Elsas Geheimnis - Viola Maybach - E-Book

Elsas Geheimnis E-Book

Viola Maybach

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Beschreibung

Diese Serie von der Erfolgsschriftstellerin Viola Maybach knüpft an die bereits erschienenen Dr. Laurin-Romane von Patricia Vandenberg an. Die Familiengeschichte des Klinikchefs Dr. Leon Laurin tritt in eine neue Phase, die in die heutige moderne Lebenswelt passt. Da die vier Kinder der Familie Laurin langsam heranwachsen, möchte Dr. Laurins Frau, Dr. Antonia Laurin, endlich wieder als Kinderärztin arbeiten. Somit wird Antonia in der Privatklinik ihres Mannes eine Praxis als Kinderärztin aufmachen. Damit ist der Boden bereitet für eine große, faszinierende Arztserie, die das Spektrum um den charismatischen Dr. Laurin entscheidend erweitert. Jannik Velten blieb unwillkürlich stehen, als sein Blick die junge Frau auf der Parkbank erfasste. Sie saß, in einen dicken Mantel gehüllt, leicht vornübergebeugt und zeichnete. Ab und zu blickte sie zu der alten Buche jenseits des Weges, beugte sich aber jedes Mal schnell wieder über ihren Zeichenblock und arbeitete weiter. Vor der Buche stand eine alte Frau mit einem kleinen Jungen, der den mächtigen Baum andächtig anstaunte. Er trug eine knallrote Jacke, die an diesem etwas trüben Tag wie ein Signal wirkte. Die Frau hielt den Jungen an der Hand. Ab und zu sah er zu ihr hoch und stellte eine Frage, dann wandte er sich wieder der Buche zu. Es war ein schönes Bild. Langsam ging Jannik weiter, hinter der Bank vorbei, so dass er einen Blick auf die Zeichnung der jungen Frau werfen konnte. Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie ihn nicht einmal bemerkte. Wieder blieb er stehen. Alles war schon zu sehen, mit schnellen, federleichten Strichen zu Papier gebracht: der Baum, die alte Frau, der Junge, die zu ihr aufblickte und ihr gerade eine Frage stellte. »Das ist wunderschön«, sagte er unwillkürlich. Die junge Frau zuckte zusammen, deckte unwillkürlich ihre Zeichnung mit einer Hand ab und drehte sich um. Ihre Wangen hatten sich gerötet, sie sah aus, als wollte sie aufspringen und weglaufen. Aber dann begegnete sie Janniks Blick, sah sein Lächeln und erkannte wohl, dass er nur ausgesprochen hatte, was er dachte. Jedenfalls blieb sie sitzen, die Farbe auf ihren Wangen normalisierte sich. »Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte er.

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Leseprobe: Familie Dr. Norden Special Edition

Familie Dr. Norden

5 unveröffentlichte Romane

E-Book 1: Immer wieder Dr. Lammers!

E-Book 2: Da stimmt doch etwas nicht?

E-Book 3: In einer anderen Welt

E-Book 4: Deutliche Zeichen

E-Book 5: Leben heißt Veränderung

Der neue Dr. Laurin – 13 –

Elsas Geheimnis

Ein Sturz und ungeahnte Folgen

Viola Maybach

Jannik Velten blieb unwillkürlich stehen, als sein Blick die junge Frau auf der Parkbank erfasste. Sie saß, in einen dicken Mantel gehüllt, leicht vornübergebeugt und zeichnete. Ab und zu blickte sie zu der alten Buche jenseits des Weges, beugte sich aber jedes Mal schnell wieder über ihren Zeichenblock und arbeitete weiter.

Vor der Buche stand eine alte Frau mit einem kleinen Jungen, der den mächtigen Baum andächtig anstaunte. Er trug eine knallrote Jacke, die an diesem etwas trüben Tag wie ein Signal wirkte. Die Frau hielt den Jungen an der Hand. Ab und zu sah er zu ihr hoch und stellte eine Frage, dann wandte er sich wieder der Buche zu. Es war ein schönes Bild.

Langsam ging Jannik weiter, hinter der Bank vorbei, so dass er einen Blick auf die Zeichnung der jungen Frau werfen konnte. Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie ihn nicht einmal bemerkte. Wieder blieb er stehen. Alles war schon zu sehen, mit schnellen, federleichten Strichen zu Papier gebracht: der Baum, die alte Frau, der Junge, die zu ihr aufblickte und ihr gerade eine Frage stellte. »Das ist wunderschön«, sagte er unwillkürlich.

Die junge Frau zuckte zusammen, deckte unwillkürlich ihre Zeichnung mit einer Hand ab und drehte sich um. Ihre Wangen hatten sich gerötet, sie sah aus, als wollte sie aufspringen und weglaufen. Aber dann begegnete sie Janniks Blick, sah sein Lächeln und erkannte wohl, dass er nur ausgesprochen hatte, was er dachte. Jedenfalls blieb sie sitzen, die Farbe auf ihren Wangen normalisierte sich.

»Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte er. »Aber Sie haben die Stimmung so gut eingefangen, dass mir meine Bemerkung einfach herausgerutscht ist.«

Jetzt war er selbst verlegen. Er, der Schüchterne, Unbeholfene, sprach sonst nie Fremde an. Er war linkisch im Umgang mit Menschen, die er nicht kannte, und er wusste es, was die Sache nicht eben besser machte.

Sie entspannte sich. »Danke schön«, sagte sie leise. »Ich muss jetzt schnell weiterzeichnen, bevor die beiden gehen.«

Er hörte sich selbst fragen: »Darf ich mich zu Ihnen setzen? Ich sage auch kein Wort mehr, versprochen.«

Sie nickte nur, und er nahm Platz. Was war denn plötzlich in ihn gefahren? Er erkannte sich selbst nicht. Aber etwas an dieser Frau rührte ihn an und gab ihm die Gewissheit, dass es gut für ihn wäre, sie näher kennenzulernen. Sie war schmal und blond, hatte ein nicht besonders auffälliges, aber hübsches Gesicht, das nicht geschminkt war. Ihre Augen waren sehr schön, groß und blau, und sie hatte etwas zu volle Lippen, die ihrem sonst eher braven Gesicht einen Anflug von Mutwilligkeit verliehen.

Sie arbeitete so konzentriert wie zuvor. Die alte Frau und der kleine Junge standen noch immer vor der Buche. Sie hörten den Jungen lachen. Dabei warf er den Kopf in den Nacken, so dass sein Lachen nach oben stieg. Jannik stellte sich vor, dass es in der Krone des alten Baums landete und sich dort häuslich niederließ. Gleich darauf schüttelte er insgeheim über sich selbst den Kopf. Er hatte öfter solche Ideen, weshalb ihn ein wohlgesonnener Lehrer einmal ›sehr fantasiebegabt‹ genannt hatte, für seine Mitschüler war er dagegen eher der ›Spinner‹ gewesen. In Ruhe gelassen worden war er hauptsächlich, weil er in den naturwissenschaftlichen Fächern die besten Noten der Klasse gehabt und anderen bereitwillig geholfen hatte. So war er halbwegs ungeschoren durch die Schulzeit gekommen. Trotzdem war er froh, dass er sie hinter sich hatte.

Die Frau und der Junge gingen weiter, andere Spaziergänger blieben vor der alten Buche stehen, sie war ein bekanntes Naturdenkmal und zog viele Menschen an. Die Zeichnerin neben Jannik richtete sich mit einem zufriedenen kleinen Seufzer auf. »Ich hab’s gerade noch geschafft«, sagte sie.

»Darf ich die Zeichnung noch einmal sehen?«, fragte er.

Sie zögerte, aber nur kurz, dann zeigte sie sie ihm. »Vielleicht lasse ich sie so«, sagte sie nachdenklich. »Eigentlich hatte ich vor, sie zu kolorieren, aber jetzt denke ich, dass sie so bleiben sollte – eine Skizze, nicht mehr. Farbe würde vielleicht stören.«

»Mich nicht«, sagte Jannik, nachdem er versucht hatte, sich vorzustellen, wie die Zeichnung farbig aussehen würde. »Die rote Jacke des Jungen war doch wie ein Ausrufezeichen. Ich finde, das sollte auf Ihrer Arbeit nicht fehlen.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Das stimmt«, sagte sie. »Sie haben das sehr schön beschrieben.«

»Ich schreibe manchmal«, erwiderte er. »Nur so für mich. Kleine Geschichten, in denen nicht viel passiert. Eben, als der Junge so gelacht hat, habe ich mir vorgestellt, wie das Lachen nach oben schwebt, bis in die Baumkrone, und sich dort festsetzt.«

Jetzt staunte sie ihn offen an. »Das ist eine wunderbare Idee!«, rief sie. »Darf ich sie benutzen? Für weitere Zeichnungen?«

»Gerne, natürlich, aber nur, wenn ich die Zeichnungen sehen darf.«

Sie nickte. Eben noch hatte er gedacht, dass sie zwar hübsch war, aber trotzdem irgendwie unauffällig wirkte, jetzt verstand er nicht mehr, wie er das hatte denken können. Sie sah hinreißend aus, wenn ihre Augen leuchteten wie jetzt, wenn ihre Wangen so rosig waren, wenn sie lächelte.

»Wir werden uns also auf jeden Fall wiedersehen«, sagte er. »Da sollten wir auch wissen, wie wir heißen. Jannik Velten.«

»Annina Andersen. Wollen wir uns nicht lieber duzen?«

»Gern«, sagte Jannik.

Er konnte es immer noch nicht fassen, wie einfach es gewesen war, mit ihr ins Gespräch zu kommen, und das sagte er gleich darauf auch laut. »Ich habe noch nie jemanden angesprochen, also, jemanden, den ich nicht kannte, meine ich.«

Annina lächelte. »Ich auch nicht.«

»Aber du bist bestimmt schon oft angesprochen worden.«

»Ja, aber dann bin ich bisher immer weggelaufen.«

»Wieso denn?«

»Ich bin schüchtern«, sagte sie. »Und ich bin empfindlich, wenn jemand kritisiert, was ich male.«

»Wer macht das denn?«

»Oh, praktisch alle. Du glaubst gar nicht, wie oft Leute stehenbleiben und mir erklären, dass ich das, was ich gerade zeichne, ganz anders hätte zeichnen müssen. Außerdem …« Sie stockte, fuhr erst nach einiger Zeit fort zu reden. »Außerdem wollte ich gern auf eine Kunstakademie, aber ich bin nicht aufgenommen worden, weil ich zu konventionell male und überhaupt nicht originell bin – so haben sie das gesagt. Und dann habe ich ein paar Zeichnungen an einen Verlag geschickt, weil ich dachte, ich könnte vielleicht Kinderbücher illustrieren, aber ich habe nur Absagen bekommen. Jetzt allerdings habe ich gerade einen Job, aber der ist nur befristet, und wirklich Spaß macht er auch nicht. Fließbandarbeit, aber ich muss ja von etwas leben.«

»Was würdest du denn am allerliebsten machen?«

»Meine eigenen Geschichten schreiben und meine eigenen Bilder dazu malen«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. »Und du? Auch Geschichten schreiben?«

Jannik schüttelte den Kopf. »Nein, das ist eher etwas für meine Freizeit – und auch nur manchmal. Ich würde am liebsten mathematische Forschung betreiben, an einer guten Universität. Ich liebe die Mathematik, das war schon an der Schule so. Aber mir fehlt für so einen Job das Durchsetzungsvermögen. Außerdem habe ich Prüfungsangst, weshalb ich mein Studium nicht abschließen konnte. Ich bin also ein Versager.«

»Wer sagt das?«, fragte Annina.

»Na, ich.«

Sie schüttelte den Kopf und wartete. Schließlich setzte er hinzu: »Na ja, vor allem sagt es mein Vater, er hat es schon immer gesagt, und ich denke, er hat Recht. Ich hätte die Prüfungen mit links bestehen können, aber ich war wie gelähmt. Mein Kopf war blockiert, ich konnte nicht denken.«

»Und was machst du jetzt statt mathematischer Forschung?«

»Ich arbeite als Computerfachmann bei einer mittelgroßen Firma, verdiene einen Haufen Geld – und träume weiter.«

»Dein Vater, was ist er für ein Mensch?«, fragte sie.

»Gute Frage, die ich mir selbst schon oft gestellt habe. Wir haben nicht mehr viel Kontakt, weil ich merke, dass es mir regelmäßig schlechter geht, wenn ich mal wieder ein paar Stunden mit ihm verbracht habe. Er schafft es heute noch, mich runterzuziehen, dabei sollte man doch meinen, dass ich allmählich über den Dingen stehe, aber so ist es nicht. Seine Eltern waren Bauern, fünf Kinder, wenig Geld. Er hat viel gearbeitet, um der Welt, aus der er stammt, zu entfliehen. Und ich, als sein einziger Sohn, sollte endgültig den Sprung nach oben schaffen. Ohne Universitätsabschluss bin ich für ihn eine Null.«

Annina griff nach seiner Hand. Es war eine unschuldige Geste, die ihn rührte, weil sie von Herzen kam, das konnte er spüren. »Das bist du nicht!«, sagte sie mit fester Stimme.

»Und du bist keine konventionelle Zeichnerin«, erwiderte er und deutete auf den Zeichenblock, der noch immer auf ihren Knien lag. »Wer so etwas sagt, hat keine Augen im Kopf. Du kannst mit wenigen Strichen eine Stimmung erfassen, das ist eine hohe Kunst.«

Als sie ihn nach diesen Worten anlächelte, mit Augen, die bisschen feucht geworden waren, verlor er sein Herz an sie.

*

»Es ist alles in Ordnung, Frau Brinkmeyer«, sagte Dr. Leon Laurin zu seiner Patientin, nachdem er sie gynäkologisch untersucht hatte. »Wir nehmen Ihnen noch Blut und Urin ab, die Laborwerte können Sie dann telefonisch erfragen, dafür müssen Sie nicht noch einmal herkommen.«

»Jedenfalls nicht, wenn alles in Ordnung ist«, erwiderte Elsa Brinkmeyer mit einem winzigen Lächeln, das er erwiderte.

»Ja, natürlich. Nur eins noch: Sie sollten etwas Gewicht zulegen. In Ihrem Alter sind zwei Kilos zu viel besser als zwei zu wenig.«

»Mein Geschmackssinn ist nicht mehr sehr ausgeprägt«, erwiderte sie. »Seitdem habe ich die Freude am Essen verloren, muss ich gestehen. Und wenn ich mich satt fühle, mag ich nichts mehr essen.«

»Darf ich fragen, was Sie essen? Beschreiben Sie mir einfach Ihre Nahrung an einem ganz normalen Tag.«

Sie zögerte, antwortete dann aber doch. Er hatte es geahnt: Sie aß wie ein Spatz. Sie war offenbar nicht so zerbrechlich, wie sie aussah, aber er riet ihr noch einmal nachdrücklich, mehr auf ihr Gewicht zu achten. »Essen Sie einfach ab und zu mal etwas richtig Fettes – vielleicht hilft das.«

Dieses Mal war ihr Lächeln nicht mehr ganz so winzig wie zuvor. »Und das aus dem Mund eines Arztes!«, sagte sie. »Aber ich werde versuchen, mir Ihre Mahnung zu Herzen zu nehmen.«

»Schmerzen haben Sie nicht, sagten Sie, aber es könnte trotzdem sein, dass Sie unter Osteoporose leiden. Die bleibt manchmal ohne Symptome. Haben Sie noch etwas Zeit? Dann würde ich gern noch eine Knochendichtemessung machen.«

»Aber das ist doch eine gynäkologische Sprechstunde – ich bin eigentlich nur gekommen, weil mir gesagt wurde, dass Vorsorgeuntersuchungen auch in meinem Alter noch wichtig sind.«

»Das ist auch richtig so. Jedenfalls kann ich, auch wenn dieses eine gynäkologische Sprechstunde ist, bei Ihnen eine Knochendichtemessung veranlassen.«

»Osteoporose«, sagte Elsa Brinkmeyer. »Ich glaube nicht, dass ich daran leide. Bricht man sich da nicht ständig die Knochen?«

»Man ist gefährdet, aber das heißt nicht, dass man sich ständig etwas bricht.«

»Na ja, ich habe mir noch nie etwas gebrochen«, stellte Elsa Brinkmeyer fest. »Allerdings muss ich sagen, dass ich seit dem Tod meines Mannes auch sehr zurückgezogen lebe.«

An seiner gynäkologischen Sprechstunde hielt Leon Laurin fest, auch wenn sein zweites medizinisches Standbein, die Chirurgie, sowie die Leitung der Kayser-Klinik im Südwesten von München eigentlich schon genug Arbeit bedeuteten. Aber er wollte nicht auf das verzichten, was er an der Arbeit als Gynäkologe am schönsten fand: Er wollte weiterhin schwangere Frauen begleiten und Babys auf die Welt holen. In der Chirurgie hatte man es nie mit Gesunden zu tun, das war hier anders, und deshalb hielt er daran fest, seiner ohnehin hohen Arbeitsbelastung zum Trotz.

Elsa Brinkmeyer freilich würde keine Kinder mehr auf die Welt bringen, denn sie war schon über achtzig. Sie wohnte noch nicht lange in München, hatte sie ihm erzählt, sonst hatte er nicht viel von ihr in Erfahrung bringen können. Viele alte Patientinnen waren froh, in ihm endlich jemanden gefunden zu haben, der ihnen zuhörte, aber so war Elsa Brinkmeyer nicht. Seine Fragen hatte sie ruhig, aber knapp beantwortet. Sie war Witwe, ihren Mann hatte sie erst kennengelernt, als sie schon beinahe fünfzig gewesen war, Kinder hatte sie also nicht.

Warum sie nach München gezogen war, verriet sie ihm nicht, er nahm an, dass sie Verwandte hier hatte.

Ihre Kleidung war bescheiden, sie trug kaum Schmuck, ihre langen Haare waren zu einem lockeren Knoten geschlungen – so musste sie sie nicht zu oft schneiden lassen. Offenbar lebte sie in bescheidenen Verhältnissen. Darauf deutete auch ihre Adresse hin. Nicht direkt eine Villengegend, aber auch kein heruntergekommenes Viertel. Bescheiden, das traf es am besten.

Trotzdem gab es etwas an ihrem Auftreten, das ihn zweifeln ließ, ob seine Einschätzung richtig war. Sie drückte sich gewählt aus, sah ihm in die Augen, wenn sie ihm antwortete und wirkte jedenfalls nicht eingeschüchtert davon, dass sie es mit dem Klinikchef persönlich zu tun hatte. Er hatte keine Mühe, sich vorzustellen, wie sie als Gastgeberin in einem großen Haus in eleganter Kleidung ihre Gäste begrüßte. Merkwürdig war das. Ob es an ihrer Haltung lag? Dieser geraden, stolzen Haltung mit dem erhobenen Kopf? Er hatte ja einige Patientinnen in ihrem Alter – keine von ihnen saß ihm so kerzengerade gegenüber und sah ihm so offen in die Augen.

Die Knochendichtemessung würde eine Assistenzärztin übernehmen, die wenig später kam, um seine Patientin abzuholen.

Als die alte Dame sich von ihm verabschiedete, stellte er fest, dass sogar ihr Händedruck untypisch für eine Frau ihres Alters war: kurz und fest nämlich. Falls sie unter Osteoporose litt: Rheuma oder Arthrose in den Händen hatte sie offenbar nicht, wenn sie noch so kräftig zupacken konnte.