Élises Geheimnis - Ruth Druart - E-Book

Élises Geheimnis E-Book

Ruth Druart

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Beschreibung

Bretagne, 1963. Die achtzehnjährige Josephine sucht in einem alten Koffer ihrer Mutter nach ihrer Geburtsurkunde. Was sie entdeckt, erschüttert sie zutiefst: Jahrelang hat ihre Mutter ein Geheimnis gehütet und ihr die Identität ihres Vaters verschwiegen. Entschlossen, die Wahrheit herauszufinden, reist Josephine nach Paris zur ihrer Tante. Nach und nach erfährt sie dort die Geschichte einer jungen Frau, die sich in Gefahr befand. Sie erfährt von einer verbotenen Liebe in den Wirren des Zweiten Weltkriegs. Von den letzten gestohlenen Stunden vor der Befreiung. Und von den geflüsterten Worten eines schockierenden Verrats, der das Leben zweier Menschen unwiderruflich verändern sollte ...

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

Prolog

ERSTER TEIL

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

ZWEITER TEIL

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Einunddreißigstes Kapitel

Zweiunddreißigstes Kapitel

Dreiunddreißigstes Kapitel

Vierunddreißigstes Kapitel

Fünfunddreißigstes Kapitel

Sechsunddreißigstes Kapitel

Siebenunddreißigstes Kapitel

Achtunddreißigstes Kapitel

Neununddreißigstes Kapitel

Vierzigstes Kapitel

Einundvierzigstes Kapitel

Zweiundvierzigstes Kapitel

Dreiundvierzigstes Kapitel

Vierundvierzigstes Kapitel

Fünfundvierzigstes Kapitel

Sechsundvierzigstes Kapitel

Siebenundvierzigstes Kapitel

Achtundvierzigstes Kapitel

DRITTER TEIL

Neunundvierzigstes Kapitel

Fünfzigstes Kapitel

Einundfünfzigstes Kapitel

Zweiundfünfzigstes Kapitel

Dreiundfünfzigstes Kapitel

Vierundfünfzigstes Kapitel

VIERTER TEIL

Fünfundfünfzigstes Kapitel

Sechsundfünfzigstes Kapitel

Siebenundfünfzigstes Kapitel

Achtundfünfzigstes Kapitel

Neunundfünfzigstes Kapitel

Sechzigstes Kapitel

Einundsechzigstes Kapitel

FÜNFTER TEIL

Zweiundsechzigstes Kapitel

Dreiundsechzigstes Kapitel

Vierundsechzigstes Kapitel

Fünfundsechzigstes Kapitel

Sechsundsechzigstes Kapitel

Siebenundsechzigstes Kapitel

Achtundsechzigstes Kapitel

Neunundsechzigstes Kapitel

Siebzigstes Kapitel

Einundsiebzigstes Kapitel

Zweiundsiebzigstes Kapitel

Dreiundsiebzigstes Kapitel

Vierundsiebzigstes Kapitel

Fünfundsiebzigstes Kapitel

Sechsundsiebzigstes Kapitel

Siebenundsiebzigstes Kapitel

Achtundsiebzigstes Kapitel

Neunundsiebzigstes Kapitel

Achtzigstes Kapitel

Einundachtzigstes Kapitel

Epilog

Anmerkung der Autorin

Danksagungen

Über das Buch

Die Geschichte einer großen Liebe, die nicht sein durfte

Bretagne, 1963. Die achtzehnjährige Joséphine sucht in einem alten Koffer ihrer Mutter Élise nach ihrer Geburtsurkunde. Was sie entdeckt, erschüttert sie zutiefst: Jahrelang hat ihre Mutter ein Geheimnis gehütet und ihr die Identität ihres Vaters verschwiegen. Entschlossen, die Wahrheit herauszufinden, reist Joséphine nach Paris zur Schwester ihrer Mutter. Nach und nach erfährt sie dort die Geschichte einer jungen Frau, die sich in Gefahr befand. Sie erfährt von einer verbotenen Liebe in den Wirren des Zweiten Weltkriegs. Von den letzten gestohlenen Stunden vor der Befreiung. Und von den geflüsterten Worten eines schockierenden Verrats, der das Leben zweier Menschen unwiderruflich verändern sollte …

»Es ist wichtig, dass Geschichten über den Zweiten Weltkrieg gelesen werden, damit wir verhindern können, dass so etwas jemals wieder passiert.« RUTH DRUART

Über die Autorin

Ruth Druart wuchs auf der Isle of Wight auf. Mit achtzehn Jahren zog sie von dort fort, um an der Leicester University Psychologie zu studieren. Seit 1993 lebt sie mit ihrem Mann und ihren Kindern als Lehrerin in Paris. Dort fand sie die Inspiration für ihre Romane Ein neuer Morgen für Samuel und Élises Geheimnis, die sich mit den Themen Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit auf eine sehr beeindruckende und berührende Weise auseinandersetzen.

RUTH DRUART

ÉLISESGeheimnis

Roman

Übersetzung aus dem Englischen von Barbara Röhl

LÜBBE

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der englischen Originalausgabe:»The Last Hours in Paris«

Für die Originalausgabe:Copyright © 2022 by Ruth DruartFirst published in 2022 by Headline Review, An imprint of HEADLINE PUBLISHING GROUP

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Dorothee Cabras, GrevenbroichUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München unter Verwendung von Illustrationen von © Mark Owen/Trevillion Images © David M. Schrader/shutterstock; vitalez/shutterstock; kiuikson/shutterstock; Kateryna Upit/shutterstockeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-2806-5

luebbe.delesejury.de

Für meine Eltern Sandra und MichelDanke, dass ihr mir immer erlaubt habt, auf so viele Bäume zu klettern, wie ich wollte.Und stets bereitgestanden habt, um mich aufzufangen, sollte ich fallen.

Zu lieben oder geliebt zu haben, das ist genug. Verlange nichts weiter. Es gibt keine andere Perle im dunklen Schoß des Lebens.

VICTOR HUGO, Les Misérables

Prolog

Als ich dir zum ersten Mal begegnet bin, habe ich dich nicht mal angeschaut.«

»Du hast nur eine Uniform wahrgenommen.«

»Ja, und ich hatte Angst.«

»Tja, ich habe dich auch nicht besonders genau angesehen.«

Sie kniff ihn zärtlich in die Wange. »Wirklich?«

»Ich wusste, du wolltest keine Aufmerksamkeit auf dich ziehen. Vor allem nicht meine. Aber du bist mir aufgefallen.« Er spielte mit ihren Fingern. »Ich fand dich faszinierend.«

»Weiter«, ermunterte sie ihn.

Es rührte ihn, dass sie hören wollte, wie er von ihr sprach. »Und trotzig«, fuhr er fort. »Mutig. Ich wusste, dass du Angst vor diesen Polizisten hattest, aber du hast dich nicht vor ihnen geduckt.« Er gab ihre Finger frei. »Das habe ich bewundert.« Er strich ihr durchs Haar. »Doch ich habe gesehen, dass du dich vielleicht in Schwierigkeiten bringen würdest.«

»Hättest du gedacht, dass du mich einmal retten würdest?«

»Nein.« Er sah sie eindringlich an. »Ich wusste, dass du mich retten würdest.«

ERSTER TEIL

1963

Erstes Kapitel

Bretagne, Mai 1963

ÉLISE

Durch das Erkerfenster sehe ich aufs Meer hinaus, das gegen die schiefergrauen Felsen peitscht. Weiße Gischt sprüht von den zerklüfteten Kanten. Spontan entriegle ich das Fenster und lasse das Kreischen der Möwen und das unermüdliche Tosen der Brandung ein. Auf einem Telegrafendraht sitzen zwei Tauben. Sie neigen die Köpfe in meine Richtung und mustern mich neugierig.

»Élise.« Monsieur Beaufort tritt ins Zimmer, und seine Stimme dringt zu mir. »Sind Sie fertig? Ich kann Sie zum Bahnhof fahren.«

»Danke.« Ich schließe das Fenster, staube die Fensterbank ab, drehe mich zu ihm um und setze ein höfliches Lächeln auf. Dann ziehe ich meinen Kittel aus, gehe hinter ihm die Treppe hinunter und hänge die Kittelschürze an die Rückseite der Küchentür. Wir treten auf die Einfahrt hinaus.

Er hält mir die Autotür auf.

»Merci, monsieur.« Danke, Monsieur. Er ist Kavalier, und das weiß ich zu schätzen. Es gibt mir das Gefühl, nicht nur seine Haushälterin zu sein, sondern ein Mensch.

»Haben Sie dieses Wochenende etwas vor?«, fragt er, während wir über baumbestandene Straßen zum Bahnhof von Saint-Brieuc fahren.

»Nichts Besonderes. Mittagessen zu Hause mit meiner Tochter und dann vielleicht ein Strandspaziergang.«

»Wie geht es Joséphine?«

Ich bin gerührt, weil er sich an ihren Namen erinnert. »Gut, danke. Sie macht nächsten Monat ihr baccalauréat.« Das Abitur. »Sie will studieren.« Ich höre den Stolz in meiner Stimme und nehme mich gerade noch zusammen, bevor ich ihm erzähle, was für ein kluges Mädchen sie ist. »Sie ist letzten Monat achtzehn geworden.«

»Schon? Als Sie bei uns angefangen haben, war sie noch ein Baby.«

»Ja.« Ich lehne mich auf meinem Sitz zurück und frage mich, ob dieses Kapitel meines Lebens abgeschlossen ist. Ich habe erreicht, was ich mir vorgenommen hatte. Joséphine ist in Sicherheit aufgewachsen, und bald werde ich ihr die Wahrheit sagen. Die Lügen, die ich um ihre Kindheit gewoben habe, sind zu unsichtbaren Gefängnisgittern geworden, sperren mich ein und stellen mir Fallen. Jetzt kann mich nur noch die Wahrheit befreien. Und gleichzeitig habe ich schreckliche Angst davor.

Den Rest des Weges legen wir schweigend zurück, und ich bin erleichtert, als wir vor dem Bahnhof halten. Der Zug steht schon da, und ich danke Monsieur Beaufort und eile dann auf den Bahnsteig, wo ich in einen leeren Wagen steige und mich auf einen mit abgewetztem Samt bezogenen Platz setze.

Ich überlege, ob ich heute Nachmittag mit Joséphine spazieren gehen soll, aber auf der anderen Seite will ich sie nicht vom Lernen ablenken. Sobald sie die Prüfungen hinter sich hat, werden wir mehr Zeit zum Reden haben. Um uns richtig zu unterhalten. Ich weiß, dass sie kurz davorsteht, die Flügel auszubreiten und davonzufliegen, doch ich kann sie nicht gehen lassen – erst, wenn ich ihr alles erzählt habe, was sie wissen muss.

Als der Zug in Lannion einfährt, steige ich aus, durchquere den Bahnhof und trete auf die Straße. Soizics alter grüner Renault 4 CV steht auf demselben Parkplatz wie immer, wenn sie mich samstags vom Bahnhof abholt. »Bonjour, Soizic.« Guten Tag. Ich öffne die Beifahrertür, steige ein und küsse sie leicht auf beide Wangen. »Wie geht’s dir?«

»Joséphine kommt erst später nach Hause«, sagt sie, statt zu antworten.

Mir wird das Herz schwer, aber ich sammle mich, bevor ich etwas darauf sage. »Isst sie bei Freunden zu Mittag?«

»Ja, bei Hervé.« Sie dreht den Zündschlüssel, und wir fahren los.

Ich werfe ihr einen Seitenblick zu. »Sie scheint viel Zeit mit ihm zu verbringen.«

»Es ist nett für sie, einen Freund zu haben. Keine Sorge, ich habe mit ihr über Jungs gesprochen, und …« Sie verstummt und lässt die Anspielung in der Luft hängen.

»Ich werde auch mit ihr reden.« Ich versuche, meine Stellung als Joséphines Mutter zu behaupten. So wie immer, schon seit ihrer Geburt.

Soizic konzentriert sich auf die Straße und zieht eine Augenbraue hoch. Ich wende mich von ihr ab und sehe aus dem Fenster. Das Meer hat die Segelboote am Strand von Baie de Sainte-Anne ausgespuckt, und sie liegen auf der Seite und warten auf die nächste Flut. Das Meer hat alles weggespült, was ihm im Weg stand und nicht im Sand verankert oder verwurzelt war. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte die Vergangenheit auslöschen und sie von der See weit in den Ozean hinaustragen lassen, wo niemand sie je wiederfinden wird. Aber die Vergangenheit ist Teil dessen, was wir sind, und es ist Zeit, mich ihr zu stellen. Zeit, dass Joséphine alles erfährt.

»Ich habe ein Mittagessen gekocht.« Soizic wirft mir einen Blick zu. »Zwiebelsuppe und frisches Baguette.«

»Merci.« Danke. Mit der Zeit habe ich begriffen, dass dies Soizics Art ist, ihre Zuneigung zu zeigen. Und sie ist echt. Trotz ihrer scharfen Entgegnungen und ihrer barschen Art weiß ich, dass sie Joséphine und sogar mich sehr gern hat. Wir sind nicht blutsverwandt, doch Soizic ist inzwischen Teil unserer kleinen Familie. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie die Mutter-, die Großmutter- oder die Vaterrolle übernommen hat. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie alle drei Rollen ausfüllt.

Wir biegen um die Ecke und halten neben dem kleinen alten Steinhaus, in dem ich zu Hause bin, seit ich Paris verlassen habe. Als wir hineingehen, weht mir der Duft von Knoblauch und Zwiebeln entgegen, und inzwischen bin ich hungrig.

Soizic teilt die Suppe mit der Schöpfkelle aus. Zwischen den Croûtons und den dicken Zwiebelringen zieht der geschmolzene Käse Fäden. Bevor sie nach ihrem Löffel greift, bekreuzigt sie sich. »Gott, ich danke Dir für diese Mahlzeit.«

»Amen«, murmele ich.

Wir essen in freundschaftlichem Schweigen, das da herrührt, dass wir einander schon so viele Jahre kennen. Soizic hat noch nie viel von müßigem Geplauder gehalten, und ich bin an ihre Art gewöhnt. Man könnte sie »wortkarg« nennen, aber andererseits hat sie gute Gründe dafür. Wir haben die Suppe fast aufgegessen, als Joséphine in die Küche stürzt.

Ihre strahlend blauen Augen blitzen aufgeregt. »Rate mal, maman.« Mama. Sie sagt nicht einmal Hallo.

Ich bin glücklich, sie so froh zu sehen, stehe auf und küsse sie auf die Wange. »Bonjour, Joséphine.« Guten Tag. Dann strecke ich Hervé, der neben ihr steht, die Hand entgegen. Er läuft noch eine Schattierung rosiger an, nimmt sie und schüttelt sie energisch. Er scheint ein netter Junge zu sein.

»Rate mal«, wiederholt Joséphine. Sie wirft Hervé einen Blick zu und sieht dann wieder mich an. »Wir fahren mit der Schule nach England.«

Joséphine liebt die englische Sprache. Sie träumt davon, dort hinzufahren, seit die Beatles vergangenen Monat ihr erstes Album herausgebracht haben. Manchmal höre ich sie die Songs singen: Love Me Do oder Please, Please Me. Ich mustere meine Tochter, deren junges Gesicht vor Aufregung leuchtet, und fühle mich mit einem vertrauten, sehnsüchtigen Stich an ihren Vater erinnert. Sie besitzt die gleiche joie de vivre, diese Lebenslust, die alles erfahren will. Doch jetzt ist mein Herz schwer, denn ich weiß, dass ich sie enttäuschen muss.

»Joséphine«, sage ich. »Es tut mir leid. Das können wir uns nicht leisten.«

Ihre Augen verdunkeln sich um eine Nuance, sie zieht den Mund nach unten, und ihre Grübchen verschwinden. »Aber du weißt ja noch nicht mal, was es kostet. Und ich habe noch mein Geburtstagsgeld.«

»Ich weiß.« Ich drücke ihre Hand. »Aber so viel Geld haben wir nicht.«

Sie stößt einen langen Atemzug aus, und ich habe das Gefühl, dass die Luft aus ihrem ganzen Körper weicht. Hervé presst die Lippen zusammen und wendet den Blick ab, als wäre ihm das peinlich. Außerhalb der Familie spricht man nicht über so etwas wie Geld.

»Du hast ja nicht einmal einen Reisepass«, setzt Soizic hinzu.

Bei dem Wort »Pass« beschleunigt sich mein Puls. Sie muss noch ein wenig warten, bis ihre Prüfungen vorbei sind. Bis wir Zeit gehabt haben, in aller Ruhe und eingehend über alles zu reden.

»Ich könnte mir bestimmt einen besorgen!« Joséphine spricht jetzt lauter, und ich spüre ihre Verbitterung. Statt ihr zu helfen, sich ihre Träume zu erfüllen, machen wir es ihr schwer und halten sie zurück.

Ich wende mich an Hervé. »Fährst du mit?«

»Ich werde meine Eltern fragen.« Er sieht Joséphine an. »Vielleicht können sie dir das Geld leihen.«

»Nein! Das kommt gar nicht infrage, Hervé!« Sein Angebot schockiert mich, und es steht ihm nicht zu, es zu machen. Ich wende mich wieder Joséphine zu und beende die Diskussion. »Du wirst noch viele andere Gelegenheiten haben. Du bist ohnehin noch zu jung für eine so große Reise.« Ich versuche mich an einem friedensstiftenden Lächeln.

»Ich bin kein kleines Kind mehr, maman.« Joséphine erwidert mein Lächeln nicht. »Ich bin mir sicher, dass ich das Geld zusammenbekommen könnte.« Sie wirft Soizic einen Blick zu und sieht dann wieder mich an. »Aber ihr wollt einfach nicht, dass ich mitfahre, oder? Ihr lasst mich ja nicht mal nach Paris. Ich soll mein ganzes Leben lang hier in der Bretagne versauern.«

»Nein, das stimmt nicht!« Ihr plötzlicher Zornesausbruch hat mich überrascht. »Ich weiß, dass du kein Kind mehr bist.«

»Warum behandelst du mich dann so?«

»Joséphine!« Soizics Blick wird kalt. »Das reicht jetzt.«

Joséphine seufzt laut. »Ich werde nicht ewig hierbleiben, damit ihr es nur wisst.«

»Ich habe gesagt, dass es genug ist.« Soizic steht auf, verschränkt die Arme vor der Brust und nimmt eine energische Haltung ein. Dieses Haus gehört ihr, und wir leben nach ihren Regeln. Wir schreien und streiten nicht. Innerlich zucke ich zusammen, und in mir steigt Mitgefühl für meine Tochter auf. Bei dieser Auseinandersetzung geht es nicht wirklich um Geld.

»Ist mir egal, wenn ich nicht mitfahre«, braust Joséphine auf. »Ich will bloß weg aus diesem Haus und aus Trégastel. Es ist so … so eng. Und die Leute sind …« Sie dreht sich zu Hervé um, der aussieht, als wäre er am liebsten überall, nur nicht hier. Sie nimmt seine Hand und zieht ihn zur Tür.

Zweites Kapitel

Bretagne, Mai 1963

JOSÉPHINE

Dann fahre ich eben auch nicht.« Er schlingt einen Arm um Joséphine, mit der er über die Küstenstraße zu sich nach Hause geht.

Sie bleibt stehen, tritt von ihm weg und dreht sich dann um, um ihn anzusehen. »Die Reise ist mir egal. Ich habe bloß die Nase voll davon, dass wir nicht mal darüber reden können. Irgendwie würde ich das Geld schon auftreiben. Ich habe selbst etwas gespart, aber maman will einfach nicht, dass ich fahre. Nie darf ich etwas unternehmen. Sie hat Angst vor allem! Angst vor dem Leben.« Sie unterbricht sich, um Luft zu holen. »Ich darf nicht mal samstagabends ausgehen.«

»Aber der Samstag ist der einzige Abend, an dem deine Mutter zu Hause ist.«

»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?« Wieso sieht er nicht, wie kontrollierend maman ist?

»Deine Mutter tut mir leid.«

Joséphine sieht Hervé aus zusammengekniffenen Augen an. »Was?«

»Na, sie hat nicht viel Geld, oder? Und sie ist ganz allein.«

»Sie hat ja Soizic. Außerdem ist das ihre eigene Schuld. Sie hat sich nie bemüht, jemanden kennenzulernen. Sie hatte öfter die Gelegenheit, doch kein Mann war ihr gut genug.« Sie setzt sich wieder in Bewegung. Nervöse Unruhe steigt in ihr auf, als sie darüber nachdenkt, dass ihre Mutter nicht einmal über ihren, Joséphines, Vater reden will – Frédéric, der bei der Befreiung von Paris erschossen worden ist. Jedes Mal, wenn Joséphine das Thema anspricht, setzt ihre Mutter eine argwöhnische Miene auf und wendet den Blick ab, als versetzte sie sich in eine eigene, geheime Welt.

»Ich könnte dir Geld leihen«, sagt Hervé. »Ich brauche auch einen Pass. Wir könnten zusammen gehen.«

»Was braucht man dafür?«

»Keine Ahnung.« Er nimmt ihre Hand und schwingt sie hin und her. »Seine Geburtsurkunde, vermute ich.«

»Meine habe ich noch nie gesehen.«

»Jeder hat eine. Frag deine Mutter. Du kannst dir aber auch auf dem Rathaus eine Kopie ausstellen lassen.«

Hervé scheint sich mit allem besser auszukennen als sie, und das ärgert sie ein wenig. »Ich gehe wieder nach Hause. Ich will meine Geburtsurkunde suchen.«

»Was, jetzt?«

»Ja. Ich beweise den beiden, dass ich kein Kind mehr bin. Ich besorge mir einen Pass.« Sie küsst ihn kurz auf die Wange und läuft dann eilig zurück. Joséphine vermutet, dass Soizic und ihre Mutter auf den Feldern sind und die Kühe für die Nacht nach Hause treiben. Natürlich könnte sie einfach nach ihrer Geburtsurkunde fragen, doch sie will nicht wieder streiten. Außerdem hat sie eine Ahnung, wo sie sein könnte – in dem Köfferchen unter dem Bett ihrer Mutter, in dem diese alte Fotos und Papiere aufbewahrt. Sie hat Joséphine nicht ausdrücklich verboten hineinzusehen. Es ist nur eine dieser unausgesprochenen Regeln, die besagt, anderer Leute persönliche Habe nicht anzurühren.

Joséphine hat Glück. Das kleine Haus ist leer. Sie geht in die Küche und dann die Treppe hinauf. Sie nimmt immer zwei Stufen auf einmal und betritt den einzigen Raum im ersten Stock – das Zimmer ihrer Mutter. In der Mitte steht ein schlichtes Bett aus dunkler Eiche mit massiven, geschwungenen Kopf- und Fußenden. Joséphine kauert nieder, greift unter das Bett und zieht den zerbeulten Koffer hervor.

Sie hat ihn größer und beeindruckender in Erinnerung. Doch in Wirklichkeit stellt er nur eine kleine Schachtel aus dicker Pappe dar, die mit grau kariertem Papier bezogen ist. Sie drückt auf das alte, rostige Schloss, das sie zusammenhält, doch dann zögert sie, und sie muss plötzlich an die Geschichte von der Büchse der Pandora denken. Kurz sitzt sie da, und ihr Finger liegt auf dem Schloss. Sie riecht Lavendel, und der köstliche, vertraute Duft lässt Erinnerungen daran aufsteigen, wie sie sich sonntagmorgens an maman schmiegte, während Soizic unten in der Küche laut herumwerkelte.

Ihre Gedanken sind abgeschweift. Spontan lässt sie das Schloss aufschnappen und öffnet die Schachtel. Darin liegen ein paar verstreute Papiere, Briefe und Schwarz-Weiß-Fotos. Joséphine blättert sie durch und sucht nach ihrer Geburtsurkunde, doch dann überwältigt sie die Neugier, und sie kann nicht anders, als die Fotos hervorzuziehen. Ihre Mutter als junges Mädchen, wie sie schüchtern lächelnd zwischen ihren Eltern steht. Ihre Mutter in einem schönen langen Kleid, Hand in Hand mit einem Mann. Warum hat maman ihr diese Aufnahmen noch nie gezeigt?

Joséphine hat nach Fotografien von Frédéric, ihrem Vater, gefragt, aber ihre Mutter ist ihr immer ausgewichen und hat erklärt, damals hätten sie keine Fotos gemacht. Also, wer ist dieser Mann? Vielleicht war er ein Liebhaber und nicht ihr Vater. Sie dreht das Bild um. Was dort steht, lässt ihr fast das Herz stehen bleiben. Frédéric, Februar 1939. Das muss ihr Vater sein, oder? Aber warum hätte maman ihr das Bild nicht zeigen sollen?

Sie greift nach einem Band mit Gedichten von Victor Hugo und fragt sich, warum ihre Mutter ein Buch verstecken sollte. Sie schlägt es auf der ersten Seite auf, und da steht in klarer Schreibschrift eine Widmung.

Meine liebste Lise!

Mit Dir hat mein Leben begonnen.

Für immer der Deinige.

S.

»S.«? Nicht »F.« für Frédéric. Wer könnte »S.« gewesen sein? Und warum hat er nicht seinen vollständigen Namen geschrieben? Joséphine findet alte Briefe, widersteht aber der Versuchung, sie zu lesen. Sie ist auf der Suche nach ihrer Geburtsurkunde und sollte sich nicht ablenken lassen.

Ein offiziell wirkender Brief fällt ihr ins Auge. Er ist so kurz, dass sie ihn schon gelesen hat, bevor sie überhaupt darüber nachdenken kann.

Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Frédéric Dumarché in treuer Pflichterfüllung bei der Verteidigung des Vaterlandes gefallen ist.

Etwas am oberen Rand zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich. Er ist auf Mai 1940 datiert. Fünf Jahre vor ihrer Geburt! Wie ist das möglich? Sie liest den Brief noch einmal. Es muss sich um einen anderen Frédéric handeln.

Beim Klicken der Küchentür, die geöffnet wird, lässt Joséphine alles wieder in die Schachtel fallen. Rasch schließt sie sie und schiebt sie wieder unter das Bett. Sie streicht sich das Kleid glatt und versucht, ruhig zu atmen, bevor sie nach unten geht.

»Was hattest du im Zimmer deiner Mutter zu suchen?« Am Fuß der Treppe steht Soizic und hat die Arme vor der Brust verschränkt.

»Wo ist sie?«, antwortet Joséphine mit einer Gegenfrage.

»Ich habe dich gefragt, was du dort gemacht hast.« Soizics Stimme klingt kalt.

»Ich brauche meine Geburtsurkunde.« Sie hat ein Recht darauf. Warum hat sie dann das Gefühl, um etwas zu bitten, was ihr nicht zusteht?

Soizic weicht das Blut aus dem Gesicht. »Was willst du damit?«

»Ich will einen Pass beantragen.«

Soizic stößt einen langen, tiefen Atemzug aus. »Du brauchst noch keinen Pass. Warte, bis deine Prüfungen vorbei sind.«

»Meine Prüfungen? Was haben die damit zu tun?«

»Im Moment solltest du dich darauf konzentrieren.« Sie wendet sich ab und schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Ich weiß nicht! Auslandsreisen und ein Freund. Du lässt dich ablenken.«

»Nicht so wichtig.« Joséphine versucht, beiläufig zu klingen. »Hervé sagt, ich kann mir auf dem Rathaus eine Kopie ausstellen lassen.«

»Nein. Nein.« Soizic sieht ihr in die Augen. »Nicht nötig. Ich bin mir sicher, wir finden sie. Lass uns nur etwas Zeit.« Sie stößt einen lang gezogenen Seufzer aus. »Ihr jungen Leute seid immer so ungeduldig.«

Ihre letzte Bemerkung findet Joséphine besonders ungerecht. Sie ist schrecklich geduldig gewesen und hat weder ihrer Mutter noch Soizic zugesetzt, über die Vergangenheit, den Krieg, zu reden, weil sie gespürt hat, wie sehr das sie bestürzte.

»Weißt du, wer Frédéric Dumarché war?«, fragt Joséphine.

Kurz schließt Soizic die Augen und schüttelt dann den Kopf. »Du solltest nicht einfach die Sachen deiner Mutter durchwühlen! Und die Vergangenheit aufrühren. Niemand hat etwas davon.« Sie zögert. »Das solltest du besser wissen.«

Jetzt sieht Joséphine beschämt auf ihre Füße hinunter und hat ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil sie Soizic gezwungen hat, sich zu erinnern. Denn Joséphine weiß, was Soizics Tochter zugestoßen ist. Jeder weiß es, doch niemand spricht darüber.

Das Öffnen der Tür zerstreut die Spannung, und Joséphines Mutter kommt herein. »Es ist kalt heute Abend.« Sie zieht ihren Mantel aus. »Vielleicht schlägt das Wetter um.« Sie scheint die schlechte Stimmung nicht bemerkt zu haben, denn sie ist eingetreten, macht noch einen Schritt in die Küche herein und legt die offene Hand an Joséphines Wange. Die eiskalte Berührung lässt Joséphine erschauern.

Drittes Kapitel

Bretagne, Mai 1963

ÉLISE

Wenn ich meine Tochter nicht besser kennen würde, würde ich meinen, sie schmollte. Aber sie ist nicht der Typ dazu. Sie ist jemand, der nachdenkt. Und jetzt gerade grübelt sie über diese Reise nach England nach. Ich kann beinahe hören, wie die Rädchen in ihrem Kopf sich drehen und sie einen Plan ausheckt.

»Es tut mir leid wegen dieser Schulfahrt, Joséphine.« Als wir uns zum Essen setzen, versuche ich, zu ihr durchzudringen. »Du könntest dafür nach deinen Prüfungen nach Paris fahren. Wohnen könntest du bei deiner Tante Isabelle. Sie würde dich bestimmt gern aufnehmen und dir die Stadt zeigen.«

Joséphine zuckt mit den Schultern. »Vielleicht.«

»Würdest du denn nicht gern nach Paris fahren?«

»Kann schon sein.«

Soizic verteilt schweigend die gekochten Kartoffeln auf die Teller.

»Irgendwann kommst du schon noch nach England«, versuche ich, die Stimmung aufzulockern. »Du hast ja noch dein ganzes Leben vor dir.«

Soizic nimmt den Deckel von dem Schmortopf, und ich sauge den reichhaltigen, fleischigen Duft ihres bœuf bourguignon ein, dieses mit Burgunder zubereiteten Fleischtopfes. Sie legt uns davon auf und bekreuzigt sich dann. »Gott segne diese Mahlzeit!«

»Amen«, murmeln Joséphine und ich.

Obwohl das Gericht größtenteils aus Möhren, Sellerie und billigem Fleisch besteht, schmeckt es köstlich, und das Rindfleisch ist so zart, dass es auf meiner Gabel zerfällt. Aber Joséphine stochert nur darin herum und spießt eine Kartoffel auf, die sie mit der Gabel in zwei Stücke geteilt hat.

»Liest du eigentlich gern Gedichte?«, fragt sie aus dem Nichts heraus und sieht mich abwartend an.

Ich finde ihre Frage eigenartig. »Nicht wirklich. Warum?«

Soizic erstarrt, die Gabel halb zum Mund erhoben, und schaut mich an.

»Ich dachte, vielleicht könnte ich ein paar lesen.« Joséphine zieht ein Stück Brot durch die Sauce. »Hast du welche?«

»Ich?« Ich werfe Soizic einen Blick zu. Wir drei besitzen eine überschaubare Anzahl von Büchern, und Joséphine hat sie alle gelesen. Und dann erinnere ich mich. Das Buch in dem Koffer oben. Sie hat doch nicht meine Sachen durchwühlt? Das würde sie nicht tun, oder? »Nein«, antworte ich vorsichtig. »Ich glaube nicht.«

Joséphine lässt das Brot in die Sauce fallen. »Schade.« Sie sticht mit der Gabel in ein Stück Fleisch, führt es zum Mund und kaut langsam, wobei sie mich im Blick behält.

Und da weiß ich Bescheid. Ich weiß, dass sie den Koffer in meinem Zimmer durchsucht hat. Den Koffer mit meinen Erinnerungen. Sie hat den Gedichtband gesehen, den Sebastian mir geschenkt hat, und seine Nachrichten, doch er hat sie nie mit seinem Namen unterschrieben. Sie kann keine Ahnung haben, wer er ist. Nichts Gefährliches daran. Nicht wirklich.

»Jemand hat mir einmal ein Buch mit Gedichten geschenkt.« Ich versuche zu lächeln. »Und ich habe ein paar davon gelesen.«

»Wer war das?«, fragt sie knapp und direkt.

»Nur jemand, den ich früher kannte.«

Sie seufzt, nimmt das durchgeweichte Brot und steckt es in den Mund. Mir ist bewusst, dass meine Antworten unzureichend sind, und ich möchte ihr gern mehr erzählen. Ihr alles sagen. Aber nicht jetzt. Nicht so. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt.

»Ich glaube, du würdest dich in Paris großartig amüsieren«, schaltet sich Soizic ein, doch ihre Stimme klingt eigenartig und aufgesetzt fröhlich.

»Da hättest du Gelegenheit, deine Tante Isabelle besser kennenzulernen.« Ich lächle, aber ich habe das Gefühl, eine Grimasse zu ziehen.

»Und meine Großeltern. Ich kenne sie ja kaum. Meinem Großvater bin ich noch nie begegnet. Lebt er überhaupt noch?«

»Ja.« Ich versuche, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Doch er war nach dem Krieg nie wieder der Alte.« Der Krieg. Das Tabuthema in diesem Haus. Ich werfe Soizic einen Blick zu, denn ich mache mir Sorgen um sie, weil wir uns jetzt auf dünnem Eis bewegen.

»Willst du ihn denn nicht besuchen?«, hakt Joséphine nach. »Vielleicht hat er ja nicht mehr lange zu leben.«

»Er will mich nicht sehen. Das habe ich dir doch erzählt.«

»Nur, weil du nicht verheiratet warst, als du mich bekommen hast?« Joséphine reibt sich die Nase. »Es war nicht deine Schuld, dass mein Vater umgekommen ist.«

Ich spüre, wie meine Wangen zu glühen beginnen. Das hätte ich ihr nie erzählen dürfen. Es wird schwierig werden, das richtigzustellen. Ich versuche, das Stück Möhre in meinem Mund ganz herunterzuschlucken, aber es bleibt stecken. Ich huste und hebe die Hand an den Hals. Noch einmal huste ich, und mir tränen die Augen. Soizic steht auf und klopft mir zwischen den Schulterblättern auf den Rücken. Ich versuche, den Hustenreiz zu stillen, greife nach meinem Wasserglas und trinke einen großen Schluck.

Joséphine starrt mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal. Ich fühle mich entlarvt. Sie weiß Bescheid. Sie weiß, dass alles nur ein Haufen Lügen war.

Viertes Kapitel

Bretagne, Mai 1963

JOSÉPHINE

Am Sonntagabend, nachdem ihre Mutter zurück nach Saint-Brieuc gefahren ist, ist Joséphine gerade dabei einzuschlafen, als es ihr einfällt. Eine Kindheitserinnerung daran, wie ihre Mutter eine Mappe hinter einem Stapel Teller versteckt, die sie nie benutzen, sodass es aussieht, als wäre sie Teil der Rückwand des Schrankes. Die Art, wie ihre Mutter die Mappe wegsteckte, hatte etwas Verstohlenes, als hätte sie nicht vor, sie je wieder hervorzuholen. Sogar als Kind hatte Joséphine gespürt, wie bedeutsam das war. Sie ist sich sicher, dass sie darin ihre Geburtsurkunde finden wird.

Mit diesem Gedanken schläft sie ein. Doch das sind keine Überlegungen, die für einen geruhsamen Schlaf sorgen, und am nächsten Tag erwacht sie früh und fühlt sich von nervöser Energie erfüllt. Sie huscht aus dem Bett und tritt an den Küchenschrank, in dem sie die alten Teller aufbewahren. Aufmerksam schaut sie hinter das Geschirr. An der Rückwand des Schrankes liegt eine blassgrüne Mappe.

Schnell zieht Joséphine sie hervor und schlägt sie auf. Sie späht hinein und nimmt das erste Blatt heraus. Ganz oben steht ihr eigener Name.

Name:Joséphine ChevalierName der Mutter:Élise ChevalierName des Vaters: Sebastian Kleinhaus

Joséphine lässt das Blatt fallen. Ein Schauer läuft ihr übers Rückgrat, und ihr wird kalt. Die Zeit verläuft anders, vor und zurück, aber Joséphine ist nicht hier, in der Gegenwart. Sie hat jedes Gefühl dafür verloren, wo sie sich befindet. Sie kneift die Augen zu und versucht, sich zu erden. Was hat das zu bedeuten? Name des Vaters: Sebastian Kleinhaus. Das ist nicht möglich. Ihr Vater war Franzose und hieß Frédéric. Hatte er noch einen anderen Namen?

Eine Erinnerung überfällt sie. Damals ergaben die Worte keinen Sinn, aber jetzt hallen sie in ihren Ohren wider, als hätten sie dort all die Jahre auf diesen Moment gewartet, darauf, dass sie begreift, was sie zu bedeuten hatten.

Eines Sonntagmorgens, als sie ungefähr acht war, verließen sie die Kirche. »Was ist der Unterschied zwischen einem boche und einer Schwalbe?« Ein älterer Junge richtete die Frage an sie. Sie zuckte mit den Schultern, denn damals wusste sie nicht wirklich, was »boche« bedeutete, nur, dass es ein schlimmes Wort war. »Wenn eine Schwalbe in Frankreich Junge bekommt, nimmt sie sie mit, doch ein boche lässt sie zurück.« Der Junge sagte das in boshaftem Ton, und sie hat sich immer an seine Worte erinnert, war sich aber nicht sicher, was sie mit ihr zu tun hatten.

Sebastian Kleinhaus. Ein Deutscher! Ein boche! Mit einem Mal versteht sie das Schweigen, das alles umgibt, was mit ihrem Vater zu tun hat. Ihre Mutter musste nach Trégastel flüchten, wo niemand sie kannte, um das Baby eines boche zu bekommen. Das erklärt auch, warum sie nie mit Joséphine nach Paris gefahren ist, warum Joséphine ihrer Großmutter und ihrer Tante Isabelle nur einige wenige Male im Leben begegnet ist, warum sie ihren Großvater überhaupt nie kennengelernt hat. Den Mann, der während der Besatzung in ein Arbeitslager in Deutschland deportiert worden war und nach seiner Rückkehr nur Hass auf alles Deutsche im Herzen trug.

Sie ist der Bastard eines boche.

Ihre Mutter hat sie ihr ganzes Leben lang angelogen. Wer weiß sonst noch Bescheid? Ist Soizic eingeweiht?

Bestimmt nicht. Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie maman nie aufgenommen. Ihre Mutter muss auch Soizic angelogen haben. La honte – die Schande, mit dem Feind geschlafen zu haben. »Putain!«, flucht Joséphine halblaut. Verdammt. »Meine Mutter und ihre Lügen!«

Schritte lassen sie erstarren. Mit einem Mal scheint die Luft zu dünn zu werden. Sie legt die Hand auf ihr Brustbein und ringt nach Atem. Dann umklammert sie mit der anderen Hand die Geburtsurkunde, die sie aufgehoben hat, und dreht sich um.

Soizic ist leichenblass und reißt erschrocken die Augen auf. Sie weiß Bescheid. Sie hat es immer gewusst.

»Warum hast du mir das verschwiegen?« Joséphines Stimme zittert. Tränen treten ihr in die Augen. Aber sie wird nicht weinen. Sie blinzelt sie weg. »Ich hatte ein Recht, das zu erfahren!«

Soizic ist ganz still geworden. Sie bewegt die Lippen, aber es kommen keine Worte darüber.

»Wusstest du, dass mein Vater ein boche war?«

»Nimm dieses Wort nicht in den Mund!« Sozic hält sich mit zitternder Hand an der Anrichte fest. Ihr ist alles Blut aus dem Gesicht gewichen. Zum ersten Mal sieht man ihr ihre fünfundsiebzig Jahre an. »Du solltest nicht in anderer Leute Angelegenheiten herumschnüffeln.«

»Anderer Leute Angelegenheiten!« Zorn über diese Ungerechtigkeit flammt in Joséphine auf. »Das ist meine Geburtsurkunde!«

»Aber es steht deiner Mutter zu, sie dir zu geben. Du kannst sie dir nicht einfach nehmen!«

»Du hast das gewusst? Und nie etwas gesagt?« Der Schmerz über Soizics Täuschung durchfährt sie. Die beiden Menschen, die sie großgezogen haben, die sie geliebt und für sie gesorgt haben, haben ihr gemeinsam dieses schändliche Geheimnis vorenthalten. Als könnte man ihr das Wissen nicht anvertrauen, wer ihr eigener Vater war.

»Ja.« Soizics Stimme klingt fest. »Ja, ich habe es gewusst.«

»Warum?« Joséphine ist nur noch verwirrt. »Wieso hast du sie überhaupt aufgenommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stellt sie noch eine Frage. »Hat er sie vergewaltigt?« Irgendwie weiß sie, dass das nicht stimmt, aber sie muss das fragen. »Hat er?«, hakt sie nach.

Soizic schüttelt heftig den Kopf. »Nein! Nein!« Sie lässt die Hand sinken, mit der sie ihren Hals umklammert hatte, und ein kleiner roter Fleck bleibt zurück. Sie streckt den Arm nach Joséphine aus. »Es tut mir so leid. Sie wollte es dir sagen, doch ich habe es nicht zugelassen.«

Joséphine tritt zurück bis an die Wand, so weit, wie sie kann. Aber sie will es wissen. Sie will wissen, wie böse ihr Vater wirklich war.

Ihr Vater. Ungeweinte Tränen brennen ihr in den Augen. Sie versucht, sie wegzublinzeln, doch sie steigen von einem Ort tief in ihrem Inneren auf, und sie kann sie nicht zurückhalten.

»Joséphine, mon cœur.« Mein Herz. Soizic tritt einen Schritt nach vorn. Sie versucht, Joséphine zu umarmen, und die lässt es sich beinahe gefallen, doch sie will nicht getröstet werden. Sie weicht zurück und wischt sich mit dem Handrücken hektisch die Tränen weg. »Sag mir einfach, wer er war. Was hat er gemacht?« Sie muss es wissen. Sie muss wissen, ob ihr Vater ein Ungeheuer war.

»Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht, Joséphine. Ich habe deiner Mutter nicht erlaubt, über ihn zu sprechen.«

Fünftes Kapitel

Bretagne, Mai 1963

JOSÉPHINE

Statt zur Schule geht Joséphine zur Telefonzelle des Dorfes. Sie will Trégastel verlassen, bevor ihre Mutter am nächsten Wochenende wiederkommt. Sie wird die Wahrheit selbst herausfinden.

Sie muss bei der Auskunft anrufen, um die Nummer ihrer Tante Isabelle zu bekommen. Als Isabelle abhebt, klingt ihre Stimme noch verschlafen.

»Tut mir leid«, beginnt Joséphine. »Habe ich dich geweckt?«

»Bist du das, Joséphine? Ist alles in Ordnung?«

»Ja. Es ist alles gut.« Jetzt weiß sie nicht, wie sie ihre Bitte vorbringen soll. »Es ist nur … Also … ich hatte mich gefragt, ob ich euch für ein paar Tage besuchen kann?« Innerlich zuckt sie über ihre Dreistigkeit zusammen.

»Was, jetzt? Du willst jetzt kommen?« Am anderen Ende der Leitung klingt Isabelle verblüfft. »Und die Schule?«

»Momentan lernen wir nur für die Prüfungen.«

»Das kommt ein wenig überraschend.«

Joséphine wird das Herz schwer. Sie wird Nein sagen.

Aber dann fährt Isabelle munterer fort: »Das wäre reizend. Wann willst du denn kommen?«

»Morgen?«, schlägt sie vorsichtig vor. Am liebsten würde sie sofort fahren.

»Morgen!« Am anderen Ende wird es still. Dann spricht Isabelle weiter. »Ja! Warum nicht?« Sie senkt die Stimme. »Wie geht’s deiner Mutter? Ist bei ihr alles in Ordnung?«

»Ja«, gibt Joséphine zurück. Eine Notlüge. »Ich rufe noch einmal an, wenn ich meine Fahrkarte habe, um dir zu sagen, wann ich ankomme.«

»Warte. Ich habe einen Fahrplan hier.«

Joséphine steckt noch eine Ein-Franc-Münze in den Geldeinwurf-Schlitz.

»Morgen früh um halb neun fährt ein Zug. Könntest du den nehmen?«

»Ja!« Eine Welle der Begeisterung durchfährt Joséphine, als ihre spontane Idee Wirklichkeit wird.

Sie würde sich gern mit Hervé treffen, um ihm alles zu erzählen, aber sie will nicht in die Schule gehen. Also spaziert sie den Rest des Vormittags am Strand entlang und versucht, sich schlüssig darüber zu werden, warum dieses neue Wissen sie so umgekrempelt hat, warum sie sich so verletzlich, so bloßgestellt fühlt. Zum Mittagessen geht sie nach Hause und erklärt Soizic, dass sie nach Paris fährt.

»Aber was ist mit deiner Mutter? Sie wird sich schrecklich aufregen. Du kannst nicht einfach so davonlaufen!«

»Ich muss herausfinden, was passiert ist. Ich bin achtzehn und erwachsen, und ich habe genug Geld für meine Fahrkarte gespart.« Sie holt tief Luft. »Du kannst mich nicht davon abhalten.«

»Und die Schule, deine Prüfungen?«

»Ich kann meine Bücher mitnehmen.« Joséphine seufzt. »Lernen kann ich auch dort.«

Joséphine ist hartnäckig und lässt Soizic keine Chance, sie davon abzubringen.

Am Dienstagmorgen erklärt Soizic sich bereit, sie zum Bahnhof zu fahren. Es regnet in Strömen, und die Scheibenwischer bewegen sich quietschend hin und her.

Soizic sieht in den Regen hinaus. »Urteile nicht so hart über deine Mutter«, sagt sie. »Sie hat immer nur das Beste für dich gewollt.«

Joséphine wirft ihr einen vernichtenden Blick zu. »Für mich?«

»Ja, für dich. Sie wollte dir ein sicheres, glückliches Zuhause bieten.« Sie schaltet und biegt um die Ecke. »Das war ihr immer das Wichtigste.«

Joséphine gibt keine Antwort, sondern starrt die hohen Bäume an, die die Straße säumen. Ihre Äste werden von dem starken Wind geschüttelt, und der Regen beutelt ihre zarten Blüten.

Sie halten vor dem Bahnhof an, und Joséphine legt die Hand auf den Türgriff, zögert dann aber. Wind und Regen peitschen auf Dach und Fenster ein, doch im Inneren des Wagens herrscht eine friedliche Stille, in der Joséphine sich beschützt fühlt. Sobald sie diese Tür öffnet, wird sie den Elementen ausgesetzt sein, auf sich allein gestellt. Soizic ist stets ihr Fels in der Brandung gewesen, immer da, wenn sie sie brauchte, mit praktischem Rat und Hilfe bei der Hand, aber auch hart. Wenn sie nicht Joséphines Meinung war, sagte sie das auch. Sie gab sich nicht damit ab, diskret um den heißen Brei herumzureden.

Ehrlich, denkt Joséphine ironisch. Ja, diese Eigenschaft hätte sie Soizic zugeschrieben, doch das gilt nicht mehr. Es lässt sie überlegen, wie gut man andere wirklich kennen kann. Von jetzt an wird sie sich immer fragen, welchen Teil seiner selbst jemand verbirgt. Kurz betrachtet sie Soizics Profil. Eine Hälfte von ihr würde diese harte, aber freundliche Frau am liebsten umarmen, doch die andere steht noch unter Schock und fühlt sich verraten und verletzt.

Soizics Hände liegen auf dem Steuer, und sie sieht in den Regen hinaus. »Ich habe schon eine Tochter verloren.« Ihre Stimme scheint aus weiter Ferne zu kommen. »Ich könnte es nicht ertragen, dich auch noch zu verlieren.«

Aber ich bin nicht deine Tochter, möchte Joséphine schreien. Ich bin nicht deine tote Tochter. Doch sie kann nicht. Sie kann ihr nicht so wehtun. »Tut mir leid«, murmelt Joséphine, und das ist die Wahrheit. Sie trauert um sie alle, um die Dinge, die nie ausgesprochen, und um die Geschichten, die nie erzählt worden sind. Aber jetzt gerade will sie nur noch fort.

Sie holt tief Luft, legt die Hand auf den Griff und öffnet die Tür. »Au revoir.« Auf Wiedersehen.

Im Zug nach Paris sitzt Joséphine allein im Wagen. Obwohl sie emotional aufgewühlt ist, kann sie nicht anders, als die Fahrt mit dem Schnellzug zu genießen. Sie steht auf, zieht das Fenster herunter und beugt sich hinaus. Der Wind verschlägt ihr den Atem, fährt in ihr Haar und peitscht es mit seiner Kraft zurück. Sie öffnet den Mund und saugt gierig die Luft ein, und ihr Herz schlägt schnell, so ekstatisch genießt sie die Geschwindigkeit. Als auf der Gegenschiene ein Zug auf sie zurast, möchte sie am liebsten den Kopf wieder einziehen. Doch sie tut es nicht, sondern gibt sich dem Angstgefühl hin. Dann tritt sie einen Schritt vom Fenster zurück, und alles wird wieder ruhig.

Sie setzt sich auf den klumpigen, mit Samt bezogenen Sitz und spürt durch den Rock jede einzelne Sprungfeder. Ihr gefällt dieser Eindruck, sich wie schwebend zu fühlen – weder dort, wo sie war, noch dort, wo sie hinfährt. Es fühlt sich an wie ein Zufluchtsort, an dem sie sein kann, wer sie will.

Maman möchte, dass sie jemand ist, der sie nicht ist. Sie will, dass sie Ingenieurwissenschaften studiert, und begreift nicht, warum sich Joséphine zu Literatur und Sprachen hingezogen fühlt. Dass sie es liebt, Wörter zusammenzusetzen, Bilder mit ihnen zu erschaffen, Rhythmen in Sätzen zu finden und sie einzusetzen, um Gefühle zu erwecken. Joséphine hat zu Hause die auffällige Abwesenheit von Wörtern gespürt, als versteckten sie sich hinter Schränken, unter Betten oder in Schubladen, wo sie Staub ansetzen.

Alles, was Joséphine über das Leben weiß, hat sie aus Büchern gelernt. Sobald sie lesen konnte, hat sie sie verschlungen. Heimlich im Bett, mit einer Taschenlampe unter der Decke, nachdem man ihr befohlen hatte, das Licht auszumachen. Im Sommer am Strand, auf dem Bauch liegend, das Kinn in die Hände gestützt, während ein leichter Sandhauch über das Papier blies. Aus diesen Seiten hat sie etwas über das Leben, die Liebe, über Mut und Feigheit gelernt. Worte besitzen Macht. Sie können einen niederschmettern, sie können einem Auftrieb geben, das Herz erheben und einen dazu bringen, sich zu verlieben. Oder einen hassen lassen. Sie denkt an diese zwei einfachen Wörter – Sebastian Kleinhaus – und daran, dass sie die Macht haben zu ändern, wer sie ist.

Fünf Stunden später hält der Zug am Bahnhof Montparnasse. Sobald Joséphine aus dem Waggon steigt, fällt ihr der Geräuschpegel auf: Menschen eilen vorbei und unterhalten sich laut, Durchsagen dröhnen, Züge rangieren klirrend, Trillerpfeifen schrillen. Zum Glück entdeckt sie Isabelle am Ende des Bahnsteigs.

»Bonjour!« Guten Tag. »Bonjour, Joséphine. Da bist du ja endlich!« Isabelle küsst sie und wirft dann einen Blick auf Joséphines Köfferchen. »Gut, dass du mit leichtem Gepäck reist, dann können wir ja laufen.«

»Bonjour, tante Isabelle.«

»Nenn mich nicht ›Tante‹. Lass uns so tun, als wäre ich deine große Schwester. ›Tante‹ klingt so verstaubt, dabei bin ich nur zwölf Jahre älter als du. Mehr wie eine Schwester. Hörst du gern Jazz?«

Von Isabells Geplapper dreht sich Joséphine der Kopf. »Ja … nein. Weiß nicht.«

»Na, das kannst du am Samstagabend herausfinden. Wir gehen in einen Jazzclub!« Sie mustert Joséphines Rock. »Ich gehe auch mit dir einkaufen. Ich habe vor, dich nach Strich und Faden zu verwöhnen. Aber zuerst essen wir zu Mittag. Ich bin schon halb verhungert.«

Joséphine sieht auf ihren Rock hinunter, und ihr wird das Herz schwer, als sie ihn durch Isabelles Augen betrachtet. Altbacken. Zu Hause in Trégastel hat ihr Rock an der Schaufensterpuppe schick gewirkt, aber hier in Paris lässt er sie aussehen wie eine Landpomeranze. Die Pariserinnen gleiten in engen, schmal geschnittenen Röcken, auf Figur geschneiderten Jacken vorbei, in schicken hochhackigen Schuhen und mit kleinen Lederhandtaschen, die in ihren Ellenbeugen baumeln. Joséphine hat die neueste Mode in Zeitschriften gesehen, aber sie hat sich nicht vorgestellt, dass wirklich alle sie tragen würden. Und hier steht sie in einem altbackenen Rock und schleppt ihren Koffer. Schweißperlen bilden sich an ihrem Haaransatz und unter ihren Achseln.

Isabelle scheint ihr Unbehagen zu spüren. »Komm, lass mich dein Gepäck nehmen.«

Dankbar reicht Joséphine ihrer Tante den Koffer. Sie gehen eine breite Straße entlang, und der Verkehr rauscht an ihnen vorbei: Sportwagen, Cabriolets, hupende Autos, Busse, die hinten offen sind, mit Fahrgästen, die sich zum Rauchen herausbeugen. Joséphine dreht sich um und schaut zu den hohen Gebäuden, den schmiedeeisernen Balkonen und den steinernen Fassaden auf, die über ihr aufragen.

»Gehen wir hier hinein.« Abrupt tritt Isabelle in eine Brasserie, und dann sitzen sie auf der Terrasse an einem kleinen runden Tisch, und Joséphine stellt fest, dass all die neuen Geräusche und Anblicke ihre Sinne überwältigen.

Bald bringt der Kellner die Speisekarte, und Joséphine mustert die große Auswahl, die sich ihr bietet.

»Die Tageskarte sieht gut aus«, bemerkt Isabelle. »Das Tagesgericht ist magret de canard.« Entenbrust. »Magst du Ente? Eier mit Mayonnaise als Vorspeise und mousse au chocolat zum Nachtisch.«

»Ja«, antwortet Joséphine, obwohl sie lieber Schnecken und Lamm probiert hätte.

»Und ein kleines Glas Rotwein. Eine Mahlzeit ohne Wein ist bloß ein Imbiss.« Isabelle lacht und bestellt rasch, bevor der Kellner Zeit hat, sich zu entfernen.

Einige der Frauen, die vorübergehen, tragen schicke kleine Bobs, während andere sich das Haar hoch auf dem Kopf aufgesteckt haben, wo es unbeweglich fixiert ist. Einmal mehr kommt sich Joséphine mit ihrem dichten, welligen Haar wie ein Landei vor.

»Éric hat mir Geld gegeben, um mit dir einkaufen zu gehen.« Isabelle scheint ihre Gedanken zu lesen. »Er ist ein ganz Lieber.« Sie zwinkert. »Er ist richtig aufgeregt, weil du hier bist. Du bist ihm erst zweimal begegnet, stimmt’s? Aber er weiß noch, wie wir in der Bretagne waren und dich besucht haben. Er hat immer nach dir gefragt.« Sie legt eine Hand auf Joséphines Knie und fährt fort. »Wir waren beide so enttäuscht, als du nicht zu unserer Hochzeit kommen konntest.«

Joséphine versucht zu lächeln, doch ihre Lippen wollen sich einfach nicht verziehen. Sie will nicht an jenen Tag erinnert werden, an dem ihre Mutter und sie in Trégastel festsaßen, während Isabelle mit Éric vor den Altar trat. Ihre Mutter hatte sich hinter ihrer Armut verschanzt und behauptet, sie könnten sich die Fahrt nach Paris nicht leisten.

»Ich habe maman erzählt, dass du kommst«, fährt Isabelle fort, »und sie kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen. Wie oft hast du eigentlich deine Großmutter schon gesehen?«

»Drei Mal.«

»Nur drei Mal! Mach dir nichts daraus. Jetzt bist du ja hier!« Isabelle unterbricht sich und kramt in ihrer Tasche. »Und ich habe etwas für dich. Ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk!« Sie reicht Joséphine ein Päckchen, das wunderschön in silbernes Papier verpackt und mit einer eleganten schwarzen Schleife geschmückt ist. »Ich wünschte, ich hätte dich öfter sehen können, als du jünger warst, Joséphine. Aber jetzt habe ich vor, das nachzuholen.«

»Merci.« Danke. Joséphine beugt sich vor und küsst Isabelle auf die Wange. Sie überlegt, ob sie ihr erzählen soll, dass sie inzwischen weiß, warum sie einander kaum besucht haben, warum man sie in Trégastel versteckt hat. La honte. Die Familienschande. Aber sie will diesen Moment nicht verderben, daher öffnet sie stattdessen das Päckchen. Eine kleine Schachtel, auf der Chanel No 5 steht, kommt zum Vorschein.

Joséphine hat noch nie Parfüm besessen. Das ist solch ein Luxus, fast schon dekadent. »Oh, Isabelle, vielen, vielen Dank!« Sie sieht auf das Chanel-Logo, und ihr treten Tränen in die Augen. Ach, um Himmels willen, sagt sie sich, es ist nur Parfüm! Aber es fühlt sich nach so viel mehr an, als würde sie in das Leben als Frau eintreten, in eine ganz neue Welt, die sich ihr eröffnet.

Isabelle lächelt. »Probier es aus.«

Joséphine öffnet die Schachtel und zieht die zarte Flasche heraus, die ein Kunstwerk für sich ist. Vorsichtig tupft sie sich etwas aufs Handgelenk, wedelt damit und riecht dann daran. Es duftet nach Licht und Frische, nach Neuanfang, Sinnlichkeit und Abenteuer. Sie saugt den Geruch tief ein.

»Dann magst du es?«

»Ich liebe es!«

Der Kellner bringt den ersten Gang und unterbricht die beiden.

»Wie geht’s deiner Mutter?«, fragt Isabelle, als er geht. Sie nimmt ein Stück Ei auf die Gabel, führt sie an die rot geschminkten Lippen und kaut diskret, während sie Joséphine mustert.

Joséphine nimmt ein Stück Brot aus dem Korb und zupft daran herum. Unter dem forschenden Blick ihrer Tante fühlt sie sich unbehaglich. Sie wird Isabelle schon erzählen, was sie weiß, nur nicht jetzt. Das wird alles verändern und vielleicht ihren Besuch ruinieren. Es darf nicht das Erste sein, worüber sie reden. »Gut«, flunkert sie. »Wo steht eigentlich der Eiffelturm?« Sie lenkt das Gespräch von ihrer Mutter weg. »Ist es weit?«

»Keine Sorge. Ich habe vor, dir morgen die wichtigsten Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Aber ich dachte, heute gehen wir es langsam an und schlendern durch den Jardin du Luxembourg zurück.«

Als sie nach dem Mittagessen durch den Park mit seinen geometrisch angelegten, von Kastanien gesäumten Alleen bummeln, betrachtet Joséphine das dunkelgrüne, von der leichten Brise bewegte Laub und fragt sich, wie sich ihr Leben von jetzt an verändern wird. Sie fühlt sich auf merkwürdige Weise von allem abgeschnitten. Wer ist sie in dieser großen Stadt? Kann sie jede Person sein, die sie sein will?

Sie kommen an einem See vorbei, an dem Kinder mit langen Stöcken kleine hölzerne Segelboote lenken. Sie wendet sich an Isabelle. »Warst du als Kind oft hier?«

»Ja, Élise – deine Mutter – pflegte mit mir herzukommen.« Sie unterbricht sich. »Dann sind wir nicht mehr hierher gegangen. Während der Besatzungszeit wimmelte es in dem Park von Deutschen und ihren Freundinnen. Élise wollte nicht mehr.«

»Aber …« Joséphine brennt darauf, sie zu fragen, wieso ihre Mutter das so gesehen hat, obwohl sie selbst einen deutschen Freund hatte.

Isabelle sieht sie an und runzelt die Stirn. »Aber lass uns nicht über diese Zeiten reden. Das ist lange her.« Sie nimmt Joséphines Hand. »Ich weiß, ich wiederhole mich, doch ich bin so froh, dass du hier bist!«

Sechstes Kapitel

Paris, Mai 1963

JOSÉPHINE

Als sie das Haus erreichen, in dem Isabelle lebt, müssen sie über eine schmale, hölzerne Wendeltreppe sechs Etagen hinaufsteigen, bevor Isabelle den Schlüssel hervorzieht. »Da sind wir. Trautes Heim, Glück allein.« Sie öffnet die Tür, und Joséphine wird klar, dass die Kletterpartie sich gelohnt hat. Der Ausblick über die Dächer gibt ihr das Gefühl, hoch über der ganzen Welt zu schweben.

»Es ist großartig!« Sie stellt ihren Koffer ab und öffnet ein Fenster, um sich hinauszulehnen.

»Wir haben nur ein Schlafzimmer, also wirst du hier auf der Couch übernachten müssen.«

»Sie sieht sehr bequem aus. Danke.« Joséphine wirft sich auf die Kissen, die auf dem Sofa liegen. Wo sie schläft, ist ihr gleichgültig. Sie ist nur glücklich, in Paris zu sein.

»Jetzt muss ich das Abendessen zubereiten. Éric kommt um sieben nach Hause.«

Joséphine kann es kaum erwarten, die Sehenswürdigkeiten anzuschauen, und überlegt, ob sie vorschlagen soll, allein spazieren zu gehen, aber das kommt ihr unhöflich vor. Stattdessen bietet sie an, beim Kochen zu helfen.

Um Punkt sieben kommt Éric herein, der in seinem braunen Anzug und mit dem dunklen, glatt zurückgekämmten Haar gut aussieht. Er küsst zuerst seine Frau und dann Joséphine, und er riecht nach teurem Eau de Cologne.

»Willkommen in Paris.« Er tritt einen Schritt zurück und mustert Joséphine. »Du bist ja eine richtige junge Dame geworden.«

Sie lächelt und weiß das Kompliment zu schätzen.

»Ich ziehe mich um, und dann können wir einen Aperitif nehmen.«

Als er in einem einfachen T-Shirt und einer weiten Hose wieder hereinkommt, wirkt er etwas weniger attraktiv. Er tritt in die offene Küche, nimmt drei Sektgläser aus dem Schrank und gibt in jedes einen Schuss crème de cassis, Johannisbeerlikör. »Kir Royale gefällig?« Ohne eine Antwort abzuwarten, holt er eine Flasche Champagner aus dem Kühlschrank, richtet den Hals zur Decke und löst das Drahtkörbchen, das den Korken hält. Der Korken platzt heraus, und heller Schaum läuft an der Flasche herunter. Lachend füllt er rasch ihre Gläser. »Auf Joséphine«, sagt er als Trinkspruch, »und ihren ersten Besuch in Paris!«

Das Getränk ist köstlich, und die leichten Luftbläschen steigen Joséphine zu Kopf.

»Ich lege Musik auf.« Éric wendet sich ab und blättert durch eine Auswahl von Schallplatten. »Was hörst du denn gern? Johnny? Jacques Brel? Gainsbourg?«

»La Javanaise? Ich liebe diesen Song.« Joséphine hat ihn nur zweimal gehört, aber er fällt ihr gleich ein.

»Ich auch!« Éric zieht die Platte aus der Hülle, bläst darauf und legt sie auf den Plattenteller. Dann hebt er behutsam die Nadel an und setzt sie in die Rille.

»J’avoue j’en ai bavé, pas vous, mon amour.« Ich gestehe, ich hatte es schwer, aber Sie nicht, meine Liebste … Gainsbourgs erotische, heisere Stimme erklingt. Éric wiegt sich hin und her und singt mit. Isabelle fällt ein und nimmt einen großen Schluck von ihrem Getränk, bevor sie die flache Hand ergreift, die Éric ihr hinhält, um sie zum Tanz aufzufordern.

Ach, Paris! Joséphine kommt alles buchstäblich dekadent vor. Éric und Isabelle scheinen unendlich weit entfernt zu sein von maman und Soizic und der Enge in Trégastel und sind so viel exotischer.

Später sitzen sie um den Esstisch und unterhalten sich höflich.

»Wie geht es deiner Mutter?«, erkundigt sich Éric.

Joséphine zuckt mit den Schultern. »Gut.« Sie möchte gerade wirklich nicht über sie sprechen. Nicht heute Abend.

»Sie arbeitet immer noch in dieser Villa, oder?«

»Von Montag bis Samstag.« Vom Champagner und vom Tanzen ist Joséphine ein wenig schwindlig. »Manchmal kommt es mir vor, als hätte sie dort noch eine Familie.«

»Was um Himmels willen bringt dich auf diesen Gedanken?«, fragt Isabelle in scharfem Ton.

Joséphine ist verblüfft über sich selbst, darüber, dass sie das tatsächlich laut ausgesprochen hat. Sie leert ihr Glas. »Na, sie verbringt den größten Teil ihrer Zeit dort. Sie könnte ein komplettes Doppelleben führen. Mit einem Mann und anderen Kindern.«

Éric lacht und schenkt Joséphine nach. »Was für eine lebhafte Fantasie du hast! Ein Mann, ja, bei einem Mann könnte ich mir vorstellen, dass er ein Doppelleben führt. Aber nicht bei einer Frau. Was für eine Idee!«

Isabelle mustert Éric stirnrunzelnd. »Ach, kannst du das?«

Joséphine ist sich nicht sicher, ob Isabelle ihn nur aufzieht oder ob ihr die Frage ernst ist.

»Élise hat es schwer gehabt«, wendet sie sich wieder an Joséphine. »Es ist nicht leicht, eine alleinstehende Mutter zu sein. Sie musste immer arbeiten. Daraus solltest du ihr keinen Vorwurf machen. Nach dem Krieg war es schwierig, Arbeit zu finden. Sie hat genommen, was sie kriegen konnte.«