Ella & Co. KG - Gerhard Delling - E-Book
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Ella & Co. KG E-Book

Gerhard Delling

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Beschreibung

Nach dem gewaltsamen Tod ihrer Eltern zu Ende des Krieges muss die 18-jährige Ella ihr Leben ganz allein in den Griff bekommen. Mit Ideenreichtum, unerschütterlichem Selbstvertrauen und einer guten Portion Chuzpe ergreift sie die erstbeste Gelegenheit und macht ein heruntergekommenes Café zum beliebten Treffpunkt. Als ihr erfolgreiches "Start-up" ein jähes Ende findet, legt Ella erst so richtig los. Hätte es den Begriff "Powerfrau" damals schon gegeben, sie hätte diesen Titel mehr als verdient gehabt. Die Männer in ihrem Umfeld sind dieser Energie kaum gewachsen. Und auch für ihre Familie ist es nicht immer leicht, mit Ellas umtriebiger Geschäftigkeit klarzukommen ... Mit großem Erzähltalent gelingt Gerhard Dellings eine pralle Familiengeschichte und eine fein gezeichnete Milieustudie der Wirtschaftswunderzeit.

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Seitenzahl: 602

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© 2021 Langen Müller Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Sabine Schröder

Umschlagmotiv: ullsteinbild.de

Satz und E-Book Produktion: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

ISBN: 978-37844-8388-7

www.langenmueller.de

Inhalt

Prolog: Der Anfall

I. Teil: Die Sehnsucht nach Weite und Freiheit

1. Besuch aus der Nachbarschaft

2. Bitte nett einpacken

3. Weit weg

4. »Mein armer Schatz«

5. Alleinerziehend

6. Tödliche Verwechslung

7. Die Sorgenkammer

8. Das Ende der Kindheit

9. Nomen est omen

II. Teil: In einer kleinen Konditorei

10. Woher nehmen und nicht stehlen?

11. Erna kommt

12. »Das ist Gitte!«

13. Zwischen Cognac und Nussraspeltorte

14. Geheimrezept

15. Zwei Hochzeiten – ein Abwasch?

16. »Lächeln bitte!«

17. Flitterwochen

18. Ganz oben – am Ende

III. Teil: Familienbetrieb

19. Die neue Geschäftsidee

20. Wie eine richtige Familie

21. Schwedische Gardinen

22. »Ich kündige!«

23. Erwachsen geworden

24. Neue Wege gehen

25. Unterschiedliche Entwicklung

26. Richtfest

27. Liebe in Zeiten der Container

IV. Teil: Vom Blitz getroffen

28. Am Platz

29. Sekretärin gesucht

30. Begegnung mit dem Tod

31. Der Ziehsohn

32. Alles eine große Lüge

33. Neu vergeben

34. Der Anfang vom Ende

35. Kein Boden mehr unter den Füßen

36. Der größte Auftrag

Epilog: Zwischen Meer und Himmel

Prolog |Der Anfall

Ein großer Auftrag, den er da gerade an Land gezogen hatte. Der größte in der Geschichte der Firma. Er überschlug in Gedanken die verbleibenden Monate, kalkulierend, welch satter Gewinn in diesem Jahr möglich wäre. Das gehörte zu seinen Stärken: Er konnte eine Situation ökonomisch sehr schnell bewerten und die möglichen Konsequenzen treffend hochrechnen. Er war Kaufmann durch und durch, schließlich hatte er das von der Pike auf gelernt – theoretisch und praktisch, von Kindesbeinen an.

Er musste schmunzeln, als er Ella vor sich sah, jung, ernsthaft und mahnend mit erhobenem Zeigefinger – nicht drohend, aber regelmäßig wiederholend, sodass er es nie vergessen würde: »Erfolg muss man sich errechnen!« Wie gern hätte er sie gerade jetzt in der Firma an seiner Seite gehabt und ihre Faustregeln, obwohl er sie alle längst auswendig kannte, wieder und wieder gehört.

Früher wäre er an so einem Tag wie heute mit den Mitarbeitern runter zum Hafen gefahren und hätte mit ihnen ein, zwei, vielleicht sogar drei Stunden den Erfolg gefeiert und sicher auch Karten gespielt. Aber dieses Mal ging er trotz des guten Geschäftsabschlusses nicht mit den Männern in die Kneipe.

Stattdessen fuhr er nach Hause, denn da fühlte er sich jetzt noch am wohlsten, auch wenn er seinen Gemütszustand mit großer Kraftanstrengung verschleiern musste. Aber er brauchte in diesem Moment als Erste-Hilfe-Maßnahme ganz dringend Ablenkung. Ein bisschen Alltag, gern auch Oberflächlichkeit. Ein devotes Verrinnen von Zeit, ohne allzu große Ausschläge, wenig Emotion, viel spartanische Normalität.

Und auf keinen Fall ein klingelndes Telefon. Am liebsten hätte er das Telefonkabel durchgeschnitten, als er mit hängenden Schultern und schon leichten Verkrampfungen am ganzen Körper, aber vor allem im Brustbereich, durch die Eingangstür trat. Aber während er noch ernsthaft darüber nachdachte, seinen Gedanken in die Tat umzusetzen, war sie auch schon da, die Stimme seiner Frau Gitte, die er sehnsüchtig erwartet hatte und die ihn nun, wie erhofft, schlagartig aus seinem Zustand, den eigenen Gedanken machtlos ausgeliefert zu sein, rettend herausriss.

»Hallo? Bist du es schon?«, hörte er sie erwartungsfroh aus dem Wohnzimmer rufen. Und wie ein gut funktionierender Roboter straffte er sich sofort automatisch am ganzen Körper, wuchs in Sekundenschnelle so sehr, dass er plötzlich wieder wie gewohnt dem Türrahmen fast auf gleicher Höhe die Stirn bieten konnte, was schon des Öfteren zu einigen Schrammen und üblen Kopfschmerzen geführt hatte. Ganz allmählich gewann er seinen alltäglichen Gesichtsausdruck zurück, der immer auch ein bisschen von seiner grundsätzlich empfundenen Zufriedenheit erzählte.

Alles in allem ein kurzer Prozess der Veränderung, der ihm dieses Mal aber so viel Stärke abverlangte, dass sie sofort spürte: Es geschah schon wieder! Drei Mal hatte sie ihn vorher so aufgefunden – und jedes Mal wurde es extremer und sichtbarer. Und als er mit einem Rest von Energie seiner sonst hochsensiblen Antennen für sie und ihre Befindlichkeiten registrierte, dass sein versuchtes Schauspiel aufgeflogen war, ließ er los. Musste loslassen, weil er durch eine übermenschliche, nicht zu beherrschende Kraft zusammengezogen wurde, die alles Blut aus ihm herauszudrücken suchte und seine Muskeln an den Armen, den Schultern und vor allem rund um die nun eingefallene Brust mit solcher Intensität verkrampfte, dass ihm lebensbedrohlich die Luft wegblieb und er sich kaum an der Garderobe festhalten konnte.

Zum Glück dauerte dieser extreme Zustand nur einige unendliche Sekunden, und er schaffte es mit ihrer Hilfe bis zum Sessel im Wohnzimmer.

»Danke, es geht schon wieder«, wollte er mit fester Stimme nicht nur zu ihrer, sondern auch der eigenen Beruhigung sagen, aber er war selbst schockiert über die gekrächzten, schwer zu verstehenden Laute, die ungeformt aus seinem Mund entwichen.

»Danke«, wiederholte er jetzt mit deutlich festerer Stimme, »es geht …« Den Rest musste er schuldig bleiben, denn in diesem Moment löste das Telefon seine Drohung ein und schrillte langgezogen mit ohrenbetäubendem Lärm, schmerzhaft immer wieder von vorn beginnend und sich wie eine überdimensionale Kettensäge ganz tief ins Bewusstsein fräsend bis unmittelbar vor den Punkt der Unerträglichkeit, an dem die Lichter ausgingen.

Als er wieder die Augen aufschlug, sah er in ihr schweißgebadetes, vor Entsetzen fast zur Fratze verzogenes Gesicht, in das umgehend entspannende Hoffnung zurückkehrte. Und hektisch bewegte sie die Lippen dazu und schien etwas zu sagen: »… dir? Hallo Paul, hörst du mich?«

Ja, jetzt hörte er sie wieder, diese Stimme, die er schon immer geliebt hatte und die ihn selbst in ihrer schrillen Tonlage sanft zu streicheln schien. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort, denn je mehr sie ihn wohlig in Worte einhüllte, desto mehr konnte er loslassen und spüren, dass sich ein verhärteter Knoten nach dem anderen langsam auflöste und aus seinem Körper entwich.

Seine Gesichtszüge entspannten sich auffallend, die belebende Farbe kehrte allmählich wieder zurück, und wie zur Bestätigung fand er gleichzeitig auch seine Sprache wieder; was er sagte, entsprach allerdings nicht der Schwere des eben Erlebten: »Alles halb so wild. Danke, das liegt nur an dieser verschleppten Erkältung.«

Er fragte sich, warum das alles schon wieder passiert war, welche Frühboten es gab für solch einen Anfall, und warum er nichts dagegen unternehmen konnte. Er wusste: Im Winter war ihm das noch nie widerfahren. Immer nur an so drückend schwülen Sommertagen, wenn die trocken-heiße Luft und die Mittagssonne normalerweise sofort die leichten Schweißperlen von der Haut brannten. Und ganz sicher hatte es auch mit dem Telefon zu tun. Und während er noch nach einer fadenscheinigen Verbindung zwischen diesen beiden Phänomenen suchte, musste er sich eingestehen, dass er wusste, wo das Problem lag.

Er kannte die Situation nur zu gut, wusste genau, wann alles begann, konnte die Phasen der aufkommenden Angst und das Entstehen der bedrohlichen Verkrampfungen sukzessive und sekundengenau beschreiben. Es war immer derselbe Ablauf, der unwiderstehliche Rückruf in Situationen, die ihm fast den Verstand geraubt hatten und das auch weiterhin taten. Es waren keine furchterregenden Bilder, die sich dann vor ihm aufbauten. Nein, es gab es überhaupt nichts Greifbares, nichts, das man anfassen und im besten Fall einfach beiseiteschieben oder ignorieren konnte. Es war ein sonorer, gleichförmiger Ruf, der von überallher zu kommen schien und kein Ende finden wollte, sondern ihn durch seine träge, aber massive Beharrlichkeit ganz schnell und unwiderstehlich in ein Meer aus Schwarz zog, in dem blitzartig vor Schreck und Todesangst verzogene Fratzen auftauchten und unerkannt wieder verschwanden. Er war sich sicher, dass das die Hölle war. Und sie zu sehen und ihre Existenz zu spüren, war mindestens genauso grausam und zerstörend, wie wirklich in ihr zu sein.

Er dachte an die Zeit, als jeder Tag ein kleines, fröhliches Abenteuer gewesen war. Als die Arbeit Genussmittel gewesen war und jeder Auftrag als Belohnung für die Entbehrungen der letzten Jahre genommen wurde. Es waren die Jahre, in denen Pauls Mutter Ella ihr Lebensziel erreicht zu haben schien und fast nur noch für die Firma da gewesen war. Und obwohl es auch damals Phasen in ihrem nie einfachen Verhältnis gegeben hatte, in denen er seine Mutter entweder aus seinem Leben eliminiert oder sie mit immer wieder aufkommender Wut bekämpft hatte, empfand er längst eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass das Band zwischen ihnen beiden nie ganz zerrissen war.

Ohne Ellas Besessenheit von der Unabhängigkeit von anderen, aber vor allem von Männern, hätte es diesen Erfolg und dieses Unternehmen nie gegeben. Aber auch das Gefühl der Einsamkeit in seiner Kindheit mit für ihn wenig spürbarer Liebe nicht. Sie hatte ihn doch geliebt – oder? Und er selbst? Warum hatte er es ihr nie richtig zeigen können? Durch Ella war er nicht nur auf diese Welt gekommen, sie war die einzige Person in seinem Leben, mit der er immer verbunden, aber selten verbündet gewesen war.

Vor seinem inneren Auge sah er sich und seine Freunde, Bekannten, Nachbarn oder auch Rückkehrer quer durcheinander, mal suchend, dann wieder voll beladen zwischen Trümmern herumstolpernd. Jeder fahndete damals tagtäglich vor allem nach Essbarem und, wenn das erfüllt war, nach einem Hauch von Luxus, der einen Neuanfang und ein besseres Leben versprach, damit man das Alte endgültig wegschließen konnte.

Jeder war auf diese Art und Weise mit sich selbst beschäftigt, jeder – bis auf seine Mutter. Ella passte nicht in die Zeit des Krieges und war auch kurz danach schon wieder in einer ganz anderen Welt, die selbst Jahrzehnte später noch nicht selbstverständlich sein sollte.

Er schloss die Augen und dachte an Ella, daran, wie alles begonnen hatte – mit Ella, mit ihm und mit »Kargemann & Sohn« …

I. TeilDie Sehnsucht nach Weite und Freiheit

1 |Besuch aus der Nachbarschaft

Ella hatte schon sehr früh dagegen angearbeitet, einfach nur eine zu verheiratende und gebärende Frau zu sein, und deshalb auch in den Wirren des Krieges hartnäckig versucht, an ihrer Selbstständigkeit zu arbeiten. Sie stammte aus einer provinziellen Kleinstadt in Schleswig-Holstein am Rande der Geest, nicht mehr weit entfernt vom Beginn der Marsch, wo man »am Morgen schon sehen konnte, wer mittags zu Besuch kam« – wie es aufgrund der unbewachsenen Flachlandschaft in einem Witz hieß, den seine Mutter immer gerne erzählte.

Ihr Vater, der strenge und pünktliche Bahnbeamte Wesselin, hatte seine Enttäuschung darüber, dass er keinen Sohn bekommen hatte, nie verbergen können und sich schon früh aus der Kindeserziehung herausgezogen. Und ihre Mutter, eine liebevolle, fleißige, aber auch wenig gebildete Frau, war mit der aktiven, neugierigen und schwer zu bremsenden Ella bald überfordert und ließ die Kleine schon mit zwölf Jahren ihren Weg selbst bestimmen.

Hungern musste Ella nie, denn Geld kam regelmäßig jede Woche in einer kleinen, abgenutzten Lohntüte aus starkem, braunem Packpapier vom Staatsbetrieb Bahn herein – feierlich und Punkt 18.15 Uhr in die Mitte des runden Küchentisches gelegt, um den sich die Familie zu einem wiederkehrenden Ritual versammelte. Ihr Vater hatte es dorthin gelegt, nachdem er frühestens um 17.57 Uhr und spätestens um 18.03 Uhr, wenn er ausnahmsweise mal durch ein Gespräch einen Moment aufgehalten wurde, sein kleines Bedienstetenholzhäuschen direkt an den Schienen verschlossen hatte, um sich zielstrebig und ohne Umwege auf den 1253 Meter langen (das hatte ihr Vater eines Tages genau und unter Zeugen ausgemessen und damit eine Wette und einen Sack Kartoffeln gewonnen) Heimweg zu machen.

Obwohl nie auch nur ein Pfennig fehlte, setzten sich Vater und Mutter allwöchentlich pünktlich, erwartungsfroh und doch immer wieder von Neuem skeptisch mit einer Tasse Kaffee-Ersatz an den Küchentisch und zählten langsam nach. Dabei in regelmäßigen Abständen ihre Aufmerksamkeit demonstrierend, indem sie abwechselnd wie in einem einstudierten Theaterstück in seltener Einmütigkeit die Augenbrauen hochzogen.

So war die Versorgung auch in diesen letzten Kriegsjahren nie ernsthaft gefährdet, zumal die Wesselins sparsam und zurückgezogen lebten. Und selbst wenn es einmal enger zu werden drohte, bekam Ella davon nichts mit, denn ihre Mutter war eine Meisterin der Improvisation an Herd und Backofen. Ella war das früher nicht aufgefallen, aber je mehr sie aus der Nachbarschaft hörte, dass es dort oft nichts zu essen gab, desto größer wurde ihr Respekt vor den abwechslungsreichen Nuancen einer Mangelernährung, der man den Mangel zumindest in ihrer Familie nicht anmerkte.

Und so täuschte die kleine Ella vorzugsweise am Samstagmorgen gelegentlich Magenschmerzen oder Fieber vor, um nicht in die Schule zu müssen und der Mutter bei den Essensvorbereitungen für das Wochenende zu helfen, immer darauf bedacht, ihr möglichst viele Improvisationstricks abzuschauen. Denn am Sonntag kam regelmäßig Besuch aus der Nachbarschaft, in der sich vor allem die Backkünste der aufrechten und einfachen Frau herumgesprochen hatten.

Diese zwei, drei, sehr selten auch mal dreieinhalb Stunden mit anderen Menschen waren der einzige regelmäßige Kontakt mit dem gesellschaftlichen Leben »da draußen«, wie der Vater immer sagte. Und dafür legte sich die ganze Familie mit großer Hingabe ins Zeug, sodass echte Köstlichkeiten dargereicht wurden, vom frischen Obstkuchen mit einer feinen, leicht festgebackenen Baiser-Schicht über Zitronencreme mit echtem Zitronengeschmack, der aus einer kleingehackten Zitrone rührte, die Mutter Monate zuvor eingetauscht und dann in Öl eingelegt hatte, bis hin zu einem schaumig geschlagenen Nusspudding mit echten Nüssen, der je nach Verfügbarkeit mit ein wenig Schlagsahne veredelt wurde. Das waren nur die absoluten Favoriten Ellas. Das Repertoire – wenn auch meist auf der Basis von vielen Eiern – war riesengroß und schien keine Grenzen zu kennen.

Gesprochen wurde bei diesen Zusammenkünften wenig, alle waren zu sehr mit dem Essen beschäftigt. Und das galt insbesondere für Ella, die schon am Vortag bei den Vorbereitungen mit flinken Fingern und einer noch schnelleren Zunge die Zutaten »testete« und sie erst nach mehrmaliger Überprüfung für die Verarbeitung freigab; und die sonntags bemüht war, das mit Abstand größte Stück oder das vollste Schälchen vor sich stehen zu haben.

Selbst wenn alle Gäste zum Gehen aufbrachen, fand sie nie so richtig Zeit für eine gebührende Verabschiedung, sondern schickte sich zur Freude ihrer Eltern an, den Tisch abzuräumen, immer einzig und allein darauf bedacht, jeden verbliebenen Krümel in ihrem Mund landen zu lassen, wobei sie regelmäßig, wenn keiner im Raum war, wie ein Ameisenbär auf der Suche auch nach dem letzten winzigen Krabbeltier mit der immer breiter werdenden Zunge langsam tastend über die Teller schleckte. Schon deshalb hasste sie Raucher, weil die in Ermangelung eines Aschenbechers im Hause Wesselin ihre kalte Asche auf dem Tellerrand abklopften und damit ihre Nachverwertung unmöglich machten.

Die Folge dieser sonntäglichen Prozedur waren nicht nur leicht abzuspülende Teller, sondern im Laufe der Jahre auch eine sich äußerlich immer mehr verändernde Ella, die anfangs noch ziemlich schnell in nicht erwartete Höhen geschossen war – denn ihre Mutter war nur knapp 1,55 Meter groß geworden –, später aber, als nach oben alles ausgereizt gewesen sein musste, die Breite auffüllte und schon als junges Mädchen sehr massig daherkam. Unansehnlich dick konnte man zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen, das kam später; sondern anziehend wohlgenährt, denn das war in diesen Zeiten eine Rarität, und nicht wenige ihrer Klassenkameradinnen fragten sich, wie die Wesselins zu diesem »Wohlstand« gekommen waren.

Am liebsten wäre Ella schon in diesen Tagen nicht mehr zur Schule gegangen. Aber in den wenigen Sätzen, die ihr Vater mit ihr gesprochen hatte, war ihr unmissverständlich klar geworden, dass er einen Schulabbruch unter keinen Umständen dulden würde. Also hielt sie bis zum Ende der Hauptschule durch.

Eines Sonntags präsentierte sie mit einem satten Grinsen auf dem noch leicht schokoladenverschmierten Mund zu Hause ihre erste eigene Torte. Voller Spannung – und mit leicht knurrendem Magen, denn wegen der großen Aufregung hatte sie kaum etwas naschen können – erwartete sie, dieses Mal sich deutlich im Hintergrund haltend, die Gäste mit ihren Eltern zusammen und war anfangs hocherfreut darüber, dass alle mit demselben Heißhunger aßen wie all die Male zuvor, und dann doch bitter enttäuscht, dass keiner auch nur ein Wort über ihr öffentliches Erstlingswerk verlor.

»Dafür« – das schwor sie sich noch am selben Abend – »sollen sie bezahlen!«; und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Sie nahm sich vor, so bald wie möglich die elterliche Abgesichertheit zu verlassen, um endlich ihr eigenes Abenteuer zu starten und selbst etwas auf die Beine zu stellen: eine eigene Konditorei! Aber das kam doch erst viele Monate später, als sie sich das gedacht hatte, denn mitten in ihre Karriereplanung platzte ein kurzer unerwarteter Wirbelsturm der Gefühle, der Ella fast aus ihrer perfekt geplanten Bahn geworfen hätte.

2 |Bitte nett einpacken

Der »Feger« hieß Heinrich, tauchte kurz, aber heftig auf und war bald auch schon wieder weg, sodass Ella sich später zu Recht fragte, ob das alles ein Traum gewesen war. Traumhaft fing es jedenfalls an. Sie, die täglich ob ihrer Körperfülle verspottet wurde und auch jetzt mit sechzehn noch keinen einzigen, verschlingenden Kuss erfahren und als totale Außenseiterin nicht einmal eine wirklich gute Freundin hatte, versuchte einen Hauch des sehnsüchtig erhofften amourösen Lebensgefühls zu spüren, indem sie regelmäßig auf den fliegenden Märkten in der Stadt unterwegs war, um nachzuschauen, ob nicht bei den immer anzutreffenden Lumpensammlern das eine oder andere verwegene Kleidungsstück aus einer anderen Gesellschaft für sie dabei war. Zweiter oder auch dritter Hand, Hauptsache scharf – und billig, am liebsten in doppeltem Sinne, denn Geld hatte sie nur, wenn Mutter ihr zwischendurch mal etwas für ihre wirklich fleißigen Dienste von dem zusteckte, was sie ihrem Mann unbemerkt hatte abzwacken können.

Aber das war für sie kein Problem, denn zum einen war sie geschickt im Umgang mit Nadel und Zwirn, und zum anderen mussten die spannenden Teile ohnehin nicht perfekt sitzen, was bei ihren Maßen, die man eher als Konfektgröße bezeichnet hätte, sowieso nicht machbar war. Denn zu sehen bekam sie ausschließlich der Spiegel in ihrer Kammer unter dem Dach, dem leider – oder zum Glück – eine große Ecke weggebrochen war. Also versuchte sie, sich so geschickt wie möglich, manchmal mit einigen schwierigen Verrenkungen, davor zu platzieren, um Details, die ihr nicht stimmig erschienen, zu verbergen.

Einmal war Ella besonders lang an einem Stand, der aus mehreren teils schon arg zersplitterten alten Apfelsinenkisten bestand und halbherzig von einem weiträumig übelriechenden Jungspund bewacht wurde, auf und ab gegangen. Sehr unruhig, fast aufgewühlt, denn sie traute sich nicht, nach dem Preis für das Objekt ihrer stetig wachsenden Begierde zu fragen. Es handelte sich um ein schon ziemlich ramponiertes, durchsichtiges Nichts an Unterwäsche, mit einer kleinen süßen Spitze bestickt, die das Einzige war, was den freien Blick auf ihre Scham hätte verhindern können.

Schon der Gedanke daran, um dieses Sündentuch hier öffentlich zu feilschen, ließ ihren Puls so hochjagen, dass ihr die Schamesröte auffällig im Gesicht stand, ohne dass sie überhaupt schon Kontakt zu dem lustlos hinter den Apfelsinenkisten verbarrikadierten Mann aufgenommen hatte. Es bedurfte keiner besonderen Aufmerksamkeit, da hatte der Verkäufer ihr außergewöhnliches Interesse bemerkt. (Oder war er vielleicht gar kein Händler, sondern der Schürzenjäger, der sich dieses aufregende Teil persönlich erobert hatte? Wenn, dann ganz sicher nur mit roher Gewalt!, dachte sie.) Und voller hämischer Freude legte er sofort die an zwei Stellen fast schwarz angegammelten Schneidezähne frei und begann mit einem langgezogenen »Naaaahh!?« zu testen, wie weit er bei ihr gehen konnte.

Ella schenkte ihm keinen »Augen-blick«, sondern heftete ihr Interesse wie versteinert an die immer noch anziehende Ausziehwäsche, ohne ein Wort zu sagen. So peinlich war ihr diese Szenerie, dass sie sich nicht einmal traute wegzulaufen, weil das ihre – wie sie in diesem Moment empfand – abgründigen Gedanken umso eindeutiger für alle um sie herum sichtbar offengelegt hätte. Aber auch so war ihr, als schreie dieses Stillleben all ihre tiefen und stets sorgfältig vergrabenen Gefühle lauthals über den Marktplatz, und unzählige Blicke seien bohrend auf sie gerichtet. Ein Standbild der Peinlichkeit, das plötzlich durch eine wohltuende, unaufgeregte Stimme direkt hinter Ella aufgelöst wurde.

»Könnten Sie die Sachen bitte nett für uns einpacken. Es soll ein Geschenk werden!«, hörte sie eine Stimme von hinten links oben und traute sich noch immer nicht, sich umzudrehen. Keine Frage, das musste ein ziemlich großer Kerl sein, der da einige Zentimeter über ihr sprach. Das wurde jetzt auch durch das prompte Verschwinden des provozierenden Grinsens des Verkäufers deutlich, der augenblicklich begann, die beiden kleinen cremefarbenen Teile mit seinen an einigen Stellen aufgeplatzten, tief verdreckten Händen in einer viel zu großen Tüte aus altem, abgegriffenem Packpapier verschwinden zu lassen. Erst jetzt blickte Ella für einen kurzen Moment hinter sich in die großen, selbstbewussten Augen eines schmalen Gesichts, die sie so selbstverständlich locker anschauten, als würden sie sich schon lange Jahre kennen.

Als der Retter sich gerade anschickte, die verlangten neunzig Pfennig aus seiner klimpernden Hosentasche zu fischen, wehrte sie kurz ab, indem sie ganz schnell und jetzt wieder bestimmt ihre Hand auf seinen Arm legte. Im nächsten Augenblick drückte sie ihrem Gegenüber, der, obwohl er längst aufgestanden war, immer noch nur knapp die Apfelsinenkisten überragte, acht Groschen in die Hand und fügte dabei mit der ihr eigenen Art, eine schwierige Frage als jedermann einleuchtende Feststellung zu formulieren, hinzu: »Das dürfte wohl reichen, bei all den Fehlern, die da noch auszubessern sind!«

Nach einem blitzschnell abschätzenden Blick auf den offensichtlichen Beschützer der jungen Dame akzeptierte der Verkäufer, indem er die Münzen wortlos annahm, und quittierte mit einem nicht mehr so fröhlichen Nicken. Ella war erleichtert, und wie zur Bestätigung ihrer Zufriedenheit über den Verlauf dieser schwierigen Episode atmete sie mit einem kleinen, kaum vernehmlichen Seufzer einmal ganz kräftig durch und bemerkte, wie sich unvermittelt ein Lächeln in ihren Gesichtszügen breitmachte. Sie hatte, was sie wollte. Und was sie noch nicht wusste, aber zu ahnen begann, als der fremde Begleiter keine Anstalten machte, sich von ihr zu verabschieden: Sie hatte noch weitaus mehr, als sie bisher jemals gewollt hatte. »Schöne Sachen, die Sie da entdeckt haben«, schmeichelte er ihr, »und ein guter Handel! Wo haben Sie das gelernt?«

Und wirklich, von Geschäften verstand sie etwas. Handeln, besorgen, tauschen – all das hatte ihr der Krieg als überlebenswichtiges Spielzeug an die Hand gegeben. Und sie hatte gern und viel »gespielt«. Weil sie musste!

Nun war sie wieder die Selbstsicherheit in Person und vermied es, all die Fragen zu stellen, mit denen sie am liebsten herausgeplatzt wäre. So war es an ihm, die Unterhaltung zu befeuern. Offensichtlich war auch er sehr aufgeregt, sonst hätte er sicher nicht ohne Unterlass geredet und erfrischend ungeschickt dabei mit dem Wetter angefangen, das an diesem wolkenverhangenen Apriltag nun wirklich nichts Bemerkenswertes zu bieten hatte. Mit einem bewusst leicht hochnäsigen Lächeln unterbrach sie ihn unvermittelt: »Ich bin Ihnen sehr dankbar für den freundlichen Beistand von eben, aber Sie werden verstehen, dass ich mich mit Männern, die ich nicht kenne, nicht einfach so auf offener Straße unterhalte.«

Er war hellwach und ließ keine Sekunde Platz für weitere Ausführungen ihrerseits, geschweige denn für eine zerstörerische Sprechpause in ihrem nun endlich beginnenden Gespräch, und entgegnete, während er sich ein bisschen übertrieben vor ihr aufbaute, um sich zu verneigen: »Hilling – Heinrich Hilling!«

Es schien, als käme er sich selbst etwas ungelenk vor bei diesem Versuch einer besonders charmanten Geste. Und tatsächlich wirkte er jetzt eher hilflos und unerfahren auf sie. Aber genau dieser Eindruck ließ sie sich öffnen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sie ihm helfen musste. Eine Selbstvertrauen schaffende Rolle, die ihr bisher nicht allzu oft zuteil geworden war; und die sie deshalb dankbar, fast schon ein wenig euphorisch annahm und ausfüllte.

»HaHa«, entgegnete sie und strahlte dabei, was er sofort fälschlicherweise als Lachen auslegte und als Auslachen empfand, wodurch sich eine traurige Linie in seinen Gesichtszügen entwickelte. Diese sichtbare Niedergeschlagenheit gab ihr endgültig den Rest, sodass sie ihn am liebsten hier auf offener Straße an ihre weiche Brust gezogen hätte, die ob ihrer Fülle als sanftes Ruhekissen durchaus geeignet war, um ihn auf der Stelle zu trösten.

»HaHa?! Das steht für Hamburg und für Heinrich Hille!«

»… Hilling!«, wendete er plötzlich wieder munter ein!

»Mein ich ja: Hilling, Heinrich – das kann ich mir gut merken, denn HaHa Hamburg ist meine Lieblingsstadt. Waren Sie schon mal in HaHa?«

»Oh, sehr oft«, entgegnete er und hatte seine Haltung im Nu zurückgewonnen. »Entweder in HaHa oder in HaLü.« Er machte eine kurze künstlerische Pause in Vorfreude auf ein dickes Fragezeichen in ihrem Gesicht.

»Lübeck finde ich auch ganz schön, aber das ist irgendwie genauso provinziell und eng wie hier«, kam es wie selbstverständlich sofort zurück. »Hamburg, da ist immer was los. Das ist Abenteuer, Theater, immer auch ein bisschen Gefahr, aber vor allem Sehnsucht nach Weite und Freiheit!«

Er stand in Flammen! Dieser volle Mund, den er schon die ganze Zeit, während er neben ihr lief, mal nicht nur aus dem Profil in Augenschein zu nehmen versuchte, hatte ihn spätestens mit diesen Worten, die all das versprachen, was er sich in seinen aufregenden Träumen von einer Partnerin mit so manch extremer Überhöhung ausgemalt hatte, wie magnetisch angezogen. Hier spürte noch jemand den anregenden Schmerz des Fernen, vielleicht Unerreichbaren. Hier war noch jemand bereit, Tabus zu ignorieren und selbst bei großer Gefahr einfach weiter nach vorn zu schreiten, um alles kennenzulernen.

Er wollte schon lange raus hier; weiter, einfach weiter, denn das war allemal besser und erträglicher als die Gefangenschaft hier im Kleinstadtgefängnis. Schon oft hatte er Ausbruchsversuche gestartet, allerdings fast immer mit geringem Erfolg – vor allem bei der Arbeitssuche, sodass er hungrig und chancenlos mit noch mehr Ablehnung in diesen zellenartigen, gegen Einflüsse und Entwicklungen von außen nahezu hermetisch abgeriegelten Mikrokosmos zurückkehren musste.

Genau acht Tage lag das letzte Aufbäumen hinter ihm. Da hatte er von einem riesigen Frachtschiff gehört, das voll beladen im Hamburger Hafen erwartet worden war. Das versprach relativ gut bezahlte Arbeit und vielleicht ja sogar eine Heuer für die nächste Reise nach Amerika oder Afrika oder wenigstens nach Liverpool oder Barcelona. Aber als er ausgestattet mit einer kleinen Tasche, die er für solche überfallartigen Verheißungen immer mit den wichtigsten Utensilien wie einem frischen Hemd, Unterwäsche, Zahnbürste, Nassrasierer und vor allem Ausweispapieren gepackt neben seinem Bett liegen hatte, in der großen weiten Welt angekommen war, da war das Schiff längst entladen und gerade im Begriff, mit voll besetzter Mannschaft abzulegen. Voller Verzweiflung hatte er, um wenigstens ein winziges Detail seines Traumes zu erleben, dabei geholfen, die Leinen loszumachen, auch wenn ihn alle anderen etwas befremdlich dabei anschauten.

Er hatte sogar versucht, noch schnell – und wie selbstverständlich dreinschauend – mit auf das Schiff zu springen, das Arbeit, Platz und Leben im Überfluss zu versprechen schien. Aber sie hatten ihn schroff und unter Androhung, ihn in die kalte und arg verschmutzte Elbe zu werfen, zurückgestoßen, ohne auch nur zu fragen, ob er nicht doch rechtmäßig Zugang begehrte. Man konnte ihm offensichtlich ansehen, dass er ein Verlierer war. Jeder schien das zu registrieren, dachte er oft und zog sich an solchen erdrückenden Tagen in sein Ein-Zimmer-Gefängnis am Rande der Kleinstadt zurück. Manchmal tagelang, ohne auch nur eine Kleinigkeit zu essen oder mit irgendjemandem zu sprechen. Entweder, bis die »Krankheit« – wie er es nannte – vorbei war oder die Magenschmerzen durch die Leere, die nicht nur seinem Kopf zu schaffen machte, sondern dann auch ganz real den Bauch erreichte, so unerträglich wurden, dass er sich etwas zu essen besorgen musste.

In so einem Zustand war er heute Morgen aus seinem Verließ gekrochen und hatte in der Dorfkneipe um die Ecke drei fett gebratene Spiegeleier hinuntergeschlungen und als Balsam für die angegriffenen Magenschleimhäute noch einen etwas geschmacklosen Kräutertee hinterhergeschüttet. Das hatte die Lebensgeister in ihm aber nicht wieder wecken können, und so war er ziellos mit leerem Blick einfach immer nur geradeaus gegangen. Ohne es zu merken dahin, wo viele Menschen waren. Und hätte er nicht ganz weit aus einem verborgenen Teil seines Unterbewusstseins die Stimme dieses unverschämten, arroganten Händlers vernommen, er wäre auch an dieser Szenerie wie unbeteiligt vorbeigegangen, immer weiter geradeaus bis zum Horizont oder gegen irgendeine Mauer, die jemand dazwischengestellt hätte.

Das alles erzählte er Ella nicht, denn er war jetzt wie elektrisiert; aufgedreht und überhaupt nicht mehr destruktiv. Diese junge Frau war wie ein Geschenk für ihn, und er war gewillt, das unbedingt anzunehmen. So nahm er all seinen Mut zusammen und lud sie umständlich auf einen Kaffee ein – einen richtigen aus Bohnen aus Übersee!

»Sie müssen mit mir eine Tasse trinken …«, hob er an und wurde von ihr noch vor dem Ende seiner Ausführung jäh unterbrochen: »Ich muss gar nichts – außer jetzt ziemlich schnell nach Hause! Auf Wiedersehen!«, entgegnete sie scharf und so schlagartig, dass er schwer getroffen mit starrem Blick bewegungslos dastand und sie sich entfernen sah.

Als er seine Fassung wiedergefunden hatte, lief er ihr hinterher, sich wieder und wieder entschuldigend, was die Sache nur noch ernster machte, zumal er nicht so recht wusste, was er denn eigentlich falsch gemacht hatte. Unendliche Sekunden lang bekam er nur ihren zornig wippenden Zopf am Hinterkopf zu sehen, bis sie endlich stehen blieb, sich kurz ihm zuwendete und einen vernichtenden Wortstrahl auf ihn abschoss:

»Wenn Sie denken, ich würde mit Ihnen … und vor allen Dingen mit diesem miesen Straßenkindertrick! Sie glauben wirklich, Sie könnten mich mit einer Tasse Kaffee zu sich locken. Entfernen Sie sich bitte unverzüglich – oder ich schreie um Hilfe!«

Das gab ihm den Rest, denn so hatte er das überhaupt nicht gemeint und außerdem musste er durchaus ein wenig vorsichtig sein, da er bei einer Personenkontrolle durch einen der patrouillierenden Polizisten sicher ein Problem bekommen hätte, denn er hatte nicht nur keinen Personalausweis dabei, sondern auch keine Arbeit und hier und da ein paar unangenehme Schulden. Er blieb stehen und sah sie traurig und enttäuscht zugleich mit festem Schritt davonziehen. Trotzdem hatte er so eine Ahnung, dass er nicht klein beigeben sollte. Diese Frau gefiel ihm nicht nur aufrichtig, sie hatte auch etwas, das Geld versprach – und solche Versprechungen hatte er schon immer ernst genommen.

Also folgte er ihr wie ein Detektiv unmerklich, bis sie plötzlich etwas unentschlossen wirkend vor der Auslage einer großen Konditorei stehen blieb und ziemlich traurig und sehnsüchtig all die Leckereien hypnotisierte, die da schon viel zu lang und reichlich derangiert beispielhaft feilgeboten wurden. Er sah, wie sie das Portemonnaie aus der abgenutzten kleinen Handtasche nahm, es öffnete und, ohne hineinzugreifen, mit den Augen den Inhalt zählte und mit dem Ergebnis deutlich unzufrieden war.

Das war seine Chance, das hatte er im Gefühl, und so sprang er mit weiten, schnellen Schritten aus seiner Deckung und begann schon mehr als zwei Schritte von ihr entfernt hastig zu sprechen:

»Ein absolutes Missverständnis! Was Sie mir unterstellen, ist nicht fair und trifft auch überhaupt nicht zu. Ich wollte Sie zu Kaffee einladen … äh … will, aber nicht zu mir nach Hause. Was denken Sie denn von mir!?«

Ja, was dachte sie eigentlich?, schien sie sich tatsächlich zu fragen und antwortete wortlos mit einem langen, musternden Blick, an dessen Ende zu seiner Erleichterung ein feines, verschmitztes Lächeln stand. Er war wieder im Spiel! Und dieses Mal wollte er keine Unterbrechung dulden.

»Ich dachte, wir könnten in ein kleines Café gehen, das diesen Namen wirklich verdient. Nicht so wie dieser ›Schnellimbiss‹, der – das habe ich vor ein paar Wochen schon einmal beobachtet – tatsächlich auch den abgestandenen Kuchen aus der Schaufensterauslage verkauft und auch insgesamt keine wirkliche Qualität zu bieten hat. Und das sieht man doch sofort, dass Sie Qualität zu schätzen wissen. Ich dachte an ein kleines Geschäft drei Straßen weiter. Vielleicht kennen Sie es. Viele Leute halten es für eine dänische Bäckerei, weil an der Außenfront einige der vergoldeten Buchstaben fehlen und so nur BA_KER_I zu lesen ist. Wissen Sie, welches ich meine?«

»Kenne ich nicht, habe aber schon davon gehört. In der Nachbarschaft haben sich ein paar Frauen darüber aufgeregt, dass es doch tatsächlich Menschen gibt, die bei den Dänen kaufen, obwohl es den hiesigen Bäckern nun wirklich nicht gut geht! Das finde ich aber auch, um das gleich mal klarzustellen!«

»Aber das ist doch das Ungerechte. Die meisten wollen die Wahrheit gar nicht wissen. Das Geschäft gehört seit zwei Wochen einer alten Dame, die ich noch von meiner Mutter aus der damaligen Nachbarschaft kenne. Sie ist in Gnutz auf dem Land mitten in Schleswig-Holstein geboren und dort auch aufgewachsen. Das liegt nur 25 Kilometer von hier in der Nähe von Nortorf, wenn Ihnen das etwas sagt. Und hat überhaupt nichts mit Dänemark zu tun. Sie ist seit dem Tod ihres Mannes vor knapp zwei Jahren nur ganz allein und versucht mehr schlecht als recht, irgendwie über die Runden zu kommen. Aber ihre Kuchen sind absolut einmalig! So gut kann niemand sonst backen!«

Das war der entscheidende Satz, der sie endgültig provozierte, auf dieses eigentlich unschickliche Angebot einzugehen. Das wollen wir doch mal sehen, ob niemand so großartig backen kann, dachte sie und hatte die richtige Antwort natürlich auch schon parat – hielt sie aber vorläufig sogar sich selbst gegenüber noch zurück.

»Was verstehen Sie denn schon von Kuchen?! Sie sind wahrscheinlich doch eher der Schwarzwälder-Kirsch-Experte, wenn der Alkohol so richtig durchsuppt!?«

Rumms – das saß! Das war natürlich gemein und, wenn sie ehrlich war, auch total verletzend, sodass sie prompt ihre unangemessene Härte bereute. Aber im Grunde hatte er sie ja verletzt, indem er daran zweifelte, dass niemand – also auch sie nicht! – besser backen könnte als die »Provinzholsteinerin«. Dennoch begann sie nun ein bisschen provokant ironisch zu lächeln, um ihre Überreaktion leicht kokett abzumildern. Und er – im ersten Moment sichtlich geschockt und wie vor den Kopf gestoßen, dass sie ihn für einen alkoholabhängigen Banausen gehalten hatte – nahm diese kleine Geste voller Glück nur allzu gern an und nutzte die Gelegenheit sofort, um sich ihr zu nähern.

Schnell, aber weiterhin äußerst vorsichtig, denn er wollte diese Chance nicht gleich wieder verspielen, ergriff er ihren Arm und drehte sie geschickt in die entgegengesetzte Richtung, um sie ohne weitere Umwege und vor allem neue Diskussionen zu dem Café zu führen. Der Weg dorthin war nicht weit, und das war gut so. Denn er traute sich kaum etwas zu sagen beziehungsweise ein anderes Thema anzufangen, aus Angst, er könne schon wieder etwas Falsches sagen. Denn dass er sie provoziert hatte, das war ihm nicht entgangen. Nur – wodurch? Er konnte es sich nicht erklären.

Als sie wenige Minuten später in dem schmucklosen Café in der Gärtnereistraße ankamen, flog ihnen schon ein kräftiger und verlockender Kaffeegeruch entgegen. Und wenn Ella bisher noch berechtigte Zweifel gehegt hatte, ob sie gerade das Richtige tat, jetzt gab es kein Halten mehr. Sie war allein durch dieses Verwöhnversprechen, das ihre Nase umschmeichelnd durch die gesättigte Luft waberte, wie magnetisch angezogen in das Lokal vorangeschritten und zielstrebig auf die Auslage mit all den auch optisch fein arrangierten Leckereien zugesteuert.

Eine Torte schöner – nein, erhabener! – als die andere. Tatsächlich auch eine Schwarzwälder Kirsch, auf die sie sofort zeigte und ihm dazu noch einen gespielt strafenden Blick zuwarf, um ihn aber augenblicklich fröhlich anzulachen. Sie verspürte Glück! Und gleichzeitig war sie auch ein wenig betrübt darüber, dass sie sicher nicht all diese Kunstwerke – denn genauso sahen sie aus – probieren und fachmännisch Schicht für Schicht auf ihren Inhalt würde überprüfen können.

»Welches Stück möchten Sie?«, fragte Heinrich, der ihre Wandlung – und damit auch die Verbesserung seiner Chancen – registriert hatte.

»Ich nehme eine Lübecker … nein, lieber die Schokoladen-Nougat-Schaum-Torte … oder … was nehmen Sie denn so?«, versuchte sie mit der Gegenfrage erst einmal Zeit zu gewinnen für ihre schwere Entscheidung.

»Och, ich bekomme ja täglich die Schwarzwälder Kirsch!«, entgegnete er spontan humorvoll mit einem breiten Siegerlächeln, »immer gleich zum Frühstück.« Und das gefiel ihr so, dass sie für einen kurzen Moment seine Hand berührte und ihn dabei glücklich anstrahlte wie bei einem Paar, das sich schon länger kennt und manche Spitze mit einer vertrauten Geste glättet.

»Nein, ich mag Torten mit Alkohol gar nicht«, beteuerte er ehrlich. »Ich liebe – und das ist zugegebenermaßen etwas gewöhnlich – die Buttercreme!« Treffer! Das war auch schon immer einer ihrer Favoriten. Aber es war wirklich alles andere als außergewöhnlich, und deshalb entschloss sie sich jetzt doch für Schokoladen-Nougat-Schaum. Und sie traute sich jetzt – so groß war ihre Neugier – und bestellte ein zweites Stück mit Rhabarber-Baiser gleich dazu. Denn Rhabarber hatten sie selbst im eigenen Kleingarten angepflanzt, und so gab es jedes Jahr die vielgepriesene Rhabarber-Torte bei ihnen zu Hause. Aber noch nie hatte sie die Kombination mit Eischnee selbst hergestellt. Das musste sie testen.

Einen Augenblick später hatten sie auf abgewetzten Eichenstühlen mit viel zu dünner und an diversen Stellen leicht ramponierter Polsterung Platz genommen. Heinrich begann sofort, ihr Komplimente zu machen, denn das hatte noch nie geschadet. Und er war voller Motivation nach dem verheißungsvollen Verlauf ihrer so kurzen Bekanntschaft, seine Chance noch heute zu nutzen.

Nach einem noch verhaltenen »Es ist so schön, hier mit Ihnen zusammen zu sitzen«, das sie auch mit einem leicht fragenden Blick etwas verunsichert quittierte, nahm er seinen gewachsenen Mut zusammen und ging endgültig in die Offensive: »Wollen wir uns morgen wieder hier treffen? Oder vielleicht treffen wir uns vorher bei mir und gehen dann gemeinsam hierher. Ich wohne gar nicht weit entfernt in der Samsongasse.«

Sie nickte kurz und abwesend, denn sie hatte seine Worte gar nicht wahrgenommen, weil in diesem Moment die sehnsüchtig erwartete süße Fracht heranflog, was er wiederum anfangs nicht registrierte, weil er so euphorisch war, dass sie nicht Nein gesagt hatte. Noch ehe die Bedienung auch den Kaffee mit demonstrativer Sorgfalt abstellen konnte, hatte Ella schon das kleine Nougat-Karree, das oben auf dem Tortenstück wie ein triumphierendes Markenzeichen arrangiert gewesen war, mit ihren fleischigen Fingern abgerupft, um es kurz intensiv zu betrachten und dann mit verdrehenden Augen im Mund hin- und herzurollen. »Mmmmmmh!«, entfuhr es ihr voll tiefer Wonne. Sie fühlte sich pudelwohl und sicher hier in diesem Café an der Seite dieses merkwürdigen Mannes, der nun aber so vertrauensselig sprach, als würden sie sich schon Urzeiten kennen. Und nur zu gern war sie bereit, das auch zu glauben. Sie wollte genießen; endlich einmal und ohne Zweifel aufkommen zu lassen.

So trafen sie sich in den nächsten Tagen immer wieder. Aber – darauf achtete Ella penibel mit eingeimpfter elterlicher Wachsamkeit – niemals bei ihm daheim, sondern am liebsten in diesem Café, das so etwas wie ihr geheimes und im wahrsten Sinne des Wortes »süßes« Schlupfloch geworden war und den Status einer Schatzinsel bei ihnen beiden einnahm, die es vor allen anderen geheim zu halten galt.

Als beide sich kurz vor dem darauffolgenden Wochenende wieder zu Kaffee und Kuchen trafen und als sie nun langsam und kichernd sehr vertraut miteinander zur Eingangstür hereinschlendern wollten, da kam es zu einer folgenschweren Begegnung, die mit dafür verantwortlich war, wie sich Ellas Leben weiter entwickeln sollte. Gerade im Begriff, die Treppe zum Eingangsportal zu besteigen, stieß Ella mit einer älteren Dame zusammen und prallte von jener mit solcher Wucht ab, als wäre sie wie eine Billardkugel gegen die elastische Bande geknallt, um nun mit noch größerer Geschwindigkeit unaufhaltsam gegen das nächste Hindernis zu treiben.

Lange war sie nicht diesen willkürlichen Fliehkräften ausgesetzt. Denn Heinrich stand ja genau hinter ihr. Auch er hatte die »Fleischwand mit Hut« nicht wirklich wahrgenommen und war sehr überrascht, dass ihm Ella nun unvermittelt mit großer Heftigkeit am Hals hing. Geistesgegenwärtig sah er seine große Chance gekommen, schlang beide Arme um ihren fast fliegenden, volumigen Körper und fing sie – nicht ohne Mühe, stehen zu bleiben – auf, um ihr spontan einen dicken Kuss auf ihren wohlgeformten und frisch eingefärbten Kirschmund zu drücken.

Ella konnte sich nicht wehren, versuchte nur schnell die Fassung wiederzuerlangen. Denn längst hatte sie im Augenwinkel realisiert, dass die Dame, an der sie so jäh abgeprallt war, eine gute Bekannte ihrer Eltern war, die regelmäßig an den Wochenenden bei ihren Kaffeekränzchen zu Gast war.

»Oooh, Frau Minter, oooh, entschuldigen Sie«, stammelte sie mit hochrotem Kopf und einigen kleinen Schweißperlen auf der Oberlippe, die immer mehr wurden, als sie selbst merkte, dass sie mehr wurden und sich dadurch zu auffällig peinlichen Tropfen versammelten. »Das tut mir aber leid. Ist Ihnen etwas passiert?«

»Keineswegs, mein Kindchen«, gab der verhärmt faltige Mund ihr gegenüber zurück mit dem gequälten Versuch, ein leichtes Lächeln hinterherzuschicken. Aber daraus wurde unverhohlen ein entrüstetes Fragezeichen.

Ella aber antwortete auf diese unausgesprochene Frage nicht. Was hätte sie auch über den Mann sagen sollen, mit dem sie sich so vertraut in der Öffentlichkeit zeigte? In den kurzen Moment der quälenden Stille platzte Heinrich Hilling geistesgegenwärtig hinein, streckte Frau Minter forsch die Hand entgegen und stellte sich schnörkellos namentlich vor. Das nahm der Situation augenblicklich jeglichen Verdacht der Heimlichkeit. Und so ging eine sichtlich beruhigte, aber auch um einen verheißungsvollen Tratsch gebrachte Frau Minter ihres Weges.

Es war dieser zufällige und unverfängliche Vorfall, der Ella dazu brachte, Heinrich zu vertrauen. Von nun an trafen beide sich regelmäßig. Bis HH eines Tages freudestrahlend vor sie trat und ihr feierlich eröffnete, dass er endlich eine feste Arbeit gefunden hatte. Sie freute sich ehrlich und fiel ihm so überschwänglich um den Hals, indem sie sich mit all ihrem angefutterten Tortengewicht komplett an ihn hängte, dass er sich einen Hexenschuss zuzog, der ihn mehrere Tage außer Gefecht setzte.

Trotz der Qualen wollte er die Gunst der Stunde aber nicht ungenutzt verstreichen lassen und fragte mit schmerzverzerrtem Gesicht und dementsprechend reduziertem Pathos, ob sie seine Frau werden wolle. Ella musste nicht lange überlegen. Sie hatte eh keine Alternative und sich schon immer danach gesehnt, dass jemand unbedingt mit ihr verbunden sein wollte. Noch bevor die beiden unter ihrem Gewicht zusammenbrachen, rief sie ein glückliches »Ja« aus.

Erst als sie darüber nachdachte, wie sie es am besten den Eltern vermitteln konnte, wurde Ella klar, dass sie noch nicht nach der Art der Arbeit gefragt hatte.

»Was hast du denn für eine Arbeitsstelle gefunden?«, brachte sie schon etwas skeptisch hervor – zu uneingeschränkt erschien ihr plötzlich ihr neues Glück. Und auch als er anhob zu erklären, dass es ein absolut krisensicherer Job sei, wurde das drückende Gefühl in der Magengegend eher bedrohlicher und schien ihr das Blut aus dem Kopf zu saugen.

»Ich arbeite im Hafen!«, gab er stolz preis und erwartete ungeduldig ihre Nachfrage.

»Im kleinen, unbedeutenden Rendsburger Binnenhafen?«, fragte sie vorahnend.

»Nein, es ist nicht Rendsburg. Ich arbeite in Lübeck!«, triumphierte er. »Bei der Marine – etwas Technisches!« Von Technik verstand sie nichts und wollte es auch nicht. Aber dass Lübeck gefühlt eine Weltreise entfernt lag, das wusste sie. Und als Heinrich ihr – immer noch überglücklich und stolz – eröffnete, dass er bereit wäre, an Bord eines Schiffes in den Krieg zu ziehen, da brach Ella endgültig in Tränen aus.

Erst drei große Tortenstücke und ebenso viele Cognac-Gläser später hatte sie sich mit der neuen Realität abgefunden. Beschwingt und beschwipst schoben sich die beiden gegenseitig zu seiner kleinen Ein-Zimmer-Wohnung und liebten sich in dieser Nacht so oft und intensiv, als vermuteten beide, dass es das letzte Mal sein würde. Am nächsten Tag fuhr Heinrich nach Lübeck, und Ella blieb allein zurück. Ihren Eltern sagte sie erst einmal nichts.

3 |Weit weg

Es dauerte nur wenige Monate, bis für alle sichtbar wurde, dass das ehemalige Nesthäkchen ohne jegliche Herrenbekanntschaften nicht allein geblieben sein konnte. Erst als die fragenden Augen ihrer Eltern immer durchdringender wurden, gestand Ella in einem arbeitsreichen Moment zwischen Tür und Angel, als wollte sie nur baldigen Regen ankündigen, dass sie schwanger war. Ihre Mutter nahm sie wortlos, aber herzlich in den Arm, soweit das bei den ballonmäßigen Ausmaßen, die Ella angenommen hatte, möglich war. Ihr Vater fluchte erst verzweifelt vor sich hin, ehe er sich bemühte, strenge Autorität auszustrahlen und seine Tochter zur Rede zur stellen. »Wer, um Himmels willen … der soll mich kennenlernen!«, stammelte er lautstark, um ein fast kleinlautes »wie denn nur, wann?« nachzuschieben.

Das »Wann« konnte sich der allwöchentlich immer den gleichen Lohn ausrechnende Bahnbeamte Wesselin bald einigermaßen erklären. Wie und auf welchen Wegen seine Tochter einen beziehungsweise diesen ominösen Mann kennengelernt hatte, nicht. Und es kam ihm nie auch nur andeutungsweise zu Ohren, denn Ella zog sich augenblicklich wie eine verschlossene Auster zurück, sobald man sie auf diese ihr offensichtlich unangenehme, aber entscheidende Episode ihres Lebens ansprach.

Ihr Vater hatte nicht nur das ihn beängstigende Gefühl, dass er so gut wie nichts über seine eigene Tochter wusste, sondern fürchtete nun umso mehr, dass der Kontakt abreißen könnte und sie noch mehr Dummheiten machen würde, die die ganze Familie in Schwierigkeiten und Verruf bringen würden. Deshalb beließ auch er es beim Status »heile Welt« und stellte keine weiteren Fragen. Neugierigen Kollegen, Nachbarn oder Bekannten antwortete er nur immer vielsagend nichtssagend mit einem demonstrativ stolzen Lächeln im Gesicht, dass »diese jungen Dinger ja doch machen, was sie wollen« und dass Ella sehr glücklich sei. Und er damit ja auch, »denn das ist ja das einzig Wichtige!« An manchen Tagen fiel ihm das Lächeln dabei so schwer, dass es ihn beinahe ein wenig lächerlich aussehen ließ.

Egal, ob ihm diese verlogene Rolle des stolzen Vaters so bravourös gelang, dass ihm die Zuhörenden bewundernd auf die Schulter klopften, oder, wie er immer wieder auch selbst bemerkte, einfach nur zur bloßstellenden Persiflage missriet, nach solchen Unterhaltungen brauchte er schnell einen Schnaps beziehungsweise »etwas Stärkeres für die Starken«, wie er dann zu sagen pflegte. Wobei er in keinem Fall etwas hätte sagen müssen. Denn entweder dachten die Leute, er hätte es geschafft und sei ein gemachter Vater, dann musste er natürlich einen ausgeben. Oder sie hatten ihn entlarvt und luden ihn aus ehrlichem Mitleid ein, damit er den Frust herunterspülen konnte.

Schnell stellte Wesselin fest, dass Variante eins ins Geld ging und Variante zwei schädlich für die Leber war, weil er sich dabei so klein und schlecht fühlte, dass er mit einem oder zwei Schnaps als Medikation nicht auskam. Alles war umso schlimmer, dachte er, weil er seinen Schwiegersohn in spe noch nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte. Von wegen »der soll mich kennenlernen!« Lange Zeit hatte Ella nicht einmal klar gesagt, welchen Beruf der Vater ihres Kindes ausübte. Geschweige denn, wann und wo er sie endlich heiraten wollte. Erst durch das extrem sensible Nachfragen der Mutter war Ella bereit gewesen zu erklären, warum niemand ihre »amouröse Bekanntschaft« – wie es den Eheleuten Wesselin vorkam – zu Gesicht bekam.

Was zu dem Zeitpunkt, als Ellas Schwangerschaft entdeckt wurde, niemand ahnte: Sowohl ihre Eltern als auch Ella selbst sollten Heinrich Hilling niemals so richtig als ordentliches Familienmitglied kennenlernen! Zwar heirateten die beiden noch auf Druck Ellas, damit alles seine Ordnung hatte, ohne Familie und Freunde in einer so eiligen wie schmucklosen Zeremonie, für die Heinrich Hilling Kurzurlaub bekommen hatte. Und anfangs schrieb er danach auch noch regelmäßig aus Lübeck. Was allerdings genau seine Aufgabe beim Militär war, hatte Ella aus den wenigen, nicht selten etwas anzüglichen Zeilen nie herauslesen können. Nur so viel wurde bald klar: dass er offensichtlich, wie er bei ihrem Kennenlernen behauptet hatte, tatsächlich für die Marine im Einsatz war und tagtäglich harte (und natürlich »unverzichtbare«) Arbeit im Maschinenraum eines Panzerkreuzers verrichtete.

Sie malte sich aus – auch, um sich selbst den Anschein einer intakten Familie mit Vater, Mutter und Kind zu suggerieren und weil es sich deutlich besser anhörte als alles, was sie vermutete –, dass der Vater ihres zukünftigen, gemeinsamen Kindes als viel gefragter Ingenieur in stattlicher Uniform auf dem Schiff für die wirklich wichtigen Lösungen zuständig war. Ansonsten hatte sich Heinrich Hilling nur noch als kurzer Wirbelsturm fieberhafter, einmaliger Emotionen ganz tief verschollen in Ellas Gedächtnis eingebrannt.

Mit zunehmender Schwangerschaft und einem Bauchumfang, der jedem Sumoringer ehrfurchtsvolle Beachtung verschafft hätte, sowie prallen Brüsten, die es sich bräsig auf dem Bauch gemütlich gemacht zu haben schienen, schleppte sich Ella durch die Tage. Besonders, wenn sie aus Versehen beim Suchen nach wenigstens halbwegs passender Unterwäsche in ihrem Schrank auf die Zweiter-Hand-Dessous stieß, die sie an ihrem Schicksalstag mit Heinrich Hilling zusammen auf dem »fliegenden Markt« erstanden hatte, kam es ihr vor, als hielte sie die Romanseiten eines verpfuschten Lebens in den Händen, und aus dem schwerfälligen Stöhnen wurde ein trostloses Schluchzen.

Sie hielt sich mit überschaubaren Gelegenheitsjobs einigermaßen über Wasser, denn von Heinrich Hilling kam nur selten etwas Verwertbares: weder an Gedanken, was eine gemeinsame Zukunft anbelangte, noch an Geld. Er existierte nur noch in diesen unregelmäßig eintreffenden, kurzen Briefen – bis die dann immer weniger wurden und oftmals mit keinem Poststempel mehr versehen waren, sondern von wildfremden Männern überbracht oder einfach in den Briefschlitz der Eingangstür geworfen wurden. Schließlich hörte sie nichts mehr von ihm.

Umso mehr hatte sie versucht, ihm mitzuteilen, dass die Geburt seines Sohnes unmittelbar bevorstand, aber auch darauf keine Antwort erhalten. Dann, ausgerechnet am Tag der Niederkunft – es war der 13. April 1934 – erreichte sie im zentralen Krankenhaus der Kleinstadt eine Nachricht. Es war nicht einmal ein richtiger Brief, sondern nur ein mehrmals mit offenbar ölverschmierten Händen zusammengefalteter Zettel. Als sie ihn mit einer Mischung von Vorfreude und Angst aufgeschlagen hatte, las sie: »Liebe Ella … Es ist eine anstrengende, aber wunderbare Arbeit. Ich habe so viel zu tun. Und fahre oft wochenlang auf den Schiffen der Marine mit raus auf hohe See. Es kann dauern, aber wir sehen uns! HH.«

Ella war wie vor den Kopf gestoßen. Der ersten Beruhigung darüber, dass Heinrich Hilling noch lebte, folgten Enttäuschung und schließlich Wut über diese kurzen, sachlichen Zeilen, die eigentlich nur eines verrieten: Er war weg. Weit weg von ihr. Wahrscheinlich ganz weg! Und das schien er nicht zu bedauern. Sie hätte jetzt betrübt sein oder weinen können oder beides. Nichts dergleichen regte sich in ihr. Als der kurze Zorn verflogen war, empfand sie, was diese Beziehung anbelangte, nur noch eine emotionslose Leere. Sie war entleert von den letzten hauchzarten Gefühlen für den Vater ihres Kindes, der nichts mehr mit dem lebendigen Mann zu tun zu haben schien, der wie eine Gefühlslawine über sie hinweggefegt war. Und gleichzeitig erleichtert um ein zappelndes, 4,825 Kilogramm schweres, lebendes Paket, das nun wohlig schmatzend an ihren molligen Brüsten zupfte, ohne sich dabei allzu sehr verausgaben zu müssen. Ein kurzer Sog reichte, und der warme, weiße Ernährungsstrahl ergoss sich wie von selbst in den zufrieden atmenden »Milchbehälter«, den sie nach dem Namen ihres Großvaters Paul hatte taufen lassen. In diesem Moment fühlte sie sich so lebendig, dass die Zeilen des Briefes aus einer Welt kamen, mit der sie nichts zu tun hatte. Von einem Menschen, mit dem sie einmal zusammengetroffen war, aber realiter nie mehr als eine Liebesnacht und eine schmucklose Hochzeit zu tun gehabt hatte.

Bis in die ersten Kriegsjahre hinein erhielt sie in immer größer werdenden Abständen noch einige wenige »Zettel« von Heinrich. In einem hatte er sich sogar einmal nach dem Befinden des gemeinsamen Sprösslings erkundigt. Ansonsten gab es nichts, was sie Paul von seinem Vater hätte übermitteln können, sodass sie schon bald vermied, überhaupt ein Wort über den »Heini«, wie sie ihn nur noch nannte, zu verlieren. So wuchs Paul isoliert von seinem Vater auf, ohne jede Berührung, Begegnung oder Information. Und doch sollte sich herausstellen, dass es auch ein charakterprägendes Band zwischen einem nicht wirklich existierenden Vater und seinem Kind gibt, selbst, wenn sich beide nur wenige Male in ihrem Leben begegnet sind!

4 |»Mein armer Schatz«

Die ersten Jahre mit dem kleinen Paul vergingen wie im Flug. Dabei waren es schwere Jahre! Kriegsjahre! Auch wenn die Menschen hier im hohen und strategisch nicht bedeutsamen Norden Deutschlands von Bombenangriffen kaum etwas mitbekamen, die Versorgungslage hatte sich schon bald dramatisch verschlechtert. Kein Problem für den properen Paul, seine Zapfsäule sprudelte verlässlich noch nach drei Jahren wie am allerersten Tag. Wenn Ella von etwas im Überfluss hatte, dann war es Milch. Unabhängig davon, wie ihre eigene Ernährung aussah. In dieser Zeit latenten Mangels gab es manchmal nur eine Mahlzeit am Tag, die diese Bezeichnung tatsächlich verdiente.

Immer öfter begegnete Ella auf der Straße Menschen, die sich kraftlos langsam wie in Zeitlupe bewegten und nur noch aus trockener, gestraffter Haut zu bestehen schienen, unter der die Knochen hervortraten. Ein Bild des Jammers! Ganz im Gegensatz zu ihr. Die Kriegs-Diät wider Willen ließ sie strahlender erscheinen als jemals zuvor. Aus dick wurde natürlich nicht schlank, aber wohlgenährt mollig. »Beneidenswert«, wie manch Nachbarin mit ehrlicher Bewunderung auf den seltener, aber weiterhin stattfindenden Kaffeenachmittagen feststellte.

Wobei diese »Kaffeenachmittage« mittlerweile eine ganz besondere Bedeutung erlangt hatten. Hatte sich ihre Mutter in Friedenszeiten bemüht, diese »Torten- und Klatschmesse« möglichst verlässlich jedes Wochenende abzuhalten, so wurde das mittlerweile aufgrund der Versorgungsengpässe immer weniger möglich. Denn das war für sie ungeschriebenes Gesetz: »Wenn es im Hause Wesselin Kuchen und Gebäck gibt, dann immer nur vom Allerfeinsten!«

Und obwohl sie beim Backen eine wahre Künstlerin der Improvisation war, ohne bestimmte Zutaten war dieser Anspruch nicht aufrechtzuerhalten. Deshalb musste sie planvoll haushalten, was ihr wegen ihres unnachgiebigen Regiments in Küche und Speisekammer erfolgreich gelang.

Selbst die von Ella geliebte Buttermilchsuppe mit kleinen, feinen Sagokügelchen, die jetzt ohnehin schon des Öfteren als Hauptmahlzeit für mehrere Tage eingesetzt wurde, musste von nun an ohne die geschmacksgebenden Zimtstangen auskommen. Stattdessen wurden diese zu feinem Pulver gemahlen und mit Puderzucker gestreckt, damit der Geschmack dieses Gewürzes am Wochenende zumindest als dezenter Hauch in der Schlagsahne für die immer noch reichlich angebotenen Gebäckvariationen zu schmecken war. Die Qualität stimmte also weiterhin, weil die Quantität deutlich optimiert worden war. Denn in dieser schweren Zeit gab es die Treffen bei Wesselins nur noch einmal im Monat – jeweils am ersten Sonntag. Guten Gewissens wurde daraus eine gesellschaftliche Institution nach dem Motto, das Mutter Gerda von ihrem Großvater aufgeschnappt zu haben glaubte: »Willst du was gelten, mach dich selten!«

Bald waren diese Nachmittage in der ganzen Stadt bekannt und gleichermaßen beliebt – als Oase der Schlemmerei und als Kommunikationstherapie in Zeiten, in denen es immer seltener die Möglichkeit für lockeren, befreienden Tratsch gab. Aufwendig in der Vorbereitung. Teuer, weil die Zutaten nur mit immer mehr Geld oder zunehmend auch mit Bestechungsgeschenken zu bekommen waren. Andererseits waren diese Tortenschlachten auch sehr einträglich. Denn weil jeder, der einmal dabei gewesen war, wiederkommen wollte und die Kapazität begrenzt und schnell erschöpft war, gab es nun Geschenke von den Gästen. Manche ließen ein paar Groschen da, andere kamen mit Blumen oder brachten selbstgestrickte Schals, Socken und sogar Pullis mit. Und wieder andere, die im Gegensatz zu Gerda und Ella kein Vergnügen am Backen finden konnten oder einsahen, dass sie es nie zu dieser Kunstfertigkeit bringen würden, lieferten die schwer zu beschaffenden Rohstoffe wie Zimt, Kardamom, Safran oder frische Zitronen mit verwertbarer Schale.

So wurden diese »Veranstaltungen« zum Lebensinhalt und -erhalt der ganzen Familie, einschließlich Vater Wesselin, der sich an diesen Tagen vordergründig murrend ins Schlafzimmer zurückzog, weil ihm das schrille Getratsche auf die Nerven ging, der sich aber in Wahrheit darauf freute wie Enkel Paul auf Weihnachten. Denn auch für ihn waren die dargereichten Gebäckvariationen ein wahrer Gaumenschmaus, und zur Belohnung für sein »Verständnis« durfte er sich ohne schlechtes Gewissen oder ständige Vorhaltungen Gerdas den einen oder anderen »Verdauungstrank« , wie er es nannte, genehmigen!

Es war an einem dieser allseits beliebten Schlemmernachmittage, das Haus war gewohntermaßen gut besucht, als es an der Tür klingelte. Das Läuten konnte Ella kaum hören, so laut vertieft betrieben die anwesenden Frauen ihre Gespräche, die auch nicht verstummten, als sie öffnete. Vor ihr stand ein junger Mann in Uniform, der unsicher vor ihr salutierte, kurz den Mund öffnete, als wolle er etwas sagen, ihr dann aber doch nur einen Brief entgegenstreckte. Kaum hatte Ella ihn genommen, verschwand der Soldat grußlos aus dem Türrahmen.

Ella öffnete das Papier und überflog die wenigen, dick gedruckten Zeilen: »Im Namen« … »Adolf Hitler« … »Reich« … »Heinrich Hilling« … »schwer verletzt!« Ella erstarrte! Sie wollte weinen, denn das tut man ja normalerweise in solchen Momenten. Aber sie konnte nicht. Sie hatte in den ersten Jahren schon oft genug manche Träne vergossen, abwechselnd an sich und am Vater ihres Kindes zweifelnd, wenn sie am Ende eines harten Tages den nimmersatten Paul auch nicht mit noch mehr Milch in den Schlaf hatte »tränken« können. Nun belastete es sie, dass sie gar nichts empfand, sondern schon wieder darüber nachdachte, ob der Schokoschichtkuchen heute reichen würde.

Es nützte nichts: Sie musste Bestürzung und Angst um das Leben ihres Mannes vortäuschen, was ihr nicht nur schwerfiel, denn je mehr sie sich nun wieder das Gesicht dieses lebenslustigen Charmeurs ins Gedächtnis rief, desto größer wurde ein Gefühl von Mitleid in ihr! Noch während Ella sich demonstrativ nach Halt suchend dem schmatzenden »Publikum« zudrehte, ließ sie eine dicke, salzige Träne über ihre weiterhin gut durchbluteten Wangen kullern. Mutter Gerda reagierte als Erste, glaubte die geliebte Tochter auffangen zu müssen und geleitete sie auf ihren Stuhl.

Da Ella nicht sprach, entriss sie ihr den Brief und las so laut, dass alle anderen augenblicklich schwiegen und gebannt zuhörten, die entscheidenden Textpassagen vor. Sofort hob erschrockenes Gebrabbel an und füllte den Raum. Und eine wohlgenährte Figur nach der anderen bewegte sich schwerfällig auf Ella zu, um sie in den Arm zu nehmen und ihr Mitgefühl auszudrücken.

Ella schloss die Augen und ließ es einfach über sich ergehen. Sie konnte nicht einmal sagen, wie lang die ganze Prozedur gedauert hatte, aber bald hatte es ihre Mutter geschafft, alle Gäste aus dem Haus zu komplimentieren. »Ich hole Papa«, hatte sie dann gesagt, und Ella wusste, dass es gleich eine Familienrunde Schnaps geben würde. Vater Heinz hatte bereits erkennbar Mühe, sich stabil auf den Beinen zu halten. Aber mit warmer, deutlich vernehmbarer Stimme rief er, sie über die Wange streichelnd, aus: »Mein armer Schatz!« So hatte er schon Jahre nicht mehr zu ihr gesprochen, dachte sie. Seit wann eigentlich nicht mehr? … Es musste so ungefähr seit der Schwangerschaft gewesen sein, fiel ihr ein.

Sie war traurig darüber, aber gleichzeitig auch beruhigt, dass ab jetzt alles wieder wie früher zu sein schien. Jeder bekam nun ein Gläschen Schnaps in die Hand, und alle drei prosteten sich zu, als würden sie auf eine gemeinsame Zukunft anstoßen. Ella wusste nicht, ob sie das wirklich gut finden sollte. Aber sie musste auch nicht allzu lang darüber nachdenken, denn die Frage erledigte sich schon bald von selbst.

5 |Alleinerziehend

Ella machte sich gleich am nächsten Tag auf den Weg nach Lübeck ins Militärhospital. Ein beschwerlicher Weg, denn die Bahnreise wurde durch langes Warten an kleinen, entlegenen Stationen unterbrochen, weil die viel zu vielen Waggons, die sich – wenn sie rollten – mühsam wie Mühlsteine bei fehlendem Wind durch die Geestlandschaft mit Sand, Wäldern und Wiesen arbeiteten, immer wieder neue Güter und Waren aufnehmen mussten. Ein nicht enden wollender Sammeltransport auf dem letzten Weg raus aus einer Welt, die nun von allem befreit wurde, was zu transportieren und zu verkaufen war. Einschließlich der vier Personenabteile, die im Unterschied dazu lebendige Ware wegbrachten.

Es dauerte fast einen halben Tag, bis Ella in Hamburg ankam, von wo sie dann mehr als zwei Stunden später mit einem außerplanmäßigen Zug weiter Richtung Lübeck fahren konnte, das sie am frühen Nachmittag erreichte. Ein reges Treiben erwartete sie hier. Ella war überrascht. Obwohl ein Bombenangriff die Altstadt vor Kurzem schwer getroffen hatte, wuselten die Menschen schon wieder geschäftig hin und her.

Ella fragte sich durch zum Hospital und blieb zweimal andächtig und gedankenversunken vor Schaufenstern stehen. Es waren gleich zwei Konditoreien, deren trotz der schweren Beschädigungen an der Fassade noch vorhandene Auslagen sie in ihren Bann zogen. Die erste etwas heruntergekommen, fast »schnuddelig«, wie Ella das nannte, sodass sie sich fragte, wie es möglich war, dass ein derart vernachlässigtes Geschäft überhaupt Kunden anlocken konnte. Nein, dieser Anblick war nicht schön, und die wenigen Torten, die darin feilgeboten wurden, wirkten nur fettig und übermächtig, was sogar ihr als »Süßschnut«, wie Papa Wesselin sie immer nannte, wenn er gut gelaunt sonntags auf die Kaffeekränzchen und noch freudiger auf seinen quasi verordneten Schnaps wartete, den Appetit verdarb.