Elsa ungeheuer - Astrid Rosenfeld - E-Book + Hörbuch

Elsa ungeheuer E-Book

Astrid Rosenfeld

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Beschreibung

Elsa ist starrköpfig, widerspenstig, verletzlich und manchmal schlicht und einfach ein Biest. Für den Künstler Lorenz Brauer und seinen Bruder Karl ist ihr Name gleichbedeutend mit Schicksal. Doch was ist am Ende stärker – Ruhm? Rausch? Rache? Oder die Liebe? Zärtlich schlägt Astrid Rosenfeld in diesem Roman einen Bogen von einer verrückten Kindheit auf dem Land bis zum Glamour der modernen Kunstwelt.

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Seitenzahl: 283

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Astrid Rosenfeld

Elsa ungeheuer

Roman

Die Erstausgabe erschien 2013 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Illustration von Ben Schonzeit, ›Birdaid‹, 1971

Acryl auf Leinwand, 213 x 213 cm

Copyright © Ben Schonzeit/

www.benschonzeit.com

Für Daniel Keel,

Rudolf C. Bettschart

und Philipp Keel

in Dankbarkeit

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2017

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24294 2

ISBN E-Book 978 3 257 60289 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] IHunde

[7] 1

Für manche Menschen scheint die Erde einfach nicht der rechte Ort zu sein, und meine Mutter Hanna war so ein Mensch.

In dem kleinen oberpfälzischen Dorf, in dem wir lebten, betrachtete man die Sachen nüchterner und nannte sie einfach eine Verrückte. Natürlich äußerte man dergleichen nur hinter vorgehaltener Hand. Aber die vorgehaltene Hand war nicht mehr als eine Geste. Die Worte drangen laut und deutlich an unsere Ohren.

Mit sechzehn hatte Hanna Stimmen gehört. Mit siebzehn durfte sie die Psychiatrie wieder verlassen und mit achtzehn auch die Neuroleptika absetzen. Übrig blieb eine grüne Mütze, die ein Arzt ihr geschenkt hatte. Auch noch zwölf Jahre später thronte sie Sommer wie Winter auf Hannas Haupt. Ein Talisman.

Vor elf Tagen verschwand die grüne Mütze und Hanna Brauer, geborene van Dohl, zog sich eine rosa Unterhose über den Kopf und sprang vom Balkon.

Mein Vater Randolph Brauer vermietete vierzehn Fremdenzimmer, die schönsten im Ort. Unser Haus war fast so etwas wie ein Hotel.

Zum Haus gehörten eine Scheune, ein Stall, eine Koppel, [8] die drei Ponys beherbergte, und ein Garten mit Gemüsebeeten, an dessen äußerem Rand der Mühlbach floss. Eine kleine Brücke, bestehend aus drei dunkelbraunen Holzbrettern und einem wackligen Geländer, spannte sich über den 1,50Meter breiten Bach und verband unseren Garten mit der Hauptstraße.

Im Herbst und im Winter arbeitete mein Vater in der Kartoffelchips-Fabrik, die auf halber Strecke zwischen Dorf und Stadt lag. Im Frühling reisten die ersten Gäste an, und im Sommer platzte unser Haus aus allen Nähten.

Vor vielen Jahren hatten auch Hanna van Dohl und ihr Vater die Sommerferien bei uns verbracht. Herr van Dohl fuhr Ende August zurück nach Den Haag, Hanna jedoch blieb in der Oberpfalz und heiratete Randolph Brauer.

Manchmal sperrte sich Hanna tagelang in ihr Schlafzimmer ein und weinte.

Manchmal überkam sie der Drang, seltsame Dinge zu tun, etwa nackt auf der Brücke zu stehen und unreifes Gemüse in den Mühlbach zu schmeißen. Sie hasste die Ponys und liebte den Esel. Bevor meine Eltern heirateten, hatten die vier Tiere zusammen in der Koppel gelebt, aber Hanna glaubte, dass die Ponys den Esel quälen würden, und bestand darauf, ihn ins Haus zu holen.

Randolph Brauer war ein bodenständiger Fast-Hotelier und Saisonarbeiter, aber mehr als alles andere war er Hannas Mann, und so bekam der Esel ein Zimmer im Erdgeschoss.

Das war noch vor unserer Geburt gewesen. Für meinen älteren Bruder Lorenz und mich war es das Normalste der Welt, dass ein Esel im Haus wohnte. Und niemals hätten wir [9] die Geschichten, die unsere Mutter über die schrecklichen Ponys erzählte, in Zweifel gezogen.

»Sie mögen ihn nicht, weil er anders ist. Als der Esel noch bei ihnen leben musste, haben sie ihn gezwickt, die ganze Nacht. Mit den Zähnen. Wenn er trotz der Schmerzen einmal eingeschlafen ist, haben die Ponys ihm furchtbare Dinge ins Ohr geflüstert und sie in seine Träume geschickt.«

»Was für furchtbare Dinge?«

»Hunde, die nur aus Knochen bestehen und einem bei lebendigem Leib die Nieren rausreißen.«

Oft überlegte mein Vater, ihr zuliebe die drei Tiere abzuschieben. Aber in dem bebilderten Prospekt des hiesigen Tourismusbüros pries man unser Haus als »Ponyhof Brauer« an. Viele Familien mit Kindern verbrachten tatsächlich einzig und allein wegen der zwei braunen und des einen schwarzen Ponys ihre Ferien bei uns.

Hannas toter Körper wurde nach Den Haag transportiert. Seit ihrer Geburt wartete dort in der Familiengruft der van Dohls ein Platz auf sie. Mein Vater fuhr mit dem Zug hinterher und ließ Lorenz und mich in der Obhut unserer Haushälterin Frau Kratzler und unseres Dauergastes Herr Murmelstein zurück.

So wie in anderen Familien hässliche Kuckucksuhren von Generation zu Generation weitergegeben werden und niemand es wagt, das Erbstück trotz seiner Scheußlichkeit zu entsorgen, wurde bei uns Frau Kratzler durchgereicht. Wann Frau Kratzler in den Besitz der Brauers übergegangen war, wusste keiner so genau. Es lebte niemand mehr, der sich an eine Zeit ohne sie erinnern konnte. Frau Kratzler selbst hüllte [10] sich in Schweigen. Ich glaube, einfach nur, um sich interessant zu machen.

Lorenz und ich vermuteten, dass sie eine der ältesten Frauen, wenn nicht sogar die älteste Frau der Welt war. Sollten wir sie eines Tages erben, dann würden wir sie an einen Zirkus oder ein Museum verkaufen.

Als wir Frau Kratzler diesen Plan unterbreiteten, haute sie uns mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Sie haute uns manchmal, oder besser gesagt, sie versuchte es, denn sobald sie ausholte, rannten wir davon. Allerdings hatten wir gedacht, dass ihr die Sache mit dem Zirkus gefallen würde, und so traf uns ihr Schlag unvermutet.

»Lauf, Karl!«, schrie mein Bruder aus dem Fenster. Ich stand im Garten und hatte die Kratzlerin nicht kommen sehen. Dieses Mal drohten mir keine Prügel, sondern der Kamm, den sie in ihrer Rechten hielt.

Nur meine Mutter durfte meine störrischen Haare bürsten, und meine Mutter war seit elf Tagen tot. Etwas, das an das Nest eines expressionistischen Vogelpärchens erinnerte, zierte meinen Kopf. Frau Kratzler hatte panische Angst, dass mich Läuse befallen könnten.

»Schneller, Karl«, rief Herr Murmelstein – das Murmeltier, wie Hanna ihn getauft hatte – aus einem anderen Fenster.

Nur wir vier waren zu Hause, sämtliche Sommergäste spazierten an diesem Julinachmittag durch den Bayerischen Wald oder sonnten sich am Stausee.

»Lauf!«, schrie Lorenz noch einmal.

Ich rannte, so schnell ich konnte. Die Innenseiten meiner [11] speckigen Oberschenkel rieben aneinander, es brannte fürchterlich. Frau Kratzlers Entschlossenheit, meine Haare vor einer Läuseplage zu schützen, verlieh ihr ungeahnte Kräfte.

So hechelten wir durch den Garten, ein dicker achtjähriger Junge und die vielleicht älteste Frau der Welt.

»Lassen Sie doch das Kind in Ruhe, Kratzler, Sie böse Person.« Das Murmeltier und unsere Haushälterin verachteten einander zutiefst und gaben sich wenig Mühe, das zu verbergen.

Das Murmeltier lebte schon seit zehn Jahren bei uns.

Eigentlich hatte er sich damals nur auf der Durchreise befunden, aber dann krachte mitten auf der Hauptstraße ein Kabrio frontal in seinen Opel Admiral, und der Wagen erlitt einen Totalschaden. Das Murmeltier deutete den Unfall als Fügung des Schicksals und blieb in unserem Dorf.

Seither wohnte er in einem Zimmer im oberen Stockwerk, und der kaputte Opel Admiral verrottete in unserer Scheune.

Das Murmeltier war über sechzig, seine Haare grau, und oben links fehlten ihm drei Zähne: der Schneidezahn, der Eckzahn und der daneben. In der Lücke steckte meist ein qualmender Zigarrenstumpen.

Er hatte die ganze Welt bereist und doch nichts von ihr gesehen. Schuld an diesem Versäumnis waren die Frauen. Tausende von Frauen, die das Murmeltier in ihre Schlafgemächer und Hotelzimmer gelockt hatten. Zwischen ihren Beinen vergaß er all die Pläne und Ziele, die ihn einst dazu bewogen hatten, seine Koffer zu packen. Jahrzehnte später kam die Nacht, in der er zwar wollte, aber nicht mehr konnte. [12] Weder die vollsten Lippen noch die geschicktesten Hände brachten seinen Schwanz wieder zum Stehen, und auch kein Arzt. Das Leben verlor augenblicklich seinen Sinn, und so machte er sich auf den Weg zurück zum Ausgangspunkt seiner Reise – einem Ort an der österreichischen Grenze, nicht größer als unser Dorf –, in der Hoffnung, dort seine ursprünglichen Wünsche und Träume wiederzufinden. Getrieben von einer ungeheuren Wut auf alle Weiber dieser Erde, raste er mit 140Stundenkilometern über unsere Hauptstraße. Der Fahrer des entgegenkommenden Autos befand sich, ebenfalls die Geschwindigkeitsbegrenzung missachtend, nach einem Überholmanöver auf der falschen Spur.

Beide blieben wie durch ein Wunder unverletzt.

Es war das ›Internationale Jahr der Frau‹, das Jahr, in dem Bill Gates und Paul Allen Microsoft gründeten, das Jahr, in dem der Vietnamkrieg endete, und laut Berechnung der Zeugen Jehovas das letzte Jahr überhaupt. Aber in unserem Dorf ging 1975 als das Jahr des Unfalls in die Annalen ein. Dafür sorgte mehr noch als das Murmeltier der zweite Protagonist des Geschehens: Viktor Janneck, ein junger Schweizer Privatier. Auch die Überreste seines roten Kabrios Mercedes Roadster 300 SL fanden einen Platz in unserer Scheune.

Viktor verbrachte eine Woche in der Oberpfalz. Am achten Tag verschwand er in einem ADAC-Leihwagen und nahm Mathilde, die schönste Frau des Dorfes, mit. Dass Mathilde Gröhler, geborene Wiesinger, bereits verheiratet war und nicht nur drei Koffer, sondern auch ihre einjährige Tochter im Auto verstaute, bereicherte die Angelegenheit um weitere pikante Details.

Obwohl es nur zwei Augenzeugen gegeben hatte – meine [13] schwangere Mutter, die gerade in dem 40cm tiefen Mühlbach planschte, und Mathildes Mutter Frau Wiesinger, die Wirtin des Jagdhofes –, schilderte jeder Dorfbewohner den Unfall so, als wäre er an diesem Junitag dabeigewesen. Selbst wir Kinder erzählten Jahre später den Sommergästen die Geschichte mit einer solchen Inbrunst, dass sie ständig verwirrt nachfragten: »Und wann war das? Und wie alt bist du?«

Der Versuch, über das Salatbeet zu springen, schlug fehl. Ich stolperte und knallte hin. Mit einem Stöhnen bückte sich Frau Kratzler über mich und zückte den Kamm. Ich war weder schnell noch stark, aber ein Meister im unkontrollierten Wild-um-sich-Treten. Angefeuert von meinem Bruder und dem Murmeltier, strampelte ich, bis die Kratzlerin aufgeben musste.

»Karl, heute Abend gibt es kein Essen. Du bringst das arme Herzjesulein wieder zum Weinen. Ein Junge mit so schlechtem Benehmen, Herr im Himmel.«

Das Herzjesulein weinte laut Frau Kratzler ständig wegen Lorenz und mir. Wir haben ihr das natürlich nie geglaubt. Jemand, der keine einzige Träne vergießt, wenn man ihm einen Haufen Nägel durch die Hände bohrt, fängt ganz bestimmt nicht an zu heulen, nur weil zwei Kinder ein paar Dummheiten machen.

Frau Kratzler warf den Kamm nach mir, er prallte an meinem Rücken ab.

Das Murmeltier applaudierte. »Karl, sie hat kapituliert. Du hast sie kleingekriegt.«

»Kein Essen! Auch für Sie nicht, Herr Murmelstein. [14] Damit wir uns verstanden haben«, brüllte sie zu seinem Fenster hoch.

»Niemand will Ihr Essen, Kratzler«, schrie er zurück, und sein Bass war um einiges eindrucksvoller als ihr schrilles Gekeife.

Lorenz und ich hockten auf dem wackligen Geländer der Brücke und warteten auf das Murmeltier. Die Kratzlerin hatte ihre Drohung wahr gemacht und nicht gekocht. Daher führte uns das Murmeltier an diesem Abend aus. In unserem Dorf gab es eine einzige Gaststätte. Den Jagdhof der Wiesingers auf der gegenüberliegenden Straßenseite. 42Kinderschritte von der einen bis zur anderen Haustür.

»Glaubst du wirklich, dass sie es getan hat?«

Seit elf Tagen spekulierten Lorenz und ich darüber, was mit Hannas grüner Mütze geschehen war, und wir hatten den Verdacht, dass Frau Kratzler sie einfach entsorgt haben könnte.

»Wahrscheinlich«, sagte Lorenz ernst.

»Wie hat sie es wohl gemacht?«

»Nachts. Sie ist ins Schlafzimmer geschlichen, hat die Mütze geklaut und sie im Wald verbrannt.«

Obwohl wir dieses Gespräch in der vergangenen Woche Dutzende Male geführt hatten, hing ich an seinen Lippen. Lorenz war zwei Jahre älter als ich, einen Kopf größer und viele Kilos leichter. Er war mein Beschützer, mein Freund, mein Vorbild. Ein fetter Junge wie ich, der seine Fettheit weder mit Kraft noch mit einem besonderen Talent wettmachen konnte, war das geborene Opfer für den Zorn und die Langeweile der Dorfkinder. Nur meinem Bruder hatte ich [15] es zu verdanken, dass die anderen mich meistens in Ruhe ließen.

47Geweihe, ein ausgestopftes Wiesel und 32Fotografien zierten die Wände des Jagdhofs. Die meisten Bilder zeigten Mathilde. Einerseits empfand die alte Wiesinger eine Wut auf ihre schöne Tochter, die nicht nur ihre Eltern und die Heimat, sondern auch einen gehörnten Ehemann zurückgelassen hatte. Andererseits war sie mächtig stolz auf Mathilde, die sich immerhin einen steinreichen, wohlerzogenen jungen Schweizer geangelt hatte.

Auf jedem der Bilder lachte die Wiesinger-Tochter. Sie lachte in Schwarzweiß, in Farbe, als Kind, als Mädchen, als Braut.

Selbst ihr zweidimensionales, stummes Lachen war ansteckend. Ein Blick genügte, und schon schnellten die Mundwinkel des Betrachters nach oben.

Das Hochzeitsfoto stach mit seinem goldenen Rahmen besonders hervor. Mathildes Kleid konnte nicht verbergen, dass sie bereits schwanger war, als sie Hubertus Gröhler, dem Direktor der Grundschule, das Jawort gab.

Die Braut lacht, der Bräutigam starrt etwas unsicher in die Kamera, und neben ihnen – halb abgeschnitten und trotzdem ganz überflüssig – steht Gustav Gröhler, Hubertus’ Bruder.

Am Stammtisch steckte man die Köpfe zusammen. An der Theke redeten Pfarrer Lübbe und der Dorfarzt Doktor Grievenhast hektisch aufeinander ein. Etwas lag in der Luft. Die sonst so lauten Begrüßungen blieben aus.

Sobald wir saßen, eilte die alte Wiesinger herbei.

[16] »Herr Murmelstein und meine armen, armen Halbwaisen«, seufzte sie und streichelte Lorenz über den Kopf. Ihre Hand wanderte zu meinem Haupt und verkrampfte augenblicklich beim Kontakt mit meinen Haaren. »Haben Sie es schon gehört?«, fragte die Wirtin und wischte sich die Hand an der Schürze ab.

»Was gehört, Frau Wiesinger?«

»Mathilde ist hier.«

»Wo?«, fragten wir drei wie aus einem Mund.

»Bei den Gröhlers.«

»Hat sie den Schweizer verlassen?«

»Herr Murmelstein, wo denken Sie denn hin? Nein, ganz im Gegenteil. Viktor und Mathilde wollen um die Welt segeln. Es geht um das Kind, es wird bei Hubertus und Gustav bleiben. Was soll denn die kleine Elsa auch auf so einem Schiff? Sie werden lange unterwegs sein… ein Jahr, vielleicht zwei.«

Wir gaben unsere Bestellung auf.

»Guten Abend. Darf ich?« Doktor Grievenhast deutete auf den freien Stuhl.

»Natürlich, Doktor.«

»Haben Sie es schon gehört?«

»Mathilde?«

Grievenhast nickte. »Damit wären wir beide die einzigen Männer in diesem Raum, die nichts zu befürchten haben, Murmelstein.«

»So? Was meinen Sie damit?«

»Elsa… Wenn das Mädchen rote Haare hat, weiß doch jeder sofort, wer der Vater ist.« Sein Blick schweifte zu dem rothaarigen Schuster und Sattelmacher Fred Nesshauer. [17] »Oder eine Hakennase wie unser Bäcker oder ein grünes und ein braunes Auge wie der Michi.«

Das Murmeltier legte seine Stirn in Falten. »Alle hier?«

Der Doktor lächelte böse. »Sie kannten unsere Mathilde nicht.«

»Nein, nur flüchtig. Ein paar Tage nach meiner Ankunft fuhr sie ja schon mit dem Schweizer davon.« Das Murmeltier besah sich die jugendliche Mathilde, die, eine schwarze Katze im Arm wiegend, über ihm hing. »Und Sie? Sie haben der Versuchung widerstanden?«

»Natürlich«, sagte Grievenhast ernst.

»Gut für Sie… Oder auch nicht gut für Sie. Wer weiß, was Ihnen entgangen ist.«

»Was wiegt vergangenes Entgangenes gegen einen gegenwärtigen ruhigen Pulsschlag? Wenigstens muss ich mir jetzt nicht die Hosen vollmachen wie alle anderen hier. Außer Ihnen, Murmelstein.«

»Vergessen Sie den Pfarrer nicht… Mit ihm dürften wir immerhin drei furchtlose Männer sein.«

»Sie kannten unsere Mathilde nicht«, wiederholte der Doktor.

»Ich fürchte mich auch nicht«, sagte Lorenz. »Warum soll ich vor einem Mädchen Schiss haben?«

Der Doktor lachte. »Natürlich, und dein Bruder sicher auch nicht.«

Ich schwieg. Ich war mir da nicht so sicher, wenn selbst der Schuster und der Bäcker Angst hatten.

Frau Wiesinger kam mit unseren Getränken. »Seit zehn Jahren habe ich Mathilde und meine Enkeltochter nicht gesehen, und jetzt kommen sie auch noch zu spät. Sie sollten [18] schon längst hier sein.« Die Wirtin knallte die Gläser auf den Tisch. Meine Cola schwappte über.

Dann ging die Tür auf. Gustav Gröhler stand im Raum. Den linken Arm in die Höhe gereckt, ein blutgetränktes Taschentuch um die Hand gewickelt. Schlagartig verstummten alle Gespräche.

»Grievenhast«, rief Gustav und steuerte auf unseren Tisch zu.

Zwei Blutperlen tropften in die Cola-Pfütze.

»Was ist denn passiert? Versuchen Sie, Wölfe zu zähmen?«, fragte der Doktor und besah sich die Fleischwunde.

»Wölfe? Nein. Das war Elsa.«

Ein Schauer durchfuhr meinen Körper. Elsa. Man fürchtete sie also zu Recht. Ich sah Lorenz an, auch er schien beeindruckt zu sein.

Gustav Gröhler, der Bruder unseres Schuldirektors Hubertus Gröhler, war nicht irgendein Mann, er war Sportlehrer am städtischen Gymnasium und Marathonläufer. Muskulös und verdammt schnell.

»Und wo ist meine Tochter?«, fragte die alte Wiesinger aufgebracht.

»Mathilde und Hubertus versuchen, das Ungeheuer aus dem Badezimmer zu locken. Sie hat die Tür verriegelt.«

Während sich immer mehr Menschen um unseren Tisch drängten, entstand vor meinen Augen das Bild des Mädchens, das Gustav Gröhlers Hand zerfetzt hatte: Ihre Eckzähne waren spitz, in den Mundwinkeln klebte Blut. Sie war noch schöner als ihre Mutter. Eine Mischung aus Catwoman, Poison Ivy und ein paar namenlosen Vampirinnen. Sie schlief in Baumkronen und ernährte sich von Hühnern, [19] denen sie bei lebendigem Leibe die Köpfe abriss. Elsa, das Ungeheuer. Lorenz und mich ernannte sie zu ihren Gefährten, und wir drei lebten glücklich zusammen bis ans Ende unserer Tage.

»Dann werde ich jetzt hingehen«, sagte die Wirtin und zitierte ihren Mann aus der Küche. Er nahm den Befehl – kochen und servieren, bis sie wieder da sei – mit einem Kopfnicken entgegen.

Wir alle warteten vergeblich. Weder die alte Wiesinger noch Mathilde noch Elsa tauchten auf. Kurz vor Mitternacht läutete der Wirt die letzte Runde und machte dicht.

Es war die erste Nacht seit Hannas Sprung, in der Lorenz und ich nicht um unsere tote Mutter weinten.

Elsa beherrschte unsere Gedanken.

Es war das erste Mal überhaupt, dass wir das Murmeltier nicht anbettelten, uns eine Weibergeschichte zum Einschlafen zu erzählen. Wir liebten seine Ausführungen über die Schnallen und Büchsen aus aller Herren Länder.

Hanna hatte zum Entsetzen unserer Haushälterin niemals Einwände gegen seine speziellen Gutenachtgeschichten geäußert. Nur bei einem bestimmten Wort, »Fotze«, sollten wir uns die Ohren zuhalten.

Mama bezeichnete das Murmeltier immer als einen Philosophen, Frau Kratzler nannte ihn einen Schmarotzer. Er wohnte und speiste umsonst bei uns, und unser Vater versorgte ihn mit Zigarren und zahlte seinen Deckel im Jagdhof. Als einzige Gegenleistung kümmerte er sich um die Ponys und brachte den Ferienkindern das Reiten bei. Zu wenig in den Augen der Kratzlerin.

[20] »Was tun Sie denn bitte den Rest des Tages?«, schnauzte sie bei jeder Gelegenheit.

»Ich ringe um Erkenntnis. Ich ringe um Erkenntnis.«

Das Murmeltier hatte Lorenz und mir geschworen, dass er uns seine Erkenntnis, sollte er sie jemals erlangen, als Ersten mitteilen würde. Ständig fragten wir ihn, ob es endlich so weit sei.

Nicht in dieser Nacht. Elsa beherrschte unsere Gedanken.

»Ich wette, sie kann gut schwimmen«, sagte ich.

»Wahrscheinlich, aber nicht so schnell wie ich.«

»Meinst du, sie wird uns mögen?«

»Warum soll sie uns nicht mögen?«

»Dich schon, aber mich?«

»Dich auch.«

»Lorenz?«

»Ja?«

»Ich hab ein bisschen Angst vor ihr.«

»Ich nicht.«

Am nächsten Morgen weckten uns das Gekeife der Kratzlerin und das Brummen des Murmeltiers. In Schlafanzügen stürmten wir aus dem Zimmer und rannten die Treppe hinunter. Nicht nur uns hatte das Geschrei aus dem Bett geholt. Im Halbkreis versammelt standen sämtliche Feriengäste und sahen dem Schauspiel zu. In den Hauptrollen: Frau Kratzler und Herr Murmelstein. In der Nebenrolle, stumm und ahnungslos, der Esel.

»Er bleibt hier«, sagte das Murmeltier. »Sie werden nicht das Andenken einer Toten schänden.«

[21] Unsere Haushälterin schüttelte verächtlich ihr Haupt und wollte samt Esel zur Tür hinaus.

»Kratzler, einen Schritt weiter, und ich bringe Sie um.«

»Herr im Himmel, heiliges Herzjesulein, was sind das denn für Reden? Was erlauben Sie sich!«

»Lassen Sie den Esel los. Ich zähle bis drei. Eins…«

»Warum kann das Viech nicht in den Stall zurück, da wo es hingehört…«

»Zwei…«

»Herr Murmelstein, ich arbeite schon mein ganzes Leben lang für diese Familie…«

»Drei.«

Zwischen dem ›e‹ und dem ›i‹ ließ Frau Kratzler die Longier-Leine fallen und betrog das Publikum um einen spektakulären letzten Akt.

Nachdem der Esel wieder sein Zimmer bezogen und das ganze Haus gefrühstückt hatte, packten mein Bruder und ich das erste Mal seit Hannas Tod unsere Schwimmbeutel, um den Tag am Stausee zu verbringen. In der Koppel zeigte das Murmeltier den Ferienkindern, wie man den Ponys das Zaumzeug anlegte, während wir Richtung Hauptstraße schlenderten. »Vielleicht bleiben wir doch hier«, sagte Lorenz, als wir auf der Brücke standen.

»Ja, wir können auch im Mühlbach schwimmen.«

»Genau.«

Man konnte im Mühlbach nicht schwimmen. Nur Hanna hatte es irgendwie fertiggebracht, in dem seichten Wasserlauf ihre Bahnen zu ziehen.

»Wenn sie zum See will oder zur alten Wiesinger, muss sie hier vorbeikommen«, sagte Lorenz.

[22] Elsa beherrschte unsere Gedanken.

Wir hockten uns auf das wacklige Geländer und starrten auf die Straße.

Es geschah nichts.

»Sie wird doch auch mal rausgehen?« Mein Bruder klang genervt.

Eine Weile vertrieben wir uns die Zeit mit Weitspucken und Steinchenschmeißen.

Es geschah nichts.

Allmählich bekam ich Angst, dass Lorenz die Lust verlieren könnte, an diesem strahlenden Sommertag eine leere Straße und den verwaisten Parkplatz des Jagdhofs zu observieren.

Mein Bruder war sprunghaft, man wusste nie genau, wann und warum er einer Sache überdrüssig wurde. Es geschah abrupt, ohne Vorwarnung. Manchmal war es eine Erleichterung. Beim Fußball mit den Nesshauer-Kindern. Drei rothaarige, bösartige Geschöpfe, die mich auf dem Platz foulten, selbst wenn ich in ihrer Mannschaft spielte.

Bei anderen Gelegenheiten stimmte es mich traurig. Im Frühling hatte Lorenz eine Flotte gezeichnet, die selbst die spanische Armada das Fürchten gelehrt hätte. Stolz präsentierte er mir seine Bleistift-Phantasien: »Unsere Fregatten werden niemals untergehen.«

Wir nagelten und hämmerten fünf volle Tage lang. Doch schon unser Prototyp – mehr Floß als Schiff – überlebte seine Jungfernfahrt auf dem Stausee nicht.

»Wir werden den Fehler finden«, sagte ich, als unsere Konstruktion in Einzelteile zerfiel. Aber Lorenz hatte bereits einen Schlussstrich unter unsere Seemachtsträume [23] gezogen. Er nahm meine Hand, und ich folgte ihm widerstandslos.

Natürlich wäre ich ihm auch heute gefolgt, aber sie wog jetzt schon schwerer als alle nie gebauten Schiffe. Elsa beherrschte meine Gedanken.

»Lorenz, schau«, schrie ich. Hubertus Gröhlers grauer Audi steuerte direkt auf den Parkplatz des Jagdhofs zu.

Als Erster stieg Elsas Vater aus dem Wagen. In der Julisonne sah sein dunkler Anzug einfach nur verkehrt aus. Viktor, der Schweizer, präsentierte sich in hellem Leinen.

Ein Lachen, das bis zu uns herüberhallte. Schimmernde Satinsandalen. Makellose nackte Beine. Mathilde. Blassrosa und transparent der Stoff ihres Kleides. Goldblond die Haare, die bis zum Kinn reichten. Die vierte Tür öffnete sich nicht.

Der Jagdhof hatte noch geschlossen. Auf zwei perfekten Fingern ließ Mathilde einen fast perfekten Pfiff ertönen. Oben am Fenster streckte die alte Wiesinger den Kopf heraus.

»Komm.« Lorenz nahm meine Hand.

Während das Trio im Wirtshaus Einlass fand, überquerten wir die Straße.

Nicht einmal mehr fünf Schritte trennten uns von dem grauen Audi, dessen Scheiben die Sonnenstrahlen reflektierten. Ich glaubte einen Kopf und Schultern zu erkennen. Drei Schritte. Lorenz ging voran. Ein Schritt. Er presste sein Gesicht gegen das Autofenster. Ein Knall und noch einer. Elsas flache Hand malträtierte von innen die Scheibe. Lorenz wich zurück. »Blöde Kuh«, rief er so laut, dass sie es durch Blech und Glas hören musste. »Das zahl ich dir heim.« Er reckte seine Faust und spuckte auf den Asphalt. »Komm raus, wenn du dich traust.«

[24] Aber Elsa kam nicht.

»Lorenz?«

»Ja?«

»Wie sieht sie aus?«

»Keine Ahnung.«

»Nehmen sie Elsa wieder mit?«

»Keine Ahnung. Lass uns reingehen.«

Auf dem kurzen Weg bis zum Eingang drehte ich mich mehrmals um, in der Hoffnung, dass sie sich doch noch zeigen würde.

Aber Elsa zeigte sich nicht.

Gelächter und Rauch strömten uns entgegen. Am Stammtisch saßen die Wiesingers und das Trio. Auf halber Strecke zwischen Tür und Tisch blieben Lorenz und ich stehen. Keiner hatte unser Erscheinen registriert.

Neben den früh gealterten Wirtsleuten und dem Schuldirektor mit seiner leidenden Miene, eingehüllt in den ewigen Fett-Schweiß-Bier-Geruch der Gaststube, wirkten Mathilde und Viktor wie eine doppelte, menschgewordene Verheißung. Ein Versprechen, dass das ganze Leben nicht mehr sei als ein riesengroßer Spaß.

»Die Brauer-Kinder. Ja, was macht ihr denn hier? Es ist noch zu.« Die alte Wiesinger hatte uns entdeckt.

Mathilde sprang von ihrem Stuhl auf. »Das sind Randolphs Kinder? Kommt her, ihr zwei.«

Sie umarmte uns, streichelte unsere Wangen und machte uns verlegen. Unter ihrem transparenten Kleid trug sie transparente Spitze. Zweimal nichts. Ich spürte die Wärme ihrer Haut und konnte ihr Parfum riechen.

»Setzt euch, Jungs«, sagte Viktor.

[25] Cola für die armen Halbwaisen. Wermut für die Erwachsenen.

Zwischen den Namen von Weltmeeren und einer Yacht erklang immer wieder Mathildes mitreißendes Lachen.

»Und nach Madagaskar segeln wir auch«, rief sie und leerte ihr Glas in einem Zug. »Wie heißen die Äffchen noch mal, Vicky?«

»Lemuren.«

»Genau. Lemuren. Sie können sich nur im Seitgalopp vorwärtsbewegen. Könnt ihr euch das vorstellen? Das ist doch verrückt.« Mathilde stand auf, zog ihre Schuhe aus und stemmte ihre Arme in die Hüften. »Musik!«, verlangte sie. »Musik!«

Herr Wiesinger schaltete das Radio an. Der Klassiksender spielte gerade Rimski-Korsakows Hummelflug.

Schneller und immer schneller bewegten sich Mathildes Beine. Hubertus betrachtete ihre tanzende Gestalt voller Verwunderung. Als könnte er nicht fassen, dass dies einst seine Frau gewesen war. Und es hatte auch etwas Unvorstellbares: Mathilde und der Schuldirektor, dessen wulstige Lippen das einzig Überschwengliche an ihm waren, während sie nur aus Überschwang zu bestehen schien.

Mathilde verbeugte sich, und wir applaudierten. »Frag, ob sie Elsa mitnehmen, ja?«, flüsterte ich Lorenz zu. Ich hatte das Mädchen draußen im Auto nicht vergessen.

»Ist doch egal«, antwortete er und klatschte weiter.

Cola für die armen Halbwaisen. Wermut für die Erwachsenen. Nur Hubertus verlangte nach Kaffee, schließlich musste er den Schweizer und Mathilde noch zum Bahnhof fahren.

[26] Von dreißig Koffern und einer sechsköpfigen Mannschaft, die in Lissabon bereits die Weltreisenden erwarteten, war die Rede. Von Elsa nicht.

»Mutti, was gibst du mir da eigentlich Schreckliches zu trinken? Mir ist schon ganz schwindelig«, sagte Mathilde mit gespielter Empörung. Die alte Wiesinger verstand das Spielchen nicht und verteidigte – halb verschämt, halb gekränkt – ihren Wermut.

Von Tapiren, Kängurus und Sultanen war die Rede. Von Elsa nicht. Meine Zunge nahm Anlauf, ihr Name kam nicht heraus. Ein gestammelter Halbsatz, den zwei Vulkane, die verbotene Stadt und ein Stern im Norden einfach abwürgten.

Als Mathilde auf die Toilette musste, witterte ich meine Chance. Unter vier Augen würde ich zustande bringen, was mir am Stammtisch misslungen war.

Ich begleitete die vom Wermut leicht wankende Mathilde treppab. Unten auf dem Flur, der eine Tür für Frauen und eine für Männer bereithielt, berührte ich ihren Arm.

»Ja?« Sie beugte sich zu mir herunter.

Mein Mund stand offen. Elsa klemmte in meiner Kehle. Kein Laut drang heraus. Mathilde ergriff das Wort.

»Randolph Brauers Sohn«, sagte sie und strich mir über den Kopf, »das sind ja deine Haare! Ich dachte, es wäre eine Mütze.«

»Meine Mama… Sie… sie hat mich immer gekämmt und jetzt…«

»Ach, du armes Ding.« Mathilde seufzte. »Und dein Vater? Ist er sehr traurig?«

»Er ist in Holland.«

[27] »Ich kannte ihn gut. Ich mochte ihn sehr gerne. Randolph ist einer der wenigen Männer, die ihren Pimmel nie in mich hineingesteckt haben. Du weißt doch, was ein Pimmel ist?«

Ich nickte.

»Der Doktor, weil er nicht konnte, Gustav Gröhler, weil ich nicht wollte, und dein Vater, weil… weil er nicht wollte.«

»Das Murmeltier kann auch nicht mehr.« Elsa zerquetschte meine Stimmbänder.

»Was kann das Murmeltier nicht mehr?«

»Seinen Pimmel wo reinstecken. Die Weiber haben alles aus ihm rausgesaugt.«

»So? Und wer ist das Murmeltier?«

»Das Murmeltier… Herr Murmelstein.«

»Natürlich… Der Unfall. Herr Murmelstein. Er wohnt noch immer bei euch, nicht wahr? Ihm fehlt ein Zahn.«

»Drei Zähne.« Ich holte tief Luft. Jetzt. Jetzt. Jetzt. »Nehmt ihr Elsa wieder mit?«

Mathilde konnte diesen Übergang von versagenden Pimmeln über Zahnlücken hin zu ihrer Tochter offenbar nicht nachvollziehen. »Was meinst du?«

»Elsa… Sie sitzt im Auto, und da dachte ich, dass sie mit euch geht. Mit… Mit aufs Schiff…«

»Oh, nein. Nein. Sie bekommt nur neue Schuhe in der Stadt. Denn meine liebe Tochter hat ihre gestern aus dem fahrenden Zug geschmissen. Alle. Auch die, die sie anhatte.«

Mathildes blaue Augen musterten meinen speckigen Körper und das wuchernde Haarnest. »Elsa kann grausam sein.«

[28] Die Türen des grauen Audis wurden geöffnet. Elsa hatte sich von Kopf bis Fuß in eine braune Decke eingehüllt. Nicht eine Haarsträhne, nicht ein Quadratzentimeter Haut lugten hervor.

»Willst du deinen Großeltern nicht guten Tag sagen?«, fragte Viktor das braune Wollpaket.

»Elsa, du wirst unter der Decke ersticken.«

Schweigen.

»Außerdem stehen hier zwei großartige Jungs. Möchtest du sie dir nicht anschauen?«

»Wir müssen los«, mahnte Hubertus.

Ein letzter Hauch von Mathildes Parfum vermischte sich mit der Sommerluft.

»Gehen wir zum See«, sagte mein Bruder, und ich folgte.

»Elsa, sie…«

»Elsa ist eine blöde Kuh«, unterbrach er meinen Versuch, ihm von der Unterhaltung mit Mathilde zu erzählen.

Ungewöhnlich still verlief der Nachmittag. Lorenz schwamm weit hinaus, während ich auf dem Rücken lag, mich einfach vom Wasser tragen ließ und mir vorstellte, wie Elsa aussah. Auch als wir klitschnass nebeneinander am Ufer saßen, herrschte Schweigen.

Aber auf dem Heimweg konnte ich nicht länger an mich halten. »Elsa bleibt hier. Sie kaufen ihr nur neue Schuhe in der Stadt. Sie hat keine mehr«, platzte ich heraus.

»Ich würde Elsa auch nicht mitnehmen«, war alles, was er antwortete. Die Kälte in seiner Stimme verwirrte mich. Mir war, als ginge ein Fremder und nicht mein Bruder neben mir.

[29] Am Abend erzählte uns das Murmeltier eine Gutenachtgeschichte. Er lehnte am Fensterbrett, und wir hockten aufrecht in unseren Betten. Das Vertraute, das Normale dieser Situation beruhigte mein aufgewühltes Herz wieder.

Das Murmeltier zündete sich eine Zigarre an. »Sechs Tage Pisa. Sechs Tage Concetta.«

»War Concetta die mit dem größten Arsch Italiens?«, fragte ich.

»Genau. Concettas riesiger Hintern. Was hat mir dieser Arsch für Vergnügen bereitet. Und ich wäre auch noch länger als sechs Tage bei ihr geblieben, aber der werte Ehemann kehrte früher als geplant von seiner Geschäftsreise zurück. Merkt euch das: Sie kommen immer früher als geplant zurück. Regen prasselte sanft gegen die Fensterscheiben, und Concetta saß auf meinem Gesicht…«

»Warum saß sie denn auf deinem Gesicht?«, wollte Lorenz wissen.

»Oh, das tun die Weiber gerne. Die meisten trauen sich nicht, aber Concetta…«

»War sie nackt?«, hakte ich nach.

»Natürlich!«

Mein Bruder und ich fanden diese Vorstellung gleichermaßen eklig wie lustig und prusteten los.

»Also, sie saß auf meinem Gesicht«, fuhr das Murmeltier fort, als wir uns wieder eingekriegt hatten, »und man hört nicht viel, eingeklemmt zwischen zwei Schenkeln. Gedämpft drangen ihr Stöhnen und das Trommeln der Regentropfen an mein Ohr. Ein Lied, zu dem meine Zunge tanzte. Und was für ein Tanz, liebe Kinder. Was für ein Tanz! Das Krachen der ins Schloss fallenden Haustür zerstörte die perfekte [30] Harmonie. Ich wollte aufspringen und davonlaufen, aber Concetta gab mich nicht frei. ›Mach weiter… Hör nicht auf. Hör nicht auf‹, flehte sie. Erst als ihr Ehemann im Schlafzimmer stand, ließ sie von mir ab. Er begriff nicht sofort, was er da sah. Ich nutzte sein Zögern, nahm meine Sachen und rannte los. Nackt stolperte ich die Treppen hinunter und glaubte, noch einmal davongekommen zu sein. Zu früh. Concettas winziger Mann – er maß gerade mal einen Meter sechzig – war schneller und stärker, als er aussah. Auf der Straße, genau vor der Haustür, packte er mich und schlug mir ohne Vorwarnung ins Gesicht.« Das Murmeltier deutete auf die Lücke in seinem Mund. »Der Schneidezahn geht auf sein Konto. Wieder holte er aus. Ich duckte mich rechtzeitig und haute ihm mit voller Wucht den Schuh, den ich in meiner Rechten hielt, auf den Kopf. Der kleine Mann sank auf den nassen Asphalt. Ich kontrollierte seinen Pulsschlag. Am Fenster zeigte sich Concetta, das Teufelsweib. ›Ist er tot?‹, rief sie.

›Nein. Nur bewusstlos.‹

›Dann lass ihn liegen und komm wieder hoch, Amore. Nur zwei Minuten. Zwei Minuten.‹

Der Tumult hatte sämtliche Nachbarn herbeigelockt. Und die Herrschaften machten sich ihren eigenen Reim auf das Bild, das sich ihnen darbot. Für sie gab es nur einen Übeltäter – den nackten Fremden auf der Straße. Concetta schloss das Fenster und überließ mich meinem Schicksal. Ich rannte. Ich rannte um mein Leben. Zu Fuß lief ich bis nach Florenz. Ohhh, Florenz…« Das Murmeltier betrachtete die erloschene Zigarre in seiner Hand, zündete sie wieder an und pustete eine Rauchwolke in die Luft. »Kinder, Ohren zuhalten.«

[31] Wir stopften nachlässig unsere Finger in die Ohren.

»Könnt ihr mich noch hören?«

»Nein«, antworteten wir im Chor.

»Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht.«

Er zog kräftig an seiner Zigarre, bevor er loswetterte. »Verfluchte Schnallen! Verdammte Fotzen! Sie haben mir alles genommen. Alles.«

Lautlos formten unsere Lippen seine Worte. Wir kannten sie auswendig, es handelte sich um den immer gleichbleibenden Schlusssatz einer jeden Murmeltier-Geschichte.

»Und jetzt Finger aus den Ohren, das war’s für heute.«

»Und was war in Ohhh-Florenz…«, drängten wir.

»Giovanna – aber davon das nächste Mal.« Er küsste zuerst mich und dann Lorenz auf die Stirn. »Gute Nacht und schlaft schön, ihr herrlichen Kinder. Morgen Abend kommt euer Vater nach Hause.« Er knipste das Licht aus und verließ das Zimmer.

Unsere Betten standen im rechten Winkel zueinander. Auf dem Rücken liegend, konnten wir uns nicht sehen und doch die Nähe des anderen spüren.

Hannas Sprung, Mathildes Lachen und Concettas riesiges Hinterteil wirbelten in meinem Kopf umher. Aber jeder Gedanke zerbarst, bevor ich ihn erfassen konnte, jedes Bild verschwamm, bevor es Konturen gewann.

»Lorenz?«

»Ja?«

»Ach nichts.«

Wir atmeten im Gleichklang. Es roch nach Zigarrenrauch und Kinderschweiß.

[32] »Lorenz?«

»Was ist denn?«

»Elsa«, sagte ich, mehr nicht. Dann stand ich auf und legte mich zu meinem Bruder. Kurz darauf schliefen wir ein.

Am nächsten Tag stieg das Thermometer auf 34Grad. Sämtliche Feriengäste flüchteten, beladen mit Luftmatratzen und Limonadenflaschen, an den See.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Lorenz mir meinen schüchtern vorgetragenen Wunsch erfüllen würde, doch er hockte neben mir auf dem Brückengeländer. Wir schwitzten fürchterlich. Das Rauschen des Baches klang verlockend, ich wollte hinabsteigen und wenigstens eine Minute meine Füße in das kühle Nass halten. Aber dort unten verlor man die Straße aus den Augen, und auf der Straße lag meine ganze Sehnsucht.

Vielleicht war es die Hitze, vielleicht meine angespannten Nerven oder tatsächlich ihre Holzclogs, die den Asphalt zum Vibrieren brachten.

Elsa, ein näher kommender Punkt am Horizont.

Sie ähnelte weder Poison Ivy noch Catwoman, und nichts erinnerte an die goldene Schönheit ihrer Mutter.

Ein kleines Mädchen mit Streichholzarmen. Lange, gelockte braune Haare, glanzlos wie angelaufene Bronze.