Ember Drachentochter - Heather Fawcett - E-Book
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Ember Drachentochter E-Book

Heather Fawcett

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Beschreibung

Drachenstarkes Fantasy-Plädoyer für den Frieden! Die zwölfjährige Ember war ein Feuerdrache, bevor sie in ein Menschenkind verwandelt wurde. Geblieben sind ihre unsichtbaren Drachenflügel und das kleine Problem, bei Sonne ohne Vorwarnung in Flammen aufzugehen. In London kann sie deshalb nicht bleiben, also wird sie auf die Forschungsstation ihrer exzentrischen Tante mitten in der Antarktis geschickt. Hier leben auch die letzten wilden Eisdrachen. Doch ausgerechnet auf die hat es der verzogene Prinz Gideon bei seiner königlichen Winterjagd abgesehen. Jetzt liegt es an Ember, ihre Artgenossen zu retten und eine Brücke zwischen zwei Welten zu schlagen. Drachen mit einer Vorliebe für Wissenschaft, diebische Pinguine und ein Mädchen, das für Gerechtigkeit und Freiheit kämpft: Ein Fantasy-Abenteuer vom Allerfeinsten für Kinder ab 10!

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Über dieses Buch

»Entscheidungen sind etwas Mächtiges, Feuerkind«

 

Ember ist der letzte Feuerdrache. Und vermutlich der einzige, der jemals in ein Menschenkind verwandelt wurde. Als sie zu ihrer Tante nach Antarktika reist, kann sie es kaum erwarten: Denn hier am Ende der Welt leben noch wilde Eisdrachen! Doch ausgerechnet auf die hat es der verzogene Prinz Gideon mit seiner königlichen Winterjagd abgesehen. Um ihn aufzuhalten, nimmt auch Ember teil – und begibt sich mitten in die Fänge gefährlicher Drachenjäger.

 

Ein bildgewaltiges Abenteuer unterm Polarhimmel – voller Drachen, Freundschaft und Magie.

 

 

 

Für alle Forscherinnen,

ganz gleich ob Mensch oder Drache.

Prolog

Lionel St. George, angehender Magier und Sturmfänger, hatte die Nase voll. Seit zwei Tagen schon war er im sumpfigen und stacheligen Hochmoor unterwegs. Sein Pferd war vor Erschöpfung nur noch stolpernd vorangekommen, sodass Lionel es nach Hause schicken musste, als sie den Rand von Muckross Fen erreicht hatten, eine besonders wilde und trostlose Ecke von Wales. Muckross Fen – das Stinkmoor am Kap – war genau so, wie man es von einem Ort dieses Namens erwarten würde: schmutzig, übel riechend und voll von boshaften Mücken. Und es gab noch immer kein Anzeichen des Zaubersturms – der einzige Grund, warum er überhaupt an diesen vermaledeiten Ort gekommen war.

Lionel – gerade achtzehn geworden, mit wilden blonden Locken, die ihm in die Stirn fielen, und einer ganzen Menge Pickel, die wie die Punkte von Ausrufezeichen willkürlich über seine Wangen verteilt waren – stellte seinen Blitzkübel umgekehrt zwischen das struppige Heidekraut und setzte sich darauf. Er war müde, seine Stiefel waren völlig durchnässt, und es war noch ein langer Marsch bis zu dem heruntergekommenen Wirtshaus, das auf seiner Landkarte überschwänglich als Dorf bezeichnet wurde.

Es begann zu nieseln. Der Sturm, den er durch die Gwynned Mountains gejagt hatte, war verschwunden.

Lionel beschloss, den nächsten Hügel zu erklimmen und die Umgebung von oben zu überblicken, bevor er zum Aufgeben bereit war. Er suchte gar nicht erst nach einem Weg um den Sumpf herum, sondern stapfte, wie er war, mit Kleidern, Stiefeln und allem Drum und Dran, geradewegs ins trübe Wasser.

Grüne Berge ragten vor ihm in den Himmel, die Wolken hingen tief über ihren Gipfeln wie gerunzelte Augenbrauen. Lionel schüttelte seinen Sturmkompass, ein kleines hölzernes Kästchen mit einem Mondstein und einer Feder. Wie war es möglich, dass der Sturm so schnell verschwunden war?

Nicht alle Stürme waren Quellen von Magie – einige aber doch, und genau deshalb jagten Sturmfänger sie. Wäre es ihm gelungen, einen derart mächtigen Sturm zu fangen, hätte er genug Kraft daraus ziehen können, um etwa ein Dutzend kleinerer Zauber zu tätigen, oder einen sehr großen.

Lionels Magievorräte waren zu gering für den Zauber, den er beabsichtigte. Ein Zauber, der, wenn er gelang, im ganzen Land Aufsehen erregen und hoffentlich genügen würde, um die Professoren umzustimmen, die seine Bewerbung an der Chesterfield-Universität für Wissenschaften und Zauberkünste in London abgelehnt hatten.

In der schriftlichen Prüfung hatte er gut abgeschnitten, aber der praktische Teil war ihm leider ziemlich missglückt. Sein Feuerzauber war ihm hervorragend gelungen – hätte er es nur dabei belassen! Doch Lionel wollte die grimmigen Professoren beeindrucken und hatte das Feuer in eine riesige schwebende Kugel verwandelt. Unglücklicherweise hatte sich ausgerechnet in diesem Moment eine Fliege seine Schulter als Landeplatz ausgesucht, und Lionel, der entsetzliche Angst vor Insekten hatte, war auf spektakuläre Weise durcheinandergeraten. Als das Feuer endlich gelöscht war, trugen die Professoren nur noch verkohlte Fetzen am Leib, und einer von ihnen hatte keine Augenbrauen mehr.

Lionel schauderte, als sich ein Blutegel an seiner Wade festsaugte. Der Wind flüsterte in sein Ohr. Er hatte seine eigene Sprache, so wie alles auf der Welt, auch wenn kein Mensch sie verstand, nicht einmal Lionel, der mit Stürmen sprechen konnte. Aber er meinte, einen verärgerten Unterton herauszuhören.

Am Ufer des Sumpfs angekommen, stapfte Lionel mühsam aus dem Matsch. Zerstreut stellte er fest, dass er einen Stiefel verloren hatte, sorgte sich aber nicht groß darum. Lionel sorgte sich höchst selten, nicht, weil er keine Sorgen gehabt hätte (er hatte mehr als genug), sondern weil seine Gedanken meist ganz woanders waren. Er wanderte den Hügel hinauf, ohne das pieksende Heidekraut unter der nackten Fußsohle wahrzunehmen, und der genüsslich saugende Egel war längst vergessen. Dann blieb er wie angewurzelt stehen.

Auf der anderen Seite des Hügels lag ein toter Drache.

Lionel hielt den Atem an. Wie die meisten Menschen hatte er nie zuvor einen Drachen gesehen, er kannte nur die beeindruckenden Skelette aus dem Naturkundemuseum: etwa doppelt so groß wie ein Pferd und von schlanker, schlangenartiger Gestalt. Irgendjemand – Jäger, keine Frage – hatte dem Geschöpf die Schuppen abgezogen, jede einzelne. Zurückgeblieben war nur rohes rotes Fleisch.

Obwohl es ein Drache war, ein Ungeheuer, verspürte Lionel einen Stich der Trauer. Der Anblick der furchterregenden Kreatur, die da so unbeholfen im Schlamm lag, ihrer prachtvollen Schuppen beraubt, fühlte sich falsch an.

Den zweiten Drachen – sie lebten meistens paarweise – fand er hinter dem nächsten Hügel. Während er ihn betrachtete, tat sich ein Riss in den Wolken auf, und ein Sonnenstrahl blitzte hindurch. Er fiel auf das matschverkrustete Gras und brachte etwas zum Funkeln. Lionel hob es auf und säuberte es mit zitternden Fingern.

Es war eine Herzschuppe.

Lionel schnappte nach Luft. Jeder wusste, dass sie der wichtigste Teil eines Drachen war. Ein Pfeil durch die Herzschuppe, die sich an der Rückseite des Halses befand, tötete einen Drachen sofort. Die meisten Jäger zogen es jedoch vor, den Drachen anders zu erlegen, da die Herzschuppe überaus wertvoll war. Sie war etwa halb so groß wie Lionels Handfläche, leuchtete kräftiger als Rubin und tiefer als Bernstein und war von feinen Adern durchzogen wie von glühendem Gold. Der oder die Jäger hatten sie bestimmt nicht absichtlich zurückgelassen – jemand musste sie verloren haben.

Lionel steckte die Herzschuppe ein und erhob sich wieder, zitternd in seinen nassen Kleidern. Hier oben im Norden konnte der Wind selbst im Hochsommer von Frost durchsetzt sein. Da hörte er ein leises Scharren.

Vorsichtig schob er ein paar Stechginsterzweige beiseite und stand Auge in Auge mit einem winzigen Drachen.

Lionel stieß einen lächerlichen kleinen Schrei aus und machte einen Satz rückwärts. Der Drache blinzelte, zeigte jedoch keine Angst. Sein Blick war ruhig und verstörend, weder Mensch noch Tier, einfach Drache. Er lag auf der Seite, noch immer halb in seinem Ei, und atmete flach.

»Alles ist gut«, hörte Lionel sich murmeln, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. Dabei war eindeutig gar nichts gut – das Geschöpf sah aus, als wäre es vor ein oder zwei Tagen geschlüpft, vermutlich kurz nachdem seine Eltern getötet worden waren. Es war erschöpft und sichtlich kurz vorm Verhungern. Lionel entfernte die Überreste der Eierschale, und der Drache streckte sich ein wenig, machte jedoch keinen Versuch, aufzustehen.

Lionel biss sich auf die Unterlippe. Er konnte das kleine Wesen nicht einfach zurücklassen, auch wenn es eine Bestie war, die ihm in ausgewachsenem Zustand die Glieder einzeln ausreißen würde, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann war es also das Beste, es von seiner Qual zu erlösen.

Ein schwacher Laut drang aus der Drachenkehle. Das kleine Geschöpf hatte etwa die Form und Größe einer haarlosen Katze, sein Körper war geschmeidig und seine Schuppen waren von dem tiefen Orange flüssiger Lava. Mit dem Erlös dieser Schuppen hätte Lionel die halbe Chesterfield-Universität kaufen können, doch der Gedanke kam ihm nicht eine Sekunde. Er würde das Tierchen mitsamt seinen Schuppen neben seiner Mutter begraben.

In diesem Moment krachte ein Donner durch den Himmel und die Wolken teilten sich wie ein aufgeschlagenes Ei.

Lionel war augenblicklich pitschnass. Ein kleines Rinnsal lief dem Drachen über die Schnauze und er nieste. Erst zögernd, dann immer eifriger begann er zu trinken.

Der kleine Drache war dem Tod nicht so nah, wie Lionel angenommen hatte – je länger er trank, desto lebhafter wurde sein Blick. Er setzte die Klauen in den Matsch, als wollte er sich aufrichten, fiel aber vornüber. Er blickte Lionel an und quäkte vorwurfsvoll, als wäre die missliche Lage seine Schuld.

Damit war die Sache entschieden.

Der junge Zauberer pellte sich aus seinem durchnässten Mantel und hüllte den Drachen darin ein. Das Wesen gab ein zufriedenes Schnauben von sich und hielt ganz still in seinen Armen, nahm die Wärme seiner Brust auf. Lionel bemühte sich, nicht daran zu denken, wie gefährlich nah er seinem Hals war, doch der Drache machte keine Anstalten, ihn zu beißen. Er schloss die Augen und schlief ein.

Nachdem er seinen Tornister und den Blitzkübel vom schlammigen Untergrund aufgelesen hatte, machte Lionel sich auf den Rückweg. Er war von Kopf bis Fuß mit Matsch verschmiert, und seine Kleider waren so nass, dass sie beim Gehen quitsch-quatsch, quitsch-quatsch machten, als wäre er ein dem Moor entstiegenes Sumpfmonster. Er versuchte, seinen Mantel so um den Drachen zu wickeln, dass er wie ein Säugling aussah. Dass ein Zauberer ins Moor wanderte und mit einem Baby zurückkam, war gewiss merkwürdig, aber noch im Rahmen absonderlichen Zaubererverhaltens. Ein Zauberer mit einem Drachen hingegen nicht. Unpraktischerweise rutschte der Schwanz des kleinen Wesens immer wieder aus dem Mantel und machte die Verkleidung zunichte.

In Lionels Kopf drehte sich alles. Was sollte er mit dem Drachen anfangen? Er konnte ihn füttern und aufpäppeln, aber dann? Er konnte ihn nicht zu einem ausgewachsenen Drachen bringen, damit der ihn aufzog. Selbst wenn so etwas möglich gewesen wäre, gab es nur noch wenige Feuerdrachen. Hier in Wales lebte höchstens noch eine Handvoll. Es war sogar gut möglich, dass das Neugeborene das letzte seiner Art war.

Seine Gedanken kreisten und schlingerten um das Problem, bis sie sich, schließlich war er Lionel St. George, wieder der Zauberei zuwandten. Wie sollte er die Professoren der Chesterfield-Universität jetzt beeindrucken? Plötzlich kamen ihm Zweifel, dass der Entlausungszauber, den er sich ausgedacht hatte, ausreichen würde. (Viele von Lionels Zaubereien beschäftigten sich mit dem Ausmerzen von Insekten.) Wenn er nicht an der Chesterfield-Universität zugelassen würde, wäre es das Ende von allem, was er sich je gewünscht hatte. Lionel war arm und ein Waisenkind, seine einzige lebende Verwandte war seine Schwester Myra, die im Gefängnis saß. Und Chesterfield war die einzige Universität, die Studenten mit herausragenden magischen Fähigkeiten aufnahm, ohne Studiengebühren zu verlangen.

Während der Drache leise vor sich hin schnarchte, kam Lionel der Funke einer Idee. Sie war abwegiger und unpraktischer als jede andere Idee, die er je gehabt hatte, und gefiel ihm gerade deshalb ausnehmend gut. Der Wind heulte, der Regen prasselte, und das Drachenbaby schlief in seinen Armen, ohne von der Wiederkehr des Sturms und dem Aufruhr in Lionels Kopf etwas mitzubekommen. Es vergrub die Schnauze tief im Zauberumhang, und sein Schwanz zuckte im Traum, während Lionel kehrtmachte und zurück in Wind, Hagel und Donner schritt, seine Mantelzipfel im Wind flatterten und der Sturmkompass zum Leben erwachte.

MAGICAEETSCIENTIA

Der größte je dokumentierte Feuerdrache lebte in den Sumpfgebieten Litauens. Er maß siebeneinhalb Meter von der Nase bis zur Schwanzspitze, hatte neunzig Zentimeter lange Hörner und ein furchterregendes Gebiss.

Takagis »Handbuch der exotischen Geschöpfe«

 

 

Zwölf Jahre später

 

Ember St. George saß in der qualmenden Ruine des Zimmers, das bis vor Kurzem das Büro ihres Vaters gewesen war, und grübelte vor sich hin.

»Das hat ja nicht besonders gut funktioniert«, murrte der Schatten in seiner Ecke.

Ember brachte ihn mit einer kurzen Geste zum Schweigen. Der Schatten, mittlerweile an ihr Temperament gewöhnt, blieb still. Zumindest kurz.

»Ich bin kein Freund dieser Vorfälle.« Der Schatten begutachtete seinen Ärmel, als hätte das Feuer ihn angesengt. »Sieh dich mal um. Alle Möbel kaputt!«

»Du benutzt die Möbel doch gar nicht«, entgegnete Ember kühl. Sie hasste es, beim Nachdenken gestört zu werden.

»Ich schaue sie aber an.«

Ember ging nicht darauf ein. Lionel St. Georges Büro in der Chesterfield-Universität war vollgestopft mit Instrumenten – Teleskopen, Waagen und Sextanten, sowohl magischen als auch wissenschaftlichen – sowie haufenweise Büchern. Sie hatte viele Nachmittage zusammengerollt in dem Sessel am Fenster verbracht, in eine Enzyklopädie vertieft oder den Blick auf die sich drehenden Globen geheftet. Ihr Lieblingsglobus war magisch und wurde von einem Mond umkreist, der punktgenau zu- und abnahm. Jetzt aber war alles Asche. Sie hob den winzigen Mond auf, der zwischen ihren Fingern wie eine Pusteblume zerfiel. Tränen schossen ihr in die Augen.

»Es wäre wirklich nett, wenn du mich das nächste Mal vorwarnen würdest, bevor du in Flammen aufgehst.« Der Schatten verschränkte die Arme. »Es ist ziemlich beunruhigend.«

»Tut mir furchtbar leid, dass ich dich erschreckt habe.«

»Na ja, so was bekommt man nicht alle Tage zu sehen«, erwiderte der Schatten, dem jeglicher Sarkasmus fremd war. »Ein zwölfjähriges Mädchen, das einfach anfängt zu brennen – aber natürlich bist du nicht wirklich ein Mädchen. Wie ist es diesmal passiert?«

Ember versuchte, aus ihren Schuldgefühlen die Erinnerungssplitter hervorzuzupfen. Sie hatte am Fenster gesessen und in einem Buch über Ozeanografie gelesen. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass die Sonne um das Gebäude herumgewandert war, bis sie ihren goldenen Schein über die Seite geworfen und ihre Haut auf diese schrecklich vertraute Art zu kribbeln begonnen hatte …

»Die Vorhänge«, sagte sie. »Die Bediensteten müssen sie offen gelassen haben.«

Ember wusste nicht, warum Sonnenlicht sie in Flammen aufgehen ließ. Auch ihr Vater wusste es nicht. Es war ein Fehler im Sturmzauber, der sie vom Drachen in ein Mädchen verwandelt hatte, ein Fehler, den Lionel nicht hatte beheben können. Die Ausbrüche waren unvorhersehbar – an manchen Tagen konnte sie Stunden in der Sonne verbringen, ohne dass etwas passierte. An anderen Tagen genügte ein einziger Sonnenstrahl und sie brannte wie trockener Zunder. Sie wussten nur, dass sie im Sommer wesentlich empfindlicher war. Das war nachvollziehbar, da die Kräfte von Feuerdrachen durch die Sonne bestimmt wurden – am heißesten brannten ihre Flammen im Hochsommer. Nachts oder im Winter, wenn die Sonne fahl und kraftlos am Himmel hing, ging es Ember gut. Dann war sie in Sicherheit.

Der Schatten schlurfte durch den Raum und hielt nach restlichen kleinen Bränden Ausschau. Aber es gab keine – wenn Ember sich entzündete, dann kurz und heftig. Neben dem verkohlten Kamin stand Lionels Lieblingssessel, ein gewaltiger Thron aus Samt und Eiche, der jetzt nur noch ein klappriges Skelett war. Ember zupfte an den Überresten ihres Kleids, dem ein Ärmel und der halbe Rock fehlten. Auch ihre Haare waren in Flammen aufgegangen. Sie waren schon vorher kurz gewesen, dank früherer Entzündungen, aber jetzt klebten sie ihr am Schädel wie die Borsten einer Bürste, das Blond vom Ruß verborgen.

»Ich will hier nicht weg«, flüsterte sie, so leise, dass der Schatten sie nicht hören konnte. Sie war in letzter Zeit häufiger in Flammen aufgegangen, und an einen kühleren Ort zu ziehen, wäre sicherlich klug. Ihr Vater dachte manchmal darüber nach, nach Grönland oder Spitzbergen auszuwandern, doch so interessant diese Orte auch sein mochten, sie waren nicht ihr Zuhause.

Die letzten Jahre waren für Lionel St. George recht turbulent gewesen, und dass er sich auch noch mit Embers plötzlicher Entflammbarkeit herumschlagen musste, hatte es nicht besser gemacht. Er war einer der berühmtesten Sturmfänger des Landes. Nach seinem Abschluss an der Chesterfield-Universität hatte er dort eine Professur übernommen und mehrmals für Wirbel gesorgt. Erst kürzlich hatte er einen Herzog aus den Händen einer Verbrecherbande befreit – mit einem Zauber, der den Verbrechern Blätter aus den Nasenlöchern sprießen ließ, was zwar nicht gefährlich, dafür aber so verstörend war, dass die Verbrecher schleunigst das Weite gesucht hatten. Zuvor war Lionel allerdings auch schon einmal verhaftet worden, wegen eines missglückten Experiments, bei dem er einen Frosch auf die Ausmaße eines Hauses vergrößert hatte. Der Anblick des Riesenfroschs, der durch das Umland von London hüpfte, hatte eine Welle der Angst ausgelöst und viele Schauergeschichten hervorgebracht, mit denen man nun ungehorsamen Kindern Angst einjagte. Zum Glück war er deshalb nicht gefeuert worden. Dafür war er gefeuert worden, als er einer seiner Studentinnen versehentlich die Fähigkeit zu fliegen verpasst hatte – und zwar ausschließlich, sodass sie nur noch mit schweren Gewichten an den Füßen umhergehen konnte, um nicht davonzuschweben. Es war das dritte Mal gewesen, dass man ihn gefeuert hatte, und die Universität hatte ihn nur sehr widerstrebend letzten Monat (und nach Aufforderungen des geretteten Herzogs) wieder aufgenommen.

»Was ist mit dem Blitzkübel?«, fragte der Schatten besorgt. »Hat er es überlebt?«

Ember schnappte erschrocken nach Luft und stürzte zum Wandschrank, in dem Lionel St. George seine Zaubervorräte aufbewahrte. Die Tür war verkohlt, der Griff halb geschmolzen, doch glücklicherweise war der Kübel hinter der Tür unversehrt. Der unscheinbare Eimer aus Eibenholz mit dem ledernen Henkel stand auf seinem Regalbrett und summte leise vor sich hin.

Ember tätschelte ihn erleichtert. Niemand kam mit Zauberkräften zur Welt, doch Sturmfänger wurden mit der Fähigkeit geboren, sie einzufangen und zu gestalten. Sie zogen sie aus Gewitterstürmen, von denen die Theologen behaupteten, sie entstünden, wenn die Götter im Himmel kämpften und dabei versehentlich ihre Magie verschütteten. Lionel, der nicht an Götter glaubte, hielt die magischen Stürme für ein Naturphänomen, das so alt war wie die Erde selbst. Vielleicht war das der Grund, warum er Magie nicht so ehrfürchtig – und vorsichtig – behandelte wie andere Sturmfänger und sie lieber in einem alten Kübel aufbewahrte statt in einer vergoldeten Truhe oder einem verschachtelten Koffer.

Ember schloss die Tür. Wenn der Blitzkübel verbrannt und die Zauberkraft von ihrem schützenden Bann befreit worden wäre, wäre vermutlich an Ort und Stelle ein Zaubersturm ausgebrochen, und das konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen.

Bausch kam ins Zimmer stolziert und hob schnuppernd die Nase in die verrauchte Luft. Die grantige Katze hatte Ember ins Herz geschlossen (vielleicht mochten Katzen Drachen auch einfach lieber als Menschen) und folgte ihr auf Schritt und Tritt. Sie war nicht übermäßig wohlgenährt, dennoch war sie kugelrund. Vor Jahren hatte Lionel mit Sprachzaubern experimentiert und der Katze die Fähigkeit zu sprechen verliehen. Bausch hatte sich darüber so erschreckt, dass sich jedes einzelne ihrer weißen Härchen aufrichtete, und irgendwie hatte die ganze Magie in der Luft dafür gesorgt, dass das so geblieben war.

»Jetzt!«, sagte die Katze. Das war ihr Lieblingswort, das sich auf fast jede Situation anwenden ließ. Katzen hatten wenig Interesse an Konversation und sprachen am liebsten in Kommandos.

»Jetzt was?«, fragte Ember.

Bausch schnüffelte an einer Teetasse, die auf dem Schreibtisch stehen geblieben war. »Futter!« Das war ihr zweitliebstes Wort. »Jetzt jetzt jetzt jetzt –«

Ember brachte sie mit einem Zischen zum Schweigen.

»Ich wohne hier, weißt du?«, meldete sich der Schatten zu Wort, der sich wieder in seine Ecke verzogen hatte. »Könntest du dich bitte bemühen, etwas weniger aufbrausend zu sein?«

»Ich bin nicht aufbrausend«, sagte Ember. »Wenn ich damit aufhören könnte, würde ich es sofort tun.«

»Bald kommt der Sommer.« Die dünne Stimme des Schattens nahm einen Unheil verkündenden Ton an.

Ember schluckte. Ihre Finger schlossen sich um ihren Ring. Die Fassung hielt ein Stück rotes Feuerglas, das Lionel aus Muckross Fen mitgebracht hatte. Es stammte höchstwahrscheinlich von ihrem leiblichen Vater.

Sie musste von dem Schatten weg, irgendwohin, wo sie ungestört denken und planen konnte. Auswege aus misslichen Lagen zu finden, war ihre Stärke.

Allerdings fürchtete sie, dass es aus dieser Lage keinen Ausweg gab.

»Lionel?«, ertönte eine Stimme auf dem Gang. »Das stinkt ja fürchterlich! Hast du schon wieder herumexperimentiert?«

Die Stimme gehörte einer älteren Frau – zweifellos einer der Professorinnen – und befand sich gleich hinter der Tür.

»Oh nein!«, japste Ember. »Was soll ich tun?«

»Woher soll ich das wissen?« Der Schatten klang gereizt. Es war Lionel St. Georges Schatten, besser gesagt, er war es früher einmal gewesen. Sobald Schatten von ihren Besitzern getrennt wurden, waren sie eigenständige Persönlichkeiten und hatten selten etwas mit ihren vormaligen Eigentümern gemein. Der Schatten in der Ecke war kleinkariert, nervös und manchmal sogar richtig gemein, obwohl er Ember und ihren Vater eigentlich ziemlich gern hatte, auf seine griesgrämige Art. Ember wünschte sich oft, ihr Vater hätte sich nicht von seinem Schatten getrennt – er hatte es auch nicht vorgehabt, aber wie gewöhnlich war einer seiner Versuche schiefgegangen. Glücklicherweise war es ihm gelungen, den Schatten einzufangen, bevor er davonlaufen konnte. Ember wusste nicht, was passiert wäre, wenn der Schatten entkommen wäre, und wann immer sie danach fragte, schauderte ihr Vater und wechselte schnell das Thema.

»Lionel?« Die Tür öffnete sich langsam.

Mit einer flinken Bewegung sprang Ember aus dem Fenster und ließ den Schatten sprachlos zurück.

Sie landete in einem Rosenstrauch, der sich dafür rächte, indem er ihren verbliebenen Ärmel zerriss. Durch das offene Fenster drang ein Schrei, doch Ember huschte schon in die Dämmerung, die sich um Chesterfields bemooste Steingebäude gelegt hatte. Sie blickte zurück und sah, dass das Feuer sich nicht auf das Büro ihres Vaters beschränkt hatte. Auf dem Dach war ein schwarzes Loch zu sehen, und die Statue auf dem Rasen unter dem Fenster – Beatrice August, die Begründerin der Sturmfängerei – war völlig verkohlt.

Ember lief schneller. Sie wusste selbst nicht, wohin. Sie wollte einfach nur weg.

Chesterfield stand auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel mitten in der Stadt, nahe der Themse, westlich des Tower of London. Der Hügel und die Universität waren vor über fünfhundert Jahren angelegt worden, der Hügel bot den Sturmfängern von Chesterfield einen perfekten Aussichtspunkt für heraufziehende Stürme. Ember eilte durch den Rosengarten und vorbei am Observatorium, ihre Füße glitten lautlos über die gepflasterten Wege. In jeden einzelnen Pflasterstein war sorgfältig Chesterfields Siegel eingraviert worden: die lateinischen Worte Magicae et Scientia standen dort, über einem aufgeschlagenen Buch, aus dem eine dunkle Wolke aufstieg. Magicae et Scientia, Zauberei und Wissenschaft – die beiden Kräfte, die den Lauf der Welt bestimmten.

Ember bevorzugte die Wissenschaft. Sie konnte Stunden damit zubringen, Staubkörner unter dem Mikroskop zu betrachten, die Formation von Felsschluchten zu studieren oder über die sonderbaren Geschöpfe zu lesen, die in der Tiefsee lebten. Sie wollte Zoologin werden. Zur Vorbereitung hatte sie damit angefangen, jede Woche eine neue Spezies aus Takagis Handbuch der exotischen Geschöpfe auswendig zu lernen. Die Frage, wie sich die Ausübung eines Berufs mit ihrer Entflammbarkeit vereinen ließe, stellte sie sich lieber nicht.

Eine Studentengruppe stand laut schwatzend im Licht einer Laterne mitten auf dem Weg. Normalerweise hätte Ember einfach einen Bogen um sie gemacht, doch heute drängte sie sich zwischen ihnen durch, ohne auf ihre entrüsteten Rufe zu reagieren. Einer ihrer unsichtbaren Flügel streifte den Arm eines jungen Mannes, und der wedelte mit der Hand, als hätte er eine Fliege gespürt. Aus irgendeinem Grund flossen ihre Tränen daraufhin nur noch heftiger.

Endlich blieb Ember im Schatten der efeubewachsenen Bibliothek stehen. Dann breitete sie die Flügel aus und erhob sich in den dunkelnden Himmel.

Die Bibliothek hatte ein Dach mit einem Türmchen, und Ember saß gerne rittlings hoch oben auf dem First, ein Bein auf jeder Seite, als wäre das Dach ein Pferd, das sich unter ihr aufbäumen und in den Himmel galoppieren könnte.

Die Nachtluft duftete nach alten Steinen und Sturmzauber, der feucht und purpurn roch. Nur Ember konnte seinen Geruch wahrnehmen – Menschen, sogar Sturmfänger, bemerkten ihn nicht. Sie atmete tief ein, es war der Duft ihres Zuhauses. Weit unter ihr erstreckte sich London, durch die silbrige Themse in zwei Hälften geteilt und von Schwaden grauer Rauchfahnen überzogen. Gleitschiffe fuhren die Kanäle hinauf und hinunter. Obwohl sie kaum größer waren als gewöhnliche Segelboote, hatte jedes von ihnen ein halbes Dutzend haushoher Segel in leuchtenden Farben, die Ember an Schmetterlinge erinnerten. Eine Reihe U-Boote mit gläsernen Wänden wartete darauf, am Uferkai anzulegen, um Passagiere nach Irland, Frankreich oder noch weiter weg zu befördern. Über ihr wirkten die Sterne so nah, dass sie das Gefühl hatte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um sie vom Himmel pflücken zu können wie Brombeeren.

Sie dachte daran, wie ihr Vater sie einmal in die Berge von Wales mitgenommen hatte. Dort waren die Sterne sogar noch heller gewesen. Sie hatten ein Lagerfeuer gemacht, Wiesel gejagt und waren so hoch geflogen, dass sich ein feiner Spitzenbesatz aus Frost auf Embers Haut gelegt hatte. Ihr Vater nahm sie nicht oft auf seine Reisen mit – die Jagd auf Zauberstürme war ein gefährliches Unterfangen –, aber wenn, dann hatten sie immer eine herrliche Zeit.

Sie blickte sehnsüchtig über die Universität hinweg, über die Giebeldächer und Spitztürme und die gepflasterten Wege im Schatten uralter Bäume. Chesterfield hatte zwei Akademien: Die Perseiden-Akademie der Wissenschaften und die Owlworthy-Akademie der Sturmfängerei. Dazwischen verlief eine lange Promenade, die von Statuen berühmter Zauberer und Wissenschaftler gesäumt war. Ihr Blick strich hinüber zu den Wohnhäusern der Professoren, einer Reihe ehrwürdiger Steingebäude, wo sie mit ihrem Vater in einer gemütlichen Wohnung lebte. Direkt daneben waren die Jammerbrücke, der botanische Garten und der Lesewald, ein Wäldchen aus Rosskastanien, wo sich die Studenten gerne aufhielten, um zu lernen und Kastanienschlachten auszutragen. Einige dieser Kämpfe hatte Ember selbst angezettelt. Sie pflegte durch die Baumkronen zu turnen und ihre Geschosse auf ahnungslose Studenten abzufeuern, die sich daraufhin gegenseitig verdächtigten.

Der Wald war ihr Lieblingsplatz, denn dort konnte man auch Füchse antreffen und Hasen und Blindschleichen und mindestens zehn verschiedene Vogelarten. Sie konnte stundenlang in den Baumwipfeln sitzen und beobachten, wie Eulen auf Mäusejagd gingen, Mäuse ihre Baue verteidigten und sich all die anderen kleinen Dramen zutrugen, die zum alltäglichen Leben im Wald gehörten. Sie mochte Tiere – im Gegensatz zu Menschen war ihre Gegenwart erholsam.

Wenn sie sich nicht gerade im Wald aufhielt oder mit ihren Büchern zusammengerollt hatte, verbrachte Ember viel Zeit damit, wie ein Luftgeist durch die Universität zu gleiten, wobei ihr die vielen Nischen, Vorsprünge und Geheimgänge sehr gelegen kamen. Sie bevorzugte es, unentdeckt zu bleiben. Es war sicherer so.

Sie hörte Krallen über die Dachrinne schlittern, gefolgt von einem gepressten »Jetzt!«, als Bausch über einen Wasserspeier sprang und neben Ember landete.

»Ich habe nichts zu fressen für dich«, sagte Ember, während die weiße Katze an ihren Taschen schnupperte. Bausch setzte die Pfoten auf Embers Bein.

»Kalt!«, klagte sie.

Ember nahm die Katze auf den Schoß. Der Wind war angenehm kühl auf Embers Haut, die immer noch kribbelte. Das Feuer tat ihr nicht weh – abgesehen vom Verlust ihrer Haare –, doch besonders angenehm war es nicht, in Flammen aufzugehen wie ein altersschwacher Phönix. Der nahende Sommer bereitete Ember nicht weniger Sorgen als Lionels Schatten.

Die Minuten dehnten sich zu Stunden, doch Ember rührte sich nicht. Sie betrachtete den düsteren Tower of London, wo ihre Tante Myra, Lionel St. Georges jüngere und einzige Schwester, einmal in Gefangenschaft gesessen hatte. Winzige Lichtpunkte flammten in den Straßen auf, während die Laternenanzünder ihre Arbeit verrichteten. Sie fragte sich, wie lange sie hier oben bleiben konnte. Vielleicht würde sie nie wieder hinuntergehen – sie würde auf dem Dach sitzen bleiben, bis Wind und Regen sie in einen Wasserspeier verwandelt hatten. Die Vögel würden auf ihren Flügeln landen – Vögel ließen sich durch Sturmzauber nicht täuschen – und Nester in ihren Haaren bauen, und langsam würde das Moos an ihren Beinen emporklettern.

Ihre Gedanken wurden von einem flappenden Geräusch unterbrochen und ihr Vater tauchte in Sichtweite auf. Lionel St. George trug seinen Flugumhang, der durch und durch aus Rabenfedern gewebt war. Seine Locken waren wie üblich zerzaust vom Wind, den er gejagt hatte. Jetzt, mit dreißig, sah Lionel fast noch genau so aus wie mit achtzehn, mit Pickeln und allem, nur dass er dunkle Ringe unter den Augen hatte. Sie waren ein typisches Merkmal von Sturmfängern, die oft nachts Stürme durchs Land jagten. Wie alle Sturmfänger strahlte Lionel einen leichten Glanz aus und seine Augen leuchteten in der Dunkelheit wie die eines Waldtiers.

»Da bist du ja!«, rief er und ließ sich neben Ember auf dem Dach nieder. Dann verzog er das Gesicht, als ihm einfiel, dass er mit ihr schimpfen musste, weil sie trotz seines Verbots schon wieder hier hoch geflogen war. »Ember … also, ich denke nicht …«

»Tut mir leid«, sagte Ember schnell. »Ich sollte nicht hier sein. Es kommt nicht wieder vor.«

Lionel sah erleichtert aus. »Wunderbar! Bestens. Gut, gut.«

»Du bist früh zurück«, sagte Ember, und Furcht stieg in ihr auf. Normalerweise war es ein Anlass zum Feiern, wenn ihr Vater von einer Reise zurückkehrte. Heute nicht.

Seine Miene hellte sich auf. »Ja, ich habe den Sturm früher erwischt als gedacht. Es war eine sehr ergiebige Reise.« Lionel St. George knisterte regelrecht vor Magie – es musste ein besonders kraftvoller Sturm gewesen sein, möglicherweise einer, der vom Atlantik heraufgezogen war. Eine Motte, die von der Energie angezogen wurde, umflatterte seinen Kopf. Er musterte sie argwöhnisch.

»Du warst noch nicht im Büro?«, fragte Ember zaghaft.

»Doch, ganz kurz.« Seine Stimme war sanft und kein bisschen verärgert. Aus irgendeinem Grund brach Ember gerade deshalb in Tränen aus.

»Na, na.« Ihr Vater nahm sie in die Arme, woraufhin Bausch eifersüchtig zu fauchen begann. »Mach dir nichts draus, Ember. Es ist nicht deine Schuld.«

»Natürlich ist es meine Schuld.« Ember wischte sich mit der Hand über das Gesicht. »Außer mir war kein Drache da. Hast du Ärger bekommen?«

Lionel zuckte die Schultern. »Ärger bin ich gewohnt, mein Liebling. Außerdem hatte ich mir sowieso mehr Zeit gewünscht, um an meinem neuen Buch zu arbeiten.«

Ember erstarrte. »Sie haben dich wieder gefeuert.«

»Nun ja … ich glaube, das war gemeint, auch wenn der Rektor es nicht so gesagt hat. Was er gesagt hat, wiederhole ich lieber nicht.«

»Sie haben dich gefeuert …« Ember hatte das Gefühl, Hals über Kopf hinunter in die Lichter der Stadt zu stürzen. »Wegen mir.«

»Nein, eigentlich wegen der Statue«, erwiderte ihr Vater. »Das letzte Bildnis von Beatrice August. Ich persönlich finde ja, der Ruß steht ihr ganz gut – gibt ihr etwas Verwegenes, oder? Aber der Rektor war leider anderer Ansicht.« Er drückte Ember die Schulter. »Die Statue ist nicht wichtig, mein Liebling. Meine Professur auch nicht. Irgendwann stellen sie mich sowieso wieder ein – spätestens, wenn ich den Kakerlaken-in-Schokolade-Verwandlungszauber perfektioniert habe! Wichtig ist nur, dass dir nichts passiert ist.«

Ember biss sich auf die Lippe. Ihr war nichts passiert. Aber was, wenn jemand verletzt worden wäre? Was, wenn sie nicht die Statue, sondern Bausch verbrannt hätte? Wenn ihr Vater im Büro gewesen wäre? Diesmal hatte sie dafür gesorgt, dass er gefeuert wurde – was, wenn nächstes Mal etwas Schlimmeres passierte?

Dazu durfte es nicht kommen. Es war zu schrecklich, auch nur daran zu denken.

»Du hast recht«, sagte sie. »Ich bin hier nicht sicher. Und bald kommt der Sommer. Du solltest mich wegschicken. Nach Sibirien oder Grönland – ganz egal, Hauptsache, es ist kalt.«

Ihr Vater sah sie groß an. »Ember, ich werde dich doch nicht wegschicken! Wenn ich reisen könnte, könnten wir zusammen irgendwohin fahren – ich wollte schon immer nach Kanada, du nicht auch? Eisbären! Nordlichter! Aber da ich im Augenblick das Land nicht verlassen darf … Eine alberne Überreaktion der Polizei, natürlich, aber leider …«

»Wir müssen etwas tun«, unterbrach Ember ihn. Sie dachte an die verkohlte Statue. Was, wenn es einen Studenten getroffen hätte? »Es passiert immer häufiger.«

Ihr Vater wandte den Blick ab, doch Ember sah einen Schatten über sein Gesicht huschen. Lionel St. George war niemand, der gern plante – das war das Problem. Sie würde die Planung selbst übernehmen müssen.

Ember blickte zum Tower hinüber. Lichter drangen durch die Fenster in der Festungsmauer. Plötzlich kam ihr eine Idee. »Kann ich nicht zu Tante Myra?«

Ihr Vater zog die Augenbrauen hoch. »Myra?«

»Hast du nicht erzählt, dass sie eine Forschungsstation leitet?«, fragte Ember.

»Ember«, sagte Lionel. »Die Forschungsstation deiner Tante ist in Antarktika!«

»Eben! Das wäre perfekt.« Ember redete immer eifriger. »Da würde ich bestimmt nicht in Flammen aufgehen. Außerdem interessiert mich ihre Forschung.«

Ihr Vater legte die Stirn in Falten. Das tat er immer, wenn es um seine Schwester ging, was nicht besonders häufig der Fall war. Ember hatte sie nie kennengelernt – obwohl sie gelegentlich nach London reiste, war entweder sie oder Lionel angeblich zu beschäftigt für ein Treffen. Während ihrer Gefangenschaft hatte Myra St. George im Fernstudium mehrere wissenschaftliche Grade errungen. Eine mehrfach verurteilte Diebin mochte eine ungewöhnliche Wahl für die Leitung einer Forschungsstation sein, doch wie Lionel einmal gesagt hatte, gab es nicht gerade viele Wissenschaftler, die gewillt waren, Monate oder gar Jahre im kältesten, entlegensten Teil des Britischen Reichs zu verbringen.

»Kommt nicht infrage! Deine Tante Myra ist eine Diebin.«

»Eine Diebin, die sich gebessert hat, laut ihrem letzten Brief«, wandte Ember ein. Wie alles andere auch hatte ihr Vater den Brief offen herumliegen lassen. »Sie hat geschrieben, dass sie nichts mehr gestohlen hat, seit sie in Antarktika ist.« Auch wenn das nicht viel heißen musste, da es dort vermutlich ohnehin nichts zu stehlen gab. Aber der Brief hatte rundum nett geklungen, trotz Tante Myras übermäßigen Gebrauchs von Ausrufezeichen.

»Sie hat doch keine Angst vor mir, oder?«, fragte Ember.

»Ach was«, beruhigte ihr Vater sie. »Sie weiß, dass du nicht so bist, wie die Geschichten behaupten.«

Ember biss sich auf die Lippe. Drachen wurde nachgesagt, gnadenlose Killer zu sein – dass sie nur zum Spaß jagten und ihre Opfer zerrissen. Sie war froh, dass sie anders war, auch wenn sie nicht wusste, warum. Der Zauber ihres Vaters hatte nur ihre Gestalt verändert, nicht ihr Wesen. Ihr mangelndes Interesse an Menschenfresserei und anderen Drachenbeschäftigungen war ihr ebenso rätselhaft wie ihrem Vater, auch wenn er oft sagte, dass niemand wisse, wie Drachen wirklich waren. Feuerdrachen waren ausgestorben. Sie war die Letzte ihrer Art.

Ember spürte einen vertrauten Schmerz, wie das Echo eines halb vergessenen Traums. Sie hätte panische Angst gehabt, einem Drachen zu begegnen, doch gleichzeitig flüsterte etwas in ihr: Wer waren sie? Und: Wer bin ich?

Sie schlang die Arme um Bausch. »Schwanz!«, schrie die Katze.

Ihr Vater drückte ihr noch einmal die Schulter. »Mein Liebling, du musst nirgendwo hingehen. Ich arbeite immer noch an einer Lösung. Ich bin schon nahe dran, ganz bestimmt.«

Ember unterdrückte ein Seufzen. Ihr Vater suchte bereits seit Jahren nach einem Mittel, das sie daran hinderte, in Flammen aufzugehen, doch seine Experimente hatten nicht die geringste Wirkung gezeigt. Es war schwer herauszufinden, wo genau der Fehler lag. Lionels Zauber war in mehr als einer Hinsicht unzulänglich gewesen, wofür Embers Flügel ein gutes Beispiel waren, die sich aus irgendeinem Grund nicht mit dem Rest ihres Körpers verwandelt hatten. In den ersten Tagen ihres Lebens war sie ein geflügeltes Baby gewesen, was der Hebamme, die sie untersucht hatte, gar nicht gut bekommen war. Da er keinen Weg gefunden hatte, seinen Zauber zu korrigieren, hatte ihr Vater, um Ember nicht zurück in einen Drachen verwandeln zu müssen (was er übrigens auch nicht konnte), einfach einen zweiten Zauber angewendet und ihre Flügel unsichtbar gemacht. Sie waren immer noch da, weshalb sie Menschenansammlungen und Umarmungen von Fremden aus dem Weg gehen musste – aber das störte Ember nicht weiter.

»Genug der ernsten Gespräche«, sagte ihr Vater. »Lass uns von diesem Dach verschwinden, bevor die Bibliothekare Wind davon bekommen.«

Mit schwirrenden Gedanken folgte Ember ihm nach unten. Die Entschlossenheit verhärtete sich in ihrem Bauch wie ein Stein. Wenn ihr Vater keine Schritte einleitete, um sich vor ihr zu schützen, musste sie es selbst tun. Sie würde dafür sorgen, dass sie nie wieder in Flammen aufging.

DIEORPHEUS

Um Feuerdrachen ranken sich vielerlei Legenden.

Dazu gehört auch der Glaube, dass diese einzelgängerischen Geschöpfe ihr Leben in den Wolken verbringen, die sich an Berggipfeln sammeln, und sich bei Berührung mit dem Erdboden augenblicklich in Luft auflösen.

Takagis »Handbuch der exotischen Geschöpfe«

 

 

Zwei Wochen später blickte Ember an dem gewaltigen Semischiff empor, das auf der Themse vor ihr aufragte, halb Unterseeboot, halb Ozeandampfer, mit einem gläsernen Rumpf, der es den Passagieren erlaubte, hinaus in die Tiefen des Meeres zu blicken. Männer und Frauen eilten über das Dock, auf dem Weg zur Arbeit oder zu Erledigungen in der Stadt, allesamt Fasern des verrauchten, fließenden Gewebes von London. Ember hatte schon Heimweh, obwohl sie noch nicht einmal abgereist war. Sie vermisste sogar Sachen, die sie gar nicht mochte, wie die lärmenden Feiern der Zaubereistudenten im ersten Jahr oder den zänkischen Waschbären, der im Dach der Festhalle wohnte und den alle für den Geist des zänkischen Kochs hielten.

»Also dann!«, sagte ihr Vater. Das hatte er in letzter Zeit oft gesagt, mit übertrieben zuversichtlicher Stimme. Dann musterte er sie von Kopf bis Fuß und murmelte: »Ember, bist du dir sicher? Du kannst es dir immer noch anders überlegen, mein Liebling.«

Er sah so hoffnungsvoll aus, dass Ember am liebsten nachgegeben hätte. Aber dann dachte sie an Beatrice August und das Büro ihres Vaters und die Strahlen der Frühlingssonne, die auf den Wellen der Themse tanzten. »Ich bin mir sicher.«

Ihr Vater seufzte. »Ich muss gestehen, dass mich der Brief deiner Tante etwas überrumpelt hat. Ich hatte seit Monaten nichts von ihr gehört. Und jetzt lädt sie dich aus heiterem Himmel nach Antarktika ein! Sie hat natürlich schon immer gesagt, dass sie dich gerne kennenlernen würde, aber ich hatte mir das eher so vorgestellt, dass wir alle miteinander eine Tasse Tee trinken würden …«

Ember schwieg. Sie hatte selbst heimlich an ihre Tante geschrieben und ihr die Situation so behutsam wie möglich geschildert, wobei sie Ausdrücke wie »in Flammen aufgehen« und »das Büro meines Vaters abgebrannt« wohlweißlich vermieden hatte. Es war ein Schuss ins Blaue gewesen, doch es hatte funktioniert – Tante Myra hatte ihrem Vater postwendend einen Brief geschickt und sie zu sich eingeladen. Die Aussicht auf Embers Kommen schien sie zu freuen, wenn man nach den noch großzügiger als sonst verwendeten Ausrufezeichen ging, die sich bisweilen sogar mitten im Satz fanden. Ihr Vater hatte eine ganze Weile vor sich hin gegrummelt, aber dann doch – nach langem Betteln – nachgegeben und Ember erlaubt, bis zum Ende des Sommers bei ihrer Tante zu bleiben.

Lionel nahm sie fest in die Arme. »Wenigstens wirst du zum Festessen am Beginn des neuen Semesters wieder da sein. Vielleicht machen wir ja sogar eine Willkommensfeier! Der Schatten und ich haben schon ein paar Ideen.«

Ember lächelte, doch sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Sie würde nicht nach London zurückkehren, solange sie eine Gefahr darstellte. Sie durfte nicht das Leben ihres Vaters aufs Spiel setzen. Oder Bauschs. Oder sonst irgendjemandes.

Und das bedeutete höchstwahrscheinlich, dass sie nie wieder zurückkehren würde.

Sie wollte nicht gehen. Es fühlte sich an wie eine Flucht. Aber was sollte sie sonst tun? Wie so oft in letzter Zeit spürte sie eine hilflose Wut in sich aufsteigen. Sie wusste nicht, auf wen oder was sie wütend war, und das machte sie irgendwie noch wütender. Würde London sich verändern, während sie fort war? Und Chesterfield? Würde ihr Vater ohne sie zurechtkommen? Manchmal war er so in seine Experimente vertieft, dass er vergaß, etwas zu essen, wenn sie ihn nicht daran erinnerte.

»Deine Tante scheint zu denken, dass es dir in Antarktika gefallen wird«, sagte Lionel mürrisch. »Sie sagt, es sei ein ruhiger und schillernder Ort. Das klingt tatsächlich nach dir.«

Ember musste lächeln.

Die Stimme ihres Vaters wurde leiser. »Ich werde eine Lösung finden, Ember. Das alles ist ja meine Schuld. Wenn ich diesen Sturmzauber nicht so voreilig angewandt hätte …«

»Du hast mir das Leben gerettet«, fiel Ember ihm ins Wort. Sie konnte es nicht leiden, wenn ihr Vater so redete. Sie bekam dann immer das Gefühl, dass er einen Fehler gemacht hatte, als er sie adoptierte, obwohl sie wusste, dass er es nicht so meinte. »Außerdem warst du der Erste, der so etwas ausprobiert hat. Du hast dein Bestes gegeben.«

Lionel schüttelte den Kopf. »Du solltest mich nicht trösten, meine Tochter. Ich hätte umsichtiger vorgehen sollen, als ich dich gefunden habe. Aber ich verspreche dir, wenn du zurückkommst, habe ich eine Lösung!« Seine Augen blitzten. »Ich glaube, diesmal bin ich auf dem richtigen Weg.«

Das hatte er schon öfter gesagt, und Ember wünschte, sie könnte ihm glauben. In letzter Zeit hatte sie allerdings begonnen, das Gegenteil zu befürchten: dass der Zauber immer rissiger wurde, bis er irgendwann ganz zusammenbrechen und sie wieder ein Drache würde. Wenn sie davon träumte, war sie allein und verloren, flog über eine graue Landschaft oder wurde von Jägern mit Pfeil und Bogen verfolgt. Sie hatte keine Erinnerung daran, ein Drache gewesen zu sein, und auch kein Bedürfnis, wieder einer zu werden. Was, wenn sie etwas Schlechtes, etwas Böses wurde? Ember schauderte. Manchmal fühlte sich ihr Körper wie ein Mantel an, den sie jederzeit verlieren konnte – ohne zu wissen, was darunter verborgen war.

»Ah, da ist ja unser guter alter Eli«, sagte ihr Vater und winkte einem Mann zu, der sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Es war Professor Rosenberg, ein Freund und Magierkollege von Lionel und Embers Reisebegleiter. Er hatte einen üppigen Schnurrbart und keuchte beim Lachen beunruhigend, als könnte er daran ersticken. Ember mochte ihn. Anders als die meisten Menschen hatte er kein Problem mit Unklarheiten – er wusste, dass Ember außergewöhnlich war, doch er drängte ihren Vater nie zu Erklärungen. »Bei ihm bist du gut aufgehoben.«

»Bestens aufgehoben.« Professor Rosenberg nickte bestätigend. Wie die meisten Magier trug er einen prachtvollen Mitternachtsmantel, hatte immer einen Wünschelstab bei sich, der Stürme ortete, und bot auf dem schmutzigen Dock einen beeindruckenden Anblick. Ein Sturmfänger war er allerdings nicht, also niemand, der selbst Zauber tätigen konnte. Magier studierten Zauberei nur, so wie Astronomen die Sterne studieren. Alle Sturmfänger waren auch Magier, aber nicht alle Magier waren Sturmfänger.

Die Menge um das Semischiff lichtete sich. Ember versuchte sich vorzustellen, dass sie eine furchtlose Wissenschaftlerin war, die auf eine überaus wichtige Expedition ging, und fragte sich, ob furchtlose Wissenschaftlerinnen sich bei ihrer Abreise auch manchmal so fühlten, als hätten sie den Bauch voller Steine. Ihr Vater drückte sie ein letztes Mal an sich, und Ember sog den vertrauten Geruch seines Mantels ein, eine Mischung aus Magie und Ingwerplätzchen. Sie brachte ein trübes Lächeln zustande, ergriff Professor Rosenbergs Hand und folgte ihm über die Landungsbrücke.

Ember blinzelte in den eisigen Dunst. Die Orpheus hatte gerade einen Sturm durchquert – einen gewöhnlichen, keinen magischen –, und der Wind trug noch den Nachhall seines Zorns. Der Rumpf des Schiffs klatschte sanft gegen mächtige Eisbrocken, die das Wasser durchsetzten. Ember trug einen Wollmantel und eine Mütze, obwohl sie beides nicht brauchte. Der Mantel war neu, und wie ihre Kleider war er verzaubert, damit ihre Flügel hindurchpassten. In ihrer Manteltasche steckte ein Stück von einem zerbrochenen Pflasterstein aus Chesterfield (Magicae et Scientia), weil sie gedacht hatte, dass es ihr leichter fallen würde, ihr Zuhause zu verlassen, wenn sie einen kleinen Teil davon mitnahm. Sie umklammerte den Pflasterstein so fest, dass sich die Inschrift in ihre Haut bohrte.

Vor ihr, irgendwo im Nebel, lag Antarktika.

Ember schauderte, aber nicht wegen der Kälte. Der frostige Wind fühlte sich herrlich an, wenngleich die stämmigen Seemänner an Deck des Königlichen Marineschiffs Orpheus in so viele Schals und Mäntel gehüllt waren, dass man sie kaum noch als Menschen erkennen konnte.

Die drei Wochen an Bord der Orpheus hatten sich zäh dahingezogen. An den Tagen, an denen das Semischiff an die Oberfläche kam, wäre sie zu gern an Deck gegangen, doch es war zu gefährlich – vor allem, als sie sich dem Äquator näherten und die Sonne immer stärker wurde. Sie war froh, dass sie wenigstens an Bord eines Semischiffs reiste, einem der schnellsten und fortschrittlichsten Schiffe der britischen Marine. Jeden Abend war sie mit Blick auf Haie, Seehunde, Mantarochen und Fische aller Art eingeschlafen, die am Fenster ihrer Unterwasserkabine vorbeischwammen. Sie war sich ziemlich sicher, mindestens eine neue Quallenart entdeckt zu haben, und hatte sorgfältige Skizzen angefertigt für den Fall, dass sie eines Tages ein Buch über Nesseltiere schrieb. Sie versuchte, ihre Traurigkeit unter Büchern zu begraben, und lernte mehrere neue Spezies aus Takagis Handbuch auswendig: den Capybara, den Ceylon-Hutaffen, den Chihuahua, den Chinchilla und die Chinesische Zwergwachtel.

Sie fragte sich, ob noch andere Kinder in der Forschungsstation lebten. Sie kam nicht gut mit anderen Kindern zurecht. Sie fand sie seltsam – sie waren laut und chaotisch wie Zauberstürme, rannten herum, machten Geschrei und spielten Spiele ohne anständige Regeln. Aber natürlich hatte sie nicht viel Erfahrung mit Kindern. Aufgrund der Gefahr, ihre Mitschüler in Brand zu stecken, war Ember nie zur Schule gegangen.

Sie dachte an Chesterfield und an ihr kleines Zimmer mit dem Fensterbrett, auf dem sie es sich gerne bequem machte. Was ihr Vater wohl gerade tat? Hielt Bausch ein Nickerchen an ihrem Lieblingsplatz unter Embers Bett?

Ihr Heimweh wurde immer größer. Es fühlte sich an wie Eiszapfen im Bauch, scharf und kalt.

»Kannst es kaum erwarten, einen ersten Blick drauf zu werfen, was?«, sagte eine Stimme hinter ihr. Der Erste Offizier Jack, ein großer, klapperdürrer Amerikaner, der immerzu lächelte, trat an die Reling.

»Ja«, sagte Ember, die im Laufe der Zeit festgestellt hatte, dass man unerwünschte Gespräche am besten kurz hielt, indem man allem zustimmte, was der andere sagte.

»Nervös?« Der Erste Offizier Jack musterte sie. »Manche sind nervös, wenn sie das erste Mal herkommen. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es dir so geht, bei deinem berühmten Papa.«

Ember wusste nicht, was ihr berühmter Vater damit zu tun hatte, ob sie nervös war oder nicht, aber die meisten Leute hatten großen Respekt vor Lionel St. George und brachten ihn einfach gern zur Sprache. »Ein bisschen«, stimmte sie zu.

Der Mann klopfte ihr auf den Rücken – Ember konnte gerade noch rechtzeitig ihre Flügel zur Seite klappen. »Mach dir keine Sorgen. Es ist ein sonderbarer Ort, das ist wahr, also pass gut auf dich auf. Die Unterseite der Erde, so sagt man doch. Ich bin schon ewig Offizier für das Britische Reich und habe Orte gesehen, die du dir gar nicht vorstellen kannst, aber wenn wir hier anlegen, bleibe ich lieber an Bord.«

»Warum?«, fragte Ember. »Es ist doch nur ein Haufen Schnee und Eis, oder nicht?«

Der Erste Offizier Jack warf ihr einen langen Blick zu. »Schnee und Eis, ja, und zwar reichlich. Mehr als reichlich, könnte man sagen. Genug, um einen Menschen verrückt zu machen.«

Ember runzelte die Stirn. Sie hatte wenig Erfahrung mit Schnee – in London fielen jeden Winter nur wenige Zentimeter, gerade genug, dass die Stadt für ein paar Stunden wie mit Zuckerguss überzogen war, bis das fluffige Weiß matschig und schwarz wurde. Sie wusste nicht, wie man davon verrückt werden sollte.

»Vor den Drachen hat man dich ja sicher gewarnt«, sagte der Erste Offizier Jack. »Bald ist Sommer – also Winter in diesem Teil der Erde –, da sind sie wieder unterwegs.«

Ember schauderte. Die endlosen Eisflächen von Antarktika waren die Heimat der letzten bekannten Drachenkolonien der Welt. Eisdrachen waren schwer zu fassen und äußerst eigenartig, eher Eis- als Feuerspucker. Ember bezweifelte, dass sie überhaupt einen von ihnen zu Gesicht bekommen würde – Eisdrachen gingen Menschen noch geschickter aus dem Weg als Leoparden –, doch schon die Möglichkeit erfüllte sie mit Schrecken und Aufregung zugleich. Würden sie sie erkennen? Würden sie sie als eine der ihren betrachten oder als ihren Feind?