Elfenseele 3 - Jenseits der Ferne - Michelle Harrison - E-Book

Elfenseele 3 - Jenseits der Ferne E-Book

Michelle Harrison

4,6

Beschreibung

Rowan will endlich ein neues Leben beginnen, frei von Angst und Lügen und weitab von allem, was sie an das Elfenreich erinnert. Doch niemand mit dem Zweiten Gesicht kommt so leicht davon. Als sich mysteriöse Todesfälle häufen, bitten Rowans alte Verbündete sie um Hilfe. Bald wird Rowan klar: Jemand aus ihrer Vergangenheit sinnt auf Rache. Schließlich ist Elvesden Manor der letzte Rückzugsort für Rowan und ihre Freunde. Als das Gutshaus von Feen und Kobolden angegriffen wird, muss Rowan allen Mut aufbringen, um zu schützen, was ihr lieb geworden ist. Mit Fabian und Tanya schmiedet sie einen Plan - doch auf Elvesden Manor befindet sich ein Verräter … Mit der Elfenseele-Trilogie nimmt Michelle Harrison Leserinnen ab 12 Jahren mit in das mysteriöse Reich der Elfen. Ein packendes Fantasy-Abenteuer, das sich alle Fans von Plötzlich Fee nicht entgehen lassen dürfen! "Jenseits der Ferne" ist der dritte Band der Elfenseele-Trilogie. Die beiden Vorgängertitel lauten "Hinter dem Augenblick" und "Zwischen den Nebeln".

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1

owan Fox stand vor dem Schultor und wartete. Mit den Blicken suchte sie den Hof ab, als es klingelte und die Schüler herausgestürmt kamen. Sie rempelten und schubsten sich gegenseitig in ihrem Eifer, endlich mit den Sommerferien zu beginnen. Rowan konnte Fabians helle Haare in der Menge nicht ausmachen, daher steuerte sie ungeduldig den Süßwarenladen dem Tor direkt gegenüber an. In ihrer Tasche klimperten ein paar Münzen, die vom Lunchgeld übrig geblieben waren. Sie betrat den Laden und kaufte zwei Schokoriegel. Als sie wieder herauskam, waren die Kinder fast alle verschwunden, bis auf ein paar, die ihr in den Laden gefolgt waren. Leise Gitarrentöne erklangen aus der Nähe.

Von Fabian war immer noch nichts zu sehen. Sollte er schon ohne sie zur Bushaltestelle gelaufen sein? Aber warum? Sie stopfte einen der Schokoriegel in ihre Tasche, nahm den anderen in die Hand und ging los. Dann sah sie das Mädchen mit der Gitarre.

Sie saß im Schneidersitz im Eingang eines leeren Ladengeschäfts zwei Häuser neben dem Süßwarenladen und ließ ihre Finger über die Gitarrensaiten gleiten. Ihre kurzen blonden Haare sahen ungewaschen aus. Neben ihr lag ein alter, schäbiger Rucksack auf einem schmuddeligen Schlafsack.

Rowan blieb neben dem offenen Gitarrenkasten des Mädchens stehen, der auf dem Bürgersteig lag. Erbärmlich wenige Münzen waren darin. Sie tastete in ihrer Tasche nach den letzten Pennies und warf sie auf den kargen Haufen. Dann, nach einem Blick auf den Schokoriegel in ihrer Hand, warf sie den auch noch dazu und ging weiter.

»Danke!«, rief das Mädchen.

Langsam drehte Rowan sich um. Das Mädchen hatte zu spielen aufgehört und blickte sie an. »Ich habe schon gedacht, ich wäre unsichtbar. Du bist der erste Mensch heute Nachmittag, der mir etwas gegeben hat.«

Rowans Blick glitt über die Münzen, die schon im Kasten lagen.

»Die sind von mir!«, sagte das Mädchen. »Ich habe sie da hineingelegt, damit …, ach egal.«

Rowan trat näher und stellte ihre Schultasche auf den Boden. »Du hast das Geld hineingelegt, damit es so aussieht, als wärst du eben nicht unsichtbar«, beendete sie den Satz.

»Du sagst es.« Das Mädchen lachte kurz auf und lehnte die Gitarre an die Ladentür. Sie langte nach dem Schokoriegel, riss das Einwickelpapier ab und biss einmal kräftig hinein. Genüsslich schloss sie die Augen.

»Ich könnte mir nettere Orte vorstellen als diesen hier«, sagte sie zwischen zwei geräuschvollen Bissen. »Ich glaube nicht, dass ich hier noch länger bleibe.«

»Besser nicht, das stimmt«, antwortete Rowan und sah das Mädchen mitfühlend an. Sie sah nicht viel älter aus als Rowan selbst – höchstens sechzehn. »Du solltest es in einem größeren Ort versuchen, irgendwo, wo mehr los ist. Mehr Leute und so.«

»Sprichst du aus Erfahrung?«, fragte die Blonde. Sie leckte sich die Schokolade vom Daumen ab und blickte Rowan direkt in die Augen.

»Genau«, murmelte Rowan. »Deshalb habe ich auch angehalten …« Sie stockte, dann setzte sie sich auf die Stufen und erwiderte den Blick des Mädchens. »Ich habe mehr als ein Jahr auf der Straße gelebt. Ich weiß, wie es ist.«

»Wirklich? Was ist passiert?«

»Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen und mein kleiner Bruder und ich wurden in ein Heim gesteckt. Aber mein Bruder … ist verschwunden. Deshalb bin ich dort weg, um ihn zu suchen.«

»Und – hast du ihn gefunden?«, fragte das Mädchen.

Rowan zögerte, dann sagte sie leise: »Nein, ich habe ihn nicht wiederbekommen.«

»Und was hast du dann gemacht?«

Rowan zuckte mit den Schultern. »Ich habe Glück gehabt. Ich habe Leute gefunden, die sich … um mich gekümmert haben. Bei denen lebe ich jetzt.«

»Glück gehabt …«, wiederholte das Mädchen. Neidisch musterte sie Rowans makellose Schuluniform. »Es sieht verdammt so aus, als ginge es dir jetzt gut.«

»Was machst du überhaupt hier?«, fragte Rowan. »Tickey End ist nicht gerade der ideale Ort, wenn man irgendwo abgehauen ist. Ich meine, die Leute tun zwar so, als würden sie dich nicht sehen, aber verborgen bleibt hier nichts.«

»Bevor es dunkel wird, bin ich verschwunden«, sagte das Mädchen ruhig. «Ich hatte gar nicht vor, lange zu bleiben.« Sie lehnte sich vor und senkte die Stimme. »Ich muss nur eine Nachricht überbringen, sobald ich die richtige Person gefunden habe.«

»Nachricht? Für wen?«

»Für dich, Red.«

Rowan schnürte sich der Hals zu. »Was sagst du da?«

»Red. So hast du dich doch genannt.«

Rowan zog ihre Schultasche näher zu sich heran. »Wer bist du? Was soll das heißen, du hast eine Nachricht? Von wem?«

»Vom Coven.«

Rowan stand auf. »Lass mich in Ruhe.«

»Warte!«

Sie drehte sich wieder um. »Wer schickt dich?«

»Sperling«, sagte das Mädchen mit unterdrückter Stimme.

»Und warum kommt er nicht selbst und sagt mir das, wenn er doch weiß, wo ich bin?«

»Er sagt, auf ihn würdest du niemals hören. Dass ich vielleicht mehr Glück hätte …, mit dir zu reden …«

»Er hat sich geirrt.«

»Lass mich ausreden. Er wollte doch nur, dass du zuhörst.«

»Und was ist dabei für dich drin?«

Das Mädchen wurde rot.

»Aber natürlich. Du bist gar nicht obdachlos, stimmt’s? Du gehörst zu denen.«

Sie nickte. »Er war sicher, dass du stehen bleiben und mit mir reden würdest, und damit hat er ja recht gehabt. Aber selbst so musste ich mich noch vergewissern … erst als du deinen Bruder erwähnt hast …«

»Also was will er?«

»Es wird ein Treffen stattfinden, am dreizehnten.«

»Weiß ich«, sagte Rowan. »An jedem dreizehnten findet ein Treffen statt.«

»Sie wollen, dass du das nächste Mal wieder mit dabei bist. Keine Ausrede.«

Rowan nickte mit gesenkten Augen.

»Er hat gesagt, sie würden dir noch mitteilen, wo es ist, aber dafür müsstest du sie zuerst einmal reinlassen. Das ist alles. Das ist die ganze Nachricht.« Das Mädchen blickte auf das Schokoladenpapier in seiner Hand.

»Und wenn ich nicht komme?«

Das Mädchen hatte gerade den Mund geöffnet, um zu antworten, aber da blickte es an ihr vorbei. Rowan drehte sich um. Fabian kam näher, sein Gesicht finster verzerrt. Er blieb neben ihr stehen, lockerte seinen Krawattenknoten und murmelte etwas Unverständliches.

»Wo bist du denn so lange gewesen?«, fragte Rowan.

»Nachsitzen«, antwortete er mürrisch.

»Weswegen?«

Fabian stieß mit dem Fuß gegen einen Kieselstein. »Wegen ’ner Prügelei.«

»Prügelei? Mit wem?«

Bevor Fabian antworten konnte, sah Rowan, dass das Mädchen seine Sachen zusammensuchte. Es stand auf, wuchtete sich den Gitarrenkoffer über die eine Schulter, den Schlafsack und den Rucksack über die andere und nickte zum Abschied.

»Bis dann, Red«, sagte die Blonde leise und ging davon.

»Paar von den Jungs in meiner Klasse«, sagte Fabian zerstreut. Er sah dem Mädchen hinterher. Ein Stirnrunzeln löste die Wut in seinem Gesicht ab. »Wer war das?«

»Niemand besonderes«, sagte Rowan. »Nur eine von der Straße. Ich habe ihr ein bisschen Kleingeld gegeben.«

Fabians Stirnrunzeln vertiefte sich. »Du kennst sie nicht?«

»Nein.«

»Na, aber sie kennt dich«, sagte Fabian misstrauisch. »Sie hat dich ›Red‹ genannt. So nennt dich niemand mehr, jedenfalls nicht, seit du bei uns lebst.«

Rowan beobachtete, wie die Gestalt des Mädchens in der Ferne kleiner und kleiner wurde, bis sie in einem der verwinkelten Nebengässchen von Tickey End verschwand.

»Ich habe ein- oder zweimal mit ihr gesprochen, als ich selbst noch auf der Straße lebte«, log sie. In Gedanken ermahnte sie sich, Fabians Beobachtungsgabe nie zu unterschätzen. »Es ist ewig her. Ich weiß nicht einmal mehr ihren Namen – ich wundere mich, dass sie sich an mich erinnert hat.«

»Oh«, sagte Fabian und kratzte sich an der Wange. »Merkwürdig, dass sie hier gelandet ist – ausgerechnet hier.«

»Zufall«, sagte Rowan, als sie sich auf den Weg machten. Sie wollte möglichst schnell das Thema wechseln.

 »Also, um was ging es bei der Prügelei?« Sie musterte ihn und suchte nach Kratzern und blauen Flecken. »Du scheinst gewonnen zu haben – jedenfalls sieht man an dir keine Kampfspuren.«

»Wir wurden getrennt, als es gerade erst angefangen hatte«, brummte Fabian. »Und es ging um dasselbe wie immer– sie haben Sachen über Amos gesagt – gemeine Sachen. Sie haben gesagt, sie wollten hoch zum Friedhof gehen und sein Grab zerstören. Einer hat gedroht, er würde was auf den Grabstein schmieren. Da habe ich die Beherrschung verloren und ihm eine geknallt.«

»Ich verstehe ja, dass du sauer warst«, sagte Rowan. »Aber sie werden nichts machen, Fabian. Wenn sie wirklich so etwas vorhätten, wärst du der Letzte, dem sie es sagen würden. Sie wollen dich nur verletzen.«

»Na, das ist ihnen auf jeden Fall gelungen. Warum können sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Selbst jetzt, wo er tot ist, geht es genauso weiter!«

Rowan seufzte. »Du musst sie einfach ignorieren. Wenn du immer wieder auf sie reinfällst, stellen sie dir auch immer wieder ein Bein.«

»Du hast leicht reden«, sagte Fabian hitzig. »Hinter deinem Rücken flüstern sie ja auch nicht oder zeigen mit dem Finger auf dich. Wie würdest du dich denn fühlen, wenn die Leute behaupteten, dein Großvater hätte jemanden ermordet?«

Rowan verstummte. Sie grübelte über die düstere Geschichte von Elvesden Manor nach, das alte Herrenhaus, in dem sie mit Fabian und seiner Familie lebte. Während der Zeit, als Fabians Großvater Verwalter gewesen war, war in den nahe gelegenen Wäldern ein Dorfmädchen namens Morwenna Bloom verschwunden. Unglücklicherweise war Fabians Großvater als Letzter mit ihr zusammen gesehen worden, sodass er sofort verdächtigt wurde, etwas mit ihrem Verschwinden zu tun gehabt zu haben. Die Gerüchte waren sein ganzes Leben lang nicht verstummt und auch noch jetzt, zwei Monate nach seinem Tod, glaubten die Menschen daran.

»Natürlich würde mir das nicht passen«, sagte Rowan schließlich. »Aber es wäre mir egal, solange ich selbst davon überzeugt bin, dass nichts daran ist. Und das bist du doch auch, Fabian. Jeder, auf den es wirklich ankommt, weiß, dass Amos unschuldig war. Vergiss das nicht!« Sie griff in ihre Schultasche. »Hier. Ich habe dir Schokolade mitgebracht. Sie ist inzwischen vielleicht ein bisschen weich.«

»Danke.« Fabians Gesicht wurde etwas fröhlicher, als er den Schokoriegel nahm und schmatzend kaute, während sie über den Marktplatz zur Bushaltestelle gingen.

»Und überhaupt«, fuhr Rowan fort. »Ich weiß, was es heißt, wenn sie hinter deinem Rücken flüstern oder auf dich zeigen. Ich bin schließlich die Neue, stimmt’s? Und ich wohne jetzt auch auf Elvesden Manor. Also bin ich in den Augen der meisten Leute höchst verdächtig – so eine Art Sippenhaft.«

»Ich kann’s mir vorstellen«, nuschelte Fabian mit schokoladeverschmierten Zähnen. »Und wie reagierst du dann?«

»Ich sage gar nichts«, antwortete Rowan. »Ich stelle mir nur ihre Gesichter vor, wenn man ihnen die Wahrheit erzählen würde. Wenn wir tatsächlich damit rausrücken würden, dass Morwenna Bloom freiwillig im Elfenreich verschwunden ist. Stell dir mal vor, was sie dann sagen würden.«

»Sie würden uns für noch bekloppter halten als jetzt schon«, sagte Fabian und stopfte sich den letzten Rest der fast schon geschmolzenen Schokolade in den Mund. Aber als sie den Bus bestiegen, hatte sich seine Miene deutlich aufgeheitert.

Rowan ging zur Rückbank des Busses voran und setzte sich. Der Bus ruckte an und ratterte durch die Straßen von Tickey End und weiter über die Landstraßen von Essex. Fünfzehn Minuten später stiegen sie aus und liefen querfeldein über Land, das stellenweise noch jetzt morastig und verwüstet war von der schrecklichen Überflutung der vergangenen Winter- und Frühlingsmonate.

Bald schritten sie durch ein riesiges schmiedeeisernes Tor, unter den aufmerksamen Blicken zweier grimmiger steinerner Wasserspeier, die jeder an einer Seite des Tors auf einem eigenen Pfeiler thronten. Vor ihnen erhob sich jenseits eines kiesbestreuten Vorplatzes das mit dichtem Efeu überwucherte Herrenhaus Elvesden Manor. Kies knirschte unter ihren Sohlen, als sie auf die Vordertür zugingen. Rowan blickte an der imposanten Front des Hauses hoch. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich tatsächlich hier lebe.«

»Das sagst du jedes Mal, wenn wir den Weg hochkommen«, entgegnete Fabian.

»Ich denke es ja auch jedes Mal.«

Sie holte tief Luft, als sie durch die Haupttür eintraten. Der Korridor war dunkel und roch muffig; die Art Geruch, der solch einem Anwesen immer anhaftete, egal, wie gründlich es gereinigt wurde. Sie gingen weiter in den hinteren Teil des Hauses, am prächtigen alten Treppenhaus vorbei, wo es auf dem ersten Absatz eine Standuhr gab. Sie tickte nicht, die Zeiger waren wie in einer Bewegung erstarrt. Von innen hörte Rowan aber die verräterischen Raufereien der geheimnisvollen Bewohner. Von weiter oben im Treppenhaus drang das monotone Geräusch eines Staubsaugers.

Aus der Küche kam ihnen ein schrilles Kreischen entgegen.

»Junge Schnösel! Rübe ab!«

Rowan zuckte bei dem durchdringenden Geräusch zusammen; Fabian warf dem Schreihals einen wütenden Blick zu. Ein grauer Papagei mit gelb starrenden Augen hockte in einem großen silbernen Käfig auf seiner Stange.

»Ihnen auch einen wunderschönen Nachmittag, General Carver«, murmelte Fabian ironisch. Die Augen des Vogels verengten sich zu schwarzen Punkten, dann weiteten sie sich wieder, als sich die Hintertür öffnete und Fabians Vater Warwick eintrat.

»Alles bereit für die großen Ferien?«, sagte er, schloss die Tür und ließ am Spülbecken Wasser in den Kessel laufen. Nachdem er ihn zum Kochen auf den großen Kohlenherd gestellt hatte, zog er seinen langen Mantel aus und hängte ihn an den Türhaken. Das Eisenmesser, das tief in seinem Gürtel steckte, schlug dumpf gegen die Holztür.

Fabian grinste. »Sechs lange Wochen keine Schule!«

»Aber dass ihr euch nicht in die Haare kriegt, wenn es euch zu langweilig wird.«

Fabian schnaubte. »Uns wird nicht langweilig. Und selbst wenn, dann könntest du uns doch mit auf deine Runde nehmen – das ist immer spannend!«

Bei diesem Vorschlag hob Warwick eine Augenbraue. Er wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da öffnete sich die Tür. Eine schmale, weißhaarige Frau Mitte sechzig betrat die Küche, hinter ihr eine nur wenig jüngere, die aber deutlich stämmiger war und ganz außer Atem.

»Eins will ich Ihnen sagen, Florence«, keuchte sie. »Dieses Mädchen ist doch nicht ganz richtig hier oben« – sie tippte sich mit einem Finger an die Stirn – »wissen Sie. Ich wage mir gar nicht vorzustellen, in was für einem Zustand ihr Zimmer ist. Jugendliche sollten nicht einfach ihr Zimmer abschließen dürfen, wenn Sie mich fragen, es ist nicht …« Sie brach abrupt ab, als ihr Blick auf Rowan fiel. Verlegen kratzte sie sich ihren wirren braunen Haarschopf.

»Sie wissen genau, warum ich meine Tür abschließe«, sagte Rowan leise.

»Das alles haben wir bereits besprochen, Nell«, sagte Florence schroff, aber als sie Rowan ansah, lag eine tiefe Wärme in ihrem Blick. »Solange das Zimmer aufgeräumt wird, darf Rowan es abschließen, wenn sie es wünscht.«

»Trotzdem«, beharrte Nell. »Ich bin seit Wochen nicht dazu gekommen, dort zu putzen. Es muss dort aussehen wie im Saustall!«

 »Wie oft noch?«, rief Rowan verzweifelt. »Ich putze selbst! Und wenn Sie nicht immer wieder Sachen umgestellt hätten, bräuchte ich jetzt nicht die Tür abzuschließen! Verstehen Sie denn nicht? Alles muss dort so bleiben, wie es war … so, wie ich es hingestellt habe. Dafür gibt es einen Grund!«

»Bitte, wenn du darauf bestehst«, gab Nell eingeschnappt zurück.

»Allerdings«, erwiderte Rowan scharf. »Und wenn es Florence nichts ausmacht, verstehe ich nicht, warum Sie sich einmischen – es ist schließlich ihr Haus.« Sie drehte der Küche, in der es plötzlich still geworden war, den Rücken zu und rannte die Treppe hoch. Niemand folgte ihr. Nicht einmal Fabian. Sie war froh darüber. Vor einer Tür auf der rechten Seite blieb sie stehen. Ihr Atem ging stoßweise; sie war wütend. Aus ihrer Tasche zog sie einen alten Schlüssel, steckte ihn ins Schloss, öffnete die Tür und ging hinein. Mit Schwung schleuderte sie ihre Schultasche in eine Ecke. Dann nahm sie vor der Frisierkommode Platz und musterte sich im Spiegel.

Ihr Spiegelbild zeigte schräge grüne Augen in einem spitz zulaufenden schmalen Gesicht, das über und über mit Sommersprossen bedeckt war. Ihre Haare waren kinnlang gewesen, als sie ins Herrenhaus kam. Jetzt, nach fünf Monaten, reichte ein kastanienbrauner Pferdeschwanz fast bis auf ihre Schultern. Sie zog eine Strähne hervor.

Red. So hast du dichdoch genannt.

»Red«, flüsterte sie und sah sich im Zimmer um. Sie hatte nicht gelogen, als sie Nell gegenüber behauptet hatte, es sei sauber. Der Raum war peinlich aufgeräumt; alles stand an seinem Platz. Nachdem sie so lange auf der Straße gelebt, nirgendwohin gehört hatte, wusste sie die Geborgenheit eines eigenen Zimmers zu schätzen.

Geborgen.

Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Es war ein schöner Raum. Man hatte ihn direkt nach ihrer Ankunft renoviert. Die Wände waren in einem lebhaften Karminrot gestrichen und wirkten dadurch warm und behaglich. Die antiken Möbel strahlten Gemütlichkeit aus, als hätte sie schon seit Jahren dort gewohnt. Oberflächlich gesehen war das Zimmer, abgesehen von seiner Sauberkeit und peniblen Ordnung, genau so, wie das Zimmer einer normalen Fünfzehnjährigen sein sollte.

Aber Rowan war eben kein normales fünfzehnjähriges Mädchen.

Sie stand von der Frisierkommode auf und begann ihren gewohnten Kontrollgang – wie jedes Mal, wenn sie den Raum betrat. An der Tür fing sie an, kniete sich hin und rollte den fadenscheinigen Teppich hoch, der die Bodendielen bedeckte. Eine dünne Spur einer weißen, körnigen Substanz verlief von einer Seite der Tür zur anderen.

Zufrieden ließ sie den Teppich wieder zurückfallen und kontrollierte als Nächstes die Fensterbank. Entlang der Fugenleiste verlief über deren ganze Länge ebenfalls eine weiße Linie: auch sie war unversehrt. Sie stupste ihren Finger hinein und ließ ein paar Körnchen auf ihre Zunge fallen. Der bitterscharfe Geschmack war eindeutig: es war Salz.

Dann überprüfte sie den Gitterrost, wo unterhalb der Kaminöffnung ein Kranz aus dunkelgrünen Blättern und getrockneten rotbraunen Beeren lag und auch diesen möglichen Zugang zum Raum versiegelte.

Als Letztes ging sie zum Bett und ließ ihre Finger unter das Kissen gleiten. Die kalte Klinge des Messers, das sie dort versteckt hielt, beruhigte sie. Endlich ließ ihre Spannung nach.

Das Mädchen in Tickey End hatte etwas in ihr wachgerufen. Sie ging zum Fenster und blickte nach draußen über die Gartenmauern in Richtung Henkerswald. Aber sie sah weder die Bäume noch den Bach, der am Rand des Waldes verlief, genauso wenig wie die kleine Kirche. Jenseits der Ferne sah sie einen kalten, feuchten Keller unter einem Steincottage. Ein Handgelenk mit blutig zerschrammter Haut wurde von einer Eisenfessel festgeklammert. Und bittere, böse Sätze hämmerten in ihrem Kopf.

Das wirst du bereuen, Mädchen … Ich werde dich finden, dann wirst du es mir büßen …

Ein dumpfer Aufprall am Fenster ließ sie nach Luft schnappen. Sie schüttelte die düsteren Erinnerungen ab und blinzelte gegen die Nachmittagssonne durch das Glas. Auf dem äußeren Fenstersims kratzte ein kleines haariges Wesen an der Scheibe. Es hatte ungefähr die Größe eines Vogels und auf den ersten Blick hätte man es auch für einen halten können, denn es trug ein Kleidungsstück aus Federn und Blättern. Es handelte sich aber um einen kleinen Mann mit scharf geschnittenen Zügen, dem ein Stück Papier zwischen den Zähnen steckte. Sie beobachtete ihn. Ihr Gesicht zeigte keine Regung. Das Fenster war zum Lüften einen Spalt offen gelassen worden und die Lücke war groß genug, dass sich der Elfenmann hätte durchquetschen können. Aber selbst wenn er es versucht hätte, wäre er nie imstande gewesen, die Salzbarriere zu überwinden. Sie war ein Abwehrmittel gegen Elfen, wie all die anderen Hindernisse, die sie installiert hatte.

Als der Elfenmann aufhörte zu kratzen und schon aufgeben wollte, hatte Rowan endlich Mitleid und wischte etwas Salz beiseite, um ihm so eine kleine Öffnung zu schaffen. Der Elf blinzelte vor Überraschung, dann schoss er durch das Fenster und ließ das Papier aus seinem Mund auf den Boden fallen.

»Das wurde aber auch Zeit!«, nörgelte er mit nasaler Stimme. Dann hob er ab und war verschwunden. Rowan verlor keine Zeit, das Salz wieder zu einer ununterbrochenen Linie zusammenzuschieben.

Sie kniete sich hin und hob das Ding auf, das der Elf fallen gelassen hatte. Es war ein einfacher Umschlag mit einem einzigen Wort vorne darauf: RED. Sie starrte ihn an: Das war der Name, unter dem sie so lange gelebt hatte. Sie hatte verzweifelt versucht zu vergessen, dass sie diesen Namen jemals getragen hatte.

Sie war es so leid, nicht die Wahrheit sagen zu dürfen. Sich zu verstecken. Mit dem Daumennagel schlitzte sie den Umschlag auf und sah hinein.

Es war Zeit, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.

2

anya kam eine Woche später nach Elvesden Manor. Als sie hinter Warwick über die Schwelle trat, überwältigten sie die Aufregung und Freude, endlich zurück im vertrauten alten Haus ihrer Großmutter zu sein.

»Schon gut, Oberon. Zieh nicht so«, ermahnte sie den großen braunen Dobermann, der an seiner Leine zerrte. Er wedelte übermütig mit dem Schwanz, als Tanya den Verschluss seines Halsbands löste und er mit großen Sprüngen durch das Haus schoss. Seine Pfoten klackerten auf den Bodenfliesen.

»Ich bringe deine Sachen später auf dein Zimmer«, sagte Warwick und stellte Tanyas Tasche auf die unterste Treppenstufe. »Wir kommen gerade rechtzeitig zum Mittagessen.«

Tanya folgte ihm in die Küche, die sich im hinteren Teil des Herrenhauses befand. Ihre Großmutter und Nell verteilten Schmalzbrote, hart gekochte Eier und Salate auf Platten und breiteten alles auf dem Tisch aus. Eine Schüssel mit frischen Obstschnitzen wurde für den Nachtisch hingestellt. Ein strahlendes Lächeln verzauberte Florence’ Gesicht, als sie Tanya sah. Flüchtig wischte sie sich die Hände an ihrer Schürze ab, dann schloss sie Tanya warm und herzlich in die Arme. Sie trat einen Schritt zurück, um sie gründlich zu mustern.

»Also, lass dich ansehen«, sagte sie. »Schön braun geworden bist du – und sogar Sommersprossen!«

»Hallo, Schätzchen«, strahlte Nell. »Wie waren die Ferien in Devon?«

»Gut, danke«, sagte Tanya und schob Oberons Nase von den Broten weg. »Wir sind gestern Abend zurückgekommen. Mum wollte eigentlich, dass ich noch einen Tag bleibe und mich richtig ausruhe, bevor ich wieder fahre, aber ich wollte so schnell wie möglich hierherkommen. Mir kommt es so vor, als wäre ich eine Ewigkeit nicht hier zu Besuch gewesen. Nicht richtig, meine ich.« Es entstand eine peinliche Pause. Tanya und ihre Mutter waren erst vor acht Wochen das letzte Mal im Herrenhaus gewesen – am Wochenende von Amos’ Beerdigung.

»Papperlapapp!«, verkündete General Carver lauthals aus seinem Käfig. Seine Stimme war der von Nell täuschend ähnlich. Er schnalzte mit der Zunge und begann, seine Federn zu putzen.

»Setz dich«, sagte Florence. Dem Papagei schenkte sie keine Beachtung. »Fabian und Rowan müssten auch jeden Augenblick hier sein.«

»Wo sind sie denn?«, fragte Tanya und griff nach einem Teller. In dem Moment öffnete sich der Deckel der Teebüchse auf der Arbeitsplatte. Der streitsüchtige alte Wichtel, der darin lebte, blinzelte hervor und förderte dann seinen Gehstock zutage. Mit einem gezielten Stoß erbeutete er ein Stück Tomate und verschwand damit wieder unter den Teebeuteln.

»Sie sind noch draußen und helfen Rose bei den Tieren«, sagte Florence, die den Diebstahl nicht bemerkt zu haben schien, obwohl Tanya sicher war, dass sie es gesehen haben musste und sich nur blind stellte. Wie Tanya hatte auch ihre Großmutter das Zweite Gesicht. Sie beide und Rowan waren die Einzigen im Haus, die Elfen und Feen und die anderen Bewohner des Elfenreichs sehen konnten. Alle anderen wussten aber von ihrer Existenz.

»Du hast die Tiere ja noch gar nicht gesehen«, fuhr Florence fort. »Rose hat in dem alten Hof Wunder vollbracht – du musst es dir unbedingt nach dem Lunch ansehen. Oh, das klingt, als kämen Rowan und Fabian gerade.«

»Da ist sie ja!«, hörte man Fabian vom Korridor begeistert rufen. »Hier steht ihre Reisetasche!«

Er kam in die Küche gestürzt, über das ganze Gesicht grinsend. Hinter ihm folgten Rowan und eine Frau mit den gleichen rötlich braunen Haaren. Während Rowan und die Frau, Rose, an das Spülbecken traten, zog sich Fabian einen Stuhl neben Tanya heran und wollte sich gerade setzen. Tanya bemerkte eine hellbraune Feder auf seinem Hemd.

»Moment mal, Fabian«, unterbrach Florence. »Deine Hände.«

Fabian schaute verwirrt auf. »Was ist damit?«

»Das weißt du ganz genau«, sagte Florence. »Du hast den ganzen Morgen bis zu den Ellbogen in Hühnermist gesteckt. Also. WASCHEN!«

»Verfluchte Pest!«, fügte der General hinzu, als ob er ihr zustimmen wollte. Nell gluckste vor Lachen und brachte ihm einen Apfelschnitz. Sie steckte ihn durch die Käfigstäbe und gurrte leise, als der Papagei ihn mit seinen schuppigen Klauen ergriff und daran knabberte.

»Na gut«, sagte Fabian, stand auf und ging zum Spülstein. Er deutete auf einen Teller voller gesprenkelter hart gekochter Eier, der auf dem übervoll gedeckten Tisch stand. »Nimm dir eins von denen, Tanya. Hab ich heute Morgen selbst gesammelt!«

Tanya nahm sich ein Ei. Rowan setzte sich ihr gegenüber an den Tisch und häufte hungrig Sandwiches auf ihre Teller.

»Wie waren deine Ferien? Habt ihr dieses alte Haus besucht, von dem du mir erzählt hast?«

»Was für ein Haus?«, meldete sich Fabian und setzte sich wieder hin.

»Chambercombe Manor«, antwortete Tanya. »Es ist Elvesden Manor ähnlich, aber nicht halb so groß. Meine Mum wollte schon dorthin, seit sie in einem Buch mit Gespenstergeschichten darüber gelesen hat – sie meint, es spukt dort.«

»Ich habe davon gehört. Das ist doch das Herrenhaus, wo sie eine Wand eingerissen und ein Geheimzimmer mit einem Skelett auf dem Bett entdeckt haben! Und seitdem geht es dort um!«

»Es gibt auch noch einen Geheimgang«, sagte Tanya. »Strandräuber haben ihn benutzt, um ihre Schmugglerwaren vom Strand hereinzuholen; inzwischen ist er aber vollständig eingestürzt.«

»Huh«, machte Fabian. »Aber ich wette, ihr Geheimtunnel ist nichts gegen unseren.«

»Über den keiner von euch eigentlich etwas wissen sollte, geschweige denn ihn benutzt haben dürfte«, warf Warwick schroff ein. Tanya warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Er sah älter aus, aber besser als bei ihrer letzten Begegnung. Damals waren seine Augen rot gerändert gewesen und seine Wangen eingefallen. Es war Warwick gewesen, der seinen Vater am Morgen tot aufgefunden hatte, als er ihm das Frühstück bringen wollte. Nachdem Amos über lange Jahre langsam dem Wahnsinn verfallen war, hatte der alte Mann die vergangenen Monate entspannter verbracht, weil er von der Erinnerung an Morwenna befreit worden war. Und schließlich war er friedlich eingeschlafen.

»Ja, aber trotzdem.« Fabian ließ nicht locker. »Unserer führt auf einen Friedhof. Etwas Gruseligeres kann man ja wohl nicht bieten.«

»Also wirklich. Ich muss doch sehr bitten«, erwiderte Nell scharf. Ihre rundlichen Schultern bebten. »Du hast einen grausigen Humor, mein Junge.«

Fabian verzog sein Gesicht zu einem Grinsen, als ob Nells Bemerkung ein Kompliment gewesen wäre, während Tanya ihn beobachtete und überlegte, ob der Begriff ›Junge‹ auf Fabian noch so richtig zutraf. Er war während der letzten Monate heftig in die Höhe und Breite geschossen und verlor langsam seine schlaksige Erscheinung, die ihr so vertraut war. Er war nicht mehr so dünn, nicht mehr so blass, und seine Wangen waren von gesunder Röte, seit er so viel Zeit im Freien verbrachte.

»Wie war die Schule?«, fragte Tanya Rowan leise. »Es scheint besser zu laufen, nach dem, was du mir am Telefon gesagt hast.«

Rowan biss in ein Sandwich und schmuggelte den Rest geschickt unter das Tischtuch, wo Oberons Maul schon zum Zuschnappen bereit war.

»Es geht«, sagte sie, »jetzt, wo die größte Aufregung vorbei ist. Es ist immer schlimmer, solange man die Neue ist. Das Wichtigste ist jetzt, den Stoff aufzuholen, den ich verpasst habe.«

Sie verzog das Gesicht. »Rose will einen Nachhilfelehrer engagieren. Bis jetzt konnte ich sie überzeugen, dass ich ohne zusätzliche Stunden mitkomme.«

»Und wie geht’s mit ihr?«, fragte Tanya mit noch leiserer Stimme.

Rowan blickte zu Rose hinüber, die sich lebhaft mit Florence unterhielt und offensichtlich nichts vom Gespräch der Mädchen mitbekam. »Seltsam«, sagte sie und kaute gedankenverloren. »Wir kommen miteinander klar, aber so war es ja immer. Manchmal denke ich gar nicht mehr daran, jedenfalls für einen Augenblick, und dann ist es so wie früher. Rose ist nichts weiter als meine verrückte Tante, total vernarrt in Tiere. Und dann sieht sie mich auf einmal auf eine ganz bestimmte Art an, und alles fällt mir wieder ein …« Sie brach ab, weil die Gespräche ringsum leiser wurden. »Wir sprechen später«, murmelte sie.

Tanya verspeiste den Rest ihres Sandwiches schweigend. Sie konnte sich vorstellen, wie Rowan sich fühlen musste. Bis vor ganz kurzer Zeit hatte sie geglaubt, Rose sei ihre Tante. In Wahrheit war Rose aber Rowans Mutter, was eigentlich auf der Hand lag, wenn man die beiden nur genauer ansah, so ähnlich sahen sie sich. Doch diese Tatsache hatte man vor Rowan geheim gehalten, als sie noch ein Kind war. Sie hatte bei ihrer Tante und ihrem Onkel gelebt und angenommen, diese seien ihre leiblichen Eltern. Als sie bei einem Autounfall ums Leben kamen, hatte man Rowan vorübergehend in ein Waisenhaus gesteckt, zusammen mit James, ihrem kleinen Bruder, der aber in Wirklichkeit ihr Cousin war, wie sich nun herausstellte.

Während sie im Waisenhaus lebten, wurde James eines Nachts von Elfen entführt. Rowan war daraufhin sofort weggelaufen. Auf der Suche nach ihm hatte sie sich ›Red‹ genannt, um unerkannt zu bleiben.

Rowan hatte weder Tanya noch Fabian viel über diese erste Zeit erzählt. Aber sie wussten, dass sie daran beteiligt gewesen war, Elfenwechselbälger, die anstelle von Menschenkindern zurückgelassen worden waren, zurückzutauschen. Sie hatte gehofft, auf diese Weise eines Tages ihren Bruder zurückzubekommen.

Nur durch Zufall hatte Tanya Rowan entdeckt, als sie sich in den Geheimtunneln unter Elvesden Manor mit einem Wechselbalg versteckt gehalten hatte. Seitdem hatten Tanya und Fabian ihr bei der Suche nach James geholfen – als sie ihn aber endlich gefunden hatte, war nicht nur herausgekommen, dass Rose ihre Mutter war, sondern auch, dass ihr Vater ein Fayre war.

Jetzt baute sich Rowan ein neues Leben auf Elvesden Manor auf … und ein neues Verhältnis zu Rose.

Nach dem Lunch half Tanya ihrer Großmutter aufzuräumen und plauderte mit ihr über die Schule und ihren Urlaub. Während sie in der Küche herumliefen, huschte die scheue kleine Herdfee vom Tisch, wo sie die Teekanne warm gehalten hatte, und verschwand in ihrer Lieblingsnische hinter dem Kohleneimer, den sie ganz sachte beiseiteschubste.

Sobald sie fertig war, ging Tanya nach hinten auf den Hof. Oberon folgte ihr, die Nase dicht an ihren Fersen.

Hinter den wilden Rosenbüschen war ein Gartenteil von Unkraut befreit worden. Man hatte einen Zaun aufgestellt und ringsum Holzverschläge. Eine alte Ziege mit nur einem Horn war an einen Zaunpfahl angepflockt und hinten gab es noch einen Hühnerstall. Innerhalb der Umzäunung fütterte Rose ein Kälbchen mit der Flasche. Tanya blickte interessiert zu ihr hinüber.

»Was ist mit ihm passiert?«, fragte sie leise, weil sie das Tier nicht stören wollte.

»Es ist verwaist«, flüsterte Rose. »Willst du nicht hereinkommen?«

Tanya trat durch das Gatter und achtete darauf, es sorgfältig hinter sich zu schließen. Oberon ließ sie draußen. Er sprang am Zaun hoch und behielt sie im Auge, legte sich dann aber hin, seine Nase auf den Pfoten. Weiter hinten beugte sich Rowan über einen Pferch, in dem ein Fuchs mit einem dick umwickelten Lauf hockte.

»Was ist mit seinem Bein los?«, fragte Tanya.

»Wildererfalle«, antwortete Rowan. »Zum Glück ist nichts gebrochen, aber seine Wunde hat sich entzündet. Rose sagt aber, in höchstens einer Woche ist er wieder auf den Beinen. Wir können nicht viel für ihn tun – er soll wild bleiben, damit er wieder in den Wald entlassen werden kann.«

»Und wenn er die Hühner jagt, kaum, dass es ihm besser geht?«, fragte Tanya nachdenklich und ließ ihren Blick über die Ställe gleiten, wo Fabian gerade Futter verteilte.

»Das wird er nicht tun«, sagte Rowan. »Rose hat ihn draußen bei Knook gefunden, als sie mit ihren Hunden auf den Feldern spazieren ging. Und da wollen wir ihn auch wieder freilassen. Bis hierher wird er nicht zurückfinden, wir sind Meilen entfernt.«

Tanya nickte. »Und wie wird das hier geregelt? Ich meine, wer bezahlt das alles? Und behält Rose ihr Cottage in Knook?«

»Ja«, sagte Rose leise. Sie war hinter ihnen herangetreten. Das Kälbchen trottete hinter ihr her wie ein Hündchen. »Ich behalte das Cottage. Wie sollte ich mich jemals davon trennen, bei der Geschichte, die mit ihm verbunden ist? Daran zu denken, dass Elisabeth Elvesden, die Herrin des Hauses hier, dort einmal gelebt hat – lange vor meiner Zeit. Es kommt einem so vor, als wäre die Verbindung zwischen uns allen von einer Art Vorsehung geplant gewesen.« Sie schüttelte leicht den Kopf, als wollte sie sich von ihren eigenen Gedanken lösen. »Das Tierheim ist gut angenommen worden. Ich habe schon Angebote von Sponsoren, die für die Behandlung aufkommen wollen, und Florence und Nell haben ein paar gute Ideen, um für die laufenden Kosten Mittel zu beschaffen.« Sie lächelte Tanya an – mit freundlichen Fältchen um ihre grünen Augen. »Es war sehr entgegenkommend von deiner Großmutter und Warwick, mich dafür ihren Garten benutzen zu lassen. Mein Cottage ist so winzig und es gibt so viele Tiere, die dringend Hilfe benötigen.«

Tanya zuckte mit den Schultern. »Es stimmt ja, so viele Teile des Hauses und des Grunds werden gar nicht genutzt. Das hier ist ein schöner Ort für Tiere. Wirst du denn deine Hunde auch herbringen? Außerdem hat Rowan erwähnt, dass du auch Gänse hast.«

Rose schüttelte den Kopf. »Nein. Die Hunde sind gut versorgt. Es waren die größeren Tiere, um die ich mir Sorgen gemacht habe. Und die Gänse – um Himmels willen, nein! Sie würden alle anderen nur terrorisieren.«

»Dem Himmel sei Dank«, murmelte Rowan.

»Weißt du … du kannst jederzeit zum Cottage kommen«, sagte Rose hastig. Ihre Worte richteten sich an Rowan. »Zu Besuch, oder auch für immer. Es ist absolut sicher … gut geschützt.«

»Ich weiß«, sagte Rowan. Sie sah aus, als fühlte sie sich unbehaglich. »Ich denke darüber nach.«

Rose zwang sich zu einem Lächeln. »Wir sehen uns also morgen.« Sie verließ das eingezäunte Gehege. Wenige Minuten später rumpelte Warwicks Landrover durch das Tor, als er sie nach Hause fuhr.

»Gib ihr wenigstens eine Chance«, sagte Tanya, die Rowan zusah, wie sie den Fuchsstall wieder abschloss. «Sie bemüht sich so sehr.«

Rowan zuckte mit den Schultern. »Ich weiß. Ich doch auch.« Sie verließ den Pferch und blickte auf. Endlich kam Fabian von den Hühnern herüber und schloss sich ihnen an. »Es war klar, dass es nicht einfach werden würde – was meinst du?«

»Nein, das stimmt«, gab Tanya zu.

Der Nachmittag ging in den Abend über. Nachdem sie mit Oberon an dem Bach spazieren gegangen war, der die Grenze zum Henkerswald bildete, ging Tanya auf ihr Zimmer und packte aus. Als sie ihren Kulturbeutel in das Badezimmer bringen wollte, das sie sich mit Rowan teilte, bemerkte sie ein Gurgeln aus dem Waschbecken. Sie spähte in das düstere Abflussloch und erblickte plötzlich zwei Glubschaugen, die sie aus der Tiefe anstarrten. Im Herbst hatte sich dort ein Abflussbewohner breitgemacht. Es war ein schleimiges, amphibienartiges Wesen, das wie eine Elster verrückt war nach allem, was glänzte.

Diese Kreatur war aber auch nicht die erste dieser Art, die hier wohnte. Vorher hatte geraume Zeit ein anderer Abflussbewohner dort gehaust und hatte Gefallen an einem silbernen Armband mit Schmuckanhängern gefunden, das Tanya von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatte. Seine fixe Idee, den Anhänger stehlen zu müssen, hatte ihn das Leben gekostet. Er war Spitfire zum Opfer gefallen, Florence’ Kater.

Nachdem sie Zeuge dieses Mordes geworden war, hatte Tanya erfahren, dass jeder der Armbandanhänger einen der Dreizehn Schätze des Elfenreichs symbolisierte. Und sie hatte außerdem herausbekommen, dass ihre Ahnin und die erste Herrin des Hauses, Elisabeth Elvesden, ein Elfenwechselbalg gewesen war. Dank der Blutlinie, die sie mit dieser Ahnin verband, hatte Tanya das Zweite Gesicht.

Rowan kam durch die andere Tür herein, die der von Tanyas Zimmer genau gegenüberlag.

»Oh, tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe gar nicht gemerkt, dass du hier drin bist. Wir müssen daran denken, beide Türen abzuschließen, wenn wir im Bad sind, und nachher wieder aufzuschließen.«

»Ist schon gut«, antwortete Tanya. »Ich packe bloß aus. Aber wenn ich genauer darüber nachdenke, lasse ich meine Zahnbürste lieber im Waschbeutel – ich will nicht, dass dieser eklige Plagegeist sie antatscht.«

»Gute Idee«, sagte Rowan. »Und pass vor allem auf, dass du keinen Schmuck herumliegen lässt – dieser hier ist ein noch schlimmerer Dieb als der erste, meint Warwick. Er hat seit dem Winter schon dreimal die Leitungsrohre aufstemmen müssen, um all das Zeug zurückzuholen, das dieses Miststück gestohlen hatte.«

»Ich kann mich gut erinnern«, sagte Tanya und beobachtete, wie sich die funkelnden Augen im Abfluss zu dunklen Punkten verengten. Ganz offensichtlich wusste das Wesen, dass von ihm die Rede war, denn es rülpste einmal in ihre Richtung und verschwand dann mit glubschigen Geräuschen in den Tiefen des Abflusses. Zurück blieb nur der widerliche Gestank von faulen Eiern.

Rowan ging wieder in ihr eigenes Zimmer. Tanya blieb mit dem unangenehmen Geruch des Abflussbewohners zurück. Sie ließ ihren Kulturbeutel ungeöffnet auf dem hinteren Teil des Waschbeckens stehen und verließ das Bad.

Seit ihrem letzten Besuch war ihr Zimmer renoviert worden. Die abblätternden Tapeten waren abgezogen und durch eine frische Schicht Lackfarbe ersetzt worden, außerdem hatte man den zerbrochenen Spiegel der Frisierkommode erneuert. Alles sah wärmer aus, einladender. Inzwischen hing auch ein anderes Gemälde über dem Kamin. Das Bild von Echo und Narziss hatte sie im letzten Jahr wütend heruntergerissen, nachdem ihr die Elfen einen üblen Streich gespielt hatten. Sie hatte wie ein Echo die jeweils letzten Wörter aus den Sätzen anderer Leute nachplappern müssen. Jetzt verdrängte sie diese Erinnerung aus ihren Gedanken. In diesem Jahr war alles anders.

Auszupacken gab es nicht viel. Es dauerte nicht lange und alles war verstaut. Sie verließ den Raum, ging den Flur entlang zum Nebenzimmer und klopfte.

»Herein«, rief Rowan.

Tanya trat ein. Rowan saß an ihrer Frisierkommode und Fabian fläzte sich mit einem Buch auf dem Bett. Er schob seine Brille die Nase hoch, als sie hereinkam.

»Ach, du bist es«, sagte Rowan überrascht. »Du hättest doch auch durch das Badezimmer kommen können. Pass auf, wo du hintrittst – zerstöre nicht die Salzlinie.«

Tanya setzte sich neben Fabian. Er klappte das Buch zu – ein Band über alte Volksbräuche – und legte es beiseite.

»Also, wie findest du es?«, fragte er. Seine Augen leuchteten hinter den Brillengläsern.

»Was?«, gab Tanya zurück.

»Das Tierasyl.«

»Ich finde es großartig«, antwortete Tanya. »Ich glaube, es tut auch dem Herrenhaus gut, wenn sich herumspricht, was hier jetzt auf die Beine gestellt wird. Vielleicht vergessen die Leute dann so langsam all die anderen schlimmen Sachen, die hier passiert sind … mit Amos und Morwenna … ihr wisst schon.«

Fabian stimmte ihr zu. »Ich habe Warwick dabei geholfen, den Zaun zu bauen. Und ich habe die Hühnerställe angestrichen.«

Tanya nickte, aber sie hörte nur halb hin. Ihre Blicke wanderten im Raum umher und bemerkten die verschiedenen Zauber und Abwehrmittel, die überall angebracht waren.

Salz, getrocknete Ebereschenbeeren und -blätter, ein eisernes Hufeisen an der Wand über dem Bett. Fabian hatte ihr schon am Telefon davon erzählt, aber Tanya hatte es sich nicht so richtig vorstellen können. Selbst jetzt, wo sie alles mit eigenen Augen sah, konnte sie es kaum glauben. Sie konnte sich auch nicht recht an die neue Rowan gewöhnen, mit ihren ordentlich zusammengebundenen Haaren, sauberen Kleidern und der ruhigen Art. War das wirklich das unerschrockene Mädchen, das noch vor ein paar Monaten über Land gezogen war, bei sich nichts als ein Messer und ein paar klägliche Habseligkeiten? Es schien unvorstellbar.

Tanya ging zum Fenster, blickte über die makellose Salzspur zu dem Wald, der sich hinter dem Garten ausbreitete. In ihrem Kopf arbeitete es; wie konnte sie das Thema möglichst schonend ansprechen? Aber bevor sie einen wirklich klaren Gedanken fassen konnte, unterbrach Fabian sie.

»Wir haben Mad Morag schon eine ganze Weile nicht gesehen. Ob der Kompass, den sie dir gegeben hat, immer noch funktioniert?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Tanya und dachte an die alte Zigeunerin, die ihnen in der Vergangenheit so oft geholfen hatte. »Ich habe ihn ewig nicht in der Hand gehabt.«

»Wir haben sie im Frühling in Tickey End gesehen, weißt du noch?«, sagte Fabian mit einem Blick auf Rowan, die aber vor sich hin träumte und auf ihrer Unterlippe kaute.

»Weißt du nicht mehr, Red?« Fabian ließ nicht locker.

Rowans Kopf zuckte hoch. »Nenn mich nie wieder so!«

»Tut mir leid«, murmelte Fabian. Er sah verwirrt aus und sogar gekränkt. »Ich wollte es gar nicht … Es ist mir nur so rausgerutscht – alte Gewohnheit.«

Rowans Miene entspannte sich. »Nein, mir tut es leid. Ich hätte dich nicht so anblaffen dürfen.«

»Na, egal«, fuhr Fabian verlegen fort, »jedenfalls haben wir sie in der Stadt gesehen. Ich habe ein paar Minuten mit ihr gesprochen. Ich hatte gehofft, sie würde mir noch einmal ein paar von den Tropfen geben, mit denen man Elfen sehen kann, aber sie sagte, man sollte sie nicht leichtfertig nutzen.« Er seufzte. »Warwick ist auch total knauserig damit. Er sagt, ich solle mich da raushalten.«

»Er hat vollkommen recht«, sagte Rowan schroff. »Auf der einen Seite versuche ich hier alles, sie zu verscheuchen« – sie wies auf das Zimmer –, »und du ermutigst sie auch noch!«

Fabian wurde knallrot. »Ich ermutige sie doch gar nicht. Ich will sie doch nur sehen können.« Er schlug das Buch auf und kauerte sich wieder darüber. Aus seinem wütenden Gemurmel war zu verstehen: »Ich werde schon von alleine eine Möglichkeit finden, sie zu sehen. Hier stehen jede Menge Ideen.«

Rowan stieß einen Laut der Verzweiflung aus und Tanya beschloss, die Flucht nach vorn zu wagen.

»Warum bist du so übervorsichtig?«, fragte sie. »Brauchst du denn überhaupt noch all diese Zauber, um die Elfen fernzuhalten? Ich meine … jetzt, wo wir alles über deinen Namen wissen …«

Rowan sah sie nicht an. »Ob ich es brauche, ist nicht die Frage. Ich will es. Und ja, es stimmt, die Tatsache, dass ich nach der Eberesche – Rowan – benannt bin, beschützt mich vor böser Magie, aber was ist, wenn das noch nicht reicht?« Sie zog ihre Füße auf den Stuhl und umfasste ihre Knie.

»Ich verstehe es nicht«, sagte Tanya. »Wie kann es nicht reichen? Du hast dich dem Schlimmsten gestellt und gewonnen, das stimmt doch? Du hast die Feen besiegt, nachdem sie James gestohlen hatten. Sie haben dich gehen lassen! Du bist hier, du bist bei uns! Und du bist sicher!«

»Bin ich das wirklich?« Rowan sah ihr ins Gesicht. »Ganz sicher? Es ist nicht so einfach, die Vergangenheit loszulassen. Nicht ganz leicht, ganz von vorn anzufangen, selbst wenn man das lieber will als alles andere.«

»Aber du hast es doch getan«, sagte Fabian und legte sein Buch wieder hin.

Rowan lachte kurz auf. »Einige Dinge kann man nicht so einfach hinter sich lassen. Ich habe schlimme, richtig schlimme Dinge gemacht. Ich habe das Gefühl, und dagegen kann ich mich nicht wehren, dass sie mich eines Tages irgendwo und irgendwie einholen werden.«

Tanya erschauerte bei diesen Worten. »Was für Dinge?«

Aber Rowans Gesicht hatte sich wieder verschlossen. Was immer ihr auf der Seele lag – sie war nicht bereit, die anderen daran teilhaben zu lassen.

»Jetzt komm«, sagte Tanya bestimmt. »Lass uns all die Abwehrmittel abreißen.«

»Wir können dir dabei helfen«, sagte Fabian eifrig. Er stand auf und griff nach dem Hufeisen über dem Bett.

Aber Rowan schüttelte den Kopf. »Jetzt noch nicht.«

Fabian ließ seine Hand wieder sinken. Dann beobachtete Tanya, wie er sich über den Kalender an der Wand beugte.

»Du hast den dreizehnten eingekreist«, bemerkte er. Seine Stimme war bemüht heiter, woraus Tanya entnahm, dass er das Thema wechseln und die Stimmung im Zimmer aufheitern wollte. »Das ist heute. Und was ist das große Ereignis?«

Seine Worte bewirkten offensichtlich genau das Gegenteil von dem, was er geplant hatte. Tanya sah, dass Rowans Gesicht sich vor Panik und Wut verzog.

»Nichts! Kümmere dich um deinen eigenen Kram und hör auf, bei mir rumzuschnüffeln!«

»Ich habe überhaupt nicht geschnüffelt«, schoss Fabian zurück. »Ich habe doch bloß gefragt!«

Die Wut wich wieder aus Rowans Gesicht. Es erschien absolut undurchschaubar.

»Wenn du es unbedingt wissen musst: Ich habe den Tag angekreuzt, weil ich wusste, dass Tanya heute kommt«, sagte sie sanft. »Ich habe mich darauf gefreut.«

»Na also«, sagte Fabian. »Und warum hast du das nicht gesagt, anstatt mir gleich den Kopf abzureißen?« Er packte sein Buch und ging mit deutlich mürrischer Miene Richtung Tür. »Ich gehe jetzt in mein Zimmer.«

»Ich glaube, ich gehe auch in mein Zimmer«, sagte Tanya. »Ich muss noch zu Ende auspacken.«

»In Ordnung!«, sagte Rowan und blickte ihr in die Augen. Ihr Blick war zweifelnd, als wüsste sie ganz genau, dass Tanya mit dem Auspacken längst fertig war.

Tanya schloss die Tür hinter sich und stand im Korridor. Sie log nicht gerne, aber im Laufe der Jahre hatte sie es ganz gut gelernt. Daraus folgte, dass sie auch spürte, wenn man ihr nicht die Wahrheit sagte.

Und so, wie sie da im Korridor stand mit dem Rücken zur Tür, sagte ihr der Instinkt, dass Rowan gerade gelogen hatte, was das Datum auf dem Kalender anging.

Sie wusste nur noch nicht, warum.

3

as Cottage war schon immer ein allseits gefürchteter Ort gewesen. Jetzt aber hatte sich die Nachricht vom Tod des Eigentümers verbreitet und der verlassene Wald in der Umgebung erwuchs zu neuem Leben.

Innen erinnerte die kalte Asche im Kaminrost an den früheren Bewohner. Alle Regale standen vollgestopft mit Krügen und Flaschen, der Inhalt unangetastet, und rings um das Cottage standen verwaiste Käfige, die Türen sperrangelweit geöffnet. Tierhäute aller Art hingen von den Sparren herab, steif und trocken. Jetzt verloren sie keinen einzigen Tropfen mehr, aber der Steinfußboden darunter war übersät mit alten dunklen Blutflecken. Wenigstens lag der beißende Blutgeruch nicht mehr in der Luft.

Rowan trat in die Mitte des Cottages und ihr Herzschlag trommelte vor Angst – ein vertrautes Gefühl. Sie schob mit dem Fuß das Tierfell am Boden beiseite und enthüllte so die verborgene Falltür. Ganz, ganz langsam stieg sie die Treppe in den Keller hinab. Alles sträubte sich in ihr, aber sie konnte das Gefühl nicht unterdrücken, dass sie wissen musste, was der Keller verbarg.

Der Gestank traf sie wie eine Keule, kaum dass sie ein paar Stufen weiter nach unten gestiegen war. Sie schwankte. Es war der üble Geruch verrottender Kadaver. Sie presste die Hand über die Nase und zwang sich bis auf den Grund des Kellers. Blind im Dunkeln taumelnd, stieß sie mit ihrem Fuß plötzlich gegen etwas Festes. Ein Körper. Sie unterdrückte einen Schrei, wich zurück und versuchte einen Moment, sich von dem Schrecken zu erholen. Ganz langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Schwärze und sie vermochte die dunklen Umrisse auf dem Boden zu erkennen. Nur ein einziger saß aufrecht. Zentimeter für Zentimeter schob sie sich darauf zu, ihr Atem kam jetzt stoßweise. Er war nach vorn gebeugt, ein Handgelenk steckte in einer eisernen Wandfessel. Strähniges schwarzes Haar fiel über das Gesicht. Keine Bewegung.

Sie wagte sich näher heran. Irgendetwas knirschte unter ihren Stiefeln und glitzerte in dem spärlichen Licht, das von oben hereindrang. Spiegelscherben, Eierschalen und ein Zauber, der grauenvoll versagt hatte. Sie erinnerte sich an jede Einzelheit. Am ganzen Leib zitternd, blieb sie vor der bewegungslosen Gestalt stehen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie schon die ganze Zeit etwas in ihrer verschwitzten Hand umklammert hielt. Sie sah nach und fand einen Schlüssel.

Sie presste den Schlüssel in die Wandfessel und rüttelte daran. Etwas blockierte, vielleicht irgendein Stück Dreck, sodass sich das Schloss nicht öffnen ließ.

Die Hand in der Fessel zuckte plötzlich und packte nach ihrem Handgelenk. Rowan schrie lauthals auf, ließ den Schlüssel fallen, als der Kopf nach oben stieß. Zwei tiefschwarze Augen glühten aus einem wachsbleichen Gesicht, verströmten nichts als bodenlosen Hass.

»Es tut mir leid …«, stammelte sie voller Grauen.

Die Lippen in dieser Fratze öffneten sich und brachen eine Spur verkrusteten Speichels auf. Die Augen verdüsterten sich noch, als die Hand sie näher zu sich heranzog … näher … näher, und vier hasserfüllte Worte wurden ihr ins Gesicht geschleudert.

»DU HAST MICH ZURÜCKGELASSEN …!«

Zitternd und völlig nass geschwitzt, wachte Rowan auf. Sie war von ihrem Traum umsponnen wie eine Fliege im Spinnennetz. Genau diesen Traum hatte sie nun schon seit Monaten. Alles fühlte sich so wirklich an: die herabbaumelnden Tierhäute, die Falltür, der Keller … der bestialische Gestank. Sie stieß ihre Bettdecke zurück und roch kritisch an ihrem Körper. Aber alles was sie riechen konnte, war ihr eigener Schweiß. Sie schüttelte sich, versuchte ihre Gedanken loszulösen. Sie wollte nicht daran denken. Jedenfalls jetzt nicht. Es gab andere Dinge, um die sie sich kümmern musste, und es war wichtig, dass sie wach blieb.

Beunruhigt blickte sie auf die Uhr, stellte aber erleichtert fest, dass sie nur für ungefähr zehn Minuten geschlafen hatte. Es war jetzt spät, schon nach elf Uhr nachts, und langsam wurde es still im Herrenhaus. Nur Warwick musste noch ins Bett gehen, seine schweren Schritte polterten durch das Haus, als er für die Nacht absperrte. Endlich hörte sie seine Stiefel auf der Treppe, dann verschwand der Lichtschimmer unter ihrer Tür, als Warwick das Licht im Flur löschte. Sie hörte, wie sich seine Tür schloss, dann war es still.

Sie wartete noch zwanzig Minuten ab, um sicherzugehen, dass er eingeschlafen war. Leise schob sie die Bettdecke beiseite und schlüpfte aus dem Bett, vollständig bekleidet. Dann tappte sie zu ihrem Bücherregal. Dort holte sie den Brief aus einem der Bücher und betrachtete ihn noch einmal im Mondlicht, das durch das Fenster drang. Es handelte sich um eine Landkarte, nur grob mit Bleistift gezeichnet, außerdem ein paar Zeilen Text: eine hingekritzelte Anweisung. Sie verließ sich ganz auf ihr Erinnerungsvermögen, ging zum Kamin, nahm eine Schachtel Streichhölzer vom Sims und zündete eins an. In der Dunkelheit des Zimmers strahlte das Licht hell auf, die Flamme zischte laut. Sie hielt das Stück Papier daran, bis es Feuer fing, und warf es dann auf den Kaminrost, wo es sich kräuselte und langsam schwarz wurde. Als sie ihren Fuchsfellmantel aus dem Schrank genommen und ihr Messer darin verstaut hatte, war es schließlich ganz zu Asche zerfallen.

Nach einem letzten, prüfenden Blick durch das Zimmer schlich Rowan zur Tür, öffnete sie und bückte sich nach ihren Stiefeln. Im Flur blieb sie den Bruchteil einer Sekunde vor Tanyas Zimmer stehen. Wie schön wäre es, jetzt klopfen zu können. Aber sie widerstand tapfer der Versuchung, schlich weiter, die Treppe hinunter und auf die Vordertür zu. Alles ging gut, bis sie das Telefontischchen erreichte und etwas Warmes und Weiches unter ihrem rechten Fuß spürte. Ein wütendes Maunzen zerriss die Stille.

Spitfire schoss unter dem Telefontischchen hervor und floh zur alten Standuhr, wo er dann beleidigt seinen verfilzten Schwanz leckte, auf den jemand getreten hatte. Sein einzelnes Auge glomm unheimlich in der Dunkelheit.

Rowan verhielt sich ganz still und lauschte, ob jemand wach geworden war. Nichts. Sie schob sich weiter durch die Halle, nahm ihren Schlüssel vom Haken und öffnete, so leise sie konnte, die Vordertür. Sie trat einen Schritt nach draußen, zog die Tür wieder zu, steckte ihren Schlüssel ins Schloss und verriegelte die Tür lautlos. Auf der Schwelle schlüpfte sie in ihre Stiefel und schnürte sie zu. Dann richtete sie sich auf, zog sich den Fuchsfellmantel um ihre Schultern und hakte die Schnalle vorne zu. Die Verwandlung kam wie immer augenblicklich. Jedes Härchen stand zu Berge, als ob das rotbraune Fell tatsächlich auf ihrem Körper wachsen würde. Die Nacht lauerte düster, als sie in Richtung der Straße loslief, aber all ihre Sinne erweiterten sich und wurden so fein und scharf wie die eines echten Fuchses.

Und schon war sie auf und davon, über den Hof und durch die Tore, hinein in die Felder hinter Elvesden Manor. Den Traum hatte sie in den hintersten Winkel ihrer Gedanken verdrängt.

Als Tanya das Maunzen von Spitfire hörte, schlug sie ihre Augen auf. Sie blieb noch einen Moment verschlafen liegen und überlegte, ob vielleicht Oberon es gewagt hatte, dem verschrobenen alten Kater zu nahe zu kommen, aber das war unwahrscheinlich. Sie war schon fast wieder eingeschlafen, als sie an ihrem Kopf plötzlich einen Durchzug spürte. Das reichte, um sie vollends aufzuwecken. Schon blickte sie zum Fensterbrett, wo sie erwartete, Gredin, Raven und den Rüsselmops zu sehen. Aber weit und breit keine Elfen.

Sie setzte sich auf. Irgendwo im Haus hatte sich eine Tür geöffnet. Sie schlüpfte aus dem Bett und durchquerte das Badezimmer. Ein ärgerliches Glucksen und Gurgeln kam aus dem Waschbecken. Sie achtete nicht darauf und huschte leise in Rowans Zimmer. Sofort fiel ihr ein schwefeliger Geruch auf. Etwas hatte gebrannt. Tanya ging auf das Bett zu und streckte eine Hand aus.

»Rowan«, flüsterte sie. »Bist du wach? Ich glaube, da ist jemand im Haus!«

Ihre Hand fühlte nur ein leeres Bettlaken. Wo war Rowan?

Schnell lief sie zurück in ihr eigenes Zimmer, zog sich Jeans über, einen Pullover, Strümpfe und Turnschuhe. Dann lief sie auf Zehenspitzen über den Flur zu Fabians Tür. Aus Nells Zimmer, das neben Fabians lag, hörte man lautes Schnarchen, das den Flur geradezu zum Beben brachte. Tanya drehte am Türknopf und schlüpfte zu Fabian hinein. Sofort zog sie die Tür hinter sich zu.

Die Nachttischlampe war an, aber Fabian schlief tief und fest, die Brille noch auf der Nase. Seine Wange ruhte auf ein paar losen Seiten. Ganz offensichtlich war er beim Lesen eingeschlafen. Tanya lehnte sich vor, aber ihre Nase verzog sich bei dem raubtierartigen Geruch, der aus Fabians weit offen stehendem Mund kam.

Sie rüttelte ihn. »Fabian! Wach auf!«

Seine Augen flackerten einen Moment, dann öffneten sie sich. »Der Abflussbewohner war’s. Er hat’s genommen«, murmelte er und wollte sich gerade wieder umdrehen.

»Fabian!« Sie zog ihm die Decke weg. Fabian krümmte sich zusammen wie ein kleines Tier, dem es plötzlich kalt wird. Tanya stupste ihn wieder an.

»Rowan ist weg«, flüsterte sie eindringlich und stupste ihn. »Steh auf, mach schnell!«

Fabian schoss in seinem Bett hoch, eins der losen Blätter klebte noch an seiner Wange.

»Weg? Wohin? Warum?« Er rückte seine Brille zurecht und zog das Blatt von seinem Gesicht.

»Ich habe keine Ahnung!«, zischte Tanya und warf ihm ein krumpeliges T-Shirt und eine Hose, die sie auf dem Boden gefunden hatte, zu. »Das ist es ja gerade. Zieh dich an. Wir müssen ihr nach. Netter Schlafanzug, so ganz nebenbei.«

Fabian zwinkerte verschlafen und sah an sich herunter. Ein knallfarbenes Sonnensystem war auf einen dunkelblauen Stoff gedruckt.

Sie drehte sich zur Tür, damit er sich ungestört anziehen konnte, aber er tauchte so schnell neben ihr auf, dass er seine Klamotten einfach über den Schlafanzug gezogen haben musste.

»Los. Gehen wir!«

Sie schlichen sich nach unten, mit einem geringen Abstand, damit sie keine Knarzer auf der Treppe verursachten. Als sie die alte Standuhr erreichten, schoss Spitfire ihnen aus dem Weg.

Fabian griff in einen Wäschestapel in der Halle.

»Ich könnte Nell umbringen. Diese Socken sind nicht mal richtig trocken.« Trotzdem zog er sie über und machte dabei eine Grimasse. In der Küche legte Tanya Oberon rasch seine Leine an.

»Hast du wenigstens gesehen, welchen Weg sie genommen hat?«, fragte Fabian. »Vorne oder hinten raus?«

Tanya schüttelte den Kopf. »Ich habe gar nichts gesehen. Aber ich habe das Gefühl, wir sollten die Vordertür nehmen. Wenn es Rowan so wichtig ist, sich die Elfen auf Abstand zu halten, dann wäre es doch blöd, in Richtung Wald zu gehen, wo es davon nur so wimmelt.«

»Nicht schlecht gedacht«, sagte Fabian. »Verdammt, wo ist mein zweiter Schuh?«

Oberon drückte sich hinter Tanya, als Fabian gereizt seinen vermissten Schuh überzog, den er, leicht angeknabbert, in Oberons Körbchen entdeckt hatte. Fabian musterte ihn und zog ihn mit so viel Würde an, wie er eben aufbringen konnte.

»Du hattest recht. Rowans Schlüssel fehlt«, flüsterte er, als sie die Vordertür öffneten. »Sie muss ihn benutzt haben, um die Tür leise zu schließen.« Er nahm seinen eigenen Schlüssel aus der Tasche. »Und genau das werde ich jetzt auch tun.«

Draußen vermieden sie es, über den knirschenden Kies zu laufen. Dieses Mal nahmen sie den Weg über den Hof.

»Wir müssen rennen«, sagte Tanya, sobald sie die Tore sicher hinter sich gelassen hatten. Nur durch die Äste unterbrochen drang helles Mondlicht auf die schmutzige Straße. »Sie hat mindestens fünf Minuten Vorsprung. Sie könnte schon wer weiß wo sein.«

»Auf in Richtung Bushaltestelle«, sagte Fabian. »Alle wichtigen Strecken gehen von da ab.« Wortlos rannten sie los, Seite an Seite, Oberon ein paar Schritte voraus. Fünf Minuten später näherten sie sich der Kreuzung.

»Warte mal«, keuchte Fabian. »Wenn sie jetzt in der Nähe ist, könnte sie uns rennen hören.«

Sie setzten ihren Weg langsamer fort, aber es war unwahrscheinlich, dass jemand Oberons heftiges Hecheln hätte überhören können. Tanya sah sich in beide Richtungen um und musterte die Straßen. Schon tagsüber war hier nicht viel los. Nachts lagen sie total verlassen da.

»Wir kommen zu spät«, sagte sie verzweifelt, als sie nichts entdecken konnte. »Wir haben sie verloren.«

»Jetzt gib mal nicht so schnell auf«, sagte Fabian. »Sie kann nur hierhin gegangen sein«, er nickte nach links, »oder dahin, Richtung Tickey End. Wir entscheiden uns einfach für eine Richtung und lassen es darauf ankommen. So groß kann ihr Vorsprung doch nicht sein!«

Tanya wandte sich von links nach rechts. Sie musste unbedingt wissen, wo Rowan hinwollte und was mit ihr los war. »Entscheide du«, sagte sie schließlich. »Ich fürchte, welchen Weg ich auch auswähle – ich treffe daneben.«

Fabian fuhr sich mit einer Hand durch seine buschigen Haare.

»Tickey End«, sagte er schließlich, und plötzlich erhellte sich sein Gesicht. »Mir fällt gerade etwas ein. Letzte Woche nach der Schule habe ich sie auf der Straße mit einem obdachlosen Mädchen sprechen sehen. Sie tat so, als würde sie sie nicht kennen, aber ich habe gehört, dass das Mädchen sie ›Red‹ genannt hat. Bis jetzt habe ich nicht weiter darüber nachgedacht, aber genau seitdem benimmt sie sich so geheimnisvoll. Es muss was mit diesem Mädchen zu tun haben, da bin ich sicher.« Er lief los. »Also komm.«

Tanya wollte gerade hinterher, aber da riss sie plötzlich ein Ruck an ihrem Arm zurück. Oberon sträubte sich, starrte in die entgegengesetzte Richtung, seine Nase zuckte, seine Ohren waren in Alarmbereitschaft aufgestellt.

»Warte«, sagte sie.

»Was hat er?«, sagte Fabian ungeduldig.

»Er will nicht in diese Richtung«, sagte Tanya. »Er zieht in die andere. Er hat irgendwas gewittert – das muss Rowan sein!«