Noa und die Sprache der Geister - Heather Fawcett - E-Book
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Noa und die Sprache der Geister E-Book

Heather Fawcett

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Beschreibung

Die drei Geschwister Julian, Noa und Maite leben auf der wandernden Zauberinsel Astra. Nur knapp sind sie dem Mann entkommen, der ihre Familie vom Thron gestürzt hat. Nun sucht Julian einen Weg, seinen rechtmäßigen Platz zurückzuerobern – und stößt dabei auf eine vergessene Magie. Doch die dreizehnjährige Noa befürchtet, dass diese Julian böse werden lässt. Bereits jetzt wird er als dunkler Magier gefürchtet. Aber nicht er, sondern Noa kann den Zauber sprechen. Wird sie sich die Magie des Todes zunutze machen?

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Über dieses Buch

Julians Augen waren vor Konzentration ganz schmal, während er Worte in den neun magischen Sprachen murmelte, sonderbare Worte, die Funken schlugen wie Feuer oder glänzten wie Gold.

 

Noa ist die vertriebene Prinzessin des Königreiches Floreana und lebt mit ihren Geschwistern auf einer verzauberten Insel. Dort hat sie alle Hände voll zu tun: zum Beispiel sicherzustellen, dass ihrem älteren Bruder Julian seine dunkle Magie nicht zu Kopf steigt, während er versucht, den gestohlenen Familienthron zurückzuerobern. Doch die damaligen Thronräuber sind auf der Hut und suchen bereits die geheime Waffe, mit der sie Julian und seine einzigartige magische Begabung ein für alle Mal vernichten können. Gemeinsam stürzen sich die Geschwister ins Abenteuer, um ihnen zuvorzukommen. Was sie entdecken, ist eine magische Sprache, die niemand, nicht einmal Julian, versteht.

Niemand, außer Noa …

Prolog

Das Himbeereis gab ihr den Rest. Noa sprang auf und stürmte durch den Festsaal, wobei sie flink den Gästen und Dienern auswich. »Prinzessin Noa!«, rief ihr mehr als eine Stimme nach. In ihrer Hast stieß sie gegen einen Diener, der ein Tablett mit gefrorenen Guaven trug. Der Mann stolperte, und das Tablett flog in hohem Bogen durch die Luft und ließ Eissplitter wie rosa Schneeflocken auf die erschrockenen Höflinge niederregnen.

Noa kümmerte sich nicht darum. Sie rannte die schwarze Marmortreppe hoch, ihr Blick war trüb von Tränen, und ihr Mund schmerzte vor Anstrengung, eine steife, ruhige, prinzessinnenhafte Linie zu bilden.

Wenn sie sich noch ein einziges Mal anhören musste, wie traurig es sei, dass ihre arme Mutter entschwunden war, als wäre sie wie eine gewiefte Spionin ins Dunkel der Nacht geflohen, dann würde sie sich auf ihr grässliches Beerdigungskleid übergeben. Ihr großer Bruder Julian – der bald zum König gekrönt werden sollte – sah sie nicht gehen.

Die Treppe wand sich mehrere Stockwerke in die Höhe und bot bei jeder Biegung einen Blick über den Innenhof. Der Königspalast war im typisch floreanischen Stil erbaut mit seinen großen, luftigen Galerien um den in der Mitte liegenden Garten voller Kletterpflanzen und Lavakakteen. Normalerweise wäre Noa stehen geblieben, um einen Plausch mit den Finken zu halten, die auf dem Geländer saßen, doch jetzt tobte ein Sturm in ihr, und sie rannte weiter, bis sie in ihrem Zimmer war.

Noas Zimmer war nicht besonders prinzessinnenhaft – es gab keine goldenen Kerzenleuchter oder Truhen voll Juwelen. Es war ein geordnetes Chaos aus Bücherstapeln, Logikspielen und Modellbauschiffen. Die Schiffe selbst interessierten Noa nicht, aber sie nahm gerne Dinge auseinander, um zu untersuchen, wie sie gemacht waren, und um sie zu verbessern. Rechenmeister, der alte Drache ihres Bruders, lag auf dem glänzenden Parkett wie ein großer, schmutziger Teppich. Dafür, dass er außer Julian eigentlich niemanden mochte, konnte er Noa ganz gut leiden, was vermutlich daran lag, dass ihr Zimmer die beste Morgen- und Abendsonne hatte.

Noa ging schnurstracks zum Kleiderschrank und schloss sich darin ein. Dann brach sie zu einem Häuflein Elend aus Kleidern, Mänteln und Schluchzern zusammen.

Ihre Mutter, die Königin von Floreana, war nun seit einer Woche tot, und es war das erste Mal, dass sie weinte. Sie hatte nicht geweint, als Julian es ihr gesagt hatte, und auch dann nicht, als sie das leere Zimmer ihrer Mutter betreten hatte. Nein, der Anblick der riesigen Schale Himbeereis war der Auslöser gewesen, ein so großes Eis, dass mehrere Diener es tragen mussten, mit Sahne und Schokolade und Walnüssen und fetten Himbeeren. Ihre Mutter hatte Himbeereis geliebt, und Noa hatte sich unwillkürlich nach ihr umgeschaut, um ihr entzücktes Gesicht zu sehen.

Da erst hatte sie es begriffen.

Noa blieb im Schrank hocken, bis sie glaubte, dass alle Beerdigungsgäste gegangen sein mussten. Um ganz sicher zu sein, blieb sie noch ein bisschen länger. Ein Kater ihrer Mutter kam ins Zimmer und maunzte den Schrank an, um ihr mitzuteilen, dass er sich nicht täuschen ließ. Doch nach einer Weile wurde er es leid und legte sich neben Rechenmeister auf den Boden, um in der Sonne ein Nickerchen zu halten. Noas Mutter hatte Katzen geliebt und über die Jahre sechzehn Stück angesammelt. Bestimmt wären es noch mehr geworden, wenn …

Wenn.

Irgendwann hatte Noa keine Tränen mehr. Sie begann, Größe und Form der Staubteilchen zu katalogisieren, die im Lichtstrahl des Spalts zwischen den Schranktüren tanzten. Noa katalogisierte vieles, teils, weil es beruhigend, teils, weil es nützlich war – vor allem in Diskussionen mit Julian. Sie überlegte gerade, ob Rechenmeisters Haarstoppel als Staub durchgingen, als sich ihre Zimmertür öffnete und zwei Mörder hereinkamen.

Noa erstarrte. Sie wusste sofort, dass es Mörder waren, obwohl sie durch den Spalt kaum etwas sehen konnte. Sie waren schwarz gekleidet wie die Beerdigungsgäste, aber Noa hatte alle Gäste in Gedanken katalogisiert, und diese beiden, ein Mann und eine Frau, waren nicht dabei. Ihre Kleidung war nicht edel genug für Höflinge und nicht schlicht genug für Diener, und sie bewegten sich zu verstohlen, um Gutes im Schilde zu führen.

Und außerdem hielt die Frau einen großen Dolch in der Hand.

Noas Herz hämmerte so laut, dass sie sicher war, sie müssten es hören. Die Mörder traten an ihr zerwühltes Bett. Doch die Frau ließ den Dolch sinken, als der Mann die Decke zurückschlug und Noas Kuschelwalross zum Vorschein kam.

»Seltsam«, sagte die Frau. Sie schlenderte zum Schrank und rüttelte an der Tür, und jetzt war Noa wirklich kurz davor, sich zu übergeben, aber natürlich ging der Schrank nicht auf, da Noa von innen abgeschlossen hatte. Das machte sie immer, damit ihre kleine Schwester sie nicht störte.

»Dann suchen wir erst die Kleine«, sagte der Mann. »Ihr Zimmer ist im nächsten Gang.«

Noa fühlte sich, als hätte sie ihren Körper verlassen. Kaum hatte sich die Zimmertür hinter den beiden geschlossen, wankte sie aus dem Schrank, ein Paar Hosen um den Kopf gewickelt. Rechenmeister schlief immer noch, was sonst, denn er war der nichtsnutzigste Drache in ganz Floreana und hätte sein Nickerchen wohl auch dann nicht unterbrochen, wenn ein Dutzend Mörder messerschwingend um ihn herumgetanzt wäre.

Die Mörder waren um die Ecke verschwunden, und Noa rannte in die Gegenrichtung, denn der Mann und die Frau täuschten sich: Das Zimmer ihrer Schwester lag direkt neben ihrem.

Maite war schon im Bett, sie war ja erst fünf, und das Kindermädchen hatte mehrere Lavastäbchen als Nachtlicht brennen lassen. Sie fing an zu kreischen, als Noa sie aus dem Bett zerrte, doch Noa hielt ihr den Mund zu.

»Ich bin’s«, zischte sie. »Wir müssen zu Julian. Es sind … böse Menschen im Schloss, die nach uns suchen.«

Maite machte große Augen. Das schwarze Haar stand ihr vom Kopf ab, und auf ihrer Wange prangte ein dunkler Streifen, vermutlich Schokolade, denn Maite war eine Expertin darin, Essen auf ihr Zimmer zu schmuggeln. »Böse Menschen? Sind es Bibliothekare?«

»Äh … ja«, sagte Noa. Ihre Mutter hatte einen anhaltenden Streit mit den Bibliothekaren der Königlichen Bibliothek gehabt, die erbittert gegen ihre Gewohnheit protestierten, Bücher endlos lang auszuleihen (obwohl jede Bibliothek in Floreana ohnehin ihr gehörte). »Fiese, niederträchtige Bibliothekare. Sie sagen, du hättest vergessen, ein Buch zurückzugeben.«

Maite riss den Mund auf. Hans, der oberste Bibliothekar, hatte einmal mit ihr geschimpft, weil sie Fingerabdrücke auf der Ausleihkarte hinterlassen hatte, und seitdem lebte sie in ständiger Angst vor ihm und allen anderen Bibliothekaren. »Hab ich aber nicht!«

Noa zog sie durch die Tür und über den Gang. »Keine Angst – Julian wird sich darum kümmern.«

Sie rannten die Treppe hinunter, die seltsam verwaist dalag. Wo waren die Wachen? Wo waren die türkis gekleideten Diener? Wie war es den Mördern überhaupt gelungen, in Noas Zimmer zu kommen? Angst ballte sich in ihrem Magen zusammen. Sie mussten zu Julian. Er war schon sechzehn und, was noch besser war, einer der mächtigsten Zauberer von Floreana – oder würde es zumindest sein, wenn er sich endlich mal bequemen würde, seine Zaubersprüche zu lernen.

Am Fuß der Treppe blieb Noa stehen und schob Maite hinter sich. Aus dem Festsaal ertönten Geschrei und das Klirren von Schwertern. Was war da los?

»Versuchen wir es im Thronsaal.« Noa war schwindlig, und sie hoffte, dass sie nicht ohnmächtig würde. Sie zog Maite über einen stillen Dienstbotengang. Maite war barfuß und stolperte dauernd über den Saum ihres Nachthemds, aber wenigstens weinte sie nicht. Sie nahmen die Abkürzung durch den dämmrigen Garten. Die Nacht brach herein, und der Himmel war eine dunkellila Kuppel, wie das Innere einer Muschel.

Eine Gestalt in schwarzem Umhang stürzte in den Hof, und Noas Herz setzte einen Schlag aus. Dann sah sie, dass es Julian war. Sein Umhang war angesengt, und er hatte eine Schnittwunde auf der Wange. Mit einem erleichterten Schrei warf sich Noa in seine Arme.

Ihr Bruder trat einen Schritt zurück, und sie musterten einander prüfend. Die meisten Leute fanden Julian gutaussehend, so gut aussehend, dass einige Sänger sogar ein paar schmalzige Lieder über ihn geschrieben hatten, voll schrecklicher Metaphern über seine Augen, was Noa jede Menge Material gab, um ihn zu ärgern. Er hatte die gleiche olivbraune Haut und die gleichen übergroßen Ohren wie sie und Maite, doch seine Augen waren blau wie die ihrer Mutter. Abgesehen von der blutenden Wunde schien es ihm gut zu gehen, obwohl seine Miene kalt überfroren wirkte wie Eis und er Noa zu fest hielt. »Es geht euch gut. Es geht euch gut«, keuchte er.

»Was ist los?«

Julian antwortete nicht. Er zog sie in den Dienstbotengang zurück, wo sie ein paar übergroße Umhänge fanden, die die Diener trugen, wenn sie die Kamine fegten. Sie rochen nach Ruß und verbranntem Käse. Julian musste Maite den Saum des Umhangs um die Taille binden und die Ärmel zurückschlagen und hinterm Hals verknoten. Seine Hände zitterten.

»Was ist los?«, wiederholte Noa. »Julian!«

»Mama ist nicht am Fieber gestorben«, antwortete er mit bemüht ruhiger Stimme. »Sie wurde vergiftet. Xavier steckt dahinter.«

Wieder fühlte Noa sich wie körperlos, als wäre sie nur noch ein Echo ihrer selbst. Xavier Weißdorn war ein Berater der Königin gewesen. Noa hatte ihn als farblosen, selbst für Berater langweiligen Mann in Erinnerung.

»Xavier«, murmelte sie. Sie hätte wütend sein sollen, doch seit dem Tod ihrer Mutter war sie nicht mehr in der Lage zu fühlen, was sie fühlen sollte. »Woher weißt du das?«

»Von Xaviers Auftragsmördern. Zwei Magier. Sie haben mir im Thronsaal aufgelauert.«

»Wir haben keine Mörder gesehen«, erwiderte Noa mit einem vielsagenden Blick auf Maite. »Aber es waren ein paar Bibliothekare da. Wir schulden ihnen eine ziemlich hohe Mahngebühr.«

Julian warf ihr einen scharfen Blick zu, doch er hakte nicht nach. Das war das Beste an Julian – er verstand immer, was sie meinte, auch wenn es sonst niemand tat. »Ich werde dafür sorgen, dass sie die Gebühr bekommen«, sagte er. »Aber jetzt müssen wir gehen. Xavier hat den Großteil des Rats gegen die Marchenas aufgehetzt. Er hat üble Gerüchte über Mama gestreut – dass ihre Macht sie böse und korrupt gemacht hat, und dass mich das gleiche Schicksal erwartet.«

Noa starrte ihn an. »Aber das ist doch lächerlich! Warum sollte das irgendjemand glauben?«

Julian sah aus, als wäre er um zehn Jahre gealtert. »Weil wir dunkle Magier sind. Darum.«

Noa atmete schnaubend aus. Die meisten Magier sprachen nur eine der neun magischen Sprachen – mit dieser Fähigkeit wurde man geboren, sie ließ sich nicht erlernen. Die häufigsten waren Salz, die Sprache des Meeres, und Wurm, die Sprache der Erde. Magier, die mehr als eine magische Sprache beherrschten, konnten diese miteinander zu komplizierten Zaubern verknüpfen, und das war dunkle Magie. Dunkle Magier waren selten, wenn auch niemand genau wusste, wie selten. Viele von ihnen hielten ihre Gabe geheim, weil die meisten Menschen ihnen misstrauten. Ihre Mutter war als erste dunkle Magierin Herrscherin über Floreana gewesen.

Noa konnte nicht zaubern, weder dunkel noch sonst wie. Ihr Eindruck war, dass die Menschen dunkle Magier hassten, weil sie neidisch waren, was sie durchaus nachvollziehen konnte – sie war ständig neidisch auf Julian. Und es stimmte, dass einige dunkle Magier irgendwann böse geworden waren – dies kam bei ihnen häufiger vor als bei gewöhnlichen Magiern. Anscheinend konnte es passieren, dass die viele Magie manche Menschen verdarb, ungefähr so, wie einige Obstbäume faulten, wenn sie zu viel Wasser bekamen.

»Die königlichen Magier stehen auf Xaviers Seite, und die Hälfte der Wachen«, sagte Julian. »Ich kann nicht gegen sie alle kämpfen. Es ist ein Putsch. Während wir hier sprechen, sind sie dabei, den Palast einzunehmen.«

»Was ist ein Futsch?«, fragte Maite.

»Das heißt, dass Xavier König werden will«, sagte Noa. Sie spürte einen Funken des Zorns, aber er konnte sich nirgends entzünden. »Was ist mit der Marine?«

»Er hat die Generäle bestochen«, sagte Julian. »General Albions Tod letzten Monat war auch kein Zufall. Er hat sich geweigert, zu Xavier überzulaufen, deshalb hat Xavier sein Schiff sabotiert.«

Noa bekam weiche Knie. Wenn die Marine auf Xaviers Seite war, welche Hoffnung gab es dann noch? Keine Insel des Reichs würde sich gegen die Übernahme wehren, wenn Xavier sie in Schutt und Asche legen konnte.

»Aber Julian ist doch jetzt König.« Maites Unterlippe zitterte. »Das hat Mama gesagt.«

»Maita.« Julian nahm sie in den Arm. »Mach dir keine Sorgen. Ich lasse mir was einfallen. Aber erst mal müssen wir hier weg.«

»Wohin?«, fragte Noa.

»Wir klauen ein Boot. Kommt.« Er schlug ihre Kapuzen hoch.

Noa erkannte den Palast kaum wieder – einige Räume brannten, Rauch stieg in die Luft, und überall wurde gekämpft, gekämpft, gekämpft. Es war schwer zu sagen, wie es stand – wer gewann oder verlor oder wer auf wessen Seite war. Denn nicht alle Wachen hatten ihre Posten verlassen – einige kämpften auf Gängen und Treppen und Schwellen gegen andere Wachen. Verängstigte Diener kauerten in Ecken und Kaminen.

»Wartet«, rief Noa, als sie über den Nordhof rannten. »Ich hab was vergessen!«

»Noa«, zischte Julian, doch sie huschte schon durchs Gebüsch.

Und da war Wilma – auf der Bank, genau da, wo Noa sie zurückgelassen hatte. Wilma war der Stofftier-Blauwal, den ihre Mutter ihr letzten Monat zum elften Geburtstag geschenkt hatte. Noa und Mama waren sich einig gewesen, dass Blauwale die besten Wale waren, wahrscheinlich die besten Tiere überhaupt. Jeden Frühling hatten sie nach ihnen Ausschau gehalten, wenn sie auf ihren Wanderungen am Palast vorbeigezogen waren.

Noa klemmte sich Wilma unter den Arm und rannte zurück zu Julian und Maite.

Sie konnten unerkannt aus dem Palast fliehen, nachdem Julian eine Gruppe Magier mit einem Zauberspruch in Glimm, der Sprache des Lichts, geblendet hatte. Draußen war es nicht mehr so rätselhaft, wer gewinnen würde: Die türkisen Flaggen der Königsfamilie Marchena waren abgenommen und durch blutrote Flaggen mit einem X ersetzt worden, das wie ein funkelnder Stern aussah.

Der Palast stand auf einer scharfen Felsklippe der Insel namens Königinnenfels, ziemlich genau in der Mitte der Inselgruppe von Floreana. Königinnenfels war so klein, dass die Insel fast ausschließlich aus der Hauptstadt mit dem Palast und dem dazugehörigen Hafen bestand. Julian suchte ein Fischerboot mit einer geräumigen Kabine ganz am Ende des Stegs aus, und sie stolperten an Bord. Er holte ein Lavastäbchen aus der Tasche und pustete darauf, um die Glut zu entfachen.

»Was ist mit meinen Schuhen?«, fragte Maite. Ihre Stimme war so leise, dass Julian sie kaum verstand.

»Wir besorgen dir neue, mächtige Maite«, versprach er.

Noa drückte sich den Wal an die Brust und atmete seinen Stofftiergeruch ein. »Wohin fahren wir?«

Julian zog die Augenbrauen hoch. Er sah nicht mehr aus wie von Eis überzogen. Seine Augen waren gerötet, und in dem übergroßen nassen Umhang wirkte er eher wie zwölf als sechzehn. »Astra«, sagte er schließlich. »Erinnert ihr euch? Da haben wir immer Ferien gemacht, bevor Papa gestorben ist.«

Noa erinnerte sich nicht, zumindest nicht gut – ihr Vater war gestorben, als sie sechs Jahre alt gewesen war. Als sie nun übers Meer schaute, fühlte sich das Boot nicht mehr so sicher an wie noch vor wenigen Augenblicken. Sie wollte nach Hause. »Julian –«

Sein Blick richtete sich auf etwas hinter ihr. Noa drehte sich um.

Gut zwei Dutzend königliche Magier kamen den Steg hinuntergepoltert. Vor dem ersten Boot blieben sie stehen, und der Erste Magier schrie: »Julian Marchena, du und deine Mutter seid wegen Mordes und Verrats angeklagt. Ergib dich und stelle dich dem Gericht!«

»Warum sollte irgendjemand das tun, wenn ihm so etwas entgegengebrüllt wird?«, flüsterte Noa. Drei Sekunden später bekam sie die Antwort. Die Feuermagier murmelten einen Zauberspruch, und das Boot am Steg ging warnend in Flammen auf.

Doch Julian würdigte die Magier keines Blickes. Er beugte sich tief über die Reling und starrte ins Wasser.

»Julian.« Noa zupfte an seinem Ärmel. »Julian! Was machen wir? Sie kommen näher!«

»Ich habe eine Idee«, erwiderte er nur.

Er begann den sonderbarsten Zauberspruch zu murmeln, den Noa je gehört hatte. Julian war der einzige Mensch auf der Welt – und vermutlich aller Zeiten –, der alle neun magischen Sprachen beherrschte. Noa konnte nicht sagen, wie viele verschiedene Sprachen er jetzt sprach, nur dass es sich anhörte wie ein Kessel voll brodelndem Laub, in dem ein Stachelschwein Stepptanz tanzte.

Noa unterdrückte einen Schrei. Julians Spiegelbild bewegte sich – es glitt übers Wasser, und dann sprang es auf den Steg, wo es stehen blieb und sie anstarrte wie ein Geschöpf aus einem Albtraum. Es glich Julian aufs Haar – zumindest aus dem Augenwinkel betrachtet. Wenn man es richtig ansah, was ziemlich gruselig war, erkannte man, dass seine Glieder waberten und sein Gesicht sich wie Wasser kräuselte. Noa hätte schon wieder spucken können.

Julian murmelte einen weiteren Zauberspruch, und das Spiegelbild setzte sich in Bewegung. Es eilte lautlos auf die Magier zu, die es erst bemerkten, als es an ihnen vorbeigerannt war. Dann riefen sie hastig eine ähnliche Drohung wie zuvor und setzten dem Spiegelbild nach.

Diesen Augenblick wählte Rechenmeister, um auf den Steg zu trotten.

Rechenmeister war etwa so groß wie ein Pony und hatte fast keine Zähne mehr. Julian hatte ihn gefunden – besser gesagt, Rechenmeister hatte sich von ihm finden lassen –, als er auf den Halbmondinseln nach einem Drachen als Haustier gesucht hatte. Rechenmeister hatte abgemagert, zitternd und mehr tot als lebendig in einer Höhle gelegen. Der alte Drache war beinahe blind, konnte nicht mehr jagen und bot mit seinen vom grauen Star verschleierten Augen und dem immerwährenden Sabbern nicht gerade den furchterregendsten Anblick. Doch Julian hatte ein einziger Blick gereicht, um ihn zur feinsten Bestie zu erklären, die er je gesehen hatte. Noa konnte sich nicht erinnern, dass Rechenmeister sich je gegen sein neues Leben gesträubt hätte. Er verbrachte die meiste Zeit damit, durch den Palast zu schlurfen und an den Teppichen zu schnuppern oder zusammengerollt zu Julians Füßen zu liegen. Er war ein Teil von Julians Legende geworden – der Legende des mächtigen Magiers, der mit einem einzigen Wort einen Drachen bändigen konnte. Obwohl es wahrscheinlicher war, dass Rechenmeister einen praktischen Blick auf seine Möglichkeiten geworfen und begriffen hatte, dass ein Leben als Haustier die beste von ihnen war. Vor allem, wenn das hieß, dass ihm jemand den Bauch kraulte, ihn mit Blutwurzsalbe gegen seine Arthritis einrieb und ihn regelmäßig mit frischem Kabeljau versorgte.

Noa konnte Rechenmeister von ihrem erhöhten Platz auf dem Boot sehen, die Magier dagegen nicht. Der Erste Magier hastete um die Ecke, stolperte über ihn und landete mit einem beeindruckenden Überschlag im Wasser.

Man hätte meinen sollen, dass Rechenmeister nun zur Seite wich. Doch der Drache blieb einfach sitzen wie ein riesenhafter Krebs und blinzelte mit seinen trüben Augen, während ein Magier nach dem anderen spektakulär über ihn stolperte. Irgendwann begriffen die hinteren Magier, was los war, und hielten an, um den anderen aus dem Wasser zu helfen, aber zu dem Zeitpunkt war Julians Spiegelbild schon längst dahin entfleucht, wohin freigelassene Spiegelbilder so entfleuchen. Vielleicht gab es irgendwo eine eigene Stadt für sie, überlegte Noa, wo sie mit ihren Kräuselgesichtern und Schlabbergliedern herumliefen und einander zu Tode erschreckten. Sie versuchte, die Vorstellung schnell wieder loszuwerden.

»Warum hast du sie nicht einfach ins Wasser geworfen?«, fragte sie, denn wenn Julian in der Lage war, einen schrecklichen Wasserzwilling zu erschaffen, dann gelang ihm sicher auch ein einfacherer – und wesentlich weniger durchgeknallter – Zauber.

Julian machte große Augen. »Darauf bin ich gar nicht gekommen.«

»War ja klar«, stöhnte Noa.

Als alle Magier weg waren, rief Julian nach Rechenmeister. Der Drache stellte die Ohren auf und tappte zu ihnen herüber. Er versuchte, aufs Boot zu springen, doch Rechenmeisters Problem war, dass er immer vergaß, wie groß er war, und er schaffte nur die halbe Strecke. Er plumpste ins Wasser und ließ einen solchen Geysir in die Luft schießen, dass alle drei Marchenas klatschnass wurden. Julian war zu erschöpft von seinem letzten Zauber, um gleich einen neuen zu sprechen. Also warfen sie ein Fischernetz über den zappelnden Rechenmeister und zogen ihn mühsam nach oben. Es dauerte ewig, und Noa fürchtete, dass Julian bei seiner Rettungsaktion in erster Linie dafür sorgte, dass sie alle gefangen genommen wurden. Doch dann sah sie, wie Julian die Arme um Rechenmeister schlang, als er endlich tropfend und schniefend an Deck saß, und das Gesicht an seinem Hals vergrub, und sie sagte nichts.

Julian hisste das Segel, und das Fischerboot trieb aufs Meer hinaus. Noa half ihm – sie wussten beide, was zu tun war, denn selbst Prinzen und Prinzessinnen lernten in Floreana, wie man ein Boot steuert –, und dann setzte sie sich zu Maite, bis Maite mit dem Kopf auf ihrem Schoß eingeschlafen war.

Maite weinte ein bisschen im Schlaf, doch Noa starrte mit trockenen Augen geradeaus. Sie hatte genug geweint. Der Wind frischte auf, als sie das offene Meer erreichten, die Wellen zogen und zerrten an der Spiegelung des Mondes, und sie war froh über ihren warmen Kaminfegerumhang, auch wenn er wie Rechenmeisters Atem roch.

Sie musterte Julian. Sein Gesicht hatte einen kühlen Ausdruck angenommen, den sie noch nie gesehen hatte. Er sah gar nicht aus wie er selbst. Ihre Blicke begegneten sich, und es war eine der Gelegenheiten, bei denen Noa wusste, dass sie genau das Gleiche dachten. Plötzlich war sie unendlich erleichtert, dass sie Julian und Maite hatte, dass Xavier es nicht geschafft hatte, sie ihr auch noch wegzunehmen. Dann suchen wir erst die Kleine. Wenn Noa die Mörder jetzt vor sich gehabt hätte, hätte sie ihnen mit bloßen Händen das Herz aus der Brust gerissen.

Das Fischerboot glitt weiter durch die Dunkelheit, und in der Ferne sah Noa den Palast hinterm Horizont versinken. Etwas in ihr wurde hart. Der Palast gehörte ihnen, egal, wie viele Flaggen Xavier dort hisste. Er gehörte den Marchenas, genau wie der Rest von Floreana.

Eines Tages würden sie ihn sich zurückholen.

Eine Insel läuft auf

Noa breitete vorsichtig die Landkarte im Sand aus und beschwerte die Ecken mit Steinen. Sie zog ein Lineal, einen Kompass und zwei Bleistifte hervor, von denen sie einen in ihre langen Haare wickelte, damit sie ihr nicht in die Augen flatterten.

Die Karte von Astra war beinahe fertig. Sie hatte mehrere Monate dafür gebraucht – die Insel war zwar klein, nur vier Meilen lang und eine Meile breit, aber Noa war äußerst gewissenhaft. Karten waren nützlich. Genau zu wissen, wo etwas war oder sein könnte, bedeutete Macht. Noa blickte mit zusammengekniffenen Augen über den Strand, der steinig und von kleinen Wassertümpeln übersät war wie von herabgefallenen Himmelsschnipseln, und zeichnete eine weitere Markierung ein.

Die Insel ächzte, und Noas Bleistift zog einen dicken Strich über das Papier.

»Was war das denn?« Die Insel machte viele eigentümliche Geräusche – schließlich war sie eine verzauberte Insel –, doch geächzt hatte sie in den zwei Jahren, seit sie hier lebten, noch nie. Maite, die sich ein Stück weiter über etwas im Sand beugte, gab keine Antwort. Maite war jetzt sieben und hatte exakt zwei Interessen: Insekten und Dreck.

»Noa, schau mal!« Maite hielt die zur Höhle geformten Hände vor sich – immer ein bedenkliches Zeichen.

Noa verzog das Gesicht. »Wenn es wieder eine Spinne ist, die längere Haare hat als du, Maite, dann will ich sie nicht sehen.«

Maite schob die Unterlippe vor. »Meine Haare sind doch gar nicht lang.«

»Setz sie ins Gras.«

Maite blickte finster drein, doch sie tat wie geheißen, wobei sie der Spinne verstohlen etwas zuflüsterte. Das war noch so eine Besonderheit von Maite – sie mochte Krabbeltiere nicht nur, sie sprach auch noch mit ihnen. Später, dachte Noa, würde ihre Schwester vermutlich allein im Wald leben und Selbstgespräche führen.

Noa betrachtete die Karte kritisch und zeichnete die vertrauten Umrisse der Insel mit der sandigen Fingerspitze nach. An Astras Südspitze befand sich ein schlafender Vulkan namens Teufelsnase, der dunkelrot und von einem Labyrinth aus Scalesiabäumen umgeben war, wo Tausende Finken, Geckos und Lavagrillen wohnten. Das einzige Dorf auf Astra hieß ebenfalls Astra und bestand aus sieben Geschäften und ein paar Dutzend weiß getünchten Häusern, die sich um einen kleinen Park scharten. Die Ostküste der Insel wurde von steilen Klippen beherrscht, die Westküste von einem rötlichen Strand mit vielen kleinen schwarzen Höhlen.

Aber natürlich waren die Begriffe »Ostküste« und »Westküste« in navigatorischer Hinsicht völlig nutzlos, weil Julian die Insel kurz nach ihrer Ankunft verzaubert hatte und sie nun schwimmen konnte wie ein Schiff. Das war genauso kompliziert, wie es klang, und die ersten Tage von Astras Fahrtüchtigkeit waren wahrhaftig kein Vergnügen gewesen. Die Insel hatte die Eigenart entwickelt, ohne Vorwarnung zu zucken wie ein Hund mit Flöhen und ständig zu schaukeln. Wenn man bei einer besonders starken Neigung am Strand lag, rollte man ins Wasser. Kaum hatte Julian das Problem behoben, hatte die Insel begonnen, sich um ihre eigene Achse zu drehen. Diese Drehphase war schlimmer gewesen als alles andere und für Noa in einem Nebel aus Übelkeit vergangen.

Noa tippte mit der Fingerspitze auf die Karte. Julian hatte die Insel verzaubert, um sich vor Xavier zu verstecken – der mittlerweile König Xavier war und keine Ruhe geben würde, bis er Julian gefunden und getötet hatte. Doch die Wochen vergingen, Astra entwickelte sich vom übellaunigen Kleinkind zur anmutigen Schwimmerin über Floreanas Dreizehn Meere, und Julian blieb am Leben und begann, auf der wandernden Insel einen behelfsmäßigen Hofstaat zu errichten. Einige Magier waren ihrer alten Königin treu geblieben und kamen auf Julians Einladung nach Astra, ohne Xaviers Gerüchten Glauben zu schenken, dass Julian böse und verdorben sei. Julian hatte den Plan, Floreanas Inseln eine nach der anderen zurückzuerobern, und mit einem Teil der Inseln war es ihm bereits gelungen. Er hatte Xaviers Soldaten vertrieben, jede eroberte Insel mit starken Verteidigungszaubern ausgestattet und einige seiner Magier dort postiert.

Astra ächzte wieder, diesmal leiser. Stirnrunzelnd legte Noa die Karte beiseite und trat ans Ufer. Sie blickte durch ihr Fernglas auf die vorüberziehenden Inseln. Durch den Dunst, der wie wolliges Garn über dem Meer lag, waren sie nur schwer zu erkennen. Maite hüpfte ihr nach und blieb stehen, um einen Seegrasklumpen zu untersuchen, aus Gründen, die Noa lieber nicht so genau wissen wollte, weil sie vermutlich zu viele Beine hatten.

Die Insel ruckte heftig. Dann machte sie wummschawummschawummKLONK.

Noa stürzte zu Boden, Maite plumpste in einen Wassertümpel. Astra zitterte noch mehrmals, wenn auch weniger dramatisch, dann wurde sie still.

Noa rappelte sich auf. Die Insel bewegte sich nicht mehr, und eine große gekräuselte Welle erstreckte sich vom Ufer wie ein Flügel. Noas Herz hämmerte – Astra hatte etwas gerammt. Aber was?

»Komm, Maite«, rief sie. Maite stieg mit Tang im Haar aus ihrem Tümpel, und sie rannten los.

Sie eilten über den Sand und kletterten über die schwarzen Felsen, die die Bucht umgaben. Dahinter kam das Schloss in Sicht, in dem sie mit Julian auf der Jetzt-nur-noch-manchmal-Westseite der Insel lebten. Es hatte viele Jahre lang leer gestanden und war ziemlich baufällig und heruntergekommen, auf seinem Dach nisteten Pelikane, und Schichten von Vulkanasche hatten seine Steine schwarz werden lassen. Am darunterliegenden Strand hatten sich Julians Magier versammelt. Einige von ihnen sprachen mit zwei Fremden in einem Fischerboot. Dahinter ragte die Insel auf, mit der sie zusammengestoßen sein mussten. Noa kannte sie nicht.

Auch Julian war da und sprach mit einem der Magier, raufte sich die dunklen Haare und zerwühlte sie zu einem lächerlichen Durcheinander. Dann wandte er sich zum Meer und begann einen komplizierten Zauber, um die Wellen zu beruhigen, die durch den Zusammenstoß aufgewühlt worden waren.

Seit sie auf Astra lebten, hatte Julian sich mit einem Eifer in die Zauberei gestürzt, den Noa gar nicht von ihm kannte. Obwohl er der einzige Mensch auf der Welt war, der alle magischen Sprachen sprechen konnte, war er nie besonders interessiert daran gewesen, seine Kräfte auszubilden, abgesehen von ein paar komplizierten Tricks, um die jungen Damen und Herren am Hof zu beeindrucken. Jetzt aber verbrachte er einen Großteil seiner Zeit damit, Zaubersprüche zu üben. Er hatte sogar die farbenfrohen Seidengewänder und Juwelen, die er als Kronprinz getragen hatte, gegen Schwarz von Kopf bis Fuß eingetauscht, er trug eine Menge beeindruckende Ringe an den Fingern und hatte sich einen Drachen ins Gesicht tätowieren lassen, der sich um seine Schläfe wand. Noa hielt das alles für sinnlose Eitelkeit, aber wenigstens nicht ganz so sinnlos wie früher.

Noa blinzelte ins Sonnenlicht. Die rätselhafte Insel war etwa doppelt so groß wie Astra und dicht bewaldet. Sie schienen gegen den sandigen Zipfel gestoßen zu sein, der an der Spitze herausragte. Noa vermutete, dass das erste Ächzen ertönt war, als Astra auf die Sandbank vor der Küste gelaufen war.

Es war nicht das erste Mal, dass Astra stecken blieb. Im Riffelpass gab es trügerische Basaltsäulen, die sie mehr als einmal gerammt hatten, und dann hatte es eine denkwürdige Gelegenheit gegeben, bei der sie durch den Ascheregen eines Vulkans und durch ein Becken aus frischer Lava geglitten waren, die einen ihrer Strände geschmolzen hatte. Im Vergleich dazu war der Zusammenstoß mit einer Insel gar nicht so schlimm.

Wahrscheinlich saßen sie überhaupt nur fest, weil Julian Kapitänin Kell befohlen hatte, schneller zu fahren – er ignorierte immer den Rat der Seeleute, die Astra steuerten.

Aber wenn es so war, warum hatte Noa dann einen Knoten im Magen?

Sie sah zu, wie Julians Magier sich im Sand aufstellten und Zaubersprüche in Salz murmelten, um die verzauberte schwimmende Insel von der gewöhnlichen unbeweglichen Insel zu lösen. Ihre Lage war relativ sicher – sie befanden sich in der Unermesslichen See, wo es von Piraten nur so wimmelte. Königliche Schiffe, die sich hierher wagten, kamen höchstwahrscheinlich nicht wieder heraus, und das machte diesen Teil des Meeres für Flüchtlinge zum sichersten Ort von Floreana. Die Piraten bereiteten Julian keinen Ärger, vermutlich, weil sie glaubten, sein Herz sei ebenso schwarz wie ihre, wenn nicht noch schwärzer.

Die Fischer redeten noch immer wild gestikulierend auf die Magier ein. Noa konnte es ihnen nicht verdenken – schließlich hätte Astra beinahe ihre Insel überfahren, da war es ihr gutes Recht, sich zu beschweren. Aber woher waren die Fischer gekommen? Die andere Insel sah aus, als wäre sie unbewohnt. Während die Männer weiterschimpften, gab Julian ein gereiztes Geräusch von sich und stürmte über den Strand, wobei sein langer Umhang hinter ihm herflatterte. Er zischte einen Zauberspruch, der einen der unglücklichen Fischer ins Meer beförderte – besonders unglücklich, da Bella, die in Astras Gewässern ansässige Seeschlange, seit Tagen nichts zu fressen bekommen hatte. Auf den Platsch, mit dem der arme Mann im Wasser landete, folgte unverzüglich ein lautes Schmatzen. Noa schauderte.

»Wie kann man das nennen?«, sinnierte sie, während sie Julian nachblickte, der theatralisch davonstürmte. »Man kann nicht sagen, dass wir auf Grund gelaufen sind, denn Astra hat ja selbst Grund. Und wir sind auch nicht schiffbrüchig, denn Astra ist kein Schiff.«

Maite gab keine Antwort. Sie hatte das Interesse an dem Spektakel am Strand verloren und widmete sich wieder dem Umdrehen von Treibholz.

Noa kniete sich ans Ufer und tauchte die Hand in die schwappenden Wellen. Das Wasser war ungewöhnlich warm und kräuselte sich über der Sandbank, die nun einen Weg zwischen den beiden Inseln bildete. Einige Tümmler zogen am Strand vorbei und stießen verächtliche Pfeiftöne aus. Von einer schwimmenden Insel ließen sie sich nicht beeindrucken.

Noa betrachtete stirnrunzelnd die durchfurchte Strömung. Sie bildete sich ein, die am praktischsten Denkende der Familie zu sein – was bei Julians Hang zur Dramatik und Maites allgemeiner Sonderlichkeit zugegeben nicht allzu viel heißen mochte. Sie bemerkte Dinge, die anderen entgingen. Es war zum Beispiel ihre Idee gewesen, zuerst die Insel Delfina zu erobern, bevor sie sich ihre größeren Nachbarinseln, die Grauen Schwestern, vornahmen, sodass Julians Magier einfach bei Ebbe hinüberwaten konnten. Dieser Gedanke war Julian gar nicht gekommen.

Genau das war Julians Problem – er war der am wenigsten praktisch veranlagte Mensch der Welt. Weil er mehr Magie besaß als irgendjemand sonst, glaubte er, er könnte jedes Hindernis einfach aus dem Weg zaubern, anstatt sich mit Strategie zu beschäftigen. Aber so würde es Julian ganz bestimmt nicht gelingen, Xavier zu besiegen und König von Floreana zu werden.

Und Noa war fest entschlossen, ihn zum König zu machen, selbst wenn sie ihn dazu festbinden und ihm ein paar strategische Gedanken in den Kopf hämmern musste.

Das war Noas oberste Mission. Und dann hatte sie noch eine andere, eine geheime Mission, von der sie niemandem etwas verriet.

Die Mission, Julian davor zu bewahren, böse zu werden.

Es war nicht so, dass Julian grausam war. Es war eher so, dass er grausame Dinge tat, ohne darüber nachzudenken – zum Beispiel Fischer einer hungrigen Seeschlange zum Fraß vorwerfen. Früher hatte Julian seine Gegner nur als letzten Ausweg zu Bella ins Wasser geworfen, doch in letzter Zeit schien er kaum noch zu zögern, und manchmal erweckte er sogar den Eindruck, es mache ihm Spaß. Noa war daran gewöhnt, abstruse Geschichten über Julians finstere Taten zu hören. Schließlich war er der Dunkle Fürst, über den die meisten Menschen in Floreana nur mit gedämpften Stimmen sprachen und den sie für schlechte Ernten oder Unglück verantwortlich machten. Diese Geschichten hatten etwa so viel Ähnlichkeit mit Julian wie sein Schatten. Aber es wurde immer schwieriger, Julian und seinen Ruf auseinanderzuhalten, als wären Schatten und Bruder doch nicht mehr so weit voneinander entfernt. Und es war nun einmal eine Tatsache, dass Julian als dunkler Magier gefährdeter war, böse zu werden, als gewöhnliche Menschen.

Kurz gesagt, Noa hatte alle Hände voll zu tun.

»Prinzessin Noa?«, sagte eine Stimme. Es war Renne, Julians Stellvertreter.

»Ja?«, erwiderte sie kühl. Sie hasste es, wenn man sie »Prinzessin« nannte. Es war unzutreffend – sie würde erst wieder Prinzessin sein, wenn Julian König Xavier und dessen Magier besiegt und seinen rechtmäßigen Platz auf dem Thron eingenommen hatte. Wer sie Prinzessin nannte, tat so, als könne man über den Tod ihrer Mutter einfach hinwegsehen.

»Also …«, begann Renne und zog das Wort in die Länge. Er zupfte am Saum seines Umhangs. Eigentlich hätte Renne furchterregend sein müssen. Er war ein großer, kräftiger Kerl und trug, wie alle in Julians Gefolge, die gleiche finstere Drachentätowierung im Gesicht wie sein Herr. Aber irgendwie hatte er etwas Schüchternes an sich.

»Die Insel scheint auf ein Korallenriff aufgelaufen zu sein«, gestand er schließlich. »Es wird eine Weile dauern, sie wieder freizubekommen.«

Noa begriff nicht, warum er ihr das mitteilte – Renne schien normalerweise kaum davon Kenntnis zu nehmen, dass sie existierte. Dann dämmerte es ihr, und sie seufzte. »Du willst, dass ich es Julian sage.«

»Na ja, wenn Ihr sowieso ins Schloss geht …«, bestätigte Renne mit einem erleichterten Lächeln.

»Das hatte ich eigentlich nicht vor.« Aber Renne stapfte schon davon. Noa schnaubte und wandte sich wieder der seltsamen Strömung zu.

»Maite«, rief sie dann. Ihre Schwester hob den Kopf aus dem hohen Gras. Ihr dunkles Haar umgab ihre gebräunten Wangen wie ein Vogelnest.

»Gibt es schon Mittagessen?«

»Du hast gerade erst gefrühstückt.« Noa musste ihre Liste korrigieren, Maite hatte drei Interessen: Insekten, Dreck und Essen.

Noa ging nicht sofort zum Schloss. Zuerst schlug sie den Pfad ein, der vom Strand zur Teufelsnase führte. Maite und sie mussten über mehrere Leguane steigen, die sich auf der dunklen Erde wärmten. Sie lagen friedlich herum wie Baumstämme.

»Wohin gehen wir?«, keuchte Maite. Sie musste rennen, um mit Noas langen Schritten mitzuhalten.

»Wenn du müde bist, kannst du bei den Felsen auf mich warten«, sagte Noa.

»Nein, geht schon.« Maite rannte voraus, ihre nackten Füße flogen lautlos über den Boden.

Noa seufzte. Es war nicht immer ihre Aufgabe gewesen, sich um Maite zu kümmern. In dem grauenvollen ersten Jahr, nachdem sie nach Astra geflohen waren, hatte Julian das übernommen. Doch als er immer mehr Macht und Anhänger gewann, war die Aufgabe nach und nach Noa zugefallen. Nicht dass sie je zugestimmt hätte. Und nicht dass sie nicht manchmal versuchen würde, Maite abzuschütteln. War man mit sieben nicht alt genug, auf sich selbst aufzupassen, noch dazu auf einer Insel, die so sicher war wie Astra, wo so viele Magier herumlungerten, die auch ein bisschen aufpassen konnten? Noa hatte versucht, Maite zu ignorieren, sie hatte versucht, sie herumzukommandieren, doch was sie auch tat, Maite folgte ihr auf Schritt und Tritt wie ein Schatten, der immer ein paar Käfer in der Tasche hatte.

Noa verbrachte die meisten Tage damit, Astra zu erkunden. Als sie noch Prinzessin gewesen war, war ihr Leben streng eingeteilt gewesen in Unterricht bei Privatlehrern, öffentliche Auftritte mit ihrer Mutter und Julian, Festessen sowie Verabredungen mit steifen Adelskindern. Als Geflohene dagegen hatte Noa keinen Stundenplan. Sie hatte keine Leibwächter, die sie überallhin begleiteten. Anfangs war das komisch gewesen, doch seit sie sich daran gewöhnt hatte, sog sie die neue Freiheit in sich auf wie ein Kaktus den ersten Regen. Sie zeichnete Karten von Astras Landschaft, Pflanzenwelt und Orientierungspunkten. Sie listete alle Bäume und Vögel und Tiere auf, die Namen hatten, und benannte die, die noch keinen hatten. Sie katalogisierte alles, was ihr vor die Augen kam. Die Informationen waren nicht nur interessant, sie halfen auch Julian. Wenn er eine seltene Zauberzutat brauchte, zum Beispiel die Rinde eines Baums, der vom Blitz getroffen worden war, oder die Feder eines uralten Papageis, dann wusste sie, wo diese zu finden war. Sie konnte ihm sagen, wo die besten Aussichtspunkte lagen, wo die Walrösser an sonnigen Tagen schliefen und auf welchen Hügeln die Kapstachelbeeren so dick und glänzend wuchsen wie verstreute Goldmünzen.

Manchmal, besonders nach einem langen Tag, an dem sie durch Wassertümpel gewatet und über Lavafelsen geklettert und ihr Haar vom Meerwind zu wilden Knoten zerzaust war, fühlte sich ihr altes Prinzessinnenleben wie ein ferner Traum an. Und manchmal hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie so viel Spaß hatte, weil es ihr wie ein Verrat an ihrer Mutter vorkam. An solchen Tagen schloss sie sich mit Wilma in ihrem Zimmer ein und weigerte sich, mit irgendjemandem zu sprechen.

Schnaufend und verschwitzt erreichten Noa und Maite den Gipfel des Vulkans. Noa holte ihre Chronik heraus und versuchte, so zu tun, als wäre sie allein und eine Generalin, die ihr Gebiet überblickt. Die Chronik war ein grob gebundenes Notizbuch, in dem sie ihre täglichen Beobachtungen über Astras Zustand eintrug wie in das Logbuch eines Schiffs.

Sie überflog ihre Notizen der letzten Tage, die sorgfältig in Kategorien wie Wetter und Umdrehungen und zurückgelegte Meilen unterteilt waren. Wie sie vermutet hatte, war die Wassertemperatur gleich geblieben, und es gab keine Erwähnung der seltsamen Strömung. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie zum Strand hinunter – dort konnte sie gerade so die winzigen Gestalten der Magier ausmachen, die sich bei den Händen hielten, während sie versuchten, die Insel zu befreien. Von hier oben war die Strömung sogar noch deutlicher zu erkennen – sie sah aus, als würden dunkle Schlangen unter der Wasseroberfläche lauern. Die rätselhafte Insel war dicht bewaldet mit Matazanobäumen, und es gab keine Anzeichen von Dörfern oder Häfen. Und doch war ihnen das Fischerboot begegnet, das kaum woandersher stammen konnte, da die nächste Insel meilenweit entfernt war.

»Es ist zu hieß hier«, quengelte Maite. »Ich will wieder an den Strand.«

»Dann geh doch an den Strand«, sagte Noa. Maite seufzte und kickte gegen einen Stein. Er prallte mit einem Knall an einem anderen Stein ab. Peng. Maite trat wieder dagegen. Peng. Peng. Peng.

Noa versuchte, nicht darauf zu achten. Sie zog ihre Karte von Floreana hervor, die sie zusammengefaltet in der Chronik aufbewahrte.

Das Königreich von Floreana bestand aus zehn großen Inseln und einigen Dutzend kleinen, die spitz aus dem Meer ragten und etwa kreisförmig angeordnet waren wie die Scherben eines zerbrochenen Tellers. Außerdem gab es zahllose Mini-Inseln, von denen viele kaum groß genug für ein Haus und einen Garten waren. Ganz im Osten der Karte war der Rand eines Flecks namens Südmeruna, ein riesiger Dschungelkontinent mit mehreren Königreichen, die allesamt Magie hassten. Floreana hatte nicht viel mit ihnen zu schaffen.

Einige der floreanischen Inseln waren im Prinzip nur Vulkane und zu nichts zu gebrauchen, sie spuckten nur Tag und Nacht Lava. Andere waren öde und bestanden hauptsächlich aus rotem Gestein und Feigenkakteen. Die Inseln im Norden Floreanas waren grüner und oft bewaldet. Astra war eine von ihnen gewesen, bevor Julian sie verzaubert hatte. Noas Karte war über drei Jahre alt, deshalb war Astra noch an ihrer ursprünglichen Lage darauf abgebildet. Die arme Insel hatte nicht geahnt, was auf sie zukam, als die Karte gezeichnet worden war.

Noa tippte auf die Karte. Selbst wenn Julian Kell befohlen hatte, zu beschleunigen, mussten sie noch Stunden von der nächsten Inselgruppe entfernt sein, den Nesselinseln. Es war natürlich möglich, dass sie auf eine Insel gestoßen waren, die nicht auf der Karte verzeichnet war. Möglich, aber unwahrscheinlich, so groß, wie sie war.

Peng.

»Maite«, knurrte Noa mit zusammengebissenen Zähnen. »Bitte. Sei. Still.«

Maites Gesicht verdüsterte sich. Einen Moment war sie tatsächlich still, dann hob sie einen Stock auf, schlug damit gegen die Felsen und machte noch mehr Krach.

Das war zu viel. Noa knallte die Chronik zu und marschierte den Pfad zurück, obwohl sie mit den Einträgen des Tages noch nicht fertig war. Sie lief zügig – sie war groß für ihr Alter und konnte sehr schnell sein, wenn sie wollte. Als sie sicher war, außer Sichtweite zu sein, versteckte sie sich hinter einem Baum. Ein Gecko sprang auf ihre Schulter, doch sie schob ihn weg.

Maite kam keuchend und mit geröteten Wangen den Pfad entlanggerannt. Noa wartete, bis ihre Schritte nicht mehr zu hören waren, dann lief sie zurück zum Gipfel und machte es sich auf einem Stein bequem. Es war Tage her, dass sie einen Augenblick für sich gehabt hatte. Sie holte die Chronik wieder heraus und beendete in Ruhe ihre Einträge.

Eine verdächtig hilfsbereite Seeschlange

Julians Magier waren immer noch am Strand, als Noa eine Stunde später vom Berg zurückkam. Ein nervöses Kribbeln stieg in ihr auf – sie hatte erwartet, dass Renne die Insel mittlerweile befreit hatte. Das Fischerboot war weg, aber ob es sich auf den Heimweg gemacht hatte oder von Bella verschlungen worden war, konnte Noa nicht sagen.

Wie zur Antwort auf ihre Gedanken hob die Seeschlange ihren gewaltigen Kopf aus dem Wasser. Noa blieb auf den Stufen stehen, die über eine schmale Klippe zum Schloss führten, und winkte ihr zu.

Der Kopf der Schlange verschwand unter Wasser und tauchte näher bei ihr wieder auf. »Kann ich dir helfen, meine Liebe?«, säuselte sie.

Noa bemühte sich, nicht auf die Sandale zu achten, die noch zwischen Bellas Reißzähnen steckte. »Was ist mit dem Fischerboot passiert?«

»Es hat einen kleinen Zwischenfall gegeben.« Die vornehme Stimme der Schlange gurgelte in ihrem Hals, kaum lauter als die Wellen am Ufer. Bella wurde nie laut.

»Aha«, sagte Noah. »Einen Zwischenfall mit den Fischern und deinem Magen? Die Art Zwischenfall?«