Die einzige Strasse - Astrid Rosenfeld - E-Book

Die einzige Strasse E-Book

Astrid Rosenfeld

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Beschreibung

Rachel ist vor einer unglücklichen Liebe aus L.A. geflohen. Travis, dessen zwei einzige Freunde nach Florida gezogen sind, verliert langsam die Kontrolle über seine Gefühle. Stanley, der Trinker, hofft auf seinen Durchbruch als Rockstar. Carol bleibt nach zwei verlorenen Ehemännern nur noch Molly, ihre geistig zurückgebliebene Schwester. Und Greg, der Vietnam-Veteran, teilt sein Leben mit einem Chihuahua-Hündchen, das er im Müllcontainer gefunden hat. Sie alle wohnen in einem kleinen Bungalowpark in Greensville County, Virginia, sie alle sind vom Leben versehrte Menschen, Gestrandete mit wenig Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Dort, wo James B. Morgan ein Hotel errichten wollte, einen Ort der Begegnung und Bequemlichkeit, scheinen die armseligen Behausungen nur von geplatzten Träumen und Enttäuschung zu erzählen. Oder sind auch hier neue Verbin- dungen und Freundschaften möglich, vielleicht sogar Lieben?

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Astrid Rosenfeld

Die einzige Straße

Gatsby

Per le mie sorelle Dagmar e Yvonne

1

»Lupe, Lupe, tanz wie Shakira.« Die Stimme des Soldaten drang durch das kaputte Fenster.

Obwohl niemand Jackie bei ihrem zweiten Namen rief, reagierte ihr Körper. Sie tanzte nicht wie Shakira, sondern erstarrte.

»Jackie, verdammte Scheiße. Hörst du mir überhaupt zu? Ich muss mich auf dich verlassen können, verstehst du?«

»Ja, Papa. Aber …«

»Dann los. In Position«, sagte Stanley.

Jackie zupfte ihren Bademantel zurecht, Stanley nahm den Besen, und Gene, Jackies achtjähriger Bruder, drückte auf Play.

Die ersten Takte von Whitesnakes Here I Go Again schallten durch das Zimmer. Jackie schlug ein Rad, ihre Beine knickten ein. Wenn niemand zuschaute, gelang es ihr immer. Spagat. Das musste sie noch üben.

Stanleys Einsatz war perfekt. David Coverdales Stimme, die aus den Boxen drang, und Stanleys waren eins. »I don’t know where I’m going …«

Jackie rekelte sich auf dem Boden, und in diesem Moment fühlte sie sich tatsächlich wie die schöne Frau aus dem Musikvideo. Hätte ihr Vater jetzt zu ihr hingesehen, wäre er stolz gewesen. Zumindest zufrieden. Jackie kroch auf allen vieren durch das Wohnzimmer, schwang ihr Haar zurück, stand langsam auf. Wild. Sexy. Jeder Mann im Publikum wollte sie, und alle Frauen beneideten sie. Wild. Sexy.

Gene lachte laut. Das dumme Lachen eines kleinen Jungen, und Jackie war wieder nur ein etwas zu dickes, etwas zu großes 13-jähriges Mädchen. Das durchsichtige Kleid nur ein weißer Frotteebademantel. Verschwunden das Publikum. Die Drehung um die eigene Achse misslang. Sie stolperte gegen den Besen, der Stanleys Mikrofonständer darstellen sollte.

»Verdammt«, fuhr er sie an, während David Coverdale weitersang.

Jackie glitt zu Boden. Brücke. Ihre Arme zitterten. Die letzten acht Sekunden. Aufstehen. Ihr Herz raste. Sie schwitzte. Rechtes Bein in die Höhe, linkes Bein in die Höhe. Jackie verlor die Balance, strauchelte.

»Mach aus!«, schrie Stanley.

Gene drückte auf Stopp. Ein paar Sekunden lang war es ganz still.

»Das ist eine Scheißperformance. Eine Scheißperformance, hörst du?«, sagte Stanley.

»Er hat gelacht«, sagte Jackie.

»Was?«

»Gene. Er hat gelacht, und da …«

»Hast du gelacht, Gene?«, fragte Stanley.

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Er hat nicht gelacht. Verdammt, Jackie.«

Gene war ein Arschloch.

»Ich habe gedacht, meine Tochter hat was drauf«, sagte Stanley, »meine Tochter ist ’ne Waffe. Ich will Jackie und keine andere.«

Jackie wusste, dass er Brianna aus Nr. 6 gefragt hatte, aber sie wollte nicht.

Dann hatte er Jackie das Video gezeigt und auf die schöne Frau gedeutet.

»Das bist du«, hatte er gesagt.

Und Jackie war so glücklich gewesen, dass es wehgetan hatte.

»Du musst üben, üben, üben. Denn was wollen wir?«

»Gewinnen«, sagte Jackie leise.

»Genau, und die Zeit läuft«, er sah Jackie an. »Also Besprechung«, sagte Stanley. »Gene, hol die Liste.«

Die Liste lag neben dem CD-Player. Stanley las vor:

»Kleid für Jackie.

Stanleys Haare färben.

Lederhose für Stanley.

Lederweste für Stanley.«

Er sah auf.

»Aber was ist das Wichtigste?«, fragte er.

»Die Performance«, antwortete Jackie.

»Genau. Mit einer Scheißperformance kann man nicht gewinnen, und was wollen wir?«

»Gewinnen«, sagte Jackie.

Stanley ging auf und ab. Von einer Ecke des Zimmers zur anderen. Auf und ab. Das tat Stanley immer, wenn er wütend war. Das hatte er sich angewöhnt, damit er niemandem die Fresse polierte. Früher hatte Stanley ständig jemandem in die Fresse geschlagen. Jetzt lief er auf und ab. Ganz selten knallte er seine Faust gegen die Wand. Vorgestern hatte er die Wand verfehlt und das Fenster kaputt gemacht.

»Wie musst du sein?«, fragte Stanley.

»Anmutig und begehrenswert.«

»Lauter. Wie musst du sein?«

»Anmutig und begehrenswert.«

Auf und ab. Auf und ab.

»Und was müssen die Männer im Publikum wollen?«

»Mich.«

»Und wer bist du?«

»Die Frau aus dem Video.«

»Und was machst du jetzt?«

»Üben.«

»Und warum?«

»Damit wir gewinnen.«

Stanley blieb stehen. Er lächelte.

»Genau. Jackie, wir schaffen das. Wir haben nur noch ’n paar Tage.«

Sie rückten die Möbel zurück an ihren Platz. Stanley ließ sich aufs Sofa fallen.

»Gene, hol mir ’n Bier und mach die Kiste an. Ich muss jetzt ein bisschen entspannen.«

Jackie sah durch das kaputte Fenster, der Soldat saß auf seinem Schaukelstuhl.

2

Rachel parkte den Wagen am Straßenrand. Ihre Haare, das T-Shirt, selbst ihre Haut stanken nach Frittierfett. Sie öffnete die Fenster. Heiße Luft drang herein.

Es war Sommer und die Klimaanlage kaputt. Aber sie wollte noch nicht nach Hause und allein in ihrem Bungalow sitzen.

Rachel weinte. Sie holte ihr Telefon aus der Tasche.

Anrufen. Jordan Slater.

»Diese Nummer ist nicht vergeben. Überprüfen Sie die Nummer oder rufen Sie die Auskunft an.«

Neun Mal hörte sich Rachel die Ansage an.

Dann tippte sie auf den Foto-Ordner.

Alben. J.S.

324 Bilder. Fotos, die sie im Internet gefunden hatte.

J.S. Jordan Slater.

Als er sich an den Tresen gesetzt hatte, war er ein unbekannter Schauspieler gewesen, der auf seinen Durchbruch hoffte, so wie gefühlt jeder Zweite in Los Angeles.

Es war Dienstag, die Bar fast leer. Er bestellte Gin und fragte sie nach ihrem Namen. So fing es an. Die drei anderen Gäste zahlten bald. Nur Rachel und Jordan blieben.

»Ich bin nach Los Angeles gezogen, weil ich am Meer leben wollte«, hatte sie gesagt und gelacht. »Ich wohne in Downtown, das Meer ist weit weg.«

Beinahe hätte sie ihm erzählt, dass sie sich einsam fühlte, aber Einsamkeit war nicht attraktiv.

Und dann hatte er gesagt: »Manchmal fühle ich mich verdammt einsam hier.«

»Ich auch.«

Sie hatten einander angesehen, als hätten sie schon lange nach dem anderen gesucht und ihn endlich gefunden.

Um Mitternacht half er Rachel, die Bar zu schließen.

Hand in Hand gingen sie zu ihrem Auto. Hand in Hand betraten sie Rachels Wohnung.

»Morgen fahren wir ans Meer«, hatte Jordan gesagt und seine Telefonnummer auf einen Zettel gekritzelt, noch bevor sie ins Bett gingen.

Sie schliefen nicht miteinander, er war zu betrunken. Aber er hielt ihre Hand. Er atmete gleichmäßig, die Augen geschlossen. Rachel fühlte sich lebendig. Als sie aufwachte, war er weg. Die Luft im Zimmer stickig. Gin, Schweiß und der Atem zweier Menschen. Rachel sah auf die Uhr, es war kurz nach acht. Sie öffnete die Fenster. Auf dem Küchentisch lag der Zettel mit seiner Nummer.

»Das ist die Mailbox von Jordan Slater. Nachrichten nach dem Beep.«

Sie sagte nichts.

Dann schrieb sie:

Fahren wir ans Meer?

Rachel.

Sie wartete, trank Kaffee. Wartete, duschte, schminkte sich. Wartete, packte Handtuch und Badeanzug in eine Tasche. Wartete. Sie trank eine halbe Flasche Wein. Und dann wurde es dunkel. Und dann war es Nacht.

Rachel wartete drei Monate, sie schrieb 146 Textnachrichten, hinterließ 35 Sprachnachrichten und googelte seinen Namen Hunderte Male. Er hatte in zwölf Kurzfilmen, zwei Horrorfilmen und einem Musikvideo mitgespielt. Auf Youtube fand sie einen der Horrorfilme. Haus der Rache. Ein Mann lockt Studenten in sein Haus und quält sie zu Tode. Jordan Slater war das erste Opfer. Spike, ein Jurastudent. Sechs Minuten bis zu Spikes Tod. Ein einziges Mal hatte sich Rachel den ganzen Film angesehen. Denn in Horrorfilmen können Tote zurückkehren. Spike kehrte nicht zurück. Sechs Minuten Haus der Rache. Immer und immer wieder.

Jede Nacht, wenn Rachel allein in ihrem Bett lag, stellte sie sich ihr Wiedersehen vor. Sie würden einander gegenüberstehen und sich ansehen, als hätten sie lange nach dem anderen gesucht und ihn endlich wiedergefunden.

A Postcard From Vietnam – Sein Gesicht auf einer Plakatwand. Der Independent-Film wurde zum Box-Office-Erfolg und Jordan zum Publikumsliebling.

Rachel las jedes Jordan-Slater-Interview. Las, dass er und seine Freundin seit fünf Jahren zusammen waren, dass sie bald heiraten würden. Las, dass das Paar ein Haus in West Hollywood gekauft hatte.

Rachel trug ein weißes Kleid, als sie über die Sandsteinmauer kletterte.

Sie stand in seinem Garten, und er stand ihr gegenüber. Die Alarmanlage heulte.

»Ich bin’s, Rachel«, sagte sie. »Wann fahren wir ans Meer?«

Er sah sie an, so als ob es ihre Nacht nie gegeben hätte.

Wie das Foto in sämtlichen Magazinen gelandet war, wusste Rachel nicht.

Jordan Slaters Stalker (Rachel M.) verhaftet.

Zwei Polizisten und sie in dem weißen Kleid. Sie sah aus wie eine Verrückte.

Rachel packte ihre Sachen und fuhr 35000 Kilometer.

»Suchst du einen Job?«

Sie hatte den Aushang in dem Diner gelesen.

»Ja.«

Hier in Greensville, Virginia, erinnerte nichts an Los Angeles. Niemand kannte sie.

3

Greg hatte das Chihuahua-Hündchen in einem Müllcontainer gefunden. Eine braune Papiertüte mit der Aufschrift Lupe’s Tortillas klebte an seinem blutverkrusteten Fell.

Sechs Tage lang lag Lupe zusammengerollt auf Gregs Schoß und weigerte sich zu essen.

Greg hatte es mit Hundefutter, mit frittiertem Huhn, Hotdogs, Joghurt, Erdnüssen und Tacos versucht.

»Du wirst sterben, Lupe«, sagte Greg. »Vielleicht hätte ich dich einfach verrecken lassen sollen.«

Er hielt ihr ein Stück Burger vor die Schnauze.

»Du stiehlst meine Zeit, verdammter Hund. Glaubst du, ich habe nichts anderes zu tun? He?«

Greg hatte nichts anderes zu tun.

Vor 47 Jahren war er nach Kansas zurückgekehrt. Ein Purple Heart auf der Brust. Sein rechtes Ohr und etwas anderes, wovon er nicht mehr genau wusste, was es war, waren in Quang Nam geblieben.

Alles, was Greg hatte, alles, was er geben konnte, war Zeit. Niemandem schien Gregs Zeit zu genügen. Sie wollten seine Liebe, seine Aufmerksamkeit, seine Meinung, sein Interesse, seine Zuneigung.

Sie wollten den alten Greg. Aber den alten Greg gab es nicht mehr.

Sie wollten dem neuen Greg helfen, den alten Greg wiederzufinden. Sie verstanden nicht, dass manche Dinge für immer verloren blieben. Ein Ohr, etwas Namenloses, das einmal ein Teil von ihm war, drei Marines …

Und dann hielt Greg es nicht mehr aus. Er verließ das Haus, in dem er lebte, die Frau, die ihn liebte, und den Job, den er hasste. 76 Dollar in der Hosentasche und ein Purple Heart auf der Brust.

Er trampte von Kansas nach Missouri. In Missouri arbeitete er in einer Reinigung. Er wurde gefeuert, weil er zu oft betrunken erschienen war. Von Missouri trampte er nach Kentucky. Arbeitete auf dem Bau, trank zu viel, brach sich die linke Hand. Weiter nach Ohio. In Dayton, Ohio, setzte er sich auf die Straße. Er trank, tat nichts anderes. Schlaganfall. Sirenen. Krankenwagen. Ein paar Tage lag er im Krankenhaus, dann brachte man ihn in ein Obdachlosenheim. Vollgestopft mit stinkenden Männern. Da wollte er nicht bleiben. Hunderte Meilen trampte er. Drei Monate saß er in Pennsylvania im Gefängnis, weil er angeblich versucht hatte, ein Auto zu stehlen, dabei hatte er sich nur reingesetzt, um zu schlafen. Nach dem Gefängnis kamen die Hämorriden. Sein Arsch tat weh. Er konnte nicht mehr sitzen. Er kniete, es sah aus, als ob er beten würde. Tagein, tagaus. In seinen Knien sammelte sich Wasser. Er trank noch mehr. Er trampte von Pennsylvania nach Virginia. Sein Körper fühlte sich an wie eine einzige Wunde. Greg war müde. Er konnte nicht mehr auf der Straße sitzen oder knien. Er brauchte ein Zuhause.

»Es sollte ein Hotel werden«, hatte James B. Morgan gesagt und auf die Bungalows gedeutet.

»Und dann?«, hatte Greg gefragt.

»Manchmal muss man Kompromisse machen«, hatte James gesagt.

Die Miete war niedrig. Der Wohlfahrtscheck reichte. Ein paar Möbel standen in dem Bungalow, der an die Hütte des kleinen Schweinchens Pfeifer erinnerte. Das dumme Schweinchen, das sein Haus aus Holz gebaut hatte.

 

»Du wirst sterben«, sagte Greg und legte den Burger beiseite.

Das Radio spielte die fünfhundert besten Songs der letzten zehn Jahre. Lupes Atem rasselte.

»Verdammter Hund … stiehlst meine Zeit … hätte dich verrecken lassen sollen.«

Bei Platz 473, Linkin Park, What I’ve Done, schlief Greg ein. Er träumte von Vietnam, so wie jede Nacht. Und jede Nacht starben drei Marines, deren Namen und Gesichter Greg längst vergessen hatte. Nur die Bilder ihrer Körper, die zusammen mit Gregs rechtem Ohr in Quang Nam zerfetzt worden waren, hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt.

Greg schreckte hoch, sein Herz raste. Schuld war nicht ein vergangener Krieg, sondern Lupe. Sie lag nicht mehr auf seinem Schoß.

»Lupe!«, schrie er. »Verdammter Hund.«

Und dann lachte Greg vor Freude. Freude, die der Soldat schon lange nicht mehr empfunden hatte.

Lupe stand auf ihren Hinterbeinen und drehte sich im Kreis, während Shakira sang.

Als der Hund seinen Tanz beendet hatte, sprang er auf den Tisch. Lupe fraß. Jetzt sah sie aus wie ein Wolf und nicht wie ein Chihuahua, den ein achtloser Mensch einfach in den Müll geschmissen hatte.

Am nächsten Tag trabte das Hündchen hinter Greg her. Es war heiß. Greg setzte sich auf den Schaukelstuhl, der vor seinem Bungalow stand. Das Hündchen wedelte mit dem Schwanz. Greg nahm das Purple Heart von seiner Brust. 47 Jahre lang hatte er es getragen.

»Lupe, Lupe, tanz wie Shakira.«

4

Stanley ließ sich ins Bett fallen und zerrte an der Decke. Hätte Diane schon geschlafen und würde nicht nur so tun, wäre sie jetzt aufgewacht. Er bemühte sich nicht einmal, leise zu sein. Hatte er nie, und sie hatte sich nie beschwert. Wenige Minuten später schnarchte Stanley. Sein Atem roch nach Bier, nach Zigaretten, nach schlechten Zähnen. Das tat er schon lange. Es hatte sie nie gestört.

Diane berührte Stanleys Hand, ganz leicht. Aber sie empfand nichts.

Erinnere dich, Diane, erinnere dich, dachte sie.

Sie war sechzehn gewesen, Stanley zwei Jahre älter und der Leadsänger einer KISS-Coverband. Sie lernten sich in einer Garage kennen, die als Proberaum diente. Stanley reichte ihr eine Flasche Jack Daniel’s. Ihre Hände berührten sich.

Die Band trennte sich. Diane und Stanley heirateten.

Ihre erste gemeinsame Wohnung: ein Zimmer mit Wasserschaden und ohne Kühlschrank. Sie zogen 34-mal um. Hatten unzählige schlecht bezahlte Jobs.

Manchmal hatte Diane Angst vor der Zukunft, aber sie musste nur seine Hand berühren und die Angst verschwand. Sie liebte Stanley, jeden Tag, jede Minute.

Wenn Stanley wütend war, schlug er gegen Wände.

Wenn Stanley wütend und betrunken war, schlug er Menschen.

Stanleys Wut machte Diane Angst, aber sie musste nur seine Hand berühren und die Angst verschwand.

Dann wurde Jackie geboren. Jackie Lupe. Lupe nach der Geliebten von Dianes Großvater. Diane kannte die Geliebte nur aus Erzählungen:

»Lupe war stärker als zehn Ochsen. Hat ’nen Esel auf ihren Schultern durch die Blue Ridge Mountains getragen. Hat man ihr nicht angesehen. War nicht besonders groß, war dünn wie ’n Stock. ’N Gesicht wie ’n Engel, aber war se nicht. Hat drei Männer abgeknallt. Hatten’s verdient.«

»Wo ist sie jetzt?«, hatte Diane gefragt.

»Wer weiß. So jemanden kann man nicht halten. Lupe macht, was sie will.«

Dianes Vater hatte behauptet, dass der Großvater Schwachsinn erzähle. Diane glaubte ihrem Großvater. Und als sie ihre Tochter in den Armen hielt, sagte sie zu Stanley: »Ich möchte sie Lupe nennen.« Weil sie sich wünschte, dass ihre Tochter stärker als zehn Ochsen sein würde, dass sie Männer, die es verdienten, abknallen und immer machen würde, was sie wollte.

Stanley hatte gesagt, dass »Lupe« nach mexikanischer Nutte klang. Jackie, hatte er gesagt. Sie solle Jackie heißen.

Sie einigten sich auf Jackie Lupe.

Dann kam das zweite Kind. Sie nannten ihn Gene, nach dem KISS-Bassisten Gene Simmons.

Das Geld blieb knapp. Das Leben war nicht einfach, aber Diane liebte Stanley, jeden Tag, jede Minute. Wenn die Sorgen zu groß wurden, musste Diane nur Stanleys Hand berühren.

Dianes Vater hatte gesagt, dass sie es bereuen würde. Dass Stanley ein Verlierer sei. Dianes Mutter war schon seit einigen Jahren krank, als Diane und Stanley heirateten. Sie schien nicht einmal mehr zu wissen, dass sie eine Tochter hatte.

Diane stand auf, leise, um Stanley nicht zu wecken. Vorbei an der Tür zum Kinderzimmer, das sich Gene und Jackie teilten. Ein Etagenbett. Jackie schlief unten, der Junge oben. Unter dem Bett Kisten mit Anziehsachen, da in dem Zimmer kein Platz für einen Schrank war.

Wenn Jackie noch größer und dicker wird, passt sie nicht mehr in die Dusche, dachte Diane.

 

»Es ist wirklich ein richtiges Haus«, hatte Diane damals gesagt, als sie einzogen. »Zwei Zimmer, Wohnzimmer, Küche, Bad.«

Wie winzig die Räume waren, hatte sie nicht bemerkt.

Es war ein Paradies, verglichen mit früheren Unterkünften. Wohnungen mit pappdünnen Wänden, ranzigen Teppichböden. Kakerlaken. Und draußen heulten ständig Polizeisirenen.

Hier konnte man am Tage Vögel zwitschern hören und in der Nacht seine eigenen Gedanken. Die sechs Bungalows standen auf einem Grundstück, das an einen Wald grenzte.

Diane öffnete die Tür, sie setzte sich auf einen der Plastikstühle, die vor dem Bungalow standen.

Erinnere dich, dachte sie.

5

Molly schlich in die Küche. Auf Zehenspitzen, ohne das Licht anzuschalten. Ihre Hände waren feucht. Sie horchte. Alles war still. Vorsichtig öffnete Molly den Kühlschrank. Ihre Schläfen begannen zu pochen, als sie nach der Flasche griff. Einen Schluck und noch einen. Es schmeckte so gut.

An Weihnachten hatte Carol beschlossen, dass Molly keine Milch mehr trinken dürfe. Nur einen Spritzer morgens in den Kaffee. Carol hatte irgendwo gelesen, dass Milch für ältere Menschen ungesund sei.

»Ich habe immer Milch getrunken«, hatte Molly gesagt. »Ich dachte, es ist gut für die Knochen. Als wir Kinder waren, hat Mama …«

»Als wir Kinder waren«, hatte Carol gesagt und gelacht, »das ist lange her.«

»Aber ich …«