Emmas Story - Mirjam Müntefering - E-Book
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Emmas Story E-Book

Mirjam Müntefering

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Beschreibung

Emma hat eine langjährige Beziehung hinter sich und ist hoffnungslos in ihre Chat-Bekanntschaft Frauke verliebt. Leider ist die jedoch schon vergeben.

Statt sich nach neuen Möglichkeiten umzusehen, pflegt sie ein eher ungewöhnliches Hobby: Sie besichtigt jedes Wochenende Wohnungen, obwohl sie eigentlich gar nicht umziehen will. Dabei trifft sie Lu wieder, ihre verhasste Schulkameradin und Nachbarin aus der Jugendzeit.

Als Emma sich schließlich auf eine witzige Kontaktanzeige im In-Blättchen der Stadt meldet, ahnt sie nicht, was dieser Schritt nach sich ziehen wird ...

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Seitenzahl: 351

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Inhalt

CoverInhaltÜber die AutorinTitelImpressumWidmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel

Über die Autorin

Mirjam Müntefering, geboren 1969 im Sauerland, studierte Theater- und Filmwissenschaften sowie Germanistik und arbeitete als Fernsehredakteurin. Seit dem Jahr 2000 schreibt sie Jugendbücher und Romane für Erwachsene. Nachdem sie mehrere Jahre lang eine eigene Hundeschule betrieb, konzentriert sie sich inzwischen ganz aufs Schreiben. Sie lebt mit ihrer Partnerin und ihren zwei Hunden Maggie und Holly im Ruhrgebiet.

Mirjam Müntefering

Emmas Story

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2013/2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen

Titelbild: getty images/Daily & Newton

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-8387-4884-9

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Wenn man sein Zuhause gefunden hat,

dann braucht es keine Worte.

1. Kapitel

»Gemütliche whg in ruhigem Altbau direkt am Wald, 4 ½ m hoher Raum, sonnig, Wohnküche (keine Einbauk.), großer, eingezäunter Garten (Hunde erlaubt)«

Hunde?«, wiederholt Armin. »Wieso Hunde?«

»Was weiß ich«, seufze ich. »Vielleicht mögen die Vermieter einfach Hunde?«

Armin lässt ein schrilles Lachen hören. »Oder das Haus liegt für Diebe derart einladend in totaler Alleinlage am Waldrand, dass sich gar nicht genug Hunde dort aufhalten können.«

Jedes Wochenende das Gleiche!

Ich tue eine absolut perfekte Wohnung auf, und Armin meckert dran herum, bevor wir sie uns überhaupt angesehen haben.

»Kommst du trotzdem mit?«

»Sicher«, näselt er. Am Telefon fällt mir immer besonders auf, dass er nichts unversucht lässt, um seiner Stimme den betont schwulen Touch zu verleihen. »Aber dann kommst du auch mit zu meinem Zwei-Uhr-Termin, den ich gestern Abend vereinbart habe: Eine Männer-Dreier-WG im Zentrum, in diesen grünen Häusern gegenüber der Elisabethkirche, in die ich immer schon mal einen Blick werfen wollte.«

»Von der Fakultät?«, frage ich routiniert.

Was ich damit meine ist, ob die Männer in dieser WG schwul sind, und den Ausdruck liebe ich, weil ich die letzten Jahre als Dozentin an der Uni gearbeitet habe. Da ich gerade meine Doktorarbeit schreibe, muss ich im Moment zwar keine Kurse geben, aber an gewissen Begrifflichkeiten halte ich einfach fest.

»Fakten weiß ich keine. Gefühlt aber eher nicht. Deswegen wäre eine attraktive Freundin wie du bestimmt von Vorteil.«

»Ich hoffe nur, dass nicht gleich beide Kerle versuchen, mich dir auszuspannen.« Wir gackern.

»O. k., dann mach ich jetzt einen Termin mit der Wohnung im Grünen. Ich schick dir dann eine sms mit Adresse und Uhrzeit. Bis später.«

Nachdem ich aufgelegt habe, starre ich noch eine Weile auf die Wohnungsanzeige. Ich kann es nicht erklären, aber ich weiß, dass es sich hier um etwas Besonderes handelt. Es ist nicht wie sonst. Es fühlt sich anders an, auch wenn sich dieser Morgen von außen betrachtet in nichts von all den anderen Samstagmorgen der letzten Monate unterscheidet. Auch heute sitze ich mit meinem Müsli und einem Becher Kaffee am Tisch und studiere genüsslich die Zeitung, wobei der Geruch der Druckerschwärze die Vorfreude auf die Unternehmungen des Tages noch steigert.

Ich schnuppere. Ja. Das riecht nach großem Hausflur mit Fliesen im Mosaikmuster. Holztüren mit eingesetzten Jugendstilfenstern. Nachbarn, die morgens Tschaikowski hören und abends Klavier oder Saxophon üben. Eine wunderschöne Wohnung, die nur darauf wartet, ein Zuhause zu werden.

Unter der angegebenen Nummer meldet sich eine dynamisch wirkende Frau, die ich auf Mitte vierzig schätze. Wir verabreden uns für zwölf Uhr. »Sie sind wirklich spontan!«, kommentiert sie meinen Vorschlag. »Das gefällt mir.«

Lächelnd lege ich die Zeitung zur Seite. Das sollte für dieses Wochenende reichen.

Während ich weiter mein Müsli löffele, lasse ich den Blick durch die Küche schweifen. Sie ist gemütlich eingerichtet, so wie der Rest der Wohnung auch. Ich dekoriere gern, lasse Dinge schön erscheinen. Was andere Kitsch oder Schnickschnack nennen, dient bei mir dem Wohlfühleffekt.

Seit nunmehr sieben Jahren wohne ich hier. Und bis vor einem halben Jahr auch Ramona, meine Freundin, jetzt Ex-Freundin. Sie wohnte nur an den Wochenenden in dieser Wohnung, weil sie in Köln arbeitete und nicht jeden Tag vom Ruhrgebiet aus dorthin pendeln wollte. Jetzt hat sie ein kleines Appartement in der Nähe ihrer Arbeitsstelle.

Und mir ist klar geworden, dass in einem halben Jahr viel geschehen kann.

Zum Beispiel kann sich eine einzige Frau in sechs Monaten 32 Wohnungen, 7 Appartements und 9 WG-Zimmer anschauen, mit ihrem schwulen Freund einen Tanzkurs besuchen, einen Tai-Chi-Workshop absolvieren, auf der Kino-Abo-Karte zwei Freifilme erglotzen und trotzdem noch die Zeit finden, jede Woche mindestens ein Buch zu lesen.

Sie kann sich außerdem ein halbes Jahr lang fragen, wieso sie, nachdem Ramona ausgezogen war, bei einer gewissen wunderbaren Frau nicht landen konnte, nur weil diese irgendeiner dahergelaufenen Tierarzthelferin den Vorzug gegeben hat.

Aber ich bin nicht nachtragend. Ich treffe mich trotzdem noch mit Frauke, dieser wunderbaren Frau, und habe gelernt, mit der gewissen Tierarzthelferin Antonie einen höflichen Umgang zu praktizieren. Aber nach wie vor zählen die Momente, in denen die beiden sich in meiner Gegenwart verliebte Blicke zuwerfen oder einen raschen Kuss tauschen, nicht zu den Höhepunkten in meinem Leben.

›Du suchst doch das Drama ganz bewusst!‹, hatte Armin das damals mitleidlos kommentiert. ›Du bist nicht zufrieden, wenn es glücklich und harmonisch zugeht. Sonst hättest du zugegriffen, solange sie noch interessiert war. Aber nein! Du musstest ja warten, bis eine andere auftauchte. Und jetzt, wo alles zu spät ist, ist das Gejammer wie immer groß!‹

Ich weiß die Ehrlichkeit eines guten Freundes sehr zu schätzen. Manchmal frage ich mich allerdings, wieso er diese schonungslose Offenheit für sich allein gepachtet hat. Schließlich ist er derjenige, der seit mittlerweile drei Jahren eine Affäre mit einem verheirateten Mann unterhält und immer noch hofft, der smarte Typ würde demnächst Frau und Kind verlassen.

Wie auch immer, ich schicke Armin die angekündigte sms mit Uhrzeit und Adresse für unser Treffen und werfe einen Blick in meinen Kleiderschrank. Wohnungen besichtigen bedeutet, in punkto Kleidung genau den richtigen Griff zu tun. Es laufen Leute bei Besichtigungen auf, die sind ausstaffiert, als gingen sie auf einen Opernball. Neben diesen verwundert bestaunten Overdressten stehen die Leger-zerbeulte-Jeans-na-und-Typen recht armselig, aber nicht minder verlegen, in der Gegend herum. Auf ein WG-Zimmer hätten sie vielleicht eine Chance, aber sicher nicht bei gut situierten Vermietern.

Bei Wohnungsbesichtigungen musst du die Anzeige vorher intensiv studieren. An der Anzeige lässt sich häufig bereits erkennen, ob die Vermieter auf die gleichen Dinge Wert legen wie du.

Gemütlich. Sonnig. Ruhig. Wald. Altbau.

Sogar erlaubte Hunde sagen dir, was dich erwartet: Eine Form von urtümlicher Behaglichkeit.

Ich wähle meine braune Wildlederhose, durch deren Schlaufen ich einen handgemachten Stoffgürtel ziehe. Dazu die halbhohen Schuhe mit den weichen Sohlen. Oben reicht jetzt, Anfang Mai, ein Träger-Shirt mit leger fallender, aber erkennbar teurer Strickjacke. Und die Haare? Ich laufe barfuß ins Bad und betrachte mich kritisch im Spiegel.

Alle Welt behauptet, ich sei schön.

Ich finde, schön ist ein mächtiges Wort.

Hübsch zu sein stelle ich mir netter vor. Hübsch. Das klingt so leicht und angenehm wie ein bunter Schmetterling, wie eine im Sommerwind dahintrudelnde Feder. Schön zu sein ist in etwa so schwer und klebrig wie Buttercremetorte auf einen vollen Pizzamagen.

Es ist mächtig anstrengend, schön zu sein, weil du fortwährend angestarrt wirst, wenn du irgendwo auftauchst. Egal, ob du zum Tanzen in die Disco gehst oder an der Uni eine neue Gruppe Seminarteilnehmer begrüßt, überall glotzen die Menschen dich an. Als seiest du nur zur Welt gekommen, um der Allgemeinheit einen zusätzlichen Lustgewinn zu verschaffen.

Die erlaubten Hunde wohlweislich in meine Überlegungen einbeziehend, entscheide ich mich für eine Spange, die meine Haare im Nacken locker zusammenhält.

Frauke hat auch einen Hund.

Loulou. Ein wild getüpfelter Mischling.

Vielleicht möchte ich die Wohnung deswegen so gern ansehen. Weil ich weiß, dass Frauke dort auch gern leben würde. Obwohl nach allem, was zwischen uns geschehen ist, klar ist, dass sie dort nicht mit mir leben wollte. Beim Gedanken an ihre Freundin Antonie, die bestenfalls hübsch – auf keinen Fall schön – ist, aber trotzdem bei Frauke das Rennen gemacht hat, kann ich im Spiegel sehen, wie sich meine Brauen zusammenziehen.

Ich finde, die beiden passen nicht zueinander. Aber mit der Meinung stehe ich ziemlich allein da. Denn alle anderen sind von dem neuen Traumpaar total entzückt.

›Du bist nur auf Kollisionskurs, weil du sie immer noch nicht aufgegeben hast!‹, wusste Armin neulich mal zu analysieren, als ich in einem Nebensatz mit gerümpfter Nase Antonies Namen fallen ließ. Aber er braucht ja nicht zu wissen, dass die grundsätzlich erlaubten Hunde den Ausschlag gegeben haben, mich an diesem Wochenende für eben diese Wohnung zu entscheiden. Er würde darüber sowieso nur weise den Kopf schütteln. Um halb zwölf mache ich mich jedenfalls eher unauffällig, gerade deswegen aber wahrscheinlich genau passend gekleidet, auf den Weg.

Manche Menschen mögen meine Wochenend-Vergnügung merkwürdig finden.

Meine beste Freundin Hannelore, die mit ihren siebzig Jahren wirklich eine Menge Erfahrung gesammelt hat, sagt dazu jedoch nur: »Besser als fernsehen! Und fast so gut wie die Gala!«

Ich selbst habe mein neues Hobby vor etwa sechs Monaten eher zufällig entdeckt. Nach der Trennung von Ramona wollte ich einfach nur weg aus der Wohnung. Raus aus den gewohnten Räumen, fort, möglichst weit weg und möglichst anders. Irgendwo ganz neu beginnen.

Allerdings merkte ich nach ein paar Besichtigungsterminen, dass meine Begeisterung fürs Umziehen extrem schwächelte, mein Hang zu Wohnungsbesichtigungen jedoch stetig zunahm.

Ungefähr bei Besichtigung Nummer sieben oder acht stieg Armin mit ein.

Er meinte, er könne sich auf diesem Wege das Abo für Schöner Wohnen sparen.

Und so schlendern wir am Wochenende häufig durch die Wohnungen fremder Menschen. Wir betrachten ihre Bücherwände, ihre Couchgarnituren, ihre Sekretäre und Esszimmerstühle, ihre Ölgemälde oder bravo-Poster, ihre Fotosammlungen, Teppichreste und Stofftieraufgebote. Wir beglotzen Namenschilder, Vorhangstoffe, Deko-Blumen, Vasen, Nippes, minimalistische Stereotürme, Bauernschränke, Einbauküchen, elektrische Rollläden, Stehlampen, Schuhregale und Teelichthalterbäumchen.

Nebenbei halten wir ein Schwätzchen mit Vormietern, Vermietern und anderen Interessenten. Hannelore hat Recht: Viel mehr über das Privatleben anderer kann man selbst aus der Gala nicht erfahren.

Der Weg zu der ruhigen Altbauwohnung führt mich ziemlich weit aus der Stadt heraus, zwischen Pferdekoppeln hindurch direkt an den Waldrand.

In meinem Bauch zieht es, und ich weiß, dies hier ist etwas Besonderes!

Etwas in mir gerät in Schwingung.

Es pendelt sacht in mir hin und her. Sanft zwar, aber zugleich beunruhigend. Seltsam.

Ich sehe auf die Kilometeranzeige. So ein Ritt täglich zur Arbeit, nein, das käme nicht infrage. Aber wirklich hübsch hier. Sehr still. Sehr abgelegen. Schon von Weitem sehe ich Armin neben seinem geparkten Auto stehen. Kommt mir so vor, als hätte ich ihn schon mal genau an diesem Ort warten sehen – ganz offensichtlich ein Déjà-vue.

»Grad sind schon welche rein gegangen«, berichtet er, während wir uns zur Begrüßung umarmen. »Hübscher Klingelton. Man konnte ihn hier draußen hören.«

Wir treten einen Schritt zurück und lassen das Haus auf uns wirken.

Es ist von einem etwas verwittert wirkenden, weißen Holzzaun umgeben, der mal wieder einen neuen Anstrich gebrauchen könnte und über den sich ausladende Zweige beugen, die mit rosa und pinkfarbenen Blüten protzen. Das Törchen steht einladend auf. Das Haus selbst ist wahrscheinlich vor Jahren mal gelb gestrichen worden. Auf dem mittlerweile etwas schmuddelig wirkenden Farbton leuchten die weißen Schlagläden an den großen, mit einem Kreuz unterteilten Fenstern. Hinter den Fenstern im ersten Stock drängeln sich kostbar wirkende Orchideen um den besten Sonnenplatz. Sie hängen von oben herunter oder wachsen scheinbar von der Seite an das Glas heran und erzeugen so den Eindruck eines Tropenhauses.

Die Fenster der Parterrewohnung geben den Blick auf Grünpflanzen und Kerzenhalter frei, und an den Rändern erahnt man leichte Vorhänge.

»Sieht nett aus«, findet Armin und hakt sich bei mir ein. Er ist genauso groß wie ich. Nicht weil er ein besonders kleiner Mann ist, sondern weil ich eine relativ große Frau bin. »Findest du nicht? Ich kann mir vorstellen, dass hier noch der Milchmann kommt. Und wenn du dir freitags den Überraschungsgemüsekorb vom Bauern nebenan liefern lässt, kommt es dir ganz so vor, als hättest du das Grünzeugs im eigenen Garten gezogen. Apropos … ob der dazu gehört? War ja in der Anzeige erwähnt.«

Ich antworte nicht.

Ich schaue nur.

32 Wohnungen, 7 Appartements, 9 WG-Zimmer.

Aber noch nie hat in mir diese kleine silberhelle Glocke Alarm geschlagen.

Verwirrt schaue und schaue ich. Was ist das nur?

Es ist nicht das schönste Haus, das ich mir angesehen habe. Und wer will schon so weit draußen wohnen? Aber trotzdem erklingt in mir ein Ton, der bis in meinen Kopf hineinschrillt.

»Armin«, sage ich leise und klopfe auf seinen Unterarm. »Irgendwas ist hier. Ich spüre, dass hier irgendwas Spezielles abgeht. Es fühlt sich besonders an.«

Armin rückt ein kleines Stückchen von mir ab und reißt betont die Augen auf. »Soll das etwa heißen, du hast mal wieder eine deiner berühmten Ahnungen?«, raunt er. »Etwa eine Vision? Ähnlich wie du sie bei dem coolen Kellnerjob im Na und für mich hattest? Als ich nicht mal in die engere Wahl kam? Oder bei dem geilen Bademeister im Urlaub? Der am letzten Abend seine Verlobung mit diesem rehähnlichen Geschöpf namens Yvonne bekannt gab? Oder bei Frauke, die jetzt mit Antonie zusammen ist? Oder …«

Ich zische durch meine perfekte Zahnreihe.

»Unsinn! Nicht in der Art! Schließlich suchen wir nicht wirklich eine Wohnung. Und daher kann die Ahnung auch nicht bedeuten, dass dies unser neues Zuhause ist. Aber irgendwas muss sie doch bedeuten!«

»Dass in deinem Hintern ne Hummel quer sitzt, das bedeutet es«, wispert mein bester Freund. »Du solltest dir mal wieder was Nettes anlachen. Etwas, das ein bisschen mehr Entspannung bringt als eine unerreichbare Frau, mit der du nichts anderes anstellen kannst, als ihr hinterherzuhimmeln.«

»Komm, lass uns reingehen«, entscheide ich brüsk, und wir marschieren durch das Gartentörchen auf die Haustür zu. Die aus Holz ist, tatsächlich. Das eingesetzte Milchglas ist mit einem schmiedeeisernen Gitter geschützt. Aber so was Ähnliches hatte mir ja der Geruch der Druckerschwärze bereits versprochen.

Und trotzdem bin ich irritiert.

Das steigert sich noch, als die Tür geöffnet wird und im Hausflur eine Frau mit grauen Haaren und scharfen Gesichtszügen steht, die uns freundlich ihre wettergegerbte Hand entgegenstreckt.

»Beckmann, guten Tag. Kommen Sie rein! Wir haben vorhin telefoniert.«

Ich hatte sie jünger geschätzt, aber ihre Stimme erkenne ich wieder.

»Ich wohne oben. Die untere Wohnung wird demnächst frei, weil die derzeitigen Mieter ein Haus bauen. Wann wollen Sie einziehen?«

»Äh …«, mache ich und sehe Armin an.

Der legt den Arm um mich und näselt: »Da können wir uns ganz nach Ihnen richten. Wir haben es nicht eilig. Aber wenn es schnell gehen muss, dann können wir das auch einrichten.«

Genau die richtige Antwort!

Frau Beckmann strahlt und weist mit einer Geste auf die offen stehende Wohnungstür im Parterre.

Aus der Wohnung sind Stimmen zu hören. Der typische, leise Plauderton, das Floskeln und Plänkeln, das betont freundliche, aber leise Lachen. Der Umgangston bei Wohnungsbesichtigungen ist von derselben Art wie der in den Wartezimmern von Ärzten.

Ich nehme alles nur wie durch einen Schleier wahr.

Die hohen Räume, in denen das Licht die ausgelatschten Holzdielen des Bodens streichelt. Das Knarzen unter dem einen oder anderen meiner Schritte. Der Blick von der Küche durch den kreisrunden Flur hinüber ins Wohnzimmer und von dort durch das Fenster hinaus in den verwilderten Garten.

»Für den sind die Mieter zuständig«, erläutert uns Frau Beckmann und tauscht mit der derzeitigen Bewohnerin und deren Mann einen amüsierten Blick. »Orchideen kann man nicht draußen züchten, wissen Sie. Aber wir alle lieben es, da draußen das Wilde und Unbekannte lauern zu sehen.«

Ich trete einen Schritt zur Seite und wende mich, scheinbar interessiert an dem kleinen Vorratsraum, vom allgemeinen Gespräch ab.

Dieser Geruch.

Leicht herb, wie auf einem provenzalischen Markt, vermischt mit einem süßen, blumigen Duft.

Die alten Türen, die schwer in den Angeln hängen.

Die Anordnung der Räume in einem freundschaftlichen Kreis um den runden, geräumigen Flur herum.

Ich glaube, was mich so verwirrt, ist die Tatsache, dass mir all das so vertraut vorkommt. Wieder schüttele ich den Kopf. Total verrückt dieser Gedanke. Völlig irrsinnig.

Während Armin mit den anderen Interessenten in ein Gespräch über Kinderzimmer vertieft ist, tritt Frau Beckmann zu mir und sieht mit mir gemeinsam hinaus in den Garten.

»So nachdenklich?«, fragt sie.

Ich sehe auf und bilde mir ein, in ihren Augen ein wissendes Glitzern zu entdecken.

Wenn ich wirklich wollen würde, wenn ich wirklich auf der Suche wäre, dann würde ich jetzt sagen: ›Geben Sie mir die Wohnung! Ich glaube, hier gehöre ich hin! Genau hierhin!!‹

Aber ich will ja gar nicht umziehen. Und wenn schon Umziehen, dann ganz sicher nicht in eine so große Wohnung. Und wenn schon Umziehen und große Wohnung, dann bestimmt nicht so weit außerhalb der Stadt.

»Haben Sie noch Fragen?«

»Ja«, sage ich und lege die Hand an die Tür der Vorratskammer. Das alles hier verwirrt mich so sehr, dass ich mich an irgendwas festhalten muss. »Wieso stand in der Anzeige, dass Hunde erlaubt sind?«

Frau Beckmann schmunzelt und wundert sich bestimmt über diese merkwürdige, stille Frau in Wildlederhosen und Strickjacke.

»Ich habe früher Setter gezüchtet. Als mein Mann noch lebte. Wir hatten nur ein paar Würfe, sind bis zum Buchstaben E gekommen. Aber die Hunde fehlen mir sehr. Orchideen züchten ist ein schönes Hobby, wissen Sie. Aber die Blumen geben einem nichts zurück als ihre Schönheit.« Sie grinst.

»Warum halten Sie sich keinen Hund?«, will ich wissen.

Ihr Blick fällt hinunter auf ihr linkes Bein. Jetzt erst fällt mir auf, dass ihre weite Baumwollhose irgendetwas verbirgt. Auch ihr leichtes Humpeln war mir schon aufgefallen.

»Ich habe bei dem Unfall nicht nur meinen Mann verloren, sondern auch Fuß und Unterschenkel. Da sind lange Spaziergänge nicht drin. Manche Bekannten sagen, ich soll mir doch irgendeinen Schoßhund anschaffen, aber das kommt für mich nicht infrage. Jeder Hund braucht Bewegung. Egal wie klein er ist.«

Ich nicke beipflichtend, obwohl ich von Hunden ähnlich viel Ahnung habe wie von Orchideen. Nämlich null.

Während Armin mit unbestechlicher Kennermiene die Bodenbretter in der Diele auf Knarzgeräusche testet, mustert er mich fragend. Immerhin haben wir schon ein paar Dutzend Besichtigungen gemeinsam hinter uns gebracht. Und so ein merkwürdiges Gehabe kennt er nicht an mir.

Normalerweise gehe ich aufmerksam, mit weit offenen Augen durch die Räume, betrachte alle Details, damit wir uns später, bei einem Milchkaffee, darüber unterhalten können. Aber hier stehe ich einfach nur herum und mir ist, als würde ich eher in mich hineinschauen als auf die hübsch eingerichteten Zimmer.

Und das ist so, weil ich dieses Gefühl habe.

Armin wirft mir mit gerunzelter Stirn einen auffordernden Blick zu, bevor er ins Bad schlendert, vermutlich, um dort die Wände auf frühere Wasserschäden zu untersuchen.

»Sie sind doch nicht verheiratet, oder?« Frau Beckmann hat Armins Blick auch bemerkt und sieht mich nun offen an. Ihre Augen spiegeln mir die Farbe meiner eigenen Augen. Es ist eine seltene Farbe. Klares Grau. Ein extremer Kontrast zu meinen dunklen Haaren.

Bei ihr sieht das Grau der Augen zur Farbe ihrer Haare sehr harmonisch aus. Eine Frau mit solchen Augen kann man nicht anlügen. Von diesem intensiven Blick würde jeder sofort durchschaut.

Daher schüttele ich den Kopf und lächele. »Nein. Um ehrlich zu sein, sind wir nicht einmal ein Paar, nur sehr gut befreundet.«

Sie nickt. »Dachte ich mir. Freundschaft zwischen Frauen und Männern kommt nicht so oft vor. Und nur selten kommt es in einer Partnerschaft vor. Mein Mann war mein bester Freund.«

Darauf weiß ich nichts zu sagen.

Ich weiß nicht, wie lange der Unfall schon zurückliegt. Weiß nicht, ob der Verlust noch ganz frisch ist.

In ihren Augen ist kein Schmerz zu entdecken. Sie lächelt.

»Ich glaube, wir müssen schon wieder los«, sage ich rasch und sehe auf die Uhr. »Danke, dass wir kommen durften. Es ist eine wirklich wunderschöne Wohnung.«

Frau Beckmann strahlt. »Schön, dass sie Ihnen gefällt. Ihr Freund hat mir bereits Ihre Telefonnummer gegeben. Ich melde mich dann also, wenn ein Auszugstermin feststeht.«

»Ja. Ja, gerne.« Ich gehe durch die Diele ins Bad und zupfe Armin, der gerade mit dem Kopf unterm Waschbecken hängt, am Ärmel. »Kommst du?«

Mein bester Freund deutet vage in Richtung Dusche und wispert: »Das Silikon muss dringend gemacht werden. Risiko von Wandschimmel.«

Ich schaue hin. Und sehe nur einen fröhlich bunten Duschvorhang, der die hellen, freundlich wirkenden Kacheln und eine saubere Keramikduschtasse zur Hälfte verbirgt. Von Schimmel echt keine Spur.

»Komm schon«, wiederhole ich und gehe vor.

Armin wirft noch einen sehnsüchtigen Blick in den einladend gestalteten Wohnraum, nickt dann aber zustimmend. Er kennt mich seit mehr als fünfzehn Jahren und weiß, wann ich es ernst meine.

»Die Böden knarren in jedem Raum. Aber am lautesten in der Diele. Da kannst du keinen Schritt tun, ohne dass man das im Schlafzimmer hört«, raunt er mir leise zu, als wir den schmalen Gartenweg zum Tor hinausgehen. »Und Holzfenster sehen zwar schick aus, aber wahrscheinlich ist es ziemlich zugig im Winter. Vor allem im Kinderzimmer, aus dem ich übrigens auf jeden Fall das Arbeitszimmer machen würde. Du auch?«

Wir sind bei unseren Autos angekommen, und jetzt sieht er mich wachsam an.

Ich kenne das.

Er ist eben nur zufrieden, wenn er etwas zu meckern findet. Er nörgelt gern und fühlt sich dabei wie der Fachmann, und natürlich ist ihm nie eine der besichtigten Wohnungen jemals gut genug, um dort einzuziehen.

Ich kann nur hoffen, dass er niemals in unserem gemeinsamen Leben auf die Idee kommt, sich tatsächlich eine neue Wohnung zu suchen. Denn unsere samstäglichen Ausflüge haben bewirkt, dass er sich zu einem wirklichen Spezialisten im Finden von Mängeln entwickelt hat.

»Emma? Was ist los?«

Ich blicke noch einmal zum Haus hinüber und schließe dann mit einem Seufzer mein Auto auf.

»Keine Ahnung, Armin. Weiß nicht. Wahrscheinlich habe ich schlecht geschlafen.«

Er mustert mich. »Du siehst aber gut aus.«

»Ich sehe immer gut aus.« Das ist nicht gelogen. Ich sehe gut aus, wenn ich eine Nacht durchgemacht habe, wenn ich mich in Liebeskummer ergehe, wenn ich unter einer tropfenden Nase oder höllischen Kopfschmerzen leide. Niemand glaubt mir, wenn ich mal unpässlich bin. Schönheit kann ein echter Fluch sein.

Armin kennt mich so gut, dass sein adlerhaftes Spähen schon nach wenigen Sekunden zu einer Erkenntnis führt: »Du denkst immer noch, dass diese Bruchbude irgendwas Besonderes ist und du hier eventuell der Liebe deines Lebens begegnen könntest oder so was Ähnliches, stimmt’s?«

Ich hasse es, wenn er die Wahrheit in so unschöne Worte kleidet. Das hätte er doch auch anders sagen können. Freundlicher. Jedenfalls so, dass nicht der Eindruck entsteht, ich hätte nicht alle Latten am Zaun.

»Für einen schwulen Mann bist du unglaublich unsensibel«, brumme ich und sehe auf die Uhr. »Wir haben nicht mal mehr Zeit auf einen Kaffee. Also auf zu den Heteros!«

Während ich in meinen Wagen steige, wende, dabei auf Armin achten muss, der seinen Kombi stets kürzer einschätzt als er tatsächlich ist, spüre ich, dass das Haus meinen Blick magnetisch anzuziehen versucht.

Es ist, als würde ich gezwungen, noch mal genau hinzuschauen. Es noch einmal ganz ernsthaft von außen zu betrachten.

Aber Armin hat Recht, und mein merkwürdiges Gefühl ist wahrscheinlich reine Spinnerei. Daher wehre ich mich gegen den Zwang und starre stattdessen in die Wochenendausgabe des Cityanzeigers, der noch aufgeschlagen neben mir liegt.

Mein Blick wird gefangen genommen von der Wohnungsannonce, der wir gerade gefolgt sind.

Darunter befinden sich die Anzeigen, in denen Einsame oder Beziehungsfrustrierte oder Frisch-Zugezogene einen Ausgleich zu ihrem jeweiligen Defizit suchen. Es sind Menschen, die dort inserieren, denen etwas fehlt. Um auszudrücken, was genau ihnen fehlt, füllen sie die Zeilen mit unverfänglich wirkenden Freizeit-Schlagworten und Adjektiven, die sich, oberflächlich betrachtet, auf die von ihnen gesuchte Person beziehen, aber im Grunde ausdrücken, wie der Verfasser, die Verfasserin der Anzeige sich selbst einschätzt: nett, sympathisch, aufgeschlossen, sportlich, humorvoll, vielseitig interessiert, einfühlsam, spontan, unabhängig, piratinnenabenteuerundsandstrandversessen …

Ich stutze.

Piratinnenabenteuerundsandstrandversessen?

Rasch sehe ich auf. Armin holpert bereits in Zeitlupentempo den Schotterweg entlang zur Straße.

Ich schalte und folge ihm langsam.

Abenteuer. Sandstrand. Versessen.

Im Grunde nichts anderes als eine gut formulierte Wohnungsannonce. Eine Wohnung, für die jemand gesucht wird, der Sinn für das Ungewöhnliche hat, gern träumt, Träume gern lebt, gern Sand unter den nackten Zehen spürt und darauf so wild ist, dass er eine Anzeige in den spießigen Cityanzeiger setzt, um andere zu finden, denen es ähnlich geht.

Als wir am Ende des Weges – ich habe mich nicht nach dem gelben Haus umgeschaut! – kurz halten müssen, um ein paar Autos vorbeizulassen, überfliege ich die restlichen Zeilen der Annonce.

Piratinnenabenteuerundsandstrandversessene Sie (34) möchte mit Gleichgesinnten unter der Totenkopfflagge segeln und neues Land entdecken! Wer ist dabei?

Ich hebe den Kopf und blicke stumpf auf Armins Nummernschild.

Neues Land entdecken.

Wann habe ich das letzte Mal neues Land entdeckt?

Fraukes vertrautes Bild taucht vor meinen Augen auf.

Als sie durch meine Tage und meine Nächte geisterte, da war das völliges Neuland gewesen. Die intensiven Flirts. Das Geheimnisvolle und Rätselhafte. Ich hatte intensiv empfunden. Ich hatte intensiv gehofft und gewünscht.

Piratinnenabenteuer?

Das muss eine wortgewandte, erfindungsreiche Frau sein, die andere Menschen sucht, die auch so sind.

Ich wäre gern so. Deswegen lese ich viele Gedichte und kenne unendlich vielfältige Zitate. Und es wäre bestimmt schön, eine zu kennen, die in mir eine Gleichgesinnte sehen würde.

Nicht, dass ich an Affären interessiert wäre. Auch nicht an neuen, engen Freundschaften. Ich habe Armin, ich habe Hannelore. Im Grunde habe ich alles, was ich brauche.

Allerdings glaube ich, dass Piratinnenabenteuer und das Segeln unter der Totenkopfflagge einen gewissen ungewöhnlichen Charakter besitzen würden, der in meinem Leben bisher vielleicht ein wenig zu kurz gekommen ist.

Was für ein Unsinn. Das sind Gedanken, die allen Ernstes darum kreisen, auf eine Kontaktanzeige zu antworten. Das kann doch nicht wahr sein.

Ich habe genug Sozialkontakte. Ich habe Freundinnen und Freunde. Ich habe einen guten Job – auch wenn der momentan etwas unter meiner Doktorarbeit leidet. Mir fehlt wirklich nichts.

Armin beschleunigt und fährt vom Schotterweg auf die asphaltierte Straße.

Ich schalte in den ersten Gang, fahre an und … schaue noch einmal in den Rückspiegel. Zum gelben Haus.

2. Kapitel

»Großes Eckzimmer in Männer-Dreier-WG zum nächsten Ersten frei. Bitte nur Gourmetköche und Nichtraucher!«

Ich lasse die Finger von allen Chat-Rooms dieser Welt.

Versprochen! Und mein Versprechen, das ich mir selbst gegeben habe, gedenke ich auch nicht zu brechen. Niemals mehr.

Ich würde ohnehin die ganze Zeit nur an Frauke denken. Denn in der kurzen Zeit, in der ich mich öfter im Lesbenchat herumgetrieben habe, traf ich sie.

Nicht, dass ich diese Zeit missen möchte. Das wirklich nicht. Ich verliebte mich Hals über Kopf und traute mich so lange nicht zu den verabredeten Treffen, bis diese umwerfende Frau jene dahergelaufene Tierarzthelferin traf und ich damit für sie abgeschrieben war.

Aus diesem Grund hege ich ein tiefes Misstrauen gegenüber Bekanntschaften, die im Internet geknüpft werden.

Eine Kontaktanzeige dagegen ist natürlich etwas ganz anderes.

Oder?

Ich habe jedenfalls noch nie auf eine geantwortet. Und zwar nicht, weil ich fürchte, dass schlechte Erfahrungen auf mich lauern oder schlimmste Verwicklungen drohen. Sondern eher, weil mich bisher noch nie eine Anzeige tatsächlich angesprochen hat.

Dass diese hier meine Aufmerksamkeit geweckt hat, muss also irgendetwas bedeuten.

»Emma, was grübelst du denn schon wieder? Denkst du etwa immer noch über das Haus nach?« Wir sind auf dem Bürgersteig vor den grünen Häusern gegenüber der Elisabethkirche unterwegs. In Armins Stimme schwingt ein drohender Unterton mit, der besagt, dass bei einem ›Ja‹ mit einem Schwall von aufklärerischen und wenig verständnisvollen Visionen-und-Ahnungen-sind-Mumpitz-Erklärungen zu rechnen ist.

»Ach was!«, antworte ich daher leichthin. »Ich habe nur vorhin direkt unter dieser Wohnungsanzeige etwas gelesen, das mir jetzt nicht mehr aus dem Kopf geht.« Die Hälfte der Zeit, die vergangen ist, seit wir das gelbe Haus verlassen haben, habe ich tatsächlich an diese Kontaktanzeige gedacht, die andere Hälfte aber denke ich an das Haus. Daher war das nur halb gelogen.

»Du hast die Sie sucht Sie-Annoncen studiert?«, hechelt Armin sofort. Nichts bringt ihn so sehr auf Trab wie eine sich anbahnende neue Liebschaft. Auch wenn es nicht seine eigene ist.

»Irrtum. Es ist einfach nur eine Kontaktanzeige. Eine Frau, die zur gemeinsamen Freizeitgestaltung …«

»Ach, hör doch auf!«, fällt Armin mir ins Worte, stoppt abrupt an einer Haustür und studiert die Klingelschilder. »Die wollen doch alle das gleiche. In den Kontaktanzeigen trauen sie sich nur nicht, es offen zu sagen.«

Mit Nachdruck betätigt er den entsprechenden Knopf.

Von innen wird aufgedrückt.

»Wenn man einfach nur jemanden für die Freizeitgestaltung sucht, sind die ersten Treffen nämlich wesentlich unverfänglicher. Man beäugt sich zwar, aber nicht so offensichtlich mit einem bestimmten Sinn und Zweck. Man kann alles getrost ein bisschen ausloten, bevor man dann auf Tuchfühlung geht und überrascht seufzt: ›Hach, eigentlich wollte ich ja nur ein paar nette Leute kennen lernen. Aber dann kamst du und alles bekam eine neue Dimension!‹«

Er plinkert mit den Wimpern und steigt vor mir die Treppe hinauf.

»Ganz oben!«, ruft von dort eine sonore Männerstimme, die bis zu uns herunterreicht.

Armin und ich sehen uns an.

»Ganz sicher nicht von der Fakultät!«, flüstert Armin mir zu.

Als wir im vierten Stock ankommen, ist die Tür nur angelehnt, und ich klopfe vorsichtig an, bevor wir eintreten.

»Komm rein, es gibt grad frischen Kaffee«, ertönt es von irgendwo aus dem langen Flur, und dann erscheint ein Paar langer Männerbeine in Jeans und unmittelbar darauf auch das dazugehörige Oberteil in einem knallblauen Sweatshirt.

»Hi, ich bin Daniel!«, werden wir begrüßt, und während der gut aussehende Mitzwanziger mir die Hand entgegenstreckt, stöhne ich innerlich auf.

Daniel ist nicht nur knackig und für einen Mann ungewöhnlich gut aussehend. Er riecht auch nach frischer Dusche und spricht mit einer auffallend tiefen Stimme, die dem armen Armin neben mir wahrscheinlich in diesem Augenblick bereits die Gänsehaut auf Arme und Beine jagt.

Daniel glotzt mich für einen Moment mit diesem gewissen Blitzen in den blauen Augen an und wendet sich dann an Armin. »Hast wohl Verstärkung mitgebracht.« Dazu schüttelt er Armins Hand.

»So ähnlich«, bringt mein lieber Freund heraus.

Armin ist mit seinen 36 Jahren immer noch so schüchtern wie ein Teenager. Ich glaube, es liegt daran, dass er eine Nase wie Barbra Streisand hat. Leider kann ihn die Ähnlichkeit mit seinem Idol nicht trösten. Hat ihn doch seine gesamte Jugendzeit ein gewisser Spruch begleitet, der maßgeblich Einfluss auf sein Selbstwertgefühl genommen zu haben scheint: An der Nase eines Mannes erkennt man seinen Johannes.

»Bestimmt willst du als Erstes das Zimmer sehen. Gregor kommt gleich dazu. Er hat grad einen Anruf bekommen.«

Also sehen wir uns zu dritt das angebotene Eckzimmer an.

Wirklich hübsch das Ganze.

Auch die Küche, in der wir uns zusammen mit Gregor zu einem Kaffee niederlassen, macht einen gemütlichen, sauberen und aufgeräumten Eindruck.

Ich kann Armin ansehen, dass er beeindruckt ist. Denn offenbar handelt es sich bei Daniel und Gregor um Heteros. Gregor erzählt nämlich von seiner Freundin, mit der er gerade telefoniert hat. Bisher vertrat Armin immer die Meinung, Hetero-Männer seien nicht in der Lage, einen Haushalt ungezieferfrei zu halten.

Die drei sind sich sympathisch und vereinbaren, nach einem »Drüber-Schlafen«, morgen zu telefonieren.

Als wir unter fröhlichen Verabschiedungsfloskeln die Wohnung verlassen, komme ich mir plötzlich ziemlich scheußlich vor.

Das ist mir noch nie passiert.

Ich meine, es ist eine Art Geschäft, was wir betreiben. Wir schauen uns Wohnungen an. Dazu gehört natürlich auch eine gewisse Verbindlichkeit, die man kurzfristig eingeht. Da ist gar nichts dabei, wenn wir so tun als ob und die anderen sich Telefonnummern notieren, Hände schütteln, lächeln, sich an einer sympathischen Begegnung freuen.

Dass wir gar nicht wirklich in all diese Wohnungen ziehen wollen, wissen die anderen ja nicht. Sie werden es nie erfahren.

Bei unseren Absagen sind wir stets freundlich, höflich und sehr bedauernd. Meist haben wir die ideale Wohnung just am gleichen Tag noch gefunden. Eine Wohnung, bei der irgendetwas noch perfekter ist. Die Vermieter wahrscheinlich nicht, nein, die wohl nicht, aber die Wohnung liegt eben näher zur Arbeit, ist kleiner, größer, mit Terrasse oder Garten oder Balkon oder einem Zimmer mehr oder weniger, mit Parkett oder Laminat oder Teppich … es muss nur glaubwürdig klingen.

Und schon beendet man diese kurze Verbindlichkeit mit ein paar freundlichen Sätzen, wünscht wunderbare neue Mieter und alles Gute für die Zukunft und legt auf.

Das gehört zum Geschäft dazu. Zu unserem Hobby. Und ich habe es noch nie infrage gestellt.

Trotzdem fühle ich mich zum ersten Mal in meiner Besichtigungslaufbahn mulmig, als Daniel und Gregor noch einmal kurz winken, bevor sich die Wohnungstür schließt.

Armin räuspert sich vernehmlich und steigt vor mir die Treppe hinab.

»Hübsches Zimmer«, sagt er und kratzt sich am Kinn.

Das kenn ich. Armin kratzt sich nur am Kinn, wenn ihm etwas unangenehm oder peinlich ist.

Ich will ihm gerade zuwispern, ob er sich auch mit einem Mal so scheußlich fühlt, als auf dem zweiten Absatz eine junge Frau aus der Tür tritt. Sie stolpert über die Fußmatte und fällt fast hin. Und ich fast auf sie drauf, denn irgendwie ist da plötzlich eine Stufe mehr als erwartet.

Wir fangen uns beide, entschuldigen uns stammelnd, blicken auf, sehen uns an, verstummen.

»Emma?«, sagt die Frau und starrt ungläubig.

»Lu?«, erwidere ich und starre genauso.

»Lu«, wiederholt sie langsam und verklärt, als sei das Wort ein noch nicht gekanntes, soeben zum ersten Mal gekostetes Bonbon. Dabei ist es doch nur ihr Name.

Armin blickt fasziniert von mir zu ihr und zurück.

»Was machst du denn hier? Wohnst du etwa hier?«, will ich rigoros wissen, was normalerweise nicht meine Art ist. Aber diese Begegnung wirft mich völlig aus dem Gleichgewicht. Oben ist unten. Links ist rechts. Vorn hinten. Wie kommt sie hierher? Ich hab doch schon so lange nicht mehr an sie gedacht.

»Ja, ich …« Lu deutet hinter sich zur Wohnungstür und lacht.

Es ist das gleiche Lachen wie früher, als wir gemeinsam auf den Schaukeln des nahen Spielplatzes um die Wette flogen. Ein breites, sonniges Lachen.

»Echt? Wir leben in der gleichen Stadt, ohne es zu wissen? Das ist ja verrückt!«

Wir glotzen uns an.

Sie trägt eine dunkelgrüne, ausgeleierte Cordhose, die so aussieht, als hätte sie zigmal ihre mit-was-auch-immer-verschmierten Hände an den Oberschenkeln abgewischt. Dazu ein formloses, verblasstes T-Shirt und ausgelatschte Turnschuhe.

Nicht nur für eine Wohnungsbesichtigung ist das ein denkbar ungeeigneter Aufzug. Aber war das nicht schon immer so? War sie nicht schon immer auf eine Weise lässig gekleidet, die ins Schmuddelige übergeht? Hunderte von Bildern brechen von irgendwo durch vehement verschlossene Türen in mir, überschwemmen das Treppenhaus mit Dreizehn-, Vierzehn-, Sechzehnjährigen im Achtziger-Jahre-Look. Mit diesen Bildern strömt greifbare Atmosphäre wie ein aufwirbelnder Nebel durch mich hindurch. Gerüche. Musik. Klamme Gefühle. Eifersucht und Neid. Ich muss fast nach Luft schnappen, so sehr bricht über mich herein, wie es war. Damals.

Lu starrt mich ebenso an wie ich sie. Fängt sich als Erste wieder. »Und du? Du wohnst doch nicht etwa …?« Sie deutet hinauf.

»Nein, nein, wir haben nur … Armin hat nur … Oh, das hier ist Armin, ein guter Freund von mir. Er hat sich ein WG-Zimmer angesehen.« Ich deute nach oben.

»Bei Daniel und Gregor? Cool! Die sind klasse. Das Zimmer auch. Aber vor allem die beiden.«

»Armin, das ist Lu. Erinnerst du dich? Ich hab dir mal von ihr erzählt. Wir haben früher in den zwei Hälften eines Doppelhauses gewohnt …«

Armins Augen leuchten auf.

Sicher kennt er meine Erzählungen von Lu. Dem rotzfrechen und selbstbewussten Außenseiter-Balg von nebenan, das ich auf den Tod nicht ausstehen konnte, mit dem ich es hasste zu spielen, das ich immer besiegen wollte, dem ich irgendwie immer eine Nasenlänge voraus war, dem das jedoch nichts ausmachte, sondern das einfach so fröhlich war, dass alles Konkurrenzgehabe, das ich schon mit der Muttermilch aufgesogen hatte, an ihr abperlte wie Wasser von einem Lotusblatt.

»Du hast ja …«, Lu deutet auf mich, meinen Kopf und macht eine Geste mit der Hand, »wahnsinnig lange Haare bekommen.«

Ich greife nach der Spange an meinem Hinterkopf, mit der ich vorhin meine langen Locken möglichst lässig zusammengefasst hatte. »Und du … immer noch der gleiche Bubikopf wie früher, witzig!«

Sie lacht wieder. Armin lacht mit. Ich werfe ihm einen verblüfften Blick zu. Er ist kein Typ, der bei jedem gleich mitlacht. Aber jetzt kleben seine Augen an Lu, und beim Anblick der olivfarbenen Haut und des breiten Mundes zeigt er seine weißen Zähne.

Lu winkt ab. »Ich bin durch alle Höhen und Tiefen … ach, ich meine Längen und Kürzen. Aber letzte Woche habe ich mich die Haare wieder so schneiden lassen wie damals. Verrückt, dass wir uns ausgerechnet jetzt über den Weg laufen! Vielleicht liegt es an der Frisur?« Armin und sie lachen laut.

Ich lächele nur.

Höhen und Tiefen. Längen und Kürzen. Habe ich mich die Haare schneiden lassen. Wie niedlich damals meine Eltern und alle anderen ihre kleinen sprachlichen Ausrutscher fanden. Ich dagegen hatte immer gefunden, dass sie es einfach mal lernen sollte. Schließlich war sie schon mit zehn Jahren aus Brasilien adoptiert worden.

Und mit zwölf, als ihre Adoptiveltern und sie in die Doppelhaushälfte neben unserer zogen, war ich bereits so eloquent, dass ich meine Deutschlehrerin mühelos an die Wand reden konnte. Lu aber hatte noch immer mit Formulierungen Schwierigkeiten, die doch jedes Baby beherrschte, selbst wenn es zuerst in Russland, dann in Schweden und am Ende in Kanada gelebt hatte. Ihre Herkunft war für mich noch nie eine ausreichende Begründung für sprachliche Fettnäpfchen gewesen.

»Aber … Emma, sag mal … was machst du denn jetzt so? Du wolltest doch immer Anwältin für Menschenrechte oder so was werden. Hat das geklappt? Bist du verheiratet? Hast du Kinder? Bestimmt, oder?«

Innerlich pralle ich zurück.

»Hoppla!«, lächele ich etwas hölzern. »Das waren jetzt zu viele Fragen auf einmal!«

Armin kichert linkisch. Ich möchte ihm gern auf seine Vorher-Barbra-Streisand-aber-danach-mit-Sicherheit-Klitschko-Nase boxen.

Lu lacht wieder aufgedreht. »Es ist aber auch so viel Zeit vergangen. Meine Güte, was alles passiert ist!« Ihre ganze Gestalt scheint in kleine, discolichtfarbene Flammen aufzugehen vor Begeisterung über unser zufälliges Treffen.

Man könnte meinen, es hätte ihr am heutigen Tag nichts Besseres passieren können, als mich nach unendlich vielen Jahren wieder zu treffen.

Anwältin für Menschenrechte.

Wie lange ist das her?

Hochtrabende Pläne für eine Dreizehn- oder Vierzehnjährige.

»Na, ich bin jedenfalls nicht verheiratet«, sage ich betont munter.

Lu lässt sich von meiner Einsilbigkeit nicht verprellen, sondern legt freundlich eine Hand an meine Schulter. Ich muss den Impuls unterdrücken, mich abzuwenden. »Wenn Achim …« Sie stutzt kurz und sieht ihn fragend an. Und mein sonst so pingeliger Freund verzeiht ihr den kleinen Fauxpas sofort. »Armin«, korrigiert er sie freundlich lächelnd, und sie leuchtet ihn zum Dank an, als ginge hier im Treppenhaus die Sonne auf. »Also, wenn du bei Gregor und Daniel einziehst, dann werden wir uns sicher öfter treffen, Emma. Klingel doch einfach mal. Dann nehmen wir uns etwas Zeit und erzählen, was in der Zwischenzeit gelaufen ist, ja?«

Armin öffnet den Mund. Vermutlich, um zu sagen, dass es so weit nicht kommen wird. Dass bereits jetzt schon feststeht, dass er in diesem Haus nicht wohnen wird. Dass also keine weitere Begegnung zwischen Lu und mir vorprogrammiert ist und wir uns genauso gut wieder zwanzig Jahre nicht über den Weg laufen könnten. Doch bevor er eines dieser entlarvenden Worte herausbekommt, simuliere ich einen kleinen Hustanfall und sehe ihn dabei warnend an.

Also lächelt Armin nur dünn und murmelt: »Gute Idee …«

Und ich nicke dazu.

Lu kann ihre Freude kaum unterdrücken. Vielleicht sollte ich besser sagen: Sie will sie nicht unterdrücken. Siebzehn Jahre sind es, fällt mir da schlagartig ein. Siebzehn Jahre genau haben wir uns nicht gesehen. Aber die vergangene Zeit fällt von mir ab wie Staub, den man aus den Kleidern schlägt. Meine Güte, sie hat sich ja überhaupt nicht verändert. Genauso distanzlos wie früher strahlt sie wie ein ganzer Kronleuchter.

»Super! Mann, das wird ein toller Tag! Ich wusste es vorhin schon, als ich auf dem Weg zum Bäcker in einen Hundehaufen getreten bin. Soll ja Glück bringen. Aber jetzt muss ich echt los. Geil, dass wir uns getroffen haben, Emma!« Sie umarmt mich und drückt mich fest an sich. Ihr Geruch fällt über mich her. Heftiges Kribbeln breitet sich, beginnend in meiner Nase, über meinen ganzen Körper aus. Es brennt wie Feuer und scheint zugleich kalt wie Eis zu sein.

Ich schaudere.

Aber noch bevor ich für mein Zusammenzucken eine Erklärung erfinden muss, plappert bereits weiter: »Ich freu mich schon riesig auf unser Treffen! Lass nicht zu viel Zeit vergehen, hörst du?! Bis bald dann also! Tschüß, Achim!«

»Tschö!«, grins Armin breit.

Ich bleibe stumm. Das ›bis bald!‹ bleibt mir im Hals stecken, da Lu bereits, je zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunterspringt.

Geil, dass wir uns getroffen haben.

Wir bleiben noch einen Moment im Treppenhaus stehen, als hätte man uns dort vergessen, und Armin blickt am Geländer vorbei hinunter, bis unten die Haustür ins Schloss fällt.

›Das kann nicht sein! Das kann nicht sein! Das ist nicht wirklich passiert!‹, echot es fassungslos in mir, trotz des Versuchs, ganz fest daran zu glauben, dass es keine Katastrophe ist, wenn ich eine Nachbarin und Klassenkameradin aus meiner Teenagerzeit wiedertreffe. Es ist nichts Schlimmes passiert, nicht wahr? Meine Haare sind nicht plötzlich grau geworden. Meine Nase sitzt noch an der richtigen Stelle. Es ist wirklich nichts Schlimmes geschehen!

»Das ist ja ’n Dingen!«, lässt sich Armin vernehmen. »Die Lu!« Dazu wirft er mir einen scheelen Blick von der Seite zu. »Die hat sich bestimmt total verändert seit eurer letzten Begegnung, oder?«

Ich kann meinen Herzschlag im ganzen Brustkorb spüren. Ruhig! Ganz ruhig!

»Wie kommst du darauf?« Wir setzen uns wieder in Bewegung und steigen nebeneinander die Stufen runter.

»Na, so wie du sie beschrieben hast, habe ich mir immer eine vorlaute, freche Rotzgöre vorgestellt, die total unbeliebt ist, weil sie nicht weiß, wie man einen kompletten Satz auf die Reihe bekommt, dazu dumm wie ein Toastbrot ist und außerdem auch noch hässlich wie die Nacht.«

»Sie hatte eine Zahnspange und blöde Haare«, sage ich und höre selbst wie kindisch das klingt.