Emily Wildes Enzyklopädie der Feen - Heather Fawcett - E-Book
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Emily Wildes Enzyklopädie der Feen E-Book

Heather Fawcett

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Beschreibung

Die Cambridge-Professorin Emily Wilde ist in vielem gut: Sie ist die führende Expertin für Feen, eine geniale Gelehrte und akribische Forscherin, die die erste Enzyklopädie über Feenkunde verfasst. Allein mit Menschen kommt sie nicht zurecht und zieht die Gesellschaft ihrer Bücher, ihres Hundes Shadow und des Feenvolkes vor. Als sie für ihre Forschung in das verschneite Dorf Hrafnsvik reist, hat Emily nicht vor, sich mit den ruppigen Einwohnern anzufreunden. Ebenso wenig möchte sie Zeit mit ihrem akademischen Rivalen Wendell Bambleby verbringen, der mit seinem unerträglichen Charme die Dorfbewohner um den Finger wickelt, sich in Emilys Arbeit einmischt und sie völlig verwirrt. Doch während Emily den Geheimnissen des verborgenen Feenvolkes auf den Grund geht, kommt sie auch einem anderen Rätsel auf die Spur: Wer ist ihr Kollege Wendell Bambleby, und was will er wirklich? Um die Antwort zu ergründen, muss sie erst das größte Geheimnis von allen lüften - ihr eigenes Herz. Ein cosy Fantasy-Roman für Fans von Mary Brennan und Holly Black

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Heather Fawcett

Emily Wildes Enzyklopädie der Feen

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Kemper

 

Über dieses Buch

 

 

Unterschätze niemals die Macht der Feen …

 

Die Cambridge-Professorin Emily Wilde ist in vielem gut: Sie ist die führende Expertin für Feen, eine geniale Gelehrte und akribische Forscherin, die die erste Enzyklopädie über Feenkunde verfasst. Allein mit Menschen kommt sie nicht zurecht und zieht die Gesellschaft ihrer Bücher, ihres Hundes Shadow und des Feenvolkes vor. Als sie für ihre Forschung in das verschneite Dorf Hrafnsvik reist, hat Emily nicht vor, sich mit den ruppigen Einwohnern anzufreunden. Ebenso wenig möchte sie Zeit mit ihrem akademischen Rivalen Wendell Bambleby verbringen, der mit seinem unerträglichen Charme die Dorfbewohner um den Finger wickelt, sich in Emilys Arbeit einmischt und sie völlig verwirrt. Doch während Emily den Geheimnissen des verborgenen Feenvolkes auf den Grund geht, kommt sie auch einem anderen Rätsel auf die Spur: Wer ist ihr Kollege Wendell Bambleby, und was will er wirklich? Um die Antwort zu ergründen, muss sie erst das größte Geheimnis von allen lüften - ihr eigenes Herz.

Ein herzerwärmender Fantasy-Roman für Fans von Neil Gaiman, Mary Brennan und Holly Black

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Heather Fawcett hat bereits zahlreiche Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Emily Wildes Enzyklopädie der Feen ist ihr erster Fantasyroman für Erwachsene. Sie hat einen Master in englischer Literatur und arbeitete als Archäologin, Fotografin, technische Redakteurin und Backstage-Assistentin für ein Shakespeare-Theaterfestival. Sie lebt auf Vancouver Island, Kanada.

 

Eva Kemper, geboren 1972 in Bochum, studierte in Düsseldorf Literaturübersetzen. Neben Junot Díaz’ ›Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao‹ übersetzte sie aus dem Englischen u.a. Werke von Peter Carey, Louis de Bernières, Tom Rob Smith, Martin Millar und Penny Hancock.

20. Oktober 1909

Hrafnsvik, Ljosland

Shadow ist sichtlich unzufrieden mit mir. Er liegt vor dem Kaminofen, während der kalte Wind an der Tür rüttelt, und starrt mich – ohne das leiseste Schwanzwedeln – unter seinen zotteligen Haaren hervor so vorwurfsvoll resigniert an, wie es nur Hunde können. Als wollte er sagen: Du hast mich schon auf viele dumme Abenteuer mitgeschleppt, aber dieses wird uns mit Sicherheit ins Grab bringen. Ich fürchte, ich muss ihm zustimmen, trotzdem brenne ich darauf, mit meiner Arbeit zu beginnen.

Hier soll der wahre Bericht meiner täglichen Feldforschung entstehen, die Dokumentation meines Versuchs, die geheimnisvolle Feenspezies zu beobachten, die man »die Verborgenen« nennt. Dieses Tagebuch hat zwei Aufgaben: Es soll meine Erinnerung stützen, wenn ich meine Feldnotizen formal ordne, und es soll späteren Forschern als Protokoll dienen, falls ich vom Kleinen Volk gefangen werde. Verba volant, scripta manent. Wie bei meinen früheren Forschungstagebüchern setze ich auch hier beim Leser grundlegende Kenntnisse der Dryadologie voraus, werde allerdings Bezüge, die Neulingen auf diesem Gebiet nicht vertraut sein dürften, erläutern.

Bisher gab es für mich keinen Anlass, Ljosland zu besuchen, und ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass mein erster Blick heute Morgen meinen Enthusiasmus nicht gedämpft hätte. Die Reise von London hierher dauert fünf Tage, und sie lässt sich nur mit dem Frachtschiff bewerkstelligen, das einmal die Woche eine reiche Auswahl an Waren und eine wesentlich kleinere Auswahl an Passagieren befördert. Während wir stetig nach Nordwesten fuhren und Eisbergen auswichen, lief ich auf Deck auf und ab, um meine Seekrankheit zu lindern. Als eine der Ersten sah ich die schneebedeckten Berge, die sich aus dem Meer erhoben, und die roten Dächer des Dörfchens Hrafnsvik, das sich darunter zusammenkauert wie Rotkäppchen, hinter dem der böse Wolf aufragt.

Langsam näherten wir uns dem Dock, doch trotz aller Vorsicht ließen uns die wuchtigen grauen Wellen einmal dagegenprallen. Die Rampe wurde mit Hilfe einer Winde heruntergelassen, bedient von einem alten Mann, dem lässig eine Zigarette zwischen den Zähnen klemmte – wie mühelos es ihm gelang, bei diesem Wind zu rauchen, beeindruckte mich derart, dass ich noch Stunden später an die Glut zurückdachte, die in dem feinen Sprühnebel leuchtete.

Ich stellte fest, dass ich als Einzige von Bord ging. Der Kapitän stellte meine Reisetruhe mit einem Rums auf das vereiste Dock und bedachte mich mit seinem typischen leicht belustigten Blick, als wäre ich ein Witz, den er nur zur Hälfte verstand. Das Ziel meiner wenigen Mitreisenden war offenbar die einzige Stadt auf Ljosland – Loabær, die nächste Anlegestelle des Schiffs. Ein Besuch von Loabær war bei meiner Reise nicht eingeplant, weil man das Kleine Volk nicht in Städten findet, sondern in den entlegenen, vergessenen Ecken der Welt.

Zu meiner Überraschung konnte ich vom Dock aus das Häuschen sehen, das ich gemietet hatte. Der Bauer, dem das Land gehörte, ein gewisser Krystjan Egilson, hatte es mir im Zuge unserer Korrespondenz beschrieben – ein gedrungener steinerner Bau mit einem leuchtend grünen Grassodendach, gleich hinter dem Dorf am Berghang und am Rand des Waldes Karrðarskogur. Die Landschaft wirkte so gestochen klar, die Details deutlich und abgegrenzt voneinander wie mit Garn gestickt, von dem Gewirr bunt gestrichener Häuschen über das lebhafte Grün der Küste bis zu den Gletschern auf den Berggipfeln, dass ich glaubte, ich könnte die Raben in ihren Bergnestern zählen.

Die Seeleute machten einen weiten Bogen um Shadow, als wir das Dock entlanggingen. Der alte Irische Wolfshund ist auf einem Auge blind und bringt gerade noch genug Energie für ein gemächliches Dahinzockeln auf, bei weitem nicht genug, um ungehobelten Seeleuten die Kehle herauszureißen, doch das sieht man ihm nicht an; er ist ein imposantes Tier, schwarz wie die Nacht, mit bärengroßen Tatzen und strahlend weißen Zähnen. Vielleicht hätte ich ihn in der Obhut meines Bruders in London lassen sollen, aber das brachte ich nicht über mich, zumal er in meiner Abwesenheit zu Niedergeschlagenheit neigt.

Es gelang mir, meine Reisetruhe über das Dock und durchs Dorf zu zerren – es waren nur wenige Bewohner zu sehen, die meisten arbeiteten wahrscheinlich auf den Feldern oder Fischerbooten, aber diese wenigen starrten mich an, wie nur Dorfbewohner am Rande der bekannten Welt eine Fremde anstarren können. Keiner meiner Bewunderer bot mir seine Hilfe an. Shadow trottete sanft neben mir her und betrachtete sie vage interessiert, und erst dann wandten sie den Blick ab.

Ich habe schon weit rustikalere Gemeinden als Hrafnsvik gesehen, weil mich meine Arbeit quer durch Europa und Russland geführt hat, in große und kleine Dörfer und schöne und schaurige Einöden. Bescheidene Unterkünfte und bescheidene Menschen sind mir vertraut – einmal habe ich im Käsereischuppen eines andalusischen Bauern übernachtet –, aber noch nie bin ich so weit in den Norden gereist. Der Wind hatte Schnee gekostet, vor kurzem erst; er zerrte an meinem Schal und meinem Mantel. Ich brauchte eine gehörige Weile, um meine Truhe die Straße hinaufzuzerren, aber wenn ich eines bin, dann hartnäckig.

Das Dorf war von Feldern umgeben. Sie hatten nichts mit den adretten, sanften Hügeln gemein, die ich kannte, sondern waren übersät mit Klumpen von nachlässig in Moos gewandetem Vulkangestein. Und war der Blick damit noch nicht ausreichend abgelenkt, so ließ das Meer wellenweise Nebel über den Küstenstreifen schwappen.

Am Dorfrand entdeckte ich den schmalen Pfad zum Häuschen hinauf – der Berghang war so steil, dass der Weg sich in einer Reihe von Serpentinen hinaufwand. Das Haus schmiegte sich wagemutig in eine kleine Nische am Berghang. Es lag nur zehn Minuten vom Dorf entfernt, allerdings waren es für mich zehn Minuten schweißtreibender Steigung, und so keuchte ich, als ich die Tür erreichte. Sie war nicht einfach unverschlossen, sondern besaß gar kein Schloss, und als ich sie aufdrückte, entdeckte ich im Haus ein Schaf.

Einen Moment lang starrte es mich kauend an, dann hielt ich ihm höflich die Tür auf, und es zuckelte zurück zu seinen Gefährten. Shadow schnaubte, gab sich aber ansonsten ungerührt – bei unseren Streifzügen durch die ländliche Umgebung von Cambridge war er einer erklecklichen Anzahl von Schafen begegnet und betrachtete sie jetzt mit dem weltmännischen Desinteresse eines alternden Hundes.

Im Haus schien es noch kälter zu sein als draußen. Es war so schlicht wie erwartet, mit beruhigend soliden Steinwänden und einem Geruch, bei dem ich auf Papageientaucherkot tippte, der möglicherweise aber auch vom Schaf stammte. Ein Tisch und Stühle, allesamt verstaubt, weiter hinten eine kleine Küche mit einigen Töpfen an der Wand und noch mehr Staub. Vor dem Kaminofen stand ein alter, modrig riechender Lehnsessel.

Obwohl ich gerade meine Truhe den Hügel hinaufgezogen hatte, zitterte ich vor Kälte, und jetzt fiel mir auf, dass ich weder Holz noch Streichhölzer hatte, um ein Feuer anzuzünden, und dass ich, was möglicherweise noch beunruhigender war, selbst dann nicht gewusst hätte, wie ich vorgehen sollte – ich hatte das noch nie gemacht. In diesem Moment warf ich einen Blick aus dem Fenster und sah, dass es zu allem Unglück mittlerweile schneite.

Als ich hungrig und verfroren auf den leeren Kaminofen starrte, fragte ich mich zum ersten Mal, ob ich hier sterben würde.

Damit Sie nicht glauben, die Feldarbeit im Ausland sei neu für mich, möchte ich Ihnen versichern, dass dies nicht der Fall ist. Auf der Suche nach den lutins des rivières habe ich mehrere Monate in einem abgelegenen Teil der Provence verbracht, in dem die Dorfbewohner noch nie eine Kamera zu Gesicht bekommen hatten. Davor lagen ein längerer Aufenthalt in den Wäldern des Apennin mit hirschgesichtigen Parzen und ein halbes Jahr in der kroatischen Wildnis als Assistentin eines Professors, der sich auf die Musik des Kleinen Volks der Berge spezialisiert hatte. Nur hatte ich dabei immer gewusst, worauf ich mich einließ, und wurde von ein, zwei Doktoranden begleitet, die sich um die Logistik kümmerten.

Und es hatte nicht geschneit.

Ljosland ist die isolierteste Gegend Skandinaviens, eine Insel in der rauen See vor der norwegischen Festlandküste, und seine nördlichste Spitze berührt den Polarkreis. Die Strapazen, einen solchen Ort zu erreichen – die lange und unbequeme Reise nach Norden – hatte ich eingeplant, doch jetzt begriff ich, dass ich kaum einen Gedanken daran verschwendet hatte, wie schwierig es werden könnte, bei etwaigen Problemen hier wegzukommen, vor allem, wenn das Meereseis uns einschloss.

Ein Klopfen an der Tür ließ mich aufspringen. Der Besucher kam herein, ohne sich um meine Erlaubnis zu kümmern, und stampfte mit den Stiefeln auf den Boden wie ein Mann, der nach einem langen Tag sein eigenes Heim betritt.

»Professorin Wilde«, sagte er und streckte die Hand aus. Es war eine große Hand, denn er war ein großer Mann, sowohl hochgewachsen als auch breit in den Schultern und in der Körpermitte. Er hatte struppige schwarze Haare und ein kantiges Gesicht mit einer gebrochenen Nase, was ein erstaunlich attraktives Ganzes ergab, wenn auch auf eine durch und durch unnahbare Art. »Haben Ihren Hund mit, wie ich sehe. Prächtiges Tier.«

»Mr Egilson?«, fragte ich höflich und schüttelte seine Hand.

»Na, wer soll ich sonst sein?«, entgegnete mein Vermieter. Ich war nicht sicher, ob er gezielt unfreundlich war oder ob er generell leicht feindselig auftrat. An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass ich so gar kein Händchen dafür habe, Menschen einzuschätzen, eine Schwäche, die mir bereits eine Reihe unangenehmer Situationen beschert hat. Bambleby hätte bei diesem Bären von einem Mann genau den richtigen Ton getroffen und ihn vielleicht mit einem charmant beiläufigen Witz bereits zum Lachen gebracht.

Verdammter Bambleby, dachte ich. Mein Sinn für Humor ist leider nicht sehr ausgeprägt, und in solchen Situationen wünschte ich sehr, das wäre anders.

»Sie haben eine ganz schöne Reise hinter sich.« Egilson sah mich beunruhigend durchdringend an. »Weiter Weg von London. Seekrank geworden?«

»Von Cambridge, genauer gesagt. Das Schiff war ziemlich …«

»Die Leute im Dorf haben Sie bestimmt angestarrt, oder? ›Was für ein zartes Persönchen kommt da die Straße rauf?‹, haben sie gedacht. ›Das kann nicht diese gescheite Professorin aus dem fernen London sein, von der wir gehört haben. Wie sie aussieht, hätte sie die Reise nicht überstanden.‹«

»Ich habe keine Ahnung, was sie über mich gedacht haben«, sagte ich und überlegte, wie in aller Welt ich das Gespräch auf dringlichere Themen lenken konnte.

»Na ja, sie haben es mir erzählt«, sagte er.

»Ich verstehe.«

»Hab auf dem Weg hier rauf den alten Sam und seine Frau Hilde getroffen. Wir sind alle sehr neugierig, was Ihre Forschung angeht. Sagen Sie mal, wie wollen Sie das Kleine Volk eigentlich fangen? Mit einem Schmetterlingsnetz?«

Selbst ich erkannte, dass die Frage spöttisch gemeint war, deshalb antwortete ich frostig: »Seien Sie versichert, dass ich nicht vorhabe, eines Ihrer Feenwesen zu fangen. Mein Ziel ist lediglich, sie zu studieren. Es ist die erste Forschung dieser Art auf Ljosland – ich fürchte, bis vor kurzem hat der Rest der Welt Ihre Verborgenen für reine Sagengestalten gehalten, im Gegensatz zu den verschiedenen Arten des Volks auf den Britischen Inseln und dem europäischen Festland, von denen neunzig Prozent weitreichend dokumentiert sind.«

»Wäre besser, wenn es so bliebe, für alle Betroffenen.«

Das klang nicht sehr ermutigend. »Soweit ich erfahren habe, gibt es auf Ljosland mehrere Arten von Feen, und viele von ihnen leben in diesem Teil des Suðerfjölls. Die Geschichten, denen ich nachgehen werde, reichen von Brownie-ähnlichen bis zu höfischen Feen.«

»Davon verstehe ich kein Wort«, sagte er ausdruckslos. »Aber Sie sollten sich bei Ihren Nachforschungen lieber auf die kleinen Arten beschränken. Es kommt nichts Gutes dabei raus, wenn Sie die anderen provozieren, weder für Sie noch für uns.«

Ich war fasziniert, obwohl ich natürlich schon Andeutungen über die furchterregende Natur der höfischen Feen auf Ljosland gehört hatte – einer Feenart, die beinahe menschliche Form annimmt. Aber der Wind kam meinen Fragen zuvor, er stieß die Tür auf und pustete einen Schwall Schneeflocken ins Häuschen. Egilson drückte die Tür mit der Schulter zu.

»Es schneit.« Derart dümmliche Bemerkungen passten nicht zu mir. Leider muss ich gestehen, dass mich beim Anblick des Schnees, der in den Kaminofen wehte, wieder ein Stück weit makabre Verzweiflung überkam.

»Das kommt gelegentlich vor«, entgegnete Egilson mit einem Anflug schwarzen Humors, der mir eher zusagte als vorgetäuschte Freundlichkeit, was nicht heißen soll, er habe mir gefallen. »Aber keine Sorge. Der Winter hat noch nicht Einzug gehalten, das ist nur ein kleines Räuspern. Der Himmel wird bald aufklaren.«

»Und wann kommt der Winter?«, fragte ich finster.

»Das merken Sie dann.« An solche ausweichenden Antworten sollte ich mich bald gewöhnen, denn Krystjan war ein ausweichender Mann. »Für eine Professorin sind Sie ganz schön jung.«

»In gewisser Weise«, sagte ich in der Hoffnung, diesen Vorstoß mit einer vagen Entgegnung auszubremsen. Mit dreißig bin ich nicht mehr besonders jung für eine Professorin, zumindest nicht jung genug, um darüber verwundert zu sein. Vor acht Jahren allerdings war ich tatsächlich die jüngste Professorin, die je in Cambridge eingestellt wurde.

Er grummelte amüsiert. »Ich muss auf dem Hof weiterarbeiten. Kann ich Ihnen bei irgendwas helfen?«

Er stellte die Frage nur pro forma und wollte sich schon seitlich durch die Tür schieben, als ich rasch antwortete: »Tee wäre wunderbar. Und Feuerholz – wo wäre das zu finden?«

»In der Holzkiste«, sagte er verdutzt. »Neben dem Ofen.«

Ich drehte mich um und entdeckte die erwähnte Kiste sofort – ich hatte sie für eine Art primitive Kleidertruhe gehalten.

»Draußen im Holzschuppen ist mehr«, sagte er.

»Im Holzschuppen.« Ich seufzte erleichtert. Meine Sorge, ich könnte erfrieren, erwies sich als voreilig.

Mein Tonfall, der leider deutlich verriet, dass mir das Wort zum ersten Mal über die Lippen gekommen war, entging ihm offenbar nicht, denn er bemerkte: »Sie sind eher die Sorte Stubenhocker, was? Ich fürchte, die sind in dieser Gegend rar gesät. Ich schicke gleich Finn mit Tee zu Ihnen. Das ist mein Sohn. Und bevor Sie fragen, die Streichhölzer sind in der Streichholzschachtel.«

»Natürlich«, sagte ich, als hätte ich die Schachtel längst entdeckt. Mein Stolz sei verdammt, aber nach dem peinlichen Moment mit der Holzkiste brachte ich es nicht über mich zu fragen, wo ich die Schachtel finden konnte. »Danke, Mr Egilson.«

Er schaute mich an, blinzelte langsam, dann holte er eine kleine Schachtel aus seiner Hosentasche und stellte sie auf den Tisch. In einem Wirbel eisiger Luft verschwand er.

20. Oktober – Abend

Nachdem Krystjan gegangen war, versperrte ich die Tür mit dem an der Wand lehnenden Holzbrett, das dafür offenbar vorgesehen war und das ich ebenso wie die verdammte Holzkiste bisher übersehen hatte. Dann mühte ich mich zwanzig Minuten äußerst erfolglos mit dem Holz und den Streichhölzern ab, bis es erneut klopfte.

Ich öffnete die Tür und betete, dass das relativ höfliche Auftreten dieses Besuchers für mein Überleben Gutes verhieß.

»Professorin Wilde«, sagte der junge Mann auf der Türschwelle in diesem leicht ehrfurchtsvollen Ton, den ich schon früher in abgelegenen Dörfern gehört hatte, und ich schmolz vor Erleichterung fast dahin. Finn Krystjanson war nahezu das Ebenbild seines Vaters, nur schmaler in der Körpermitte und mit einem angenehmen Zug um den Mund.

Er schüttelte mir eifrig die Hand, betrat vorsichtig das Häuschen und zuckte zusammen, als er Shadow sah. »Was für ein stattliches Tier«, sagte Finn. Er sprach Englisch mit einem stärkeren Akzent als sein Vater, aber ebenso fließend. »Da werden sich die Wölfe in Acht nehmen.«

»Hm«, machte ich nur, ohne Finn zu antworten. Shadow interessiert sich nicht besonders für Wölfe, für ihn scheinen sie in dieselbe Kategorie wie Katzen zu fallen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er reagieren würde, sollte ihn jemals ein Wolf herausfordern, wahrscheinlich würde er nur gähnen und dem Tier mit seiner tellergroßen Pfote einen Hieb verpassen.

Finn beäugte den kalten Ofen und das Häufchen zerbrochener Streichhölzer ohne ein Anzeichen von Überraschung, und ich vermutete, dass sein Vater ihn vor meinen Fähigkeiten gewarnt hatte. Ich muss gestehen, der Stubenhocker hatte mich getroffen.

Im Handumdrehen hatte Finn ein zünftiges Feuer angezündet und einen Topf Wasser zum Kochen aufgesetzt. Er plauderte bei der Arbeit und erklärte mir den Weg zum Bach hinter dem Häuschen – meiner einzigen Wasserquelle, da keine Leitungen verlegt waren –, zur Außentoilette und zu dem Geschäft im Dorf, in dem ich Vorräte kaufen konnte. Meine Gastgeber würden mich mit Frühstück versorgen, das Abendessen könnte ich im Gasthaus im Ort zu mir nehmen. Nur für die Mittagsmahlzeit war ich auf mich gestellt, was mir gut zupasskam, weil ich es gewohnt war, während meiner Forschungsvorhaben tagsüber unterwegs zu sein und nur eine Kleinigkeit als Proviant einzupacken.

»Vater hat erzählt, dass Sie ein Buch schreiben«, sagte er und legte Holzscheite aufs Feuer. »Über unsere Verborgenen.«

»Nicht nur über sie«, sagte ich. »Das Buch behandelt alle Arten des Kleinen Volks. Seit dieses Zeitalter der Wissenschaft angebrochen ist, haben wir schon viel über sie gelernt, aber es hat sich noch niemand an die Aufgabe gewagt, all dieses Wissen in einer umfassenden Enzyklopädie zusammenzutragen.«[1]

Sein Blick war ebenso ungläubig wie beeindruckt. »Meine Güte, das klingt nach viel Arbeit.«

»Ja.« Neun Jahre Arbeit, um genau zu sein. Seit meiner Promotion arbeite ich an diesem Buch. »Ich hoffe, dass ich meine Feldarbeit hier bis zum Frühling vollenden kann – das Kapitel über Ihre Verborgenen wird der allerletzte Teil. Meine Verlegerin erwartet das Manuskript bereits ungeduldig.«

Als ich meine Verlegerin erwähnte, wirkte er noch beeindruckter, doch seine gerunzelte Stirn glättete sich nicht. »Na ja. Wir kennen viele Geschichten. Aber ich weiß nicht, ob sie Ihnen irgendwie weiterhelfen werden.«

»Geschichten sind äußerst hilfreich«, sagte ich. »Sie bilden sogar die Grundlage der Dryadologie. Ohne sie wären wir verloren, so wie Astronomen, denen der Blick auf den Himmel verwehrt wird.«

»Aber sie sind nicht alle wahr«, wandte er skeptisch ein. »Können sie nicht sein. Sie werden bei jedem Erzählen ausgeschmückt. Sie sollten mal meine Großmutter hören, wenn sie loslegt – wir hängen ihr dann an den Lippen, ja, aber ein Besucher aus dem Nachbardorf würde sagen, dass er die Geschichte nicht kennt, obwohl es dieselbe ist, die seine amma an ihrem eigenen Feuer erzählt.«

»Solche Abweichungen gehören üblicherweise dazu. Trotzdem findet sich in jeder Geschichte über das Kleine Volk etwas Wahres, sogar in denen, die nicht wahr sind.«

Ich hätte ihm einen langen Vortrag über Feengeschichten halten können – über das Thema hatte ich mehrere Artikel verfasst –, aber ich war nicht sicher, wie ich mit ihm über mein Fachgebiet sprechen konnte und ob es für ihn nicht alles wie Unsinn klang. Für das Kleine Volk gibt es nichts Wichtigeres als Geschichten. Geschichten gehören zu ihnen und ihrer Welt, auf eine ganz grundlegende Art, die Sterbliche nur schwerlich begreifen können; eine Geschichte mag von einem bestimmten Ereignis in der Vergangenheit handeln, aber sie gehört auch, und das darf man nicht unterschätzen, zu einem Muster, das ihr Verhalten prägt und zukünftige Ereignisse vorhersagt. Beim Kleinen Volk gibt es kein Rechtssystem, und ich will nicht behaupten, Geschichten seien für sie Gesetze, aber sie verleihen ihrer Welt doch eine gewisse Ordnung.[2]

Ich schloss schlicht mit: »Meine Forschung besteht üblicherweise aus einer Mischung mündlicher Überlieferungen und praxisorientierter Forschung. Aufspüren, beobachten im natürlichen Umfeld, solche Dinge.«

Die Falte grub sich womöglich noch tiefer in seine Stirn. »Und Sie – Sie haben das schon mal gemacht? Sie getroffen, meine ich. Das Kleine Volk.«

»Häufig sogar. Ich würde behaupten, dass mich Ihre Verborgenen nicht überraschen können, aber das gehört zu den besonderen Eigenarten des Kleinen Volks, nicht wahr? Die Fähigkeit, uns zu überraschen?«

Er lächelte. Ich glaube, mittlerweile hielt er mich selbst für eine halbe Fee, für eine wundersame Magierin, die sich in ein von der Außenwelt fast unberührtes Dorf gezaubert hatte. »Dazu kann ich nichts sagen«, antwortete er. »Ich kenne nur unser Kleines Volk. Das ist für einen Menschen genug, finde ich. Mehr als genug.«

Seine Stimme färbte sich dunkler, allerdings weniger unheilvoll als vielmehr grimmig, wie bei jemandem, der über die Mühsale des Lebens spricht. Er legte einen Laib dunkles Brot auf den Tisch, von dem er beiläufig erwähnte, es sei in der Erde durch geothermale Hitze gebacken worden, und dazu genug Käse und Salzfisch für zwei. Dabei wirkte er recht fröhlich und schien fest entschlossen, mir bei dem bescheidenen Mahl Gesellschaft zu leisten.

»Danke«, sagte ich, dann sahen wir uns verlegen an. Vermutlich erwartete er, dass ich weitersprach, mich vielleicht nach seinem Leben oder seinen Pflichten erkundigte oder einen Scherz über meine Hilflosigkeit machte, aber ich hatte noch nie ein Händchen für freundliches Geplauder besessen, und mein Alltag als Professorin bietet mir wenig Gelegenheit, mich darin zu üben.

»Ist Ihre Mutter in der Nähe?«, fragte ich schließlich. »Ich würde mich gern bei ihr für das Brot bedanken.«

Auch wenn ich menschliche Gefühle schlecht beurteilen kann, habe ich reichlich Erfahrung damit, mich in die Nesseln zu setzen, und merkte sofort, dass ich nichts Schlimmeres hätte sagen können. Sein hübsches Gesicht wirkte verschlossen, als er antwortete: »Ich habe es gebacken. Meine Mutter ist vor über einem Jahr von uns gegangen.«

»Verzeihen Sie bitte.« Ich gab mich überrascht, um zu überspielen, dass Egilson mir das zu Beginn unseres Briefwechsels mitgeteilt hatte. Wie konntest du Idiotin das vergessen? »Sie haben echtes Talent«, fügte ich hinzu. »Für das Backen, meine ich. Ihr Vater ist sicher stolz auf Ihr Geschick.«

Leider zuckte er bei dieser unbeholfenen Bemerkung zusammen, was mich vermuten ließ, dass sein Vater in Wahrheit nicht stolz darauf war, welches Talent sein Sohn in der Küche bewies, es vielleicht sogar als Herabsetzung seiner Männlichkeit betrachtete. Finn schien zum Glück durch und durch gutherzig zu sein, er sagte ein wenig förmlich: »Ich hoffe, es schmeckt Ihnen. Wenn Sie noch etwas brauchen, geben Sie bitte im großen Haus Bescheid. Ist das Frühstück um halb acht genehm?«

»Ja.« Ich bedauerte, dass er seinen Plauderton aufgegeben hatte. »Vielen Dank.«

»Oh, und das hier ist vor zwei Tagen für Sie gekommen«, sagte er und zog einen Umschlag aus seiner Tasche. »Bei uns wird jede Woche die Post ausgetragen.«

Aus seiner Stimme sprach Heimatstolz, also rang ich mir ein Lächeln ab und bedankte mich. Er erwiderte das Lächeln, murmelte etwas über Hühner und ging.

Ich warf einen Blick auf den Brief, der in schnörkeliger Handschrift adressiert war. In der oberen linken Ecke stand Das Büro von Dr. Wendell Bambleby, Cambridge, und in der Mitte Dr. Emily Wilde, zurzeit bei Krystjan Egilson, Bauer, Dorf Hrafnsvik, Ljosland.

»Verdammter Bambleby«, sagte ich.

Ich legte den Brief beiseite, weil ich zu hungrig war, um mich schon jetzt verstimmen zu lassen. Bevor ich mir meine eigenen Erfrischungen schmecken ließ, nahm ich mir nach alter Gewohnheit die Zeit und versorgte Shadow. Ich holte ein Hammelsteak aus dem Außenkeller – dessen Lage Finn mir erklärt hatte –, legte es auf einen Teller und stellte eine Schüssel Wasser dazu. Mein tierischer Gefährte ließ sich zufrieden sein Mahl schmecken, während ich mit meinem starken und rauchigen, aber guten Tee vor dem prasselnden Feuer saß.

Ein wenig bedauerte ich, dass ich Finn seine Freundlichkeit so mager vergolten hatte, aber seiner Gesellschaft trauerte ich nicht nach – ich hatte sie nicht erwartet.

Ich blickte aus dem Fenster. Ich konnte den Wald sehen, er begann ein wenig über mir am Hang und erinnerte unheilvoll an eine dunkle Welle, die jeden Moment auf mich niederstürzen konnte. Ljosland ist nur karg bewaldet, da seine sterblichen Bewohner weite Teile der subarktischen Landschaft kahlgeschlagen haben. Einige Wälder allerdings haben überdauert – diejenigen, die von den Verborgenen für sich beansprucht werden oder von denen man es zumindest glaubt. Sie bestehen vor allem aus den bescheidenen Moorbirken, begleitet von einigen Vogelbeerbäumen und Weidenbüschen. An einem solch kalten Ort erreicht keine Pflanze große Höhen; die wenigen Bäume, die ich sehen konnte, waren von kümmerlichem Wuchs und duckten sich wie Verschwörer in den Schatten des Berghangs. Ihr Anblick faszinierte mich. Das Kleine Volk ist mit seiner Umgebung[3] so fest verbunden wie tiefste Pfahlwurzeln, und ich konnte kaum erwarten, die Wesen kennenzulernen, die ein solch unwirtliches Gebiet ihre Heimat nannten.

Bamblebys Brief lag auf dem Tisch und brachte es irgendwie zustande, einen Eindruck ungezwungener Leichtigkeit zu erwecken, und so nahm ich ihn, nachdem ich das Brot (gut, nach Rauch schmeckend) und den Käse (ebenfalls gut, ebenfalls nach Rauch schmeckend) verspeist hatte, und öffnete ihn mit dem Fingernagel.

Meine liebe Emily, begann er. Ich hoffe, du hast deine verschneite Feste als behagliche Bleibe vorgefunden und legst dir eine bezaubernde Sammlung Tintenkleckse zu, während du heiter über deinen Büchern sitzt – so heiter, wie du es nur sein kannst, meine Freundin. Du bist erst seit wenigen Tagen fort, und doch, ich muss es gestehen, vermisse ich schon das Klack-Klack deiner Schreibmaschine auf der anderen Seite des Gangs, wo du vornübergebeugt dasitzt, hinter zugezogenen Vorhängen wie ein Troll unter einer Brücke, der düstere Rachepläne schmiedet. Deine Abwesenheit stimmt mich so trübsinnig, dass ich ein kleines Porträt für dich gezeichnet habe – ich habe es beigelegt.

Mit finsterem Blick betrachtete ich die Skizze, die kein bisschen der Wahrheit entsprach, wie ich fand. Sie zeigte mich in meinem Büro in Cambridge vor der Schreibmaschine, die Stirn verbissen gerunzelt, die dunklen Haaren hochgesteckt, aber schrecklich zerzaust (zugegeben, dieser Teil stimmt – ich habe die schlechte Angewohnheit, bei der Arbeit mit meinen Haaren zu spielen). Bambleby hatte sogar die Frechheit besessen, mich hübsch zu machen, er hatte meine tief liegenden Augen größer gezeichnet und meinem runden Gesicht einen Ausdruck kluger Konzentration verliehen, durch den mein gewöhnliches Profil feiner geschnitten wirkte. Er war zweifellos gar nicht in der Lage, sich eine Frau vorzustellen, die er nicht attraktiv fand, selbst wenn er besagte Frau bereits gesehen hatte.

Ich fand diese Karikatur jedenfalls nicht amüsant. Nein, ganz und gar nicht.

Anschließend ließ Bambleby sich ausgiebig über die jüngste Sitzung der Dryadologischen Fakultät aus, zu der man mich als Assistenzprofessorin ohnehin nicht eingeladen hätte. Neben mehreren launigen Anmerkungen darüber, wie hübsch Professor Thornthwaites neues Toupet im Licht geschimmert hatte, erkundigte er sich, ob ich seiner Beobachtung zustimmen würde, dass Professor Eddingtons eher schweigsame Teilnahme an solchen Versammlungen ihn als Meister des Nickerchens mit offenen Augen verdächtig machte. Unwillkürlich grinste ich leicht über seine weitschweifige Erzählung – es fällt schwer, sich von Bambleby nicht unterhalten zu fühlen. Eine der Eigenschaften, die ich am wenigsten an ihm mag. Das und die Tatsache, dass er sich für meinen liebsten Freund hält, was nur insoweit stimmt, als er mein einziger Freund ist.

Meine Liebe, zum einen schreibe ich dir, weil ich mich um deine Sicherheit sorge. Nicht wegen der seltenen Arten eisverkrusteter Feen, denen du möglicherweise begegnen wirst, denn ich weiß, dass du in dieser Hinsicht mit allem zurechtkommst, sondern wegen des rauen Klimas. Aber ich muss einen zweiten Grund für diesen Brief gestehen – die Legenden über die Verborgenen, die du aufgespürt hast, faszinieren mich. Deshalb bitte ich dich inständig, mir von deinen neuen Erkenntnissen zu schreiben – obwohl es vielleicht überflüssig ist, wenn meine Pläne Früchte tragen.

Ich saß wie erstarrt auf meinem Stuhl. Großer Gott! Er plante doch nicht etwa hierherzukommen? Doch was sonst konnte diese Bemerkung bedeuten?

Meine Angst ebbte ein wenig ab, als ich mich zurücklehnte und mir vorstellte, wie Bambleby tatsächlich die Reise an einen Ort wie diesen wagte. Oh, Bambleby hat umfangreiche Feldforschung betrieben, sicher, zuletzt organisierte er eine Expedition, um Berichten über eine miniaturwüchsige Art des Kleinen Volks im Kaukasus nachzugehen, allerdings besteht seine Methode der Feldarbeit vor allem darin, möglichst viel zu delegieren; er mietet sich vor Ort in einem Hotel oder einer ähnlichen Unterkunft ein und befehligt von dort aus die kleine Armee von Studenten in seinem Schlepptau. In Cambridge wird er oft gelobt, weil er bei seinen zahlreichen Publikationen großzügigerweise seinen Studenten den Rang als Mitverfasser einräumt, allerdings weiß ich, was diese armen Studenten dafür in Kauf nehmen mussten, und es wäre ehrlich gesagt ungeheuerlich, würde er es nicht tun.

Ich hatte keinen meiner Studenten dazu bewegen können, mich nach Hrafnsvik zu begleiten, und ich bezweifelte sehr, dass Bambleby bei all seinem Charme mehr Glück hätte. Und deshalb würde er nicht kommen.

Im restlichen Brief versicherte er mir, er wolle zu meinem Buch das Vorwort beisteuern. Mir wurde ein wenig schlecht, als ich das las, ich verspürte eine Mischung aus Erleichterung und Abneigung, weil ich seine Hilfe zwar nicht wollte – besonders nicht, nachdem er mir bei der Entdeckung des Gean-cannah-Wechselbalgs zuvorgekommen war –, aber ihren Wert doch nicht abstreiten konnte. Wendell Bambleby gehört zu den führenden Dryadologen in Cambridge und damit weltweit. Unsere einzige gemeinsame Publikation, eine schnörkellose, aber umfassende Metaanalyse der Ernährungsgewohnheiten der baltischen Flussfee, hat mir Einladungen zu zwei nationalen Konferenzen eingebracht und ist immer noch meine am häufigsten zitierte Arbeit.

Ich warf das Blatt ins Feuer und beschloss, keinen Gedanken mehr an Bambleby zu verschwenden, bis sein nächster Brief eintraf, was sicher bald sein würde, wenn ich nicht schnell genug antwortete, um seiner Eitelkeit Genüge zu tun.

Ich blickte zu Shadow hinunter, der zusammengerollt vor mir lag. Besorgt über mein Wohlergehen nach diesem großen Schreck hatte er mich mit ernsten dunklen Augen beobachtet. Ich entdeckte eine weitere Frostbeule auf seiner Pfote und holte die Salbe, die ich extra für ihn gekauft hatte. Ich nahm mir auch die Zeit, sein langes Fell zu kämmen, bis er genüsslich die Augen verdrehte.

Dann nahm ich mein Manuskript aus dem Koffer, schlug behutsam das schützende Packpapier auf und legte die Seiten auf den Tisch. Ich blätterte sie durch, um zu prüfen, ob sie noch geordnet waren.

Das Manuskript hat Gewicht, schon jetzt sind es über fünfhundert Seiten, und das ohne die Anhänge, die wohl umfangreich ausfallen dürften. Aber auf diesen Seiten finden sich, Sammelexemplaren gleich, die aufgespießt und unter Glas in Museen ausgestellt werden, sämtliche Arten von Feen, die der Menschheit bisher begegnet sind, von den im Nebel lebenden Bogban der Orkneyinseln bis zu dem makabren Dieb, den die Bewohner des am Mittelmeer gelegenen Landes Miarelle als l’hibou noir bezeichneten. Sie sind alphabetisch geordnet, mit Querverweisen und phonetischen Aussprachehilfen versehen und, soweit vorhanden, mit Abbildungen illustriert.

Einen Moment lang ließ ich meine Hand auf den Seiten ruhen. Dann legte ich als Briefbeschwerer einen meiner Feensteine[4] darauf – dem natürlich keine Magie mehr innewohnte. Daneben platzierte ich im rechten Winkel meinen Lieblingsfederhalter – mit dem Siegel von Cambridge; ein Geschenk der Universität zu meiner Einstellung –, ein Lineal und ein Tintenfass. Zufrieden betrachtete ich das Tableau.

Jetzt, da die Welt vor meinem Fenster in die völlige Dunkelheit abgelegener Dörfer gehüllt war und meine Lider schwer wurden, ging ich ins Bett.

21. Oktober

Normalerweise finde ich in fremden Unterkünften nachts kaum Ruhe, deshalb war ich selbst überrascht, dass ich tief schlief, bis Finn Krystjanson wie versprochen um halb acht an meine Tür klopfte.

Ich stieg aus dem Strohbett, das einen Großteil des kleinen Schlafzimmers einnahm, und zitterte vor Kälte. Die einzige Feuerstelle befand sich im Hauptraum, und dort war nur noch Glut übrig. Ich zog einen Morgenmantel über mein Nachthemd und tappte mit Shadow auf den Fersen zur Tür.

Finn begrüßte mich so förmlich, wie er sich gestern verabschiedet hatte, und stellte ein Tablett mit Brot – das trotz des kalten Wegs vom Bauernhaus hierher noch warm war –, einer Schale mit einer Art bebendem Joghurt und einem verstörend großen hart gekochten Ei auf den Tisch.

»Gans«, antwortete er auf meine Frage. »Haben Sie das Feuer gestern Abend nicht abgedeckt?«

Ich gestand, dass ich keine Ahnung hatte, wie man das anstellte, und er war so freundlich, mir genau zu demonstrieren, wie man das Holz schichtete und die Asche darüber verteilte, damit das Feuer lange und kontinuierlich Hitze abgab und sich am nächsten Morgen leichter wieder entzünden ließ. Als ich mich möglicherweise ein wenig zu überschwänglich bedankte, lächelte er mit seiner anfänglichen Herzlichkeit.

Er erkundigte sich, was ich für diesen Tag geplant hatte, und ich erklärte, ich wolle mich mit der näheren Umgebung vertraut machen.

»Ihr Vater hat in seinen Briefen geschrieben, dass man im Karrðarskogur unterschiedliche Brownies und auch soziale Feen finden kann«, sagte ich. »Den spärlich gesäten Berichten über Ihr Kleines Volk entnehme ich, dass die höfischen Feen eher dazu neigen, mit dem Schnee zu ziehen, was heißen dürfte, dass man ihresgleichen in den nächsten Tagen nicht zu Gesicht bekommen wird.«

Finn wirkte verblüfft. »Hat mein Vater diese Bezeichnungen benutzt?«

»Nein. Brownies und soziale Feen sind die beiden größten Unterkategorien der gemeinen Fee, die Akademiker erfunden haben – Ihre Leute, glaube ich, bezeichnen die gemeinen Feen als ›die Kleinen‹ oder als ›das lütte Volk‹, falls sie überhaupt eine Unterscheidung vornehmen. Sie sind meist von geringem Wuchs, wie Sie sicher wissen, so groß wie ein Kind oder kleiner. Brownies sind Einzelgänger und meist diejenigen, die sich in die Angelegenheiten der Sterblichen mischen – Diebstahl, halbwegs harmlose Verwünschungen, Segnungen. Soziale Feen ziehen in Gruppen durchs Land und bleiben meist für sich.«

Finn nickte bedächtig. »Und für die Großen haben Sie dann wahrscheinlich auch eine eigene Bezeichnung, oder?«

»Ja, alle menschenähnlichen Wesen ordnen wir in die Kategorie der höfischen Feen ein – Sie sehen also, dass es zwei Hauptgruppen von Feen gibt, die höfischen und die gemeinen. Bei den höfischen gibt es zu viele Unterkategorien, um sie aufzulisten, und ich könnte höchstens raten, ob eine von ihnen auf die Wesen zutreffen würde, die Sie ›die Großen‹ nennen.«

»Normalerweise reden wir gar nicht über sie«, sagte Finn. »Das bringt Unglück.«

»Eine weit verbreitete Vorstellung. Auf den Maltesischen Inseln sieht man es ähnlich. Allerdings verursachen die dortigen höfischen Feen überdurchschnittlich viele Probleme, weil sie die unselige Angewohnheit haben, nachts in Häuser zu schleichen und sich an den Organen der Schlafenden gütlich zu tun.«

Diese grausige Tatsache schien ihn nicht zu überraschen, was mich verwunderte und neugierig machte. Die Malteser Feen sind äußerst bösartig – in dieser Hinsicht gibt es keine Art, die ihnen gleichkommt. Welche Art von Feen bewohnte wohl dieses unwirtliche Land?

»Ich hätte gedacht, Sie würden erst einmal richtig ankommen wollen«, sagte er und ließ zweifelnd den Blick durchs Häuschen schweifen. »Alles auspacken, ein paar Vorräte kaufen. Sich den Nachbarn vorstellen. Sie werden ja eine Weile hier sein.«

Beim letzten Punkt seiner Liste schüttelte es mich beinahe. »Eine eher kurze Weile für akademische Verhältnisse«, sagte ich. »Meine Rückfahrt auf einem Frachtschiff ist für den ersten April gebucht, und bis dahin werde ich äußerst beschäftigt sein. Manche Dryadologen verbringen Jahre mit Feldforschung.« Um Finn einen Eindruck der höflichen Distanz zu vermitteln, die ich normalerweise zu den Einheimischen wahre, fügte ich hinzu: »Und die Nachbarn werde ich sicher heute Abend im Gasthaus treffen.«

Finn grinste. »Bestimmt. Die Ernte ist eingebracht, da sind manche Leute fast rund um die Uhr da. Ich sage Aud Bescheid, dass Sie kommen – und Ulfar. Das ist ihr Mann, er kümmert sich um alles. Er ist an sich ein netter Kerl, aber ein bisschen spröde. Er macht nicht oft den Mund auf.«

Damit klang Ulfar für mich weit angenehmer als Aud, aber das behielt ich für mich. »Und wenn ich Ihren Vater richtig verstanden habe, ist Aud die … Goði, stimmt das?« Ich stolperte leicht über das fremde Wort, das offenbar so etwas wie eine Dorfvorsteherin meinte.

Finn nickte. »Heutzutage ist das eher eine zeremonielle Rolle, aber die alten Traditionen sind uns lieb. Auf jeden Fall ist Aud eine gute Quelle für Geschichten über die Verborgenen. Und sie freut sich bestimmt über jede Geschichte aus London. Wir hören hier gern etwas über die Welt da draußen.«

»Nun ja, wir werden sehen, was der Abend bringt. Ich bleibe möglicherweise nur kurz, je nachdem, wie erschöpft ich nach meinen heutigen Unternehmungen bin.«

Er ließ sich nicht abschrecken. »Wenn Sie müde sind, bringt Ulfars Bier Sie wieder auf die Beine. Manche behaupten, an den Geschmack müsse man sich erst gewöhnen, aber es wärmt Ihren Bauch und schmiert Ihre Zunge besser als alles andere auf der Welt.«

Ich lächelte verkniffen. Ich erwartete, dass er gehen würde, aber er stand einfach nur da und starrte mich an. Diesen Gesichtsausdruck kannte ich, er war mir schon früher begegnet: Es war der eines Mannes, der erfolglos versuchte, mich in eine ihm vertraute Kategorie von Weiblichkeit zu stecken.

»Woher kommen Sie, Professorin Wilde?«, fragte er mit einem Anflug seiner anfänglichen Freundlichkeit. Er schien zu den Menschen zu gehören, die andere nicht lange auf Abstand halten können.

»Ich lebe in Cambridge.«

»Ja. Aber wo ist Ihre Familie?«

Ich unterdrückte ein Seufzen. »Ich bin in London aufgewachsen. Mein Bruder wohnt dort immer noch.«

»Oh.« Sein fragender Gesichtsausdruck klärte sich. »Sie sind Waise?«

»Nein.« Er war nicht der Erste, der das vermutete. Offenbar suchen die Menschen nach etwas, das mich erklären würde, und eine von Vernachlässigung und Entbehrungen geprägte Kindheit bietet sich dafür an. Tatsächlich sind meine Eltern vollkommen normale Menschen und quicklebendig, wir stehen uns nur nicht besonders nahe. Sie sind aus mir noch nie schlau geworden. Als ich jedes Buch in der Bibliothek meines Großvaters las – damals war ich etwa acht –, fragte ich sie manchmal nach heiklen Passagen, die ich aus dem Gedächtnis zitierte, und erhoffte mir von ihnen Erklärungen, stattdessen starrten sie mich an, als wäre ich plötzlich in weite Ferne gerückt. Meinen Großvater hatte ich nie kennengelernt – er hatte für Kinder nichts übrig und sich nur für seine Vereinigung von Amateurfolkloristen interessiert –, aber als wir nach seinem Tod das Haus samt allen Besitztümern erbten, wurden seine Bücher meine besten Freunde. Die Geschichten zwischen den Buchdeckeln faszinierten mich, und die unzähligen Arten des Kleinen Volks, die immer wieder darin auftauchten, erschienen mir wie Geheimnisse, die gelöst werden wollten. Vermutlich durchleben die meisten Kinder eine Phase, in der sie in Feen vernarrt sind, aber mich faszinierte nicht ihre Magie oder ihre Fähigkeit, Wünsche zu erfüllen. Das Kleine Volk bildete eine andere Welt mit eigenen Regeln und Gebräuchen – und für ein Kind, das in seine eigene Welt nicht recht zu passen schien, war das eine schier unwiderstehliche Verlockung.

»Ich lebe in Cambridge, seit ich fünfzehn war«, sagte ich. »Damals habe ich mein Studium aufgenommen. Dort bin ich mehr zu Hause als irgendwo sonst.«

»Verstehe«, antwortete er, obwohl ich ihm anmerkte, dass er immer noch verwirrt war.

Nachdem Finn gegangen war, packte ich meine restlichen Sachen aus, was wie erwartet mit wenigen Handgriffen erledigt war – ich hatte nur vier Kleider und einige Bücher mitgenommen. Mir wehte von ihnen der vertraute Geruch der Dryadologie-Bibliothek in Cambridge entgegen, und einen Moment lang sehnte ich mich nach dieser alten, muffigen Oase der Stille und Einsamkeit, in der ich viele Stunden verbracht habe.

Ich blickte mich in dem Häuschen um, das immer noch nach Schaf roch und einer ganzen Schar Netze webender Spinnen ein Heim bot, aber weil ich für Hausarbeit nicht viel Geduld aufbringe, gab ich den Gedanken daran bald auf. Ein Haus ist nicht mehr als ein Dach über dem Kopf, und dieses würde mir auch so ausreichende Dienste leisten.

Shadow und ich beendeten unser Frühstück (er bekam fast das ganze Gänseei), ich füllte meine Feldflasche mit Wasser aus dem Bach und steckte sie in meinen Rucksack zum Rest des Brots, meiner Boxkamera, einem Maßband und meinem Notizbuch. Derart für den Tag Feldarbeit ausgerüstet, wandte ich mich dem Feuer zu, um es nach Finns Anweisung abzudecken.

Ich fuhr mit dem Schüreisen durch die Glut, dann hielt ich inne. Ich schob die Überreste eines Holzscheits zur Seite, griff in den Ofen und zog Bamblebys Brief heraus. Nachdem ich die Asche abgepustet hatte, betrachtete ich die elegante Schreibschrift. Der Brief hatte keinerlei Schaden genommen.

Ich legte Holz nach, schürte das Feuer und warf den Brief wieder hinein. Er blieb unberührt. Das Feuer hustete Rauch, als würde ihm der Brief in der Kehle feststecken.

»Teufel auch«, murmelte ich. Mit zusammengekniffenen Augen musterte ich den Schrieb, der mich vorwitzig aus den Flammen heraus anstarrte. »Soll ich das verdammte Ding etwa unter mein Kissen legen?«

Wahrscheinlich sollte ich an dieser Stelle etwas erwähnen: Ich bin zu etwa fünfundneunzig Prozent sicher, dass Wendell Bambleby kein Mensch ist.

Zu dieser Überzeugung bin ich nicht rein aus beruflicher Geringschätzung gelangt; Bamblebys unmöglicher Brief ist nicht mein erstes Beweisstück, was seine wahre Natur betrifft. Mein Verdacht wurde schon bei unserem Kennenlernen vor einigen Jahren geweckt, als mir auffiel, dass er auf vielfältige Art den Kontakt mit allem Metallischem im Raum vermied, zum Beispiel gab er vor, Rechtshänder zu sein, damit er keine Eheringe berühren musste (Feen sind ausnahmslos Linkshänder). Nur konnte er Metall nicht komplett ausweichen, weil die Veranstaltung ein Abendessen umfasste, zu dem natürlich Besteck, Saucieren und ähnliche Dinge gehörten. Er ließ sich kein großes Unbehagen anmerken, was zeigte, dass ich ihn entweder grundlos verdächtigte oder er königlicher Abstammung war – nur diese Feen ertragen es, solche von Menschen angefertigte Gegenstände zu berühren.

Um nicht leichtfertig zu erscheinen, möchte ich anmerken, dass mir diese Beweise noch nicht genügten. Bei späteren Begegnungen fielen mir weitere verdächtige Eigenarten auf, darunter seine Sprechweise. Angeblich war er im County Leane geboren worden und in Dublin aufgewachsen, und während ich keine Expertin für irische Akzente bin, habe ich doch die Sprache des Kleinen Volks studiert, eine einzige Sprache mit verschiedenen Dialekten, denen allen eine gewisse Resonanz und ein Timbre eigen sind, und genau diese schimmern gelegentlich in unbedachten Momenten in Bamblebys Stimme durch. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht.

Falls er tatsächlich zum Kleinen Volk gehört, lebt er wahrscheinlich unter uns im Exil, was für die Aristokraten der irischen Feen kein allzu seltenes Schicksal ist – bei ihnen dauert es meist nicht lang, bis ein mordlustiger Onkel oder ein machthungriger Regent zuschlägt. Es gibt reichlich Geschichten über Angehörige des Kleinen Volks im Exil, und manchmal heißt es, dass der Monarch, der sie verbannt, durch einen Zauber ihre Kräfte einschränkt, was erklären würde, warum Bambleby sich in sein Schicksal fügen und unter uns gemeinen Sterblichen leben muss. Seine Berufswahl könnte Teil eines Feenplans sein, den ich nicht durchschaue, oder Ausdruck von Bamblebys Veranlagung, nach Anerkennung zu streben und sie durch Expertise über seinesgleichen zu erlangen.

Es besteht auch die Möglichkeit, dass ich mich irre. Als Forscherin muss man stets in der Lage sein, das in Betracht zu ziehen. Mich lässt durchaus stutzen, dass keiner meiner Kollegen meinen Verdacht zu teilen scheint, nicht einmal der ehrwürdige Treharne, der schon so lange Feldforschung betreibt, dass er gern scherzt, die gemeinen Feen würden kaum noch einen Unterschied zwischen ihm und einem alten, abgenutzten Möbelstück sehen und sich deshalb nicht mehr vor ihm verstecken. Außerdem gibt es zwar viele Geschichten über Angehörige des Kleinen Volks im Exil, aber bisher wurde keiner von ihnen unter uns entdeckt. Das legt eine von zwei Schlussfolgerungen nahe: Entweder können sich diese Feen außergewöhnlich gut tarnen, oder die Geschichten sind Unsinn.

Ich holte den Brief, der immer noch keine Brandspuren trug, aus dem Ofen, riss ihn in kleine Fetzen und vergrub sie unter der Asche. Dann verbannte ich Bambleby aus meinen Gedanken, drehte meine Haare zu einem hohen Dutt zusammen (aus dem sie sich sofort zu lösen versuchten) und warf meinen Mantel über.

Der reizvolle Anblick draußen ließ mich innehalten. Vor mir neigte sich der Berghang abwärts, sein grüner Teppich leuchtete im schimmernden Morgenlicht, das die Wolken rosa und golden färbte. Die Berge selbst waren mit Schnee bestäubt, aber der himmelblaue Baldachin zeigte, dass kein Nachschub drohte. Im Hintergrund wogte das Meer wie ein Ungetüm mit zottigem Fell aus Treibeis.

Mit frischem Mut und leichtem Schritt machte ich mich auf den Weg. Mir liegt die Feldforschung seit jeher sehr am Herzen, und so betrachtete ich mit der vertrauten Vorfreude das fragliche Feld: Vor mir erstreckte sich wissenschaftliches Neuland, und ich war weit und breit die einzige Entdeckerin. Solche Momente wecken in mir immer wieder von neuem die Liebe für meinen Beruf.

Auf dem Weg den Berg hinauf trottete Shadow neben mir her und schnüffelte an Pilzen oder schmelzendem Eis. Schafe beäugten mich mit ihrem typisch geistlos nervösen Blick. Wenn sie Shadow bemerkten, wurden sie unruhig, aber da er gemütlich vorbeistapfte und sich mehr für den Boden interessierte als für die vertrauten flauschigen Kaventsmänner, die sich auch auf den Feldern seines heimischen Reviers im ländlichen Cambridgeshire tummelten, ignorierten sie ihn bald.

Nach und nach umfing mich der Wald. Obwohl die Bäume hier eher kümmerlich wuchsen, schlossen sie sich an manchen Stellen über dem schmalen Pfad doch zu einem dichten, dunklen Dach.

Den Vormittag verbrachte ich größtenteils mit der Erkundung der näheren Umgebung zur Dorfseite hin, trat immer wieder zwischen den Bäumen hervor und tauchte in den Wald ein. Ich bemerkte Pilzringe und ungewöhnliche Muster im Moos, die Höhen und Senken, in denen dicht Blumen wuchsen, die Stellen, an denen sie eine Farbe gegen die andere tauschten, und die Bäume, die dunkler und grober wirkten als ihre Nachbarn, als hätten sie eine Flüssigkeit aufgenommen, die kein Wasser war. Über einer Mulde im schroffen Boden wölkte sich ein seltsamer Nebel; eine heiße Quelle, wie ich entdeckte. Auf einem Felsvorsprung darüber standen mehrere Holzfiguren, manche halb mit Moos überwuchert. Das Häufchen neben ihnen identifizierte ich als Karamellklümpchen, dieselben salzig-süßen Bonbons aus Ljosland, die einige der Seeleute gern gelutscht hatten.

Nachdem ich mehrere Fotografien angefertigt hatte, tauchte ich eine Hand in die Quelle und spürte ihre angenehme Wärme. Mir kam ein verlockender Gedanke, denn seit meiner Abreise aus Cambridge hatte ich nicht mehr ordentlich gebadet, und ich spürte das Salz der Reise wie eine zweite Haut auf mir. Aber ich schüttelte die Versuchung bald ab; ich würde nicht in einem fremden Land unbekleidet in freier Natur herumtollen.

Aus dem Wald hinter mir drang ein leises Geräusch, ein Trappeln ähnlich dem steten Tröpfeln von den Zweigen der Waldbäume. Ich war schlagartig wachsam, ließ mir aber nichts anmerken. Shadow hob den Kopf von der Quelle und schnupperte, aber er wusste, was von ihm erwartet wurde. Er setzte sich und beobachtete mich.

Manche Menschen glauben, das Kleine Volk würde sich mit Glöckchen oder Gesang ankündigen, in Wirklichkeit jedoch wird man Feen nur hören, wenn sie es wollen. Wenn sich ein Tier nähert, hört man meist Blätter rascheln oder Zweige knacken. Nähert sich eine Fee, hört man vielleicht nichts oder nur winzige Veränderungen der natürlichen Geräuschkulisse. Forscher brauchen Jahre, um ihre Beobachtungsgabe ausreichend zu schärfen.

Ich gab mich als erschöpfte Wanderin, die den Ausblick genoss, eine Pose, die mir bei dem anhaltend milden Wetter nicht schwerfiel, und ließ den Blick am Waldrand entlangschweifen. Wie schon erwartet bemerkte ich keinerlei Anzeichen für einen Beobachter, abgesehen vom Keckern eines aufgeschreckten Eichhörnchens und den runenhaften Fußabdrücken von Vögeln.

Um die Fassade aufrechtzuerhalten, zog ich die Stiefel aus und tauchte meine Füße in die Quelle. Ich nahm mir einen Moment Zeit, in Gedanken die Liste der Bergbrownies durchzugehen, vor allem der Arten, die in der Nähe von Quellen lebten, und mir ihre Verhaltensmuster ins Gedächtnis zu rufen.

Ich griff nach den Kinkerlitzchen in meinem Rucksack, die ich im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Was aber sollte ich in diesem Fall wählen? Je nach Region akzeptiert das Kleine Volk manche Geschenke und fasst andere als Beleidigung auf. Ich kenne einen französischen Dryadologen, der von seinen Forschungsobjekten in den Wahnsinn getrieben wurde, nachdem er ihnen versehentlich einen angeschimmelten Laib Brot geschenkt hatte. Bösartige Reaktionen nach einer Kränkung sind beinahe ebenso weit verbreitet wie eine allgemeine Launenhaftigkeit.

Ich wählte eine kleine Porzellandose mit verschiedenen Sorten Lokum aus. Beim Kleinen Volk gibt es ganz unterschiedliche Geschmacksvorlieben, aber ich kenne nur einen Fall, bei dem offerierte Süßigkeiten zu einem bösen Ausgang führten. Ich stellte die Dose auf den Felsvorsprung und legte zur Sicherheit einen meiner wenigen Edelsteine darauf, einen Diamanten aus einer Halskette, die ich nach dem Tod meiner Großmutter geerbt hatte. Solche Geschenke hebe ich für ganz besondere Fälle auf – einige der gemeinen Feenarten sind begierig auf Edelsteine, andere wissen mit ihnen nichts anzufangen.

Leise stimmte ich ein Lied an.

Sie sind die Nacht und der Tag,

Sie sind der Wind und das Blatt,

Sie legen den Schnee aufs Dach und den Frost auf den Weg.

Sie sammeln ihre Fußspuren ein und tragen sie fort.

Welches Geschenk wäre größer als ihre Freundschaft?

Welche Klinge schnitte tiefer als ihre Feindschaft?

Meine Übersetzung ist ungelenk, ich fürchte, ich habe kein rechtes Ohr für Lyrik. Ich sang das Lied in der Sprache, in der es geschrieben wurde, der Sprache des Kleinen Volks, die phantasielose Forscher schlicht Faie nennen. Es ist eine melodische, weitschweifige Sprache, in der man in der doppelten Zeit halb so viel sagt wie im Englischen, mit vielen widersprüchlichen Regeln, aber nirgendwo auf der Welt wird von Sterblichen eine schönere Sprache gesprochen. Als kuriose Eigenart – die unter den Anhängern der Hundert-Insel-Theorie[1] für großen Aufruhr gesorgt hat – spricht das Volk in allen Ländern und Gebieten, in denen es bekannt ist, dieselbe Sprache, und trotz unterschiedlicher Akzente und Ausdrucksweisen unterscheiden sich ihre Dialekte nie so sehr voneinander, dass es eine Verständigung behindern würde.

Ich sang zweimal den Text, den ich von einem Kobold in Somerset gelernt hatte, dann ließ ich meine Stimme im Wind verwehen. Ich hatte mich vorgestellt, wie es sich geziemte, und nun zog ich meine Stiefel an und ging.

21. Oktober – Abend

shadow und ich ließen den Karrðarskogur hinter uns und machten uns auf den Weg ins Fjöll. Ein holpriger Weg wand sich hinauf in die Berge nördlich des Dorfs, und ich folgte ihm, bis er sich im Gras verlor – wahrscheinlich war es nur ein Fußweg, der von den Schäfern genutzt wurde. Ich ging weiter, obwohl der Boden stellenweise durch den schmelzenden Schnee morastig geworden war. Nach einiger Zeit wurde meine Entschlossenheit belohnt und ich hatte den Gipfel des ersten Berges erklommen.

Dahinter versperrte mir eine weitere, deutlich höhere Gebirgskette den Blick, eine Vielzahl an Gipfeln ragte in liederlicher Unordnung von Gletschern umhüllt aus der grünen Erde auf. Ljosland ist ein Labyrinth aus Bergen, müssen Sie wissen, und dazu aus Fjorden und Gletschern und allen anderen schroffen Erdformationen, die dem Menschen feind sind. Zwischen den Gipfeln fiel die Landschaft zu Tälern ab, die wahrscheinlich zerklüftet und von Felsbrocken übersät waren.

Auf dem Gipfel legte ich eine Pause ein, um das Erreichte auszukosten und in mein Tagebuch zu schreiben. Das Kleine Volk beschränkt seinen Aufenthalt nicht nur auf die Wälder, und aus meinem Briefwechsel mit Krystjan wusste ich, dass viele Ljosländer die Felsbrocken aus vulkanischem Gestein, die aus der Erde ragten, für Tore in das Feenreich hielten. Ich vermerkte die größten von ihnen und dazu weitere, die aus verschiedenen Gründen mein Interesse weckten, sei es durch ihre markanten Spitzen oder die verräterische Anwesenheit von fließendem Wasser oder Pilzen.

Der Tag war vorüber. Ich war voller Schlamm, durchgefroren und überaus zufrieden. Ich hatte eine, wie ich fand, sinnvolle Grenze für meine weiteren Forschungen festgelegt und mit einer oder mehreren gewöhnlichen Arten des Volks Kontakt aufgenommen. Es war natürlich möglich, dass sich die Brownies von Ljosland ausschließlich von Seesalz und Laub ernährten, dass sie der Anblick von Edelsteinen ebenso beleidigte wie Eisen, dass sie Musik aus tiefstem Herzen hassten. Meiner Theorie zufolge war das allerdings unwahrscheinlich, und darüber hinaus vermutete ich Gemeinsamkeiten mit dem Volk anderer nördlicher Breitengrade, zum Beispiel mit den norwegischen alver. Bambleby war da skeptisch. Nun, wir werden sehen, wer von uns recht behält.

Am liebsten hätte ich mich bei Finn und der Dorfvorsteherin entschuldigen lassen, aber nach meinem Streifzug war ich sehr hungrig. Und so lenkte ich mit leicht geschmälerter Freude meine Schritte gen Dorf.

Das Gasthaus stand an bester Stelle im Ortskern, wobei sich über diese Bezeichnung streiten ließ angesichts der ungeordneten Struktur von Hrafnsvik, das aus lauter verstreut stehenden Wohnhäusern und Geschäften bestand. Einige Männer hatten sich draußen zum Rauchen versammelt, darunter auch Krystjan und Finn.

»Voilà!«, sagte Krystjan und erntete damit Gelächter von seinen Landsmännern. »Guten Abend, Professorin Wilde. Waren auf der Jagd heute, was? Wo ist Ihr Schmetterlingsnetz?«

Weiteres Gelächter. Finn warf seinem Vater einen finsteren Blick zu. Mich lächelte er an und begleitete mich hinein.

Wie es aussah, hatte sich ganz Hrafnsvik in das Gasthaus gequetscht. Kinder jagten durch das Lokal und ernteten halbherzige Ermahnungen, während die betagteren Gäste sich vor einem mächtigen Feuer drängten. Es herrschte dieselbe Gemütlichkeit wie in all diesen ländlichen Wirtschaften von England bis Russland, wogende Schatten und Feuerschein, erfüllt von Menschen und Kochgerüchen, die Decke getragen von Holzstämmen, die wie Treibholz aussahen. Über der Theke hing statt des Geweihs, das man vielleicht auf dem Kontinent finden würde, der gewaltige Unterkiefer eines Wals.