sehr leid, aber wir können unseren Stammkunden nicht absagen. Erst recht nicht diesem.“

„Was ist los, warum nennt ihr ihn Krueger?“, fragte Roxi erstaunt die Frau, die neben ihr auf dem Sofa saß und die, nach dem Schmuck an ihren Händen zu urteilen, eine der teuersten Nutten war.

„Er ist einer der verrücktesten Kunden in diesem Etablissement. Den Spitznamen Krueger haben wir ihm als Scherz gegeben, denn dort, wohin er uns jetzt einlädt, kann sich einer vor Angst in die Hosen machen. Der irre Mistkerl hat eines von den Mädchen zum Nervenzusammenbruch gebracht, sie hat unser Etablissement verlassen müssen.“

„Ich mag Horrorgeschichten.“

„Du bist dumm! Sei still, sonst bemerkt sie dich noch!“

„Ich! Darf ich zu Krueger gehen?“, rief die furchtlose Roxana mit der ihr eigenen Schnelligkeit. Sie rettete die Situation, ohne zu verstehen, worum es eigentlich ging. Das Mädchen neben ihr versuchte, den durchgeknallten Frischling zu Verstand zu bringen, indem sie an Roxanas Rock zerrte. Diese stand aber resolut auf, ohne Rücksicht auf die Kollegin zu nehmen, und marschierte wie ein Soldat der Fremdenlegion mit geschwellter Brust in Richtung Rezeption. Sie war im Sternzeichen Jungfrau, geboren im Jahr der Schlange, lustig und theatralisch. Sie konnte ihre Gedanken elegant ausdrücken, jeden Kunden geschickt überreden und weichkochen. Es schien, als habe sie schon reichlich Erfahrung gesammelt. Es gab schließlich nur sehr wenige, die es aus einem rumänischen Kuhdorf ins beste Bordell der Schweiz geschafft hatten …

„Sie sind neu bei uns, darum müssen wir Sie vorher informieren. Dies ist ein ungewöhnlicher Kunde, ein Multimillionär mit mehr als originellen Wünschen. Sie bekommen die dreifache Bezahlung.“

„Sie brauchen gar nichts weiter zu sagen. Ich bin bereit.“

„Dann gehen Sie bitte nach oben. Sie werden angezogen und instruiert, was Sie zu tun haben und wie.“

Roxi ging in den ersten Stock. Die Tür eines Zimmers stand sperrangelweit offen, drinnen erwartete sie ein Schrank mit Sexkleidung.

„Darf ich nicht in meiner eigenen Kleidung fahren? In meinem Koffer habe ich eine Menge verschiedener Kostüme.“

„Leider nicht. Zu diesem Kunden müssen Sie so angezogen kommen, wie er es für Sie gewählt hat.“

„Geht es hier so streng zu?“

„Wir sind in der Schweiz. In diesem Land leben und lieben alle nach den Regeln.“

„Verstehe.“

Es sollte der kleinen Voodoo-Puppe für immer im Gedächtnis bleiben, worauf sie sich an diesem Tag einließ.

Dieselbe Nacht, derselbe Regen. An einem Zoo im Kanton St. Gallen fuhr eine weiße Limousine vor. Ein unglaublich schönes Mädchen stieg aus – eine blasse Rumänin mit natürlichem, pechschwarzem Haar, das ihr bis zur Taille reichte, und himmelblauen Fuchsaugen. Sie trug hohe Lackstiefel über Strümpfe mit Haltern. Ihr Po war rundlich und prall, die Beine schlank, gerade und wohlgeformt. Ihre Jacke war aus rotem Lackleder, in den Halbfinger-Handschuhen aus schwarzem Atlas mit Spitze sahen die frisch manikürten verlängerten Fingernägel supersexy aus. Der BH war essbar. Er bestand aus Fruchtgummi. Ihre Brustwarzen hatten eine seltene Besonderheit: In der Kälte zogen sie sich in den Körper zurück wie eine Radioantenne, bei Wärme kamen sie wieder heraus wie bei allen anderen Frauen auch. Die Brustform war prächtig. Beim Anblick dieser Schönheit konnte man die Männer verstehen, die gern ins Bordell gingen, ja, sie waren sogar – vollständig gerechtfertigt: Kaum jemand wäre fähig, dieser perfekten Komposition aus zwei Hügeln zu widerstehen. Die kleinen Antennen auf ideal runden, natürlichen, vollen, schön gehobenen Brüsten konnten zweifellos auch bei Frauen Lust auf eine gleichgeschlechtliche Ehe wecken.

Ein dreister Blick und prätentiös zusammengekniffene Lippen, die mit einem beinahe pechschwarzen Konturenstift nachgezogen waren, dazu ein Hundehalsband um den Hals vervollständigten den Femme-Fatale-Stil, der zu der Rumänin perfekt passte. In der rechten Hand trug sie einen kleinen Koffer mit allerlei Zubehör für SM, unter anderem einige geschälte Karotten. Der gelangweilte Fahrer, der gleichzeitig ein Gehilfe des Zuhälters war, bat das Mädchen gemäß der Vereinbarung mit dem Kunden, die Hundeleine in der Faust zu halten und nach vorne zu ziehen, als würde sie sich selbst mit ausgestrecktem Arm wie einen Köter hinter sich herzerren, und zeigte ihr den Weg in die Dunkelheit – in Richtung des schwarzen Zooeingangs.

Das Mädchen stieg aus dem Auto, und die Realität holte ihre Vernunft ein. Die Rumänin fing allmählich an, zu begreifen, worauf sie sich eingelassen hatte. Sie drehte sich zu der abfahrenden Limousine um, schreckliche Angst und Panik, begleitet von Übelkeit, überfielen sie.

„Oh Gott! Was mache ich nur?“

Nachdem sich das Scheinwerferlicht in der mitternächtlichen Dunkelheit aufgelöst hatte, schaute Roxi in die Finsternis, nahm ihre Hundeleine in die Hand und ging langsam, Schritt für Schritt, als ob ein Fallbeil sie erwartete, in die Richtung, aus der Laute von Tieren zu hören waren. Das markerschütternde Gebrüll eines Tigers vor dem Hintergrund von monotonem Eulengeheul stach aus der Geräuschkulisse besonders hervor.

Plötzlich fuhr ein Blitz nieder und es donnerte, die Zooinsassen lärmten noch lauter, was Roxi panische Angst machte. Die Laute unserer Mitgeschöpfe bedeuten nicht immer Vergnügen und Freude. Man spürte die Macht der Stärkeren. Ein Mensch ist ein Nichts ihnen gegenüber. Er wird zertrampelt und bei lebendigem Leibe aufgefressen. Nachts ist es im Zoo gruseliger als auf dem Friedhof. Niemals hatte ein Friedhof das Mädchen so geängstigt wie dieser scheinbar harmlose Zoo. Als sie sich der Pforte und dem schmiedeeisernen Zaun näherte, zuckte sie zusammen. Direkt neben ihr stand ein Mann in der Dunkelheit. Er war ziemlich breit gebaut, hatte ein auffälliges, ovales Gesicht, große Ohren und ein etwas stoppeliges Kinn. Sein kastanienbraunes, anscheinend gefärbtes Haar deutete auf ein fortgeschrittenes Alter hin. Er hatte den kalten Gesichtsausdruck eines Puppenspielers. Um das Bild dieses fürchterlichen Menschen abzurunden, fehlte vielleicht nur noch ein Transvestiten-Make-up. Natürlich war er nicht geschminkt, aber die schrecklichen, reglosen Augenbrauen hinter seiner Brille, die leicht gehobene Oberlippe, eine große Nase, nicht ganz gerade Vorderzähne und ein direkter Blick aus schmalen, kleinen, farblos-grauen Knopfaugen, in denen kein einziger Gedanke zu lesen war, verliehen seiner Erscheinung eine irre Eiseskälte und ließen ihn unecht und täuschend komisch aussehen.

„G-g-guten Abend. Ich bin Callgirl, mein Name ist Roxi.“

„Komm rein, du stinkige Schlampe. Jetzt wirst du von meinen Elefanten gefickt!“

„Welche Elefanten? Ich will nicht.“

„Was heißt, du willst nicht? Hör auf, zu schreien! Hat man dir nicht gesagt, dass du hier nicht schreien darfst?“

„Doch.“

„Ich verfüttere dich den Tieren, du schmutzige Kreatur.“

„Bitte schön, wie Sie wünschen!“

Er riss ihr den Koffer aus der Hand, öffnete ihn langsam und holte eine der vorbereiteten Karotten heraus. Er packte das Mädchen an der Hundeleine und zog sie hinter sich in die Tiefe des Zoos. Roxana hatte sich ein bisschen an den Lichtmangel gewöhnt und erkannte in der Dunkelheit die Tiere, die in den Freigehegen saßen und den extravaganten „Nachtfalter“ erstaunt anstarrten. Ein dummer Gedanke schoss Roxi durch den mit kranken Fantasien gefüllten Kopf: „Ganz bestimmt starren die Tiere mich so an, weil sie vor Neid platzen.“

Als sie an den Käfigen vorbeiging, erinnerte sie sich an das, was ihr heilig war – an Mutter und Vater, an ihr gemütliches Haus in einem Vorort, wo die Menschen sich ihr Leben lang um einander kümmern, bis sie alt werden, oder umgekehrt, ihre Tage mit Skandalen und Schlägereien und dabei doch in Liebe und Eintracht verbringen.

„Wo bin ich gelandet? Das ist schrecklich! Warum habe ich mich darauf eingelassen?“, dachte sie.

„Oh Gott, wo bringen Sie mich hin?“, rief sie laut. „Ich will nicht!“

„Jetzt schauen wir, wie sexy du bist! Mein Elefant wird dich mit einer Karotte ficken. Ahahaha!“

Das Lachen des Schizophrenen, Affengeschrei, Donner und Blitz, das Gezwitscher der unschuldigen Vögel mischten sich mit dem hektischen Getrampel der Elefanten, die von ihrem Besitzer pervertiert wurden. All das wirkte schauerlich.

Roxi erinnerte sich an einen kleinen Elefanen, den sie in ihrer Kindheit in einem Zoo in Rumänien gesehen hatte und der so lustig einen Ball auf seinem Rüssel drehen konnte. Mit ihren Eltern hatte sie dieses geliebte niedliche Wesen öfter besucht.

Aber an diesem Abend erschienen ihr Elefanten wie die schrecklichsten Tiere auf dieser Erde, gewaltig groß und mindestens eine halbe Tonne schwer. Ihr fiel auch wieder ein, dass durch Angriffe von Elefanten Hunderte von Menschen in der Welt sterben, besonders Zoologen und Tierärzte, die mit diesen Schlagetots täglich Kontakt hatten. Man wusste eben nie, wann die Tiere in Fahrt kommen würden oder was sich sonst noch ereignen konnte. Roxi hatte keine Ahnung von Elefantenarten, aber sie hoffte, dass ihr nichts Schlimmes passieren würde, dass die Tiere dieses Deppen harmlos wären und auf ihn hörten. Sie dachte angstvoll, dass sie erst fünfundzwanzig Jahre alt war, aber der alte Perversling sich schon um seinen Platz auf dem Friedhof kümmern sollte und eigentlich nichts mehr zu verlieren hatte. Elefanten hatten angeblich ein ausgezeichnetes Gedächtnis, sie waren nachtragend und konnten Menschen über Generationen hinweg hassen. Das war die Folge der Verbrechen von blutrünstigen Wilderern, die den gütigen schlappohrigen Riesen die Stoßzähne abhackten und sie dadurch einem qualvollen Tod preisgaben. Es kann nicht verwundern, dass dies eine unvergessliche Spur des Verderbens hinterlassen hatte. Jahrhunderte hindurch war ein mit Elefantenblut besudelter Mensch mit einem kostbaren Stoßzahn in der Hand das letzte Bild, das sich in den Augen eines sterbenden Tieres widerspiegelte.

Die menschliche Jagd nach Gewinn machte aus den lustigen, friedfertigen Elefanten gnadenlose Menschenmörder mit einem über die Generationen hin weitergegebenen Hass auf den Menschen.

„Ich will nicht zu den Elefanten“, flüsterte das Mädchen. Der schräge Vogel mit den kranken Fantasien beachtete ihre Worte nicht.

Er ging in ein Freigehege und näherte sich einem Riesen, der bestimmt sechstausend Kilo wog, und streichelte ihm den Rüssel.

Der Elefant drehte den Kopf weg, anscheinend, weil der Geruch von Roxis Parfüm zu stark war. Sie liebte es, sich gründlich einzusprühen. Der Mann schrie sie an, dass sie wohl für seinen Zögling nicht sexy genug wäre. Er band sie mit der Hundeleine an eine Querstange und rief: „Zieh dich aus, du schmutzige Schlampe!“

„Ich habe Angst.“

„Zieh deine Unterwäsche aus, sonst, ich schwöre, verfüttere ich dich an die Tiger!“

Es war kaum möglich, in Worten zu fassen, was in diesem Augenblick in Roxi vorging. Es schien, als ob ihre Brustwarzen für immer in den Körper hineingezogen wären. Mit zitternden Händen riss Roxi sich die Kleider vom Leib und warf sie auf den Boden. Als der Alte ihren Busen sah, der wohl mit dem Ausdruck „blühende Sakura“ bezeichnet werden könnte, wurde er etwas heiterer.

„Oho! Das wird dir gefallen“, sagte der Blödian zu dem großen Säugetier. In seinen Augen leuchtete ein furchteinflößender, irrer Funke, der sie wie vor Kälte zittern ließ.

„Entschuldigen Sie, aber ich kann mit Elefanten nicht. Ich habe keine Ahnung, wie es überhaupt gehen soll!“

„Steh still und halt’s Maul, Hure!“

Der Mann richtete den riesigen, harten Rüssel auf den mit Gänsehaut bedeckten Körper. Der Rüssel berührte den zitternden, tadellos schönen Körper der scharfen Brünetten, machte geschmeidige Bewegungen und beschmierte ihn mit Elefantenspeichel.

„Sie ist wie ein prickelnder Champagner!“, sagte der Mann in das riesige graue Ohr seines Zöglings.

„Pfui, wie ekelhaft! Du bist eine stinkende Missgeburt, du sollst krepieren!“, rief sie auf Rumänisch.

„Halt die Fresse, du Schlampe! Du machst dem Tier Angst mit deinen Unverschämtheiten!“

„Gestatten Sie mir, mit Ihnen in der Sprache Äsops zu sprechen? Auf ein System von Täuschungsmitteln zurückzugreifen und Sie nicht einen Perversling, sondern zum Beispiel einen wilden, rotärschigen Pavian zu nennen?“

„Was laberst du da für einen Unsinn, du blöde Kuh?“

Der verdammte Idiot genierte sich nicht und fuhr über den Engelskörper mit dem lebenen Rohr so ernsthaft und verantwortungsvoll, dass er einem Schweizer Müllmann ähnelte, der morgens die Straßen staubsaugt und trockenes Laub, weggeworfenes Papier und Zigarettenstummel verschwinden lässt.

Der Elefant fasste mit der Rüsselspitze Roxis Brüste, als ob er ihr die Brustwarze abreißen wollte, die sich, Gott sei Dank, wie auf Geheiß von Mutter Natur, an der Oberfläche nicht sehen ließen.

„Er reißt mir die Titten ab! Hören Sie auf!“

„Du hast geile Möpse, die gefallen ihm! Und auch dein Haar! Das ist göttlich! Ist es echt?“

„Ja, natürlich.“

Er hegte eine wirkliche Leidenschaft für das Haar, hielt es für ein äußerliches Merkmal von Reichtum, wie die Tiara einer orientalischen Königin oder einen Kranz aus Feldblumen, die beide auch ganz ordinäre Köpfe veredeln können.

Die Orgie dauerte noch einige Minuten, vielleicht auch eine Stunde. Im Zustand zwischen Schock und Panik war es schwierig zu bestimmen, wie lang dieser Albtraum dauerte. Jede Sekunde erschien eine Stunde lang, und umgekehrt schien die Stunde nach einem Augenblick vorbei zu sein. Das Gefühl, die Realität völlig zu verlieren, nervte Roxi.

„Wenn es nur wirklich ein Traum gewesen wäre, wenn auch ein lähmender!“, wisperte die halbtote Roxana, die spürte, wie die Kräfte sie verließen. Der emotionale Stress saugte ihr alles Leben aus dem Leib. Sie fühlte sich wie eine Gummipuppe. Jetzt wusste sie aus eigener Erfahrung, was es bedeutete, tot zu sein, aber gleichzeitig das letzte Echo des eigenen Verstandes wahrnehmen zu können. Schließlich hielt Roxi es nicht mehr aus, schloss die Augen und fing an, laut zu weinen und dabei aus Angst ihre Beine mit warmem Urin zu begießen.

„Danke, Fräulein!“, sagte die moralische Missgeburt mit gütiger Stimme. „Hiermit ist Ihr Service beendet.“

„Was?“ Roxana traute ihren Ohren nicht.

Er brachte den Elefanten ins Freigehege zurück, streichelte ihn wie einen Verwandten, liebkoste ihn und sagte dabei: „Du hast heute Glück gehabt, uns hat heute ein schönes Fräulein besucht.“

„Gehen Sie bitte nach vorn, ich bringe Sie zum Ausgang“, sagte er nun unmittelbar zu der jungen Frau, gütig, aber mit tierischem Zähnefletschen.

Er holte aus der Hosentasche eine üppige, im Voraus vorbereitete Gage, reichte sie dem Mädchen, lächelte nett und versuchte sich sogar an einem Scherz.

„Werden Sie mit mir keinen Sex haben?“

Er senkte den Blick auf ihre bepissten Oberschenkel und konnte kaum ein Lächeln zurückhalten: „Nein.“

„Haben Sie mich etwa nur für den Elefanten bestellt? Haben Sie noch alle Tassen im Schrank?“

„Fräulein, gehen Sie bitte. Draußen wartet das Auto auf Sie.“

„Der Fahrer hat gesagt, dass er in einer Stunde wiederkommt. Ist wirklich schon eine ganze Stunde vergangen?“

„Ich wünsche Ihnen viel Glück“, sagte der Elefantenwitzbold kalt.

Ohne die Kälte zu spüren, zog die junge Frau eilig ihre Jacke über die halbnackte Haut und schleppte sich langsam zu dem Luxuswagen. Ihr Slip war nass und in den Stiefeln schmatzte der Urin.

„Nun, wie war dein Abend?“

„Oh, Scheiße! Frag lieber nicht. Sowas habe ich noch nicht erlebt.“

„Was war es, Sex mit einem Esel?“

„Ach, wenn es das wäre … Es war viel schlimmer.“

„Schlimmer kann es nicht sein. Ahahaha!“

„Bringst du immer die Mädels hierher?“

„Ab und zu.“

„Warum hast du mich nicht gewarnt?“

„Du hättest es doch nicht hören wollen.“

„Gehen alle hier raus, als ob sie eine Nahtoderfahrung gemacht hätten?“

„Es gab eine, die richtig durchgedreht ist. Sie ist nach Hause abgehauen, hat das Gewerbe aufgegeben und ist auf den Pfad der Tugend zurückgekehrt.“

„Na, Gott sei Dank. Wenigstens eine ist durch die Angsttherapie von der Prostitution geheilt worden.“

„Hat es bei dir nicht geholfen?“

„Alkohol hilft mir, die Angst zu bewältigen!“

„Alkohol ist für Schwächlinge.“

„Na ja, und dich selbst hältst du für stark?“

„Mich? Ja!“

„Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Starken ihre Depression nüchtern genießen!“

„Du widersprichst dir selbst. Warum trinkst du dann?“

„Ich persönlich trinke, um heiter und entspannt zu werden. Wenn ich depressiv bin habe, trinke ich nicht. Das kann zum Seelentod und Selbstverlust führen.“

„Du bist ein lustiges Mädchen, so eine Freundin hätte ich gern …“

„Wenn ich einen Fahrer heiraten wollte, hätte ich in Rumänien bleiben können …“

Gefangenentransport

Nach einer langen und qualvollen Fahrt aus Deutschland in die Schweiz musste ich circa zehn verschiedene Gefängnisse besuchen, eines davon für Minderjährige. Es war schrecklich, die Jugendlichen zu beobachten und daran zu denken, dass sie jemandes Kinder sind. Ich hatte das Glück, nicht allzu viel Zeit mit den kriminellen Kindern zu verbringen, nur eineinhalb Stunden – eine Fahrt mit Rauchpause. Aber es war mehr als genug, um lange Stunden des depressiven Nachdenkens über meinen Sohn auszulösen. Ich hatte nur eine einzige gute Erinnerung an das Gefängnis in Stuttgart-Stammheim, das als das Schlimmste gilt. Ich weiß aus dem Kriegstagebuch meines Großvaters, dass er dort Gefangener der Deutschen gewesen war. Durch ein Wunder schaffte er es, wegzulaufen. Es war übrigens ein echter Nazi gewesen, ein Einheimischer, der dort Aufseher war und dem mein Großvater Russisch beigebracht hatte, der ihm dann erstaunlicherweise bei der Flucht half.

Dieses Gefängnis am Stadtrand von Stuttgart wurde dadurch berühmt, dass dort in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts in einer speziellen Abteilung die führenden Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) untergebracht waren. Später wurden sie eines Morgens in ihren Einzelzellen tot aufgefunden.

Ich saß in einem riesengroßen, nassen, von menschlichem Leid durchtränkten steinernen Tunnel, wo an einem spinnenfadendünnen Kabel eine gelbe Lampe hing, und spürte in meinem Inneren nichts als Scham für meine Taten.

Ich war auch in einem Zuchthaus in einem Ort namens Rohrbach. Der Aufenthalt dort war zwar kein Zuckerschlecken, aber es ging ruhig zu wie in einem Hotel. Alles sauber, weiß gestrichen, akkurat aufgeräumt. Das Essen wurde wie in einem Restaurant auf einem verchromten Tischchen auf Rädern gebracht, die Teller mit dem Essen hatten Deckel, und zwar keine einfachen, sondern schöne, glänzende wie in einem teuren Restaurant mit Michelin-Sternen.

Die Frauen, die dort einsitzen, haben ziemlich lange Haftstrafen. Ich war von einer Person erstaunt, die unbedingt schwanger werden wollte, um vorzeitig entlassen zu werden. Sie kam auf die Idee, einen Tampon an eine Schnur zu binden und an der Wand hinunterzulassen, damit ihr Freund, der unten am Zaun stand, sein frisches Sperma daraufschmieren konnte. Den präparierten Tampon wollte sie in ihre Scheide einführen, in der Hoffnung, ein Kind zu empfangen.

Es gab dort auch eine Schauspielerin, ein ganz dickes Fräulein. Leider war sie an Hepatitis C erkrankt. Die Insassinnen wollten mit ihr nicht einmal Karten spielen. Als sie noch auf freiem Fuß war, trank sie so ungehemmt, dass sie glaubte, in ihrer Badewanne eine Leiche liegen zu sehen. Ich hätte nie gedacht, dass Alkohol solche Reaktionen hervorrufen könnte. Im Untersuchungsgefängnis saß sie mehrere Monate in einer Einzelzelle, weil sie einen Verkäufer in einem Supermarkt verstümmelt hatte. Man erzählte, sie wäre in den Supermarkt gegangen, um etwas zum Trinken zu holen, hätte aber kein Geld dabeigehabt. Sie hätte eine Flasche italienischen Wein aus dem Regal genommen und angefangen, sie gleich vor Ort zu öffnen. Ein Supermarktmitarbeiter wäre schnell angelaufen gekommen und hätte versucht, ihr den Wein wegzunehmen. Im Endeffekt, erklärte sie mir stolz, hätte sie es noch geschafft, einen Schluck aus der Flasche zu trinken, bevor sie die Flasche kaputtgeschlagen und dem geizigen Verkäufer den abgebrochenen Flaschenhals in die Kehle gestoßen hätte.

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte und sagte einfach: „Sehr gut gemacht.“

Meine Gefängnisforschungen gingen weiter. Nachmittags ging ich nach draußen, um Sport zu machen. Ich fing an zu boxen; falls Sie das kennen, es gibt eine Sportart namens Kick Power. Das ist Boxen ohne Hilfsmitteln, mit Schlägen in die Luft und Beinübungen.

Wie immer bildeten die Insassinnen einen Kreis und turnten meine Übungen nach. Plötzlich liefen die Aufseherinnen zu uns und befahlen mir, mit der Kampfausbildung für die Häftlinge aufzuhören. Angeblich provozierte ich damit Aggressionen. Ruft jahrelanges Sitzen in den Zellen ohne Bewegung etwa keine Aggression hervor? Ich hielt es trotzdem für besser, nicht zu streiten. Ich war ja auf dem Transport und blieb nirgends lange. Wozu dann unnötige Probleme? Ohnehin hatte ich schon ausreichend Sachen angestellt.

Die Reise dauerte noch eine Weile und unterwegs lernte ich eine Russin kennen. Das Aussehen dieser Frau verriet vieles über ihr bisheriges Leben: schöne lange Beine, üppiger Busen, aber im einst dichten Haar waren kahle Stellen zu sehen. Noch vor Kurzem war Julia zweifellos ein hübsches Mädchen gewesen, war aber dann leider zur Alkoholikerin und Diebin geworden. Sie hatte fündundzwanzig Jahre in Deutschland gewohnt, ohne auch nur ein einziges Dokument zu haben, das ihre Persönlichkeit bestätigen könnte. Sie machte den Eindruck einer schönen Vagabundin, einer Bordsteinschwalbe.

Meine Aufmerksamkeit erregte eine Spur ihrer schöpferischen Kraft, eines wahnsinnigen, unentdeckten Talents, die an ihr noch zu erkennen war. Sie konnte sehr schön malen.

„Warum schenkt der liebe Gott den Dummköpfen, den Verrückten, die ihr Leben bloß verscheißen, geniale Talente, mit denen sie nicht vernünftig umgehen können? Für sie ist das eine unnütze Last, ein Rucksack, den sie schleppen müssen, eine banale Zugabe zu ihrem geschrumpften Gehirn. Zum Glück hat Gott ihr nicht auch noch Kinder gegeben“, dachte ich.

Mit seinem eigenen Leben kann der Mensch machen, was er will, aber er darf keine unerfüllbaren Verpflichtungen übernehmen und nicht Schicksale von Unschuldigen zerstören …

Noch ein Gefängnis blieb mir in Erinnerung, nämlich das in Ravensburg, schon fast an der Schweizer Grenze. Das war mein vorletzter Bestimmungsort. Da gibt es nicht viel zu erzählen, es war ein Paradies auf Erden. Bei mir zu Hause ist es nicht so gemütlich wie dort. Alles war neu, die Zellen offen, die Küche riesig, man konnte Kuchen backen und auch sonst machen, was man wollte. Es gab ein Fitnessstudio mit allerlei Geräten, ein Raucherzimmer, einen Filmraum und eine Bibliothek. Ich bekam für eine Nacht einen neuen Pyjama und weiche Hausschuhe wie in einem Hotel. Die Gitter an den Fenstern waren einfach dicke Eisenstäbe ohne Querstangen. Solche Gitter sind in vielen Wohnhäusern, meistens im Keller oder Erdgeschoss zu sehen und sollen gegen Einbruch helfen. Das Gebüsch im Park ist gestutzt, man kann draußen spazieren gehen und Sport treiben. Die Aufseher sitzen zusammen mit den Häftlingen in der Küche, plaudern, helfen beim Kuchen backen und weisen dabei einen an Fanatismus grenzenden Eifer auf. Bis heute kann ich es kaum glauben. In meiner Seele war es so warm und gemütlich, dass mir ein unvorstellbarer Gedanke in den Sinn kam: „Ich will hierbleiben.“

Ich kam nach Ravensburg direkt aus Stammheim mit seinem unterirdischen Tunnel und den kahlköpfigen, zahnlosen Insassinnen, die monatelang kein Sonnenlicht sahen. Bei diesem Kontrast schien es mir, als wäre ich in einer anderen Dimension gelandet. Als wäre ich aus der Hölle des Mittelalters, wo man Prostituierte und Kosmonauten auf dem Scheiterhaufen verbrannte, direkt ins Tesla-Zeitalter gekommen. Früher dachte ich, dass es keine Zeitmaschinen gibt. Aber ich hatte mich leider geirrt …

Deutschland ist heiter und so vielfältig, dass ich manchmal nicht glaube, dass all die Städte, durch deren Gefängnisse – nicht durch die Hotels wie eine normale Touristin – ich meine extravagante Rundreise gemacht habe, in ein und demselben Staat liegen.

Grüezi, Schweiz!

Fast ein Monat ist vergangen, ich bin endlich fast zu Hause in der Schweiz und sitze ganz allein in einer Zelle mit vier Betten. Um genau zu sein, sind es zwei Betten, aber sie sind zweistöckig wie im Ferienlager. Davor habe ich fünf Tage in einer Einzelzelle verbracht. Das war brutal. Ich bekam Besuch von einem Pfarrer, der mich zu Tode erschreckte, als er die Dokumente der Staatsanwaltschaft einsah und mir mit einem Lächeln und in aller Form erklärte, dass mir, wenn ich nicht alle ausliefere, nicht die Namen der Teilnehmer und Organisatoren der illegalen Autorennen nenne, fünf Jahre strenger Haft in der Schweiz blühen. Anscheinend hatte die Staatsanwältin, diese fetten Sau, mir den Alten geschickt, damit er mir die Informationen entlocken sollte. Aber mir waren ihre taktischen Spiele schnurzegal, ich dachte an mein Buch, schrieb tagelang mit einem stumpfen Bleistift und legte mich schlafen, ohne die Jacke auszuziehen. Während des Verhörs bei der Staatsanwältin verübte ich einen kleinen Diebstahl: Ich klaute ihr einen Kugelschreiber, darum sieht mein Manuskript, falls Sie es zu sehen bekommen, wie ein Zebra aus. Die eine Hälfte der Seite ist mit Kugelschreiber, die andere Hälfte mit einfachem grauem Bleistift geschrieben. Wenn die Aufseher in die Zelle guckten, versteckte ich den Kugelschreiber in meinem Hosengummi und schrieb mit dem Bleistift. Allerdings ging die Tinte im Kugelschreiber bald aus, ich hätte lieber gleich zwei klauen sollen. Zur Erinnerung blieb mir nur ein Loch, oder genauer gesagt eine Delle im Finger vom Bleistift. Und natürlich mein erster Kriminalroman „Die Gaunerinnen“ auf den durchgehend beschriebenen Blättern. Das Manuskript kommt mir seltsam vor. Als wäre es im Krieg oder gleich danach geschrieben, wo es an Papier, Tinte und Farbstiften mangelte. Mit der Zeit wurde mir erlaubt, einen Kugelschreiber und sogar mehrere zu haben. Auch meine Bitte, Papier in einem Schreibwarengeschäft zu bestellen sowie die nötigen Bücher zum Lesen zu beschaffen, wurde erfüllt. Aber wissen Sie, was ich bemerkt habe? Als ich alles Notwendige für die Arbeit an meinem Roman erhielt, verging mir die Lust am Schreiben. Immerhin zwingen der Mangel an Details, der Stress und die Verzweiflung einen zur Bewegung. Ein gewisser Eifer kommt gerade unter Bedingungen auf, die einem fremd sind. Für eine Idee ist man mitunter bereit, irrsinnige Dinge zu tun. Einschränkung und Einsamkeit führen zum Erfolg!

Silvester 2017 feierte ich in der Zelle, und ich muss zugeben, ich war völlig deprimiert. Wissen Sie, wie enttäuschend und ärgerlich es war, das Knallen des Feuerwerks vor dem Fenster zu hören? Mir ein Geschenk unter dem künstlichen Weihnachtsbaum vorzustellen? Da die Schweizer gegen sinnlose Abholzung sind, wird gewöhnlich ein unechter Weihnachtsbaum aufgestellt. Es fällt mir schwer, die Frage zu beantworten, was mir mein Sohn und mein geliebter Ehemann geschenkt hätten.

Mir kamen fiese Gedanken in den Sinn, bei denen ich mich am liebsten erhängt hätte. Ich stellte mir vor, wie mein Kind sein Geschenk wieder unter den Weihnachtsbaum legte und den schweizerischen Weihnachtsmann bat, dass dieser seine Mutter zurück nach Hause bringen sollte. In diesem Augenblick wurde mir klar, wie glücklich ich in der Freiheit war, auch dann, wenn ich mich mitunter für das unglücklichste Wesen auf der ganzen Welt hielt.

Die Tür öffnete sich und eine kleine, brünette junge Frau kam herein. Sie hatte eine atemberaubend schöne Figur in Form einer Vase und schrecklich aussehende, verlängerte rote Fingernägel. Ihr glänzendes Haar wehte über einem im Vergleich zum Haar matt erscheinenden fliederfarbenen Kleid. Sie war eine wahre Schönheit. Mädchen, die so aussehen, können in Russland mit Millionären oder mit einfachen Straßenjungs zusammen sein. Viele rohe Burschen haben bildhübsche Freundinnen, die eine wahre Augenweide sind.

Ich saß am Tisch und trank Tee. Mit einem Plastikmesser schnitt ich mir ein Stück Schweizer Käse ab. Das Mädchen kam schweigend zum Tisch, als ob sie mich ignorieren wollte. Sie setzte sich, zündete eine Zigarette an und pustete den Rauch in meinen Käse. Wie mich das ankotzte! Ich rauchte ja fast nie in der Zelle, lüftete oft, meditierte und machte Yoga auf dem Fußboden. Und da kommt irgendeine Nutte, wenn auch eine sehr schöne, und pustet mir stinkigen Rauch direkt ins Gesicht! Das war ein Skandal!

„Dreh dich bitte um!“

„Was?“

„Ich sagte, dass das Fenster hinter dir ist. Paff bitte in diese Richtung!“

„Okay, Entschuldigung.“

Mir wurde ein bisschen mulmig. Ich hatte doch gerade einen möglichen Skandal angedeutet, sie aber antwortete mir mit einer Entschuldigung. „Möchtest du ein Stück Käse?“, fragte ich versöhlich.

„Nein, danke.“

„Das ist merkwürdig“, dachte ich. Sie hatte eine Woche in der Einzelzelle verbracht und keinen Hunger. Aber dort wird man doch nicht mit leckerem Essen verwöhnt. In der Einzelzelle gab es nichts, nur ein gemauertes Bett mit einer dünnen Decke. Das Fenster ist ganz oben, wenn man hinausschauen will, muss man sich auf einen steinernen, an die Wand zementierten Tisch stellen. Und es gab noch nicht einmal etwas zu sehen. Es war einfach ein Loch. Ein Verlies. Dort war in mir der wilde Wunsch, zu schreiben, entstanden. Ausgerechnet dort, wo es weder Papier noch Kugelschreiber gab. Darum musste ich einen Kugelschreiber klauen und von den Aufsehern die dringend gebrauchten weißen Blätter erbetteln. Ich bat jeden abgelösten und antretenden Aufseher um Papier. Mein Manuskript versteckte ich unter der dünnen Matratze des steinernen Bettes. „Ich heiße Jana.“

„Mein Name ist Roxi.“

„Wofür sitzt du ein, Roxi?“

„Für Liebe.“

„Das lohnt sich, ich glaube dir.“

„Ihr Russen verspottet uns eben gern, nicht wahr?“

„Du hast gut reden! Euch Erben von Dracula habe ich in meinem ersten Krimi ausgiebig beschrieben! Ihr hasst Russinnen.“

„Genau wie ihr die Rumäninnen!“

„Gut, lass uns Freundinnen sein, oder? Ehrlich gesagt, vor dem Knast kannte ich keine einzige Rumänin.“

„Sitzt du schon lange?“

„Nein. Ich bin zu Silvester gekommen, ich wollte in der Schweiz feiern. Von Deutschland hatte ich die Nase voll.“

„Soll das ein Witz sein?“

„Ja.“

„Warst du hier an Silvester?“

„Ja, und zwar allein. Anscheinend hatte die Polizei niemanden festgenommen, der mir am Silvester Gesellschaft leisten könnte. Der Knast war menschenleer.“

„Und wie war es so in Deutschland? Ich habe dort gearbeitet, aber nicht im Knast gesessen. So weit bin ich nicht gekommen.“

„Dort in den Gefängnissen ist es lustiger als hier. Wenigstens kann man dort Leute treffen, die für etwas Ernsthaftes sitzen. Zum Beispiel in Koblenz habe ich ein Mädchen namens Barbara kennengelernt. Sie hat zwei Jahre und neun Monate für schweren Betrug aufgebrummt bekommen. Sie hat Geldwäsche über verschiedene Banken betrieben. Drei Millionen Euro verdient, ein Haus auf Mallorca gekauft und Golf gespielt. Im Prinzip muss sie in einem Jahr vorzeitig entlassen werden. Sie hat einen prima Anwalt. Weißt du, wie ihr Gehirn arbeitet? Zeig ihr beim Poker zwanzig, dreißig Karten. Zwei Sekunden reichen ihr, dann hat sie alle deine Punkte gezählt. Ich habe sie ein paarmal getestet, die Karten nachgezählt und alles hat gestimmt. Kannst du dir das vorstellen?“

„Für das Geld, das sie eingerafft hat, würde ich auch gerne ein Jahr absitzen. Hahaha!“

„Und es waren noch mehre von ihrer Sorte dort im Knast. Wir haben Telefonnummern ausgetauscht. Ich würde sie gern später mal in Mallorca besuchen, um mir anzuschauen, für was sie gesessen hat. Aber hier in der Schweiz sitzen nur Psychos, Nutten, kleine Diebe und Junkies. Es gibt keine Menschen, die ordentliche, bemerkenswerte Verbrechen begangen haben.“

In diesem Moment kam ein Aufseher in die Zelle und winkte mir, dass ich zur Arbeit gehen sollte. Roxi sah mich misstrauisch an und ihre Schlangenaugen funkelten, sodass mir mulmig wurde. In der ersten Woche nähten wir Bauarbeiterhandschuhe. Während der Arbeit lernte ich viele Taschendiebinnen, Gaunerinnen und natürlich Prostituierte kennen. Viel Neues und Lehrreiches erfuhr ich von den Mädels. Zum Beispiel, dass die Zigeunerinnen ständig stehlen und im Knast sitzen. Wenn sie schwanger sind, stehlen sie lieber in Italien, denn das italienische Gesetz verbietet es, schwangere Frauen ins Gefängnis zu stecken. Eine von ihnen war deshalb interessant, weil sie eine echte Professionelle und gleichzeitig drogenabhängig war. Ihre Droge war das Stehlen. Ihr Mann, ein ehrlicher Bürger, der ihre drei gemeinsamen Kinder erzog, schrieb ihr Briefe ins Zuchthaus, in denen er die Ehefrau anflehte, nie mehr von zu Hause wegzulaufen und nicht mehr zu stehlen. Aber Gina sagte, es sei stärker als sie selbst, und nicht einmal ihre eigenen Kinder könnten ihr Verlangen nach Diebstahl nachvollziehen. Wenn sie nicht stahl, wurde sie krank, und zwar schwer und ernsthaft. Sie bekam Migräne, Entzugserscheinungen, verlor alle Kraft und war heftig missgestimmt. In einem solchen Augenblick flippte sie aus, lief von zu Hause weg und flog quer durch Europa. Was ich in ihren Unterlagen von der Staatsanwaltschaft zu lesen bekam, erschütterte mich. Innerhalb von zwei Wochen beging sie 36 Diebstähle an Geldautomaten. Sie hob Geld von Bank- und Kreditkarten ab und hatte unzählige Louis-Vuitton-Taschen. In einer Stunde Arbeit an einem Flughafen konnte sie Waren für 20.000 Dollar klauen. Seit ihrer Kindheit schob sie immer wieder Knast. Begonnen hatte sie mit einer Jugendstrafe. Ihr Mann sagte, dass er sie liebte und auf sie warten würde. Dabei war der Kerl sieben Jahre jünger als die Zigeunerin selbst.

Ich hörte zu und speicherte alles in meinem Kopf; so verging die Arbeitszeit schneller.

Als ich in die Zelle zurückkam, sah ich, dass Roxi auf meinem Bett saß und wartete.

„Na, hast du den Bullen alles über mich erzählt? Erheben sie die Anklage gegen mich jetzt so richtig im großen Stil, ja?“

„Was meinst du?“

„Warum warst du so lange weg?“

„Ich habe Handschuhe genäht und mich mit Gina unterhalten. Sie hat mir coole Geschichten erzählt, willst du sie hören?“

„Echt?“

„Natürlich, du kleines Dummchen!“

„Man munkelt, du wärst eine Mörderin, Jana. Ist das wahr?“

„Wer hat das gesagt?“

„Die dicke Brasilianerin. Ihr Fenster ist da gegenüber, siehst du?“

„Ach, die. Na ja, ich muss sie mir doch alle irgendwie vom Leib halten. Die sind ja wie wilde Affen. Wie du siehst, kann man durch Abschreckung die eigenen Überlebenschancen erhöhen, nicht wahr?“

„Das hast du also nur erzählt, damit sie Angst vor dir kriegen? Hahaha! Du bist erfinderisch! Und wofür bist du wirklich hier?“

„Für illegale Autorennen. Hier sind meine Unterlagen, lies sie.“

„Tja, wie ich sehe, hast du da gute fünf Jahre Freiheitsentzug vor dir.“

„Ich hoffe, ich werde freigesprochen. Ich bin ja unschuldig.“

„Die Unschuld ist ein Knastparadoxon. Was schreibst du?“, fragte Roxana mit einem Blick zum Papierstapel auf dem Tisch.

„Ein Buch.“

„Ach ja, genau, du hast so was erwähnt. Schreib über mich, über mein vielseitiges, lehrreiches Leben, deklariere das Buch als ‚ab 18‘ und sag dazu, dass es ein lehrreiches Buch sei, dessen Sinn in einem kurzen Satz besteht, und zwar: ‚So was darf man nicht tun.‘“

„Du hast gesagt, dass du wegen der Liebe brummen musst?“

„Ja, und überhaupt bin ich zu dem Schluss gekommen, dass der Penis eine Massenvernichtungswaffe ist!“

„Wohl wahr, aber diese Waffe hat öfter mal Ladehemmungen.“

Wir lachten. Die Antipathie zwischen uns zerfiel zu Staub und wir lächelten einander aufrichtig zu.

„Da hast du meine Akte, lies sie dir durch.“

„Okay, gib her, ich lese sie. Aber schreiben über dich kann ich erst dann, wenn ich mein erstes Buch fertig habe.“

„Wie lange musst du noch daran schreiben?“

„In ein paar Tagen bin ich fertig. Später, zu Hause, tippe ich den Text auf dem Computer ab.“

„Zu Hause? In fünf Jahren? Ich lese da über deine Abenteuer und kann nur eins sagen, Jana, du bist echt geil!“

„Hast du Handcreme? Meine Haut ist ganz trocken geworden.“

„Ja, du kannst sie dir aus meinem Spind holen.“

„Oho! Du hast aber viel Shampoo da! Und sogar ein Duschbad.“

„Hahaha! Mein anständiger Ehemann hat mir das gebracht. Anscheinend kann er sich kein reales Bild davon machen, wo sich seine geliebte Frau gerade aufhält. Und wie cool es ist, sich in einem Zuber waschen zu müssen, der unter dem Waschbecken steht, indem man einen Fuß gegen den Spülkasten stemmt und die französische Duschmilch mit ihrem unnachahmlichen Aroma ins Wasser gießt.“

„Witzig.“

„Ich finde das nicht besonders witzig.“

„Was macht dein Mann, Jana?“

„Er ist ein intelligenter Mann, Direktor bei einer großen Züricher Firma.“

„Praktiziert er die scheinheilige Religion des Geldes?“

„Was meinst du?“

„Ich meine, dass die einfachen Leute nicht verstehen können, wofür man manchen Leuten 20.000 Franken Monatsgehalt zahlt! Was muss man dafür tun? Einen Vertrag mit dem lieben Gott unterschreiben?“

„Du hast nicht ganz unrecht. Aber ich bin der Meinung, dass man dafür auch ein bisschen mehr wissen muss als die anderen, nicht wahr?“

„So ist eben die Schweiz.“

„Aber die Prostituierten verdienen hier auch sehr gut. Sogar mehr als manche Direktoren.“

„Ich habe bestimmt alle übertroffen! Ich bin eigentlich spitze!“, sagte Roxi mit funkelnden Augen. Das erweckte natürlich mein krankhaftes schriftstellerisches Interesse.

„Ich schreibe deine Geschichte in ein paar Tagen. Du hast mich neugierig gemacht. Ich habe so eine Sehnsucht nach zu Hause, Roxi. Wo ist mein Mann jetzt? Vielleicht spielt er Golf, raucht eine dicke Zigarre und überlegt sich gelangweilt, womit er sein Frauchen im Knast noch verwöhnen könnte. Ich glaube, das nächstes Mal schleppt er eine Weinkaraffe an.“

„Hahaha! Klasse! Du hast Glück. Apropos, deine Klamottenkiste riecht nach Männerparfüm.“

„Ab und zu schenkt mir mein Mann Sachen, die er mit seinem Lieblingsparfüm beträufelt. Er hat mir sogar seinen Kaschmirschal gebracht und erklärt, dass wir nun in unserer Familie einen eigenen Feiertag haben, den fünften Januar, an dem wir ein Fest der Zärtlichkeit feiern. Alle Familienmitglieder sollen einander Schals schenken, die jeweils mit dem persönlichen Parfüm eingesprüht sind. Sie sollen nicht nur die Hälse, sondern auch die Herzen der einander liebenden Menschen erwärmen. Ich habe ihm also einen Schal zu präsentieren, nachdem ich freigelassen bin. So hat er mich mit Schulden beladen.“

„Was für ein Prachtkerl! Ein Romantiker!“

„Ja, ich habe echt Glück mit meiner Familie.“

„Du bist also aus dem fürstlichen Palast direkt mitten in der Welt der gemeinen Leute gelandet.“

„Zum Unglück oder Glück musste ich die Welt der obdachlosen Huren, der Heroinabhängigen und Kinderschänder kennenlernen. Das ist nicht mein Leben, das ist die wahre Hölle für mich. Vielleicht bin ich naiv, aber was ich gesehen habe, hat mich tief beeindruckt und eindeutig unvergessliche Spuren in meiner Seele hinterlassen.“

„Die Hölle ist es, wenn dein Liebster dir nicht einmal eine Schachtel Zigaretten bringt.“

„Männer, die ihre Frauen lieben, bringen ihnen keine Zigaretten, sondern achten auf ihre Gesundheit. Das liegt an dem Gewerbe, in dem du tätig bist, Liebes! Er hat keinen Respekt vor dir.“

„Ach, laber keinen Unsinn! Es gibt jede Menge Männer, die Prostituierte heiraten!“

„Das streite ich ja gar nicht ab. Es bedeutet bloß, dass dein Lieblingsmann ein Arschloch ist.“

„Ich bin Prostituierte, aber während des letzten Jahres habe ich mit keinem Mann Sex gehabt. Kannst du das glauben?“

„Warum das denn? Hast du denn nicht gearbeitet?“

„Ein Jahr lang nicht. Ein paar Monate vor der Verhaftung habe ich noch gearbeitet, aber ich bin schlau genug gewesen, mich nicht mit ihm zu treffen. Davor war ich zu Hause bei meiner Mutter. Habe Beruhigungsmittel eingenommen. Ich liebe ihn so, dass es mich bis jetzt mit anderen Männern ankotzt. Weißt du, es ist mir sogar egal, dass ich im Gefängnis bin. Kannst du dir das vorstellen? Die letzte Zeit habe ich so gut wie nicht gelebt, konnte nicht einmal durchatmen.“

„Es ist eine Sünde, sich seines Lebens nicht zu freuen! Bist du aus Rumänien zu ihm gekommen?“

„Nein. Oder vielleicht doch. Ich kann diese Frage nicht beantworten, weil ich mich manchmal selbst betrüge.“

„Aber mach dir lieber keine vorschnellen Hoffnungen auf mich. Ich sage dir Bescheid, wenn ich so weit bin. Ich will zuerst alles von Anfang bis Ende ausführlich von dir hören.“

„Wie du willst. Ich muss mich übrigens auch in meiner neuen Rolle als Strafgefangene zurechtfinden und den Gehorsam und das andere Denken einüben …“

Der nächste Tag war ein wahrer Albtraum! Als ich zum Spaziergang die Treppe hinunterstieg, traf ich zum ersten Mal in meinem Leben eine echte Mörderin von Angesicht zu Angesicht.

Es war eine Frau im Alter von 27 Jahren, aber nach unserem russischen Maßstab sah sie eher aus, als ob sie ganze 38 Jahre alt wäre. Ihr und ihrem Mann fielen zwei junge Burschen zum Opfer, der eine war 25, der andere 27 Jahre alt. Die Ursache des Konfliktes war Geld, die beiden hatten ihr Leben wegen mickrigen 50.000 Franken verloren. Diese gebürtige Schweizerin mit dem Blick einer Klapperschlange versetzte mich in eine Art Schock. Ich versteckte sofort meine Uhr mit Brillanten im Wert von 20.000 Franken unter dem Ärmel. Das war praktisch die Summe, wegen der einer der jungen Männer getötet wurde.

Beim Spaziergang in der „netten“ Gesellschaft von Mörderinnen und Drogenhändlerinnen erfuhr ich, dass die Hälfte der Frauen, die wegen des Verkaufs von verbotenen Substanzen zu Freiheitsstrafen verurteilt waren, im Auftrag von Polizisten gehandelt hätten, die sie grundsätzlich Bullen nannten.

Die Ordnungshüter suchen gezielt die Idioten aus, die mehrmals für ein bestimmtes Verbrechen zur Verantwortung gezogen wurden. Das können ehemalige Zuchthausinsassen oder einfach verrückte Drogensüchtige sein, die bereit waren, den Stoff zu verkaufen, den die Polizisten zuvor bei Durchsuchungen von anderen Drogendealern beschlagnahmt hatten. Im Endeffekt brachten die Bullen mit ihren korrupten Händen ihre eigenen Dealer hinter Gitter. Die armen Hunde behaupten beim Verhör, für die Bullen gearbeitet zu haben, aber natürlich glaubt ihnen das keiner und ihre Freiheitsstrafe wird wegen Verleumdung noch aufgestockt. Das ist ein ewiger Kreislauf, kurz gesagt. Es hat mich wirklich überrascht, dass Korruption in der Schweiz so verbreitet ist. Aber es ist unmöglich, das nicht zu glauben, wenn einem davon nicht einer, sondern mehrere Menschen am Tag erzählen. Dabei haben diese Menschen miteinander nichts zu tun. Sie sind weder Freunde noch Bekannte. Sie sitzen in verschiedenen Zellen auf verschiedenen Stockwerken. Eine Prostituierte behauptete sogar, sie hätte mit mehreren Polizisten geschlafen, die in Geschäfte mit Kokain unmittelbar verwickelt waren. Sie erzählte davon in beschwipstem Zustand und hatte keine Angst, verraten zu werden. Einmal hätte sie einen von ihnen gefragt, was passieren würde, wenn er denunziert und überführt würde. Darauf hätte er ihr so ungehemmt ins Gesicht gelacht, dass ihr kleine Tropfen seines stinkenden Speichels gemischt mit Whiskey an die Stirn geflogen wären.

Nach dem Spaziergang kam ich in die Zelle zurück. Natürlich waren meine Zigaretten und der Käse, die auf dem Tisch gelegen hatten, gestohlen. Unglaublich waren sie, diese Leute. Es hat mich im Gefängnis immer überrascht, wie frech und schnell man Zigaretten mausen und gleich abhauen kann. Die kleinen Diebe, die sich für das Salz des Knastes, für angeblich weltkluge und abgeklärte Veteranen hielten, waren ohne eine ordentliche Tracht Prügel nicht der Lüge zu überführen.

Nachdem die Zellentür abgeschlossen war, warteten alle ruhig auf das Abendbrot. Roxi und ich legten Karten. Es stellte sich heraus, dass sie eine ausgezeichnete Wahrsagerin war. Sie prophezeite mir, dass ich die verrauchten Gefängniswände bald verlassen würde. In diesem Augenblick dachte ich ernsthaft nach, die Geschichte ihres Lebens aufzuschreiben. Kaum wollte ich darüber sprechen, öffnete sich die Tür und eine junge Frau wurde in die Zelle geführt.

„Ist das hier stockdunkel! Mein Gott!“

Sie war ganz mit kleinen, fadendünnen Ritzwunden bedeckt, ihre Ohren waren zerkratzt, ein Haarbüschel ware fast mit einem Stück Haut abgerissen.

„Hallo!“, wagte ich, sie anzusprechen.

„Gebt mir eine Zigarette!“

„Stell dich wenigstens vor, du Schnalle!“

„Ich heiße Cindy! Ist das hier echt eine stinkende Gefängniszelle? Oder bin ich in einem Intellektuellenzirkel gelandet?“

„Da hast du eine Zigarette. Erzähl, was passiert ist.“

„Sie werfen mir elf Diebstähle vor.“

„Die sollen erst mal alle elf beweisen.“

„Meine Schwester und ich werden ganz sicher identifiziert. Wir haben uns als Sozialarbeiterinnen von der Spitex getarnt in Häuser geschlichen und Geld und Gold geklaut.“

„Spitex? Was ist das?“

„Das ist so etwas wie das Rot Kreuz. Sie machen Hausputz und Einkäufe für Behinderte und Rentner.“

„Klar, und was war weiter? Wie haben sie euch erwischt?“

„Wir sind gar nicht beim Klauen erwischt worden. Meine Schwester hatte Zoff mit ihrem Freund, einem Syrer, und hat ihm die Kette vom Hals gerissen, die sie ihm selbst geschenkt hatte. Da hat er sie bei der Polizei angezeigt. Er konnte den Verlust seines ach so teuren Schmuckstücks nicht verkraften. Diese Kette aus reinem Platin haben wir halt auch in einem der von uns besuchten Häusern gestohlen.“

„War dieser Syrer auch ein Dieb? Hat er sich an euren Diebstählen beteiligt?“

„Nein, nein. Er ist ein anständiger Kerl. Er war auf der Nationalen Verwaltungsschule. Jetzt ist er Versicherungsberater, Fachmann für Arabisch und Farsi.“

„Nicht schlimm! Es stimmt schon, was man sagt: ‚Gute Jungs verlieben sich in schlimme Luder.‘“

„Genau, in schlimme kleine Luder!“

„Das Wort klein passt ja wohl überhaupt nicht! Sie ist ein ganz ausgewachsenes Luder, dieses Miststück!“, explodierte ich.

Ich stellte mir vor, wie eine solche Ratte sich in das Haus meiner Großmutter schleichen und alles bis auf den letzten Pfennig klauen würde; so etwas kann bei einem alten Menschen zum Herzinfarkt mit tödlichem Ausgang führen. Sie sind ja wie kleine Kinder. Im hohen Alter hat man Angst vor allem. Und sie selbst ist eine gesunde junge Stute! Ich wäre nicht überrascht, wenn sie dabei noch Sozialhilfeempfängerin wäre. Hätte eine Sozialwohnung und bekäme über tausend Franken im Monat für Lebensmittel vom Staat, finanziert aus den Steuern, die ich für sie bezahle. Ist das nicht fies? Sie hat es gut, diese Schlampe!

„Beruhige dich, Jana!“. schnurrte die gutmütige Roxi.

„Okay, mir kann es ja schnurzegal sein, aber sie soll sich von mir fernhalten. Und zwar in jedem Fall.“

„Verpiss dich! Du arrogante Fotze! Ihr Russinen seid doch alle Schlampen!“

„Lieber eine Schlampe als ein Miststück, das alte Menschen beklaut!“

„Jetzt ist aber gut, Ruhe bitte! Ich will wissen, was weiter passiert ist“, murrte die Rumänin. „Erzähl weiter, Cindy!“

Ich beschloss, zu lesen, und steckte meine Nase in ein Buch, hörte dabei aber mit Interesse die Fortsetzung der garstigen Geschichte dieses Luders.

„Auf dem Revier haben sie uns Fingerabdrücke abgenommen. Da hat sich herausgestellt, dass wir schon längst auf der Fahndungsliste waren.“

„Du musst wahrscheinlich eine Geldstrafe zahlen und fertig“, sagte Roxi. „Mach dir keinen Kopf!“

„So viel Geld habe ich nicht! Ich lebe von Sozialhilfe.“

„Hahaha!“, lachte ich hysterisch auf. „Siehst du, Roxi! Ich hatte Recht!“

„Lass uns bitte nicht streiten!“

„Mit dir wollte ich überhaupt nicht streiten“ murmelte ich verärgert. Aber die Schweizerin wollte sich nicht beruhigen und stellte die freche Frage: „Was soll ich denn nun machen? Weißt du nichts, Jana?“

„Ich bin keine Ratgeberin für dich. Und frag mich ja nicht mehr nach Zigaretten. Ich hasse Leute, die die Schwachen bestehlen! Du bist eine junge Frau und sitzt zu Hause rum, arbeitest nicht, bekommst Sozialhilfe und ich zahle Steuern für dich! Pfui! Schämst du dich nicht?“

Mit wie viel Wut und Hass blickte sie auf mich! Sie presste die Lippen zusammen, ein Wangenmuskel zitterte auf der rechten Seite ihres blassen, nervösen, teils mit Blut beschmierten Gesichts. An ihren schweren, eisigen Blick kann ich mich noch heute erinnern.

Eine Woche später wurde noch eine Person in unsere Zelle gebracht. Es war eine Zigeunerin, die auch Gina hieß. Als ob sie keine anderen Namen hätten. Es ist wie bei uns, wo viele Prostituierte den Namen Natascha tragen. Man sollte vielleicht eine Statistik über die Ginas erstellen.

Diese interessante Gaunerin erzählte uns von den verschiedenen Tricks und Finten, die ihr schwarzäugiges Volk erfunden hatte, um naive Touristen, betrunkene Bauern und abergläubische Menschen auszuplündern und abzuzocken. Allerlei Hokuspokus, schlaue Kniffe mit Faden und Knoten, Wahrsagerei mit Karten, in der sie sich selbst eigentlich nicht auskennen, und vieles andere mehr. Zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich von einer Zigeunerin, dass die Zigeuner das Kartenlegen nicht beherrschen. Genauer gesagt, sie können die Karten legen, aber nicht die Zukunft wahrsagen. Die Karten sind eine Art spirituelles Werkzeug. Menschen, die übernatürliche Fähigkeiten besitzen, sind keine Zigeuner. Diese sind einfach Betrüger, Abzocker und Mogler, nichts anderes als kleinkarierte Schlitzohren. Sie tun nichts weiter, als ihre ausgeklügelten, altgewohnten Tricks anzuwenden, deren einziges Ziel es ist, schnelles Geld zu verdienen.

Als wir alle zur Arbeit gingen, blieb die sozial ungeschickte Cindy allein in der Zelle, da sie noch nicht arbeiten durfte. Die frisch gelieferten Strafgefangenen wurden erst nach einer ärztlichen Untersuchung zur Arbeit zugelassen. Als wir in die Zelle zurückkamen, sahen wir die junge Frau auf dem Boden in einer riesengroßen Blutlache liegen. Ich schrie lauter als alle anderen: „Hilfe!“ Da ich in meinem früheren Leben keine Gelegenheit gehabt hatte, solche Bilder zu sehen, war ich schlicht und einfach geschockt. Roxi und die Zigeunerin Gina standen herum und betrachteten interessiert den Körper am Boden. Sie versuchten, herauszufinden, ob Cindy tot oder noch am Leben war.

Krankenpfleger und Aufseher fassten sie unter den Armen und zogen sie schnell hinaus in den Gang, wo sie ihre aufgeschlitzten Arme mit Gummibändern abbanden. In der Hand hielt sie eine Rasierklinge. Sie hatte einen Rasierer auseinandergebaut und das scharfe Teil herausgeholt. Plötzlich kam sie zu sich und öffnete einen Spalt weit die Augen. Die Aufseher fragten sie laut und im Befehlston, wer ihr den Rasierer gegeben hatte. Sie zeigte mit dem Finger in meine Richtung und sagte, dass ich sie gezwungen hätte, das zu machen. Als Grund dafür hätte ich gesagt, dass sie auf meine Kosten von der Sozialhilfe lebte, dass ich für sie Steuern bezahlen würde, und so hätte ich das arme Mädchen beleidigt und erniedrigt.

Es ist wahr, dass ich tatsächlich keinen Respekt vor Menschen habe, die über zwei intakte Arme und Beine verfügen, aber auf Kosten anderer leben und dabei denken, sie wären die Klügsten. Vor allem, wenn sie dazu auch noch klauen, weil sie ja sonst zu wenig besitzen!

Die Zigeunerin trat stolz hervor und erklärte, dass der Rasierer ihr gehörte und die Verletzte mich aus Neid verleumdete. Cindy starrte die Zigeunerin streng und verächtlich an. „Du bist eine miese Schlampe, Kollegin!“

„Ich bin nicht deine Kollegin! Wir Zigeuner beklauen keine Armen, Alten und Behinderten, sondern helfen ihnen, wie wir nur können. Wir haben Ehre und Würde, die wir über Generationen von unseren toten Vorfahren überliefert bekommen.“

„Hahaha! Dass ich nicht lache! Ein ehrliches Kanakenweib. Du bist eine falsche Zigeunerfotze.“ Cindys Gesichtsausdruck wurde dabei trotzem bang und sogar ein wenig jämmerlich.

Dank Gina blieb mir die Isolierzelle erspart. Gott sei Dank! Auch meine Gefängnisstrafe wurde nicht aufgestockt, obwohl ich dicht davorstand. Zum ersten Mal im Leben war ich einer Diebin dankbar. Es war wirklich ein seltsames Gefühl. Ich versprach ihr sogar, sie in der Freiheit aufzusuchen und mich dankbar zu zeigen. Sie wohnte irgendwo in Bulgarien …

„Jana!“, rief Roxi mir zu. Ihre Zöpfe waren im Nacken festgesteckt. Sie zupfte mich an der Bluse.

„Was ist?“

„Wirst du weiter über mich schreiben?“

„Bis heute habe ich mich noch nicht von deiner Geschichte mit dem Elefanten erholt! Ich stelle mir vor, was für ein krasses Zeug da noch folgt!“

„Ich habe noch jede Menge lustiger Geschichten auf Lager.“

„Leg los!“

„Wo soll ich beginnen?“

„Mit deiner Kindheit. Dann weiß ich wenigstens, woher der Wind weht. Die Logik der Ereignisse, die dich hierhergebracht haben. Übrigens hat jede Nutte eine herzzerreißende Geschichte parat.“

„Na, das ist für die Kunden. Von dir kriege ich doch nichts, deshalb werde ich die Wahrheit sagen. In Wirklichkeit geht es mir gar nicht so schlecht. Aber im Zuchthaus klingt das natürlich irgendwie verloren.

Ich brauche von dir nichts, Jana. Ich will einfach irgendeine, wenn auch winzige, Spur für die Menschen hinterlassen.“

„Ein schwarzer Fleck soll es vielleicht werden, und nicht eine Spur. Und von Sünden wollen wir in diesem Buch natürlich schweigen, nicht wahr, mein Liebes? Da die ganze Story wohl aus ihnen besteht.“

„Du übertreibst mal wieder, Jana! Ich war übrigens eine der schönsten und prächtigsten Prostituierten!“

„Gut, so schreiben wir das jetzt auf! Nach Aussagen der geilsten Nutte namens Roxi, die jetzt Strafgefangene ist … – Fangen wir an!“

„Ich wurde in der Nähe der rumänischen Hauptstadt geboren. Das Städtchen hieß Lunguletu, ein gottverlassenes Nest, wo das einzig Schöne der Fluss Dâmbovița ist, der auch durch Bukarest fließt. In meinem Kaff geboren zu sein, könnte man mit dem ‚Glück‘ vergleichen, einen Geburtsort zu haben, der in etwa 95 Kilometer Entfernung von Moskau oder Kiew liegt. Weder Fisch noch Fleisch. Eine Einöde, Nirwana.

In meiner Kindheit war ich ein schönes Mädchen mit nudeldünnen Beinen, und mein glockenhelles Lachen wirkte auf alle um mich herum ansteckend. Es schien, als ob den Menschen gar nicht wichtig wäre, was ich da erzählte, weil die Zuhörer von vornherein darauf warteten, sich die Lachtränen aus den Augen zu wischen. Mein einzigartiger Charme ließ mich keinen Augenblick im Stich. Meine geraden, weißen Zähne mit der neckischen Zahnlücke verliehen mir etwas Teuflisches, Freches.

Wenn ich mir im Laden Spielzeug aussuchen durfte, nahm ich Dreizacke, Teufel mit Feuer und Galgen und briet im Spiel meine neidischen Klassenkameradinnen. Meine Augen glitzerten feurig, eingerahmt von meinem langen, pechschwarzen Haar. Ich war ein süßes kleines Mädchen, aber eine wilde Energie brodelte in mir.

Wir waren zwei Kinder, ich hatte einen jüngeren Bruder, mit dem ich immer herumalberte, was meine Mutter wütend machte. Sie war eine machthungrige Frau, Sternzeichen Löwe, und forderte von uns bedingungslose Unterwerfung, die sie aber nur meinem Brüderchen abtrotzen konnte. Mich dagegen musste sie fast zu Tode prügeln.“

„Also da liegt der Hund begraben! Ist das dein Familientrauma?“

„Das weiß ich nicht, das musst du entscheiden. Hör weiter.

Die Mutter schlug mich mit allem, was sie gerade in der Hand hatte, um mich zum Gehorsam zu zwingen, aber im Endeffekt erreichte sie ihr Ziel nie. Es war nutzlos, gegen mich Gewalt anzuwenden. Ich hätte mich nur dann bei jemandem entschuldigen können, wenn man mich nachsichtig und unter Berücksichtigung meines Alters und meiner halbwüchsigen Aufmüpfigkeit behandelt hätte. Ich hasste meinen Bruder wegen seiner Charakterschwäche und Kriecherei. Meiner Meinung nach war er ein Feigling. Wenn uns ein familiärer Anschiss drohte, schob er nicht nur alles auf mich, sondern fiel auf die Knie, versteckte sich hinter meinem Rücken und flehte die eiserne Lady um Verzeihung an. Ich dagegen wurde gnadenlos geprügelt, bis unser Vater kam und der Mutter den Riemen oder den Stock wegnahm, die so aufgebracht war, dass sie mich bis aufs Blut schlagen konnte.

Sehr lange konnte ich dieser Frau nicht vergeben, nicht einmal heute kann ich sagen, dass ich verziehen habe, obwohl wir später, nach vielen Jahren, doch noch enge Freundinnen geworden sind. Aber damals war sie für mich ein Erzfeind, ein Monster, ein Unmensch. Ich hielt mich für das unglücklichste Mädchen auf der Welt.“

„Warum hast du dich dem Willen deiner Mutter nicht gebeugt?“

„Jana, weißt du, auch wenn viele Leute den Horoskopen nicht glauben, Jungfrauen können den Menschen nicht verzeihen. Sie fordern erhöhte Aufmerksamkeit, wenn sie die nicht bekommen, machen sie in allem das Gegenteil.“

„Ich weiß … so bin ich ja selbst. Ich vergesse keine Beleidigung und verzeihe keinen Verrat.“

„Deshalb schien es mir damals, dass mein Leben zu Hause keinen Sinn mehr hatte, dass ich nicht geliebt wurde und niemand mich brauchte.“

„Was sagte deine Mutter? Wie erklärte sie, dass sie dir gegenüber so brutal war? Sie hat doch dadurch ihre Tochter für lange Jahren verloren.“

„Sie sagte, ich hätte sie provoziert, weil ich nie geweint und mich nie entschuldigt hätte. Ich hätte ihr nur immer hasserfüllt in die Augen geschaut, egal wie hart sie mich prügelte. Ich hätte sie vielleicht auch um Entschuldigung gebeten, wenn sie bloß nicht derart gerne handgreiflich geworden wäre und dabei nicht so geschrien hätte. Es ist dumm und unnütz, wenn Eltern sich so verhalten. Jahrelang überlegte ich jeden Tag einen Fluchtplan, um aus der, wie ich dachte, häuslichen Folterzelle zu entkommen.

Jetzt bin ich 27 Jahre alt und sitze hinter Gittern, da fällt es mir leichter, davon zu reden, dass ich ihre Handlungen verstehe und vielleicht verzeihen kann, sogar einen Teil meiner eigenen Schuld zu erkennen, aber damals war das leider nicht möglich.“

„Wie meinst du, woran sind Kinder in solchen Fällen schuld? An ihrem Ungehorsam? Wäre es nicht nötig gewesen, dass du deinen Charakter überwunden und dich wie dein Bruder hingekniet hättest, um der Dresche zu entgehen?“

„Ja, vielleicht. Aber woran ist sie schuld gewesen? Daran, dass sie sich richtige Kindererziehung eben so vorgestellt hat? Ja, ihre Methode, mit Kindern umzugehen, mag falsch sein, aber es war eben ihre persönliche Erziehungstheorie. Und wohin hat mich meine Unabhängigkeit gebracht? Wo sitzen wir jetzt? Etwa in einem Chalet in Alpen bei einem Glas Weißwein und einer Schweizer Käseplatte? Nein, in einer verrauchten Gefängniszelle! Und wir wissen nicht, welches Ende uns erwartet. Hast du gesehen, was mir der Staatsanwalt als Haftdauer in der Akte geschrieben hat? Ungefähr 20 Jahre. Sie werfen mir Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vor.“

„Hör auf! Sie haben einfach alle Paragrafen aufgezählt, nach denen du angeklagt wirst, und das Ergebnis in deine Akte geschrieben. So eine Haft bekommst du nie im Leben. Du bist doch nicht Jack the Ripper.“

„Meinst du? Ich habe große Angst! Ich bin zum ersten Mal hinter Gittern und kenne mich schlecht mit den Gesetzen aus.“

„Ich verspreche es dir. Wobei ich allerdings auch zum ersten Mal im Knast bin. Aber überstürze nichts. Der Staatsanwalt versucht, dich einzuschüchtern und zum Reden zu bringen. Er will die Wahrheit herausfinden und dich verdonnern. Das ist seine Arbeit.“

„Ich bin am Boden zerstört. Ich glaube, dass ich in meinem Leben auf einer völlig falschen Spur war.“

„Ja klar! Bis zum Sex mit Elefanten zu sinken! Da musst du dir schon Mühe gegeben haben …“

„Meine Mutter hatte etwas zerrüttete Nerven wegen meines Vaters. Sie hat ihn mit 17 geheiratet, da war sie schon schwanger. Sie erwartete ihren Erstling, nämlich mich, als sich herausstellte, dass er schon längst eine Liebesaffäre mit einer Arbeitskollegin hatte. Sie spähte das süße Pärchen aus. Die beiden turtelten auf einer Bank im Zentralpark. Das gekonnt zerzauste Haar der Rivalin und ihr verlockender Blick ließen die Augen des Mannes leuchten und er lächelte wie ein Märzkater. Mit schwerem Bauch stand meine Mutter hinter einem Baum, beobachtete ihren Liebsten und die Tränen kullerten ihr über die Wangen. Sie hätte sich fast laut gefragt, wie sie, eines der schönsten Mädchen der Stadt, sich in dieses Arschloch verlieben konnte.“

„Na ja, das ist eine triviale Geschichte. Wir Frauen sind widerspenstige Masochistinnen, und die Männer sind nicht besser. Die Beziehung ist eine Art Sparring, in dem der verliert, der mehr liebt.“