Luna und Martje - Mirjam Müntefering - E-Book

Luna und Martje E-Book

Mirjam Müntefering

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Beschreibung

Martje trifft der Blitz! Die Frau mit dem wohlklingenden Namen Luna gefällt ihr auf den ersten Blick. Doch in dieser Geschichte ist Luna leider für Martjes erfolgsverwöhnten Bruder vorgesehen und sie selbst spielt bloß die Nebenrolle – so zumindest die Pläne der Autorin. Plötzlich steht dann aber alles Kopf: Die Romanfiguren lehnen sich auf und nehmen ihr Glück selbst in die Hand. Eine funkensprühende Liebesgeschichte, ein Spiel mit den Erwartungen und eine Liebeserklärung an das Romanschreiben.

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Seitenzahl: 301

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Mirjam Müntefering

Unversehrt

Roman

ULRIKE HELMER VERLAG

 

ISBN (eBook) 978-3-89741-923-0

ISBN (Print) 978-3-89741-461-7

© 2022 eBook nach der Originalausgabe

© 2022 Ulrike Helmer Verlag, Roßdorf b. Darmstadt

Erstausgabe © 2005 Piper Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Atelier KatarinaS / NL unter Verwendung eines Fotos von © HanaPhoto / Adobe Stock

Ulrike Helmer Verlag, Klosterhofstr. 3, 65843 Sulzbach am Taunus, [email protected]

www.ulrike-helmer-verlag.de

 

 

Einen Roman zu schreiben,

das bedeutet,

sich zu verlieben.

 

ERSTES KAPITEL

»I’m laughing at clouds, I’m ready for love« Singin’ in the rain – Gene Kelly

Am Himmel hatte sich das helle Blau des frühen Morgens bedeckt mit kochenden Wolken. Überquellend wichen sie in jeden Winkel bis zum Horizont. Die Hitze der vergangenen Hochsommerwochen drückte sich in jeden Winkel der Stra­ßen und Plätze der Stadt.

Erik Kröger überquerte zielstrebig die Straße. Die elektro­nisch gesteuerte Tür des modernen Bürogebäudes schwang gerade noch rechtzeitig vor ihm auf und der kühle Luftzug der vollautomatischen Klimaanlage nahm ihn in Empfang. Er verlangsamte seinen Schritt nicht für den Bruchteil einer Sekunde, um diese Erleichterung zu genießen.

Im Eingangsbereich duckten sich bei seinem Erscheinen ein paar Köpfe über Akten. Doch er achtete nicht auf die Angestellten. Der gepflegte Teppich dämpfte nur verhalten seinen Laufschritt durch die Halle. Sein Ziel: das hintere Büro des Senior-­Partners.

Ein teurer Anzug perfekt geformt um seine schlanke, ath­letische Figur. Die ultrakurz geschnittenen Haare wie eine Armee von Getreuen über dem gebräunten Gesicht, auf des­sen Stirn trotz der herrschenden Temperaturen nicht einmal ein dünner Schweißfilm glänzte.

In der Firma als stets höflicher Mensch gekannt, der gro­ßen Wert auf korrekte Umgangsformen legte, verzichtete er heute Morgen auf das Anklopfen. Er riss die gepolsterte Bürotür auf. Sein Ansturm endete erst vorn am gewaltigen Schreibtisch.

Hinter ihm schloss sich die Tür, die mit einem entspre­chenden Mechanismus versehen war, mit einem leisen Geräusch.

Das Gespräch war eröffnet.

»Guten Morgen, Erik.« Gerd Beck, fünfundsechzigjäh­rig, graubeschläft, hinter dem schweren Chrom- und Glas­tisch wie hinter einer Festung, brachte trotz des forschen Auftritts ein freundliches Lächeln zustande. »Ich nehme an, du hast einen Grund für so ein temperamentvolles Reinplat­zen in meine Morgenlektüre?!« Auf dem Schreibtisch waren diverse Zeitungen ausgebreitet. Die Börsenteile überlappten sich.

»Ich will mit dir über die Jamp-Übernahme sprechen!«

Erik war offensichtlich stinksauer. Gerd unterdrückte ein Seufzen. Er war Auseinanderset­zungen mit seinem Juniorpartner gewöhnt.

Erik war scharfsinnig. Er besaß eine hervorragende Nase für die Gewinnerwirtschaftung. Nur schien er manchmal – Gerd hatte das schon hin und wieder angedeutet – bei sei­nem Bestreben um das Wohl der eigenen Firma den schma­len Grat zwischen Geschäft und Menschlichkeit verlassen zu wollen. Ob das aus übertriebenem Eifer, aus Gedanken­losigkeit oder mit purer Absicht geschah, war Gerd nicht klar.

»Was gibt es da zu besprechen?«, fragte Gerd nun. Er schob die fein goldgerahmte Brille auf der Nase ein Stück nach oben. Unter diesem Blick hätte sich jede und jeder kritisch gemustert ge­fühlt.

Der dreißig Jahre jüngere Erik kniff die Augen zusammen.

»Das weißt du genau! Der Vertrag zur Übernahme legt eindeutig die Bedingungen im Falle der Zahlungsunfähig­keit fest. Der Termin ist seit zwei Wochen verstrichen. Zwei Wochen! Und Jamp geht es nach wie vor dreckig. Er wird noch Monate brauchen, bis er sich von dem Brand erholt hat. Vielleicht sogar Jahre. Heins & Heins warten nur dar­auf, ihn zu kassieren. Wenn wir ihn endlich schlucken, kön­nen wir ihn etwas abgespeckt an die Heins weiterreichen. Wir könnten das Dreifache an Gewinn machen. Das Dreifa­che! Wir reden da von mehrstelligen Millionen­beträgen. Heute Morgen telefoniere ich mit Jamp, um ihn für nächste Woche zu uns zu bitten. Da erklärt er mir, du gewährst ihm Aufschub. Du. Gewährst. Ihm. Aufschub. Wieso?«

Für einen Moment zögerte Gerd. Sichtlich.

Eriks Brauen zuckten.

Er kannte seinen Seniorpartner gut genug, um zu wissen, dass die Gründe im Dunkeln bleiben würden, wenn er zu viel Druck machte. Der alte Herr hielt das nicht mehr aus: das Tempo, die Hektik, die Schonungslosigkeit des heutigen Marktes. Warum sah er es nicht endlich ein? Er sollte sich besser aufs Altenteil zurückziehen. Erik könnte aus dieser Firma die führende des Landes machen. Die großen Geschäfte lagen vor der Tür. Aber der Alte trat sie mit Füßen.

Gerd lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und ver­schränk­te die Hände vor der Brust. Eine Herrschergeste. Eine imperiale Geste. Die konnte er sich nur erlauben, weil er zwei Prozent mehr besaß. Zwei verfluchte Prozent.

»Sagen wir es mal so, Erik, ich habe meine Gründe.«

Die Ader an der Schläfe begann zu pochen. Erik spürte es ganz deutlich. Dieses Rauschen im Ohrinneren angesichts einer Ohn­macht.

Mit so einer Antwort hatte er rechnen müssen. Trotzdem konn­te er nicht damit umgehen. Seit nunmehr sechs Jahren hatte er oft genug erlebt, dass der Ältere sich punktum auf seine An­teils­­überlegenheit zurückzog. Und trotzdem. Oder gerade deshalb. Es reichte langsam.

Es war wirklich genug mit dem ständigen Duckmäuser­tum. Es musste endlich etwas passieren.

Aber jetzt. Und hier. Ging nichts mehr.

Erik zählte innerlich. Er atmete ein paarmal tief ein und aus und ließ sich in einen der bequemen Besuchersessel fal­len.

Nun musste er zu Gerd hochschauen. Ein denkbar unan­ge­nehmes Gefühl.

Eine kurze Weile saßen sie sich so gegenüber, der Schreib­tisch zwischen ihnen. Gerds haselnussbraune Augen blick­ten unverwandt in Eriks leuchtend blaue.

»Gerd«, begann Erik in versöhnlichem Tonfall. »Ich weiß, dass du diese Dinge ein bisschen anders betrachtest als ich. Wir waren doch beide immer der Meinung, dass wir einander gut ergänzen. Du behältst andere Werte im Auge: die bestehenden Firmenstrukturen, die Arbeitsplätze, Kun­dentreue seit Jahrzehnten und, und, und. Ich denke eher vorausschauend, zum Beispiel an die Techter-Immobilie. Mit dem Geld aus dem Jamp-Verkauf könnten wir uns einen Aktienanteil sichern, der beträchtlich über dem der ehemaligen Eigner liegen würde.«

Wieder ein Zögern in Gerds Augen. Der Blick huschte kurz über die ausgebreiteten Zeitungen, die schwar­zen Zahlen, deren Geruch den gesamten Raum erfüllte. Dies war ihrer beider Lebensinhalt.

Die Techter-Immobilie war das beste Argument, das Erik noch in Händen hielt.

Den Grund für Gerds unsinnige Entscheidung bezüglich der Kreditverlängerung würde Erik jetzt sowieso nicht mehr erfahren. Er konnte nur versuchen, Gerd mit seinen eigenen Wünschen aus der Reserve zu locken. Vielleicht war er doch noch zu einem anderen Entschluss zu bewegen.

»Es ist ja nicht so, dass ich kein Verständnis für derartige Entscheidungen hätte«, fuhr Erik fort. »Bei der ein oder anderen Sache wird es uns bestimmt von Nutzen sein, wenn wir hartnäckig am Ball bleiben – den guten Ratschlägen der Investoren zum Trotz. Aber gerade hier. Und gerade jetzt. Denk an die Techter-­Immobilie, Gerd! Ich weiß, das Argu­ment wird dich überzeugen. Auch wenn ich eine gewisse Ahnung habe, was dich zu deinem bisherigen Entschluss bewogen haben mag.«

Das war ein Bluff.

Erik kam immer wieder damit durch. Sein Lächeln war undurchschaubar. Und er konnte so wirken, als sei er imstande, sein Gegenüber bis auf den Grund seiner raben­schwarzen Seele zu durchleuchten.

Gerds Fingerspitzen berührten kurz den zarten Goldrand seiner Brille.

»Glaub mir, Erik. Deine gewisse Ahnung trügt dich. Den Grund für mein Handeln kennst du sicher nicht. Und ich werde keinesfalls meine Entscheidung zurückziehen, Techter hin oder her. Dabei bleibt es. Ich werde noch heute mit Jamp die Aushandlung eines neuen Vertrages vereinbaren.«

Erik schnappte nach Luft.

»Das … das kannst du nicht …«

Gerd konnte durchaus. Wusste Erik.

»Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!« Erik stand betont gelassen auf und ging zur Tür.

Früher hätte Gerd ihn in solch einer Situation zurück­gerufen. Die Meinungsverschiedenheit wäre durch ein klä­rendes Gespräch aus dem Weg geräumt worden. Doch in den vergangenen zwei Jahren zeigte der ehemals eher väter­liche Typ gegen Erik immer deutlicher Härte.

Als Erik sich an der Tür noch einmal umwandte, hat­te Gerd sich bereits wieder über die Börsenteile der Zeitungen gebeugt und schien sie ausführlich zu studieren.

Erik öffnete und schloss die Tür ohne einen Gruß. Gemessenen Schrittes ging er hinüber zu seinem Büro, das dem von Gerd in der Halle gegenüber lag. Er wusste, dass Dutzende von Augenpaaren ihn heimlich beobachteten. Daher setzte er eine entspannte, eher heitere Miene auf. Niemand sollte den Verdacht hegen, dass eine Auseinander­setzung zwischen ihm und Gerd zu seinem eigenen Nachteil ausgegangen sein könnte.

Auf dem Weg zu seinem Büro passierte er den Warte­raum. Hierhinein wurden Besucher gebeten, die auf ihren Termin in den hinteren Büros warteten.

Da er selbst für den heutigen Morgen keinen Besuch erwartete, wäre er fast einfach an der Tür vorüber­gegangen. Doch er besann sich gerade noch rechtzeitig der barsten Form von Höflichkeit, hob den Blick und nickte zum Gruß.

Schon während er den nächsten Schritt tat, weiteten sich seine Augen ein kleines Stück, nicht wahrnehmbar für andere, doch für ihn deutlich spürbar. Er blieb abrupt ste­hen.

Durch die geöffnete zweiflügelige Glastür sah er in den Raum hinein, wo eine junge Frau im Hosenan­zug vorgab, die Bilder an den Wänden zu betrachten.

Sie stand mit dem Rücken zu ihm.

Ein Rücken, der ihm nicht wirklich bekannt vorkam, des­sen Anblick ihn dennoch stutzen ließ.

Sein Blick glitt über ihre Hüften, die Beine hinab, hinauf in den Nacken, über dem die karamellfarbenen Haare in einer Art und Weise hochgesteckt waren, die von viel Mühe und ebensolcher Ungeduld sprach. Unter dem einen Arm trug sie eine schmale Aktenmappe aus teuer wirkendem Lederimmitat.

Dann wandte sie sich um. Offenbar hatte sie gemerkt, dass jemand vor der Tür stehen geblieben war.

Ihr Blick aus dunklen Augen durch rahmenlose Brillen­gläser hindurch schoss ihm ins Mark. Ein Vibrieren bis hinunter in seine Lenden.

Es war Luna Jamp, die Tochter von Jamp Electronics!

Einen Moment sahen sie einander an. Dann lächelte sie geschäftlich und nickte ihm zu.

»Guten Morgen. Sie sind nicht Herr Beck, oder?«

Sie erkannte ihn nicht.

Nach dem noch nicht verwundenen Disput mit Gerd, gab ihm diese Tatsache einen Stich in seine Eitelkeit. Obwohl sie ihn gar nicht einordnen hätte können. Denn sie waren sich noch nie persönlich begegnet. Erik kannte Jamps Tochter lediglich von Fotos. Mehrere großformatige, teuer gerahmte Fotos, die im Jamps Büro verteilt waren wie Heiligenbild­chen am Altar.

Damals, erste Büchereinsicht in Jamps Büro, hatte Erik sich gewundert. Tochter hin oder her. So schön war sie nun wirklich nicht. Sympathisch vielleicht. Aber musste man deswegen gleich einen derartigen Fotokult betreiben?

Doch jetzt war er froh darüber, sie zu erkennen, ohne von ihr erkannt zu werden. Ein winziger Moment der Überlegenheit gab ihm seine alte Sicherheit zurück.

Er trat zu ihr hinein und reichte ihr die Hand. Nahm sehr deutlich ihren Geruch wahr, der fruchtig und leicht war. Ihre Finger schienen ihm kräftiger als es Frauenfinger sonst waren. Doch sie entzogen sich ihm wieder so schnell, dass er dem Eindruck nicht nachspüren konnte.

»Nein, Herr Beck ist beschäftigt. Mein Name ist Kröger. Erik Kröger. Vielleicht kann ich Ihnen ja auch helfen? Oder haben Sie einen Termin speziell bei Herrn Beck?«

Die Zunge der jungen Frau fuhr einmal kurz zwischen den Lippen hervor und befeuchtete sie.

»Natürlich. Herr Kröger«, murmelte sie, eher zu sich selbst, und hob dann energisch das Kinn. »Nein, das nicht. Aber man sagte mir, ich könne hier warten …«

Erik lachte sympathisch auf.

»Ach, wieso warten, wenn ich jetzt Zeit für Sie habe? Kommen Sie. Wir werden sehen, was ich für Sie tun kann.«

Jamps Tochter stimmte ihm zu, indem sie knapp nickte.

Erik witterte etwas. Er kannte sich aus in seinem Metier. Wusste wie durch einen angeborenen Instinkt, dass er durch dieses zufällige Treffen eine wie auch immer geartete Chan­ce in die Hände gespielt bekam. Unter keinen Umständen hätte er zugelassen, dass sie irgendwo anders als hinter sei­ner eigenen Bürotür verschwand.

Gewohnt galant ließ er ihr den Vortritt aus dem Zimmer und leitete sie durch eine ausholende Bewegung mit der Hand nach rechts.

Sie war klein.

Aber sie war Jamps Tochter.

»Was für ein Wetter, nicht?«, sagte er und lächelte sie beruhigend an.

Ihre aufrechte Haltung verriet innere Anspannung.

»Unglaublich«, bestätigte sie. »Aber es sieht nach einem Gewitter aus. Mit hoffentlich viel Regen.«

Bevor Erik etwas erwidern konnte, sah er von fern Frau Kreik­mann sich nähern. Gerds persönliche Sekretärin nahm es immer sehr genau. Aus irgendeinem Grund hatte sie Erik von Anfang an abgelehnt. Natürlich zeigte sie ihm das nie­mals. Sie ließ sich auch nicht zu herablassenden Bemerkun­gen oder Klatsch anstiften – das wusste Erik aus zuverlässi­ger Quelle unter den Mitarbeiterinnen. Aber Erik spürte ihre Ablehnung so deutlich, als trüge sie ein Schild damit um den Hals. Als sie nun sah, dass er mit der jungen Frau aus dem Warteraum trat, fühlte sie sich offenbar verpflich­tet, einzugreifen. Doch er winkte ihr energisch auf die Ent­fernung zu und rief ein »Ist in Ordnung!« hinüber, das ihr regelrecht vor den Kopf zu prallen schien. Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihnen ein paar Sekunden nach, wie sie miteinander hinter seiner Bürotür verschwan­den. Erik warf noch einen Blick durch das Glas neben der Holztür und sah, wie Frau Kreikmann langsam an ihren Schreibtisch zurückkehrte. Sie schlug also nicht gleich Alarm bei Gerd. Vielleicht dachte sie auch, Gerd sei noch sehr beschäftigt, wenn Erik ihm schon ein Gespräch abnahm.

Zufrieden mit dieser Aussicht, wandte er sich seiner Besu­cherin zu.

»Möchten Sie nicht Platz nehmen?« In der Sitzecke stan­den ein paar bequeme Ledersessel, die zum Plaudern verfüh­ren sollten.

Er selbst beugte sich noch einmal über den Schreibtisch, den Finger schon fast auf dem Knopf der Sprechanlage.

»Kaffee?«

»Danke, lieber nicht.« Ihre Stimme besaß einen ent­schlos­senen Unterton, während ihre Augen die Flucht such­ten. Diese Kombination elektrisierte ihn. Sie war wirklich nicht der Typ Frau, von dem er sich gemeinhin angezogen fühlte. Sie trug einfach den richtigen Namen. Und an ihrer vergeblich zu verbergen gesuchten Scheu wetzte sich seine Jagdleidenschaft wie von selbst die viel zu lang gewachse­nen Krallen.

»Zu warm für Kaffee, nicht wahr? Vielleicht lieber etwas Kaltes?«

»Ich bin nicht hier, um etwas zu trinken, Herr Kröger«, wandte sie leicht entschuldigend ein.

Doch er lächelte jovial und drückte die Taste zur Sprech­anlage. »Frau Breitner, könnten Sie uns ein paar kalte Getränke bringen und vielleicht etwas Gebäck dazu?« Er war entschlossen, diesen Morgen noch zu seinen Gunsten zu gestalten.

Während er sich in dem Sessel ihr gegenüber nie­derließ, sah Jamps Tochter sich in seinem Büro flüchtig um. Gut, dass er sich vor ein paar Wochen von dem alten Gemäldeschinken verabschiedet hatte. Der seltene Kempin­ski-Druck hinter ihm machte sich bestimmt besser.

»Sie behandeln doch nicht alle Kunden derart freundlich, oder?«, fragte sie nun. Ihr Blick huschte hinüber zum Arbeitsplatz, an dem ein gewaltiger Lederdrehstuhl stand, während ihm gegenüber, auf der anderen Seite des wuchti­gen Schreibtisches, zwei wesentlich kleinere und schmalere Stühle auf Bittsteller zu warten schienen.

Er lächelte sie gelassen an. »Wissen Sie, die meisten Geschäftspartner, die hierherkommen, wollen etwas von mir und sind bereit, mir im Gegenzug dafür einiges zu geben. Wieso sollte ich da unfreundlich mit ihnen umge­hen?«

Ihre Mundwinkel bewegten sich verheißungsvoll ein Stück weit nach oben. »Irgendwie hatte ich Sie mir anders vorgestellt.«

»Oh, Sie hatten die Gelegenheit, sich im Vorfeld ein Bild von mir zu machen? Und ich weiß nicht einmal, wer Sie sind.«

Das war eine Lüge, die sie ihm sicher abnehmen würde. Da­rauf kam es an beim Lügen. Glaubwürdig musste man sein. Nur dann erfüllte die Unwahrheit ihren gewünschten Zweck.

Die dunklen Augen rundeten sich.

»Oh, bitte entschuldigen Sie. Jamp ist mein Name. Luna Jamp.«

Erik spürte, wie überzeugend sich sein Lächeln vertiefte.

»Frau Jamp, ja, natürlich«, sagte er erfreut.

»Sie werden sich wundern, wieso ich hier so unangekün­digt erscheine.« Jamps Tochter löste die ineinander ver­schränkten Hände und griff nach der Aktenmappe, die sie neben ihrem Sessel abgestellt hatte. Sie öffnete sie und zog Papiere heraus, auf denen sich Zahlenreihen über die Zeilen zogen.

»Ich möchte Sie nur bitten, einen Blick hierauf zu werfen, bevor Sie die Firma meines Vaters der Guillotine ausliefern.«

Erik hatte recht gehabt! Es war ein Geschäftsbesuch von Wich­tigkeit, den er hier soeben abgefangen hatte.

Und als er einen ersten flüchtigen Blick auf die Blätter geworfen hatte, die Aufstellungen darauf, wurde ihm schlag­artig klar, wie wichtig dieser Besuch von Jamps Tochter war.

Schon dieser kleine Einblick reichte, um erstaunt aufzuse­hen.

»Das stammt nicht von mir«, beteuerte Jamps Tochter. »Diese Berechnungen hat eine befreundete Börsenmarklerin für mich aufgestellt. Ich dachte, sie könnten Sie womöglich davon überzeugen, dass Jamp Electronics doch noch zu retten ist.«

In diesem Augenblick wurde an die Tür geklopft.

»Ja, bitte«, rief Erik, erleichtert, nicht gleich reagieren zu müs­sen. Dieser Morgen warf ihn mehr als einmal aus der Bahn. Erik schätzte es nicht, aus der Bahn geworfen zu wer­den. Die Tür wurde geöffnet und Frau Breitner erschien, trainiert höflich lächelnd mit einem Tablett, auf dem ein paar Kaltgetränke neben einer Schale mit verschiedenen Keksen standen.

Sie blieb eine Sekunde an der Tür stehen. Die Spannung im Raum war offenbar auch für sie deutlich spürbar.

»Darf ich es hier abstellen?«, fragte sie dann und steuerte den niedrigen Tisch vor den Sesseln an.

»Immer her damit!« Erik erhob sich betont munter ein Stück weit von seinem Sitz, um den Imbiss in Empfang zu nehmen. »Wir bedienen uns schon. Danke.«

Frau Breitner, die in Begriff gewesen war, die kleinen Fla­schen zu öffnen, legte den versilberten Öffner rasch aufs Tablett und wandte sich zum Gehen.

»Ich hoffe doch, dass Sie sich auch etwas Erfrischendes aus dem Kühlschrank gönnen?«, sagte Erik als sie mit wenigen Schritten bereits an der Tür ange­kommen war.

Er nahm den leicht verwunderten Blick seiner Besucherin wahr, der zu ihm hinglitt und dankte Gott – sei er nun tot oder nicht – dafür, dass sie nicht über ihre eigene Schulter sah. Denn dort hätte sie die Verblüffung auf dem Gesicht Frau Breitners überdeutlich erkennen können.

»Gern«, sagte die und huschte dann schnell hinaus.

Als die Tür sich hinter der Sekretärin geschlossen hatte, hing Stille zwischen Erik und Jamps Tochter.

Er wandte sich erneut den Zahlen auf den Papieren zu, studierte sie so gründlich wie es ihm unter dem forschenden Blick von gegenüber möglich war.

Mit jeder Zeile, die er las, wurde ihm schaler zumute. Er ließ sich nichts anmerken. Nichts von seinem Erkennen. Nichts von seinem Entsetzen.

Das war unglaublich.

Es war erschreckend.

Hier hatte er die verschriftlichte Chance vor sich liegen. Die Chance der Firma Jamp Electronics, sich mit der eige­nen Hand am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.

Wenn Jamp diesen Plan in die Tat umsetzte, würde der fette Fisch, den Erik schon so sicher an der Angel zu haben glaubte, endgültig vom Haken springen. Die Techter-Immobilie verschwanden am Horizont.

Als er den Kopf hob, sah er den Blick aus braunen Augen angespannt auf seinem Gesicht ruhen.

»Nun«, sagte er, mit dem Lächeln, das er gerade noch bei seinem Bluff gegen Gerd hatte einsetzen wollen. »Das sind wirklich nette kleine Ideen. Ich muss sagen, ich bin beein­druckt, dass Sie vor keinem Versuch zurückschrecken wür­den.« Dazu ein leises, amüsiertes Lachen.

Jamps Tochter sah für einen kurzen Augenblick verun­sichert aus und strich sich eine feine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus dem Knoten am Hinterkopf gelöst hatte.

»Sie halten die Idee für Unsinn?«

»Aber nein!«, beteuerte Erik, wie er einem kleinen Kind beteuern würde, dass es den Weihnachtsmann tatsächlich gäbe. »Es sind hervorragende Ideen. Ganz sicher. Hervorra­gend.« Er legte die Blätter zurück auf den Tisch, ohne sie noch einmal anzusehen.

»Was sagt Ihr Vater zu diesen Plänen?«

Ein Räuspern.

»Er kennt sie noch nicht.«

Das war allerdings hervorragend.

Erik schmunzelte für sie. »Na, da bin ich ja gespannt, was er dazu sagen wird.«

Er griff zu einer kleinen Flasche eisgekühlter Apfelschor­le, ent­kronte sie und goss ihnen beiden ein.

Als er ihr mit seinem Glas zuprostete, nahm Jamps Toch­ter deutlich widerwillig ihres und trank daraus einen winzigen Schluck. Es war ihr anzusehen, was in ihr vorging. Sie war für diesen Gesprächsverlauf nicht gerüstet. Das gab Erik genügend Sicherheit, um alles Weitere in seinem Sinne zu gestalten.

»Darf ich Sie noch etwas fragen?«, begann er und lehnte sich bewusst im Sessel zurück. »Weiß Ihr Vater, dass Sie hier sind?«

Jamps Tochter lachte auf. Sie klang jedoch nicht fröhlich. »Komisch. Das wurde ich zuletzt gefragt, als ich drei­zehn war und mich mit ein paar älteren Freundinnen in eine Disco geschmuggelt hatte«, antwortete sie dann iro­nisch.

Das war ein Nein auf seine Frage.

Wunderbar. Sie hatte sich also vorher nicht mit ihrem Vater besprochen. Sie wusste noch nichts davon, dass der Vertrag verlängert werden würde und der Ruin der väterli­chen Firma vorerst abgewendet war. Vorerst.

Es war nur eine Frage der Zeit, selbst wenn der verrückte Gerd die Kredite verlängerte. Jamp würde nicht wieder auf die Beine kommen können. Vorausgesetzt, er erfuhr nichts von diesen gewitzten Ideen, die hier armeegleich in loser Blätterformation vor ihm auf dem Tisch lagen.

Erik überlegte angestrengt, die Beine locker übereinandergeschlagen.

»Ich nehme an, dass sowieso alles zu spät ist, nicht wahr?«, sagte Jamps Tochter nun kühl. Offenbar glaubte sie anhand Eriks Desinteresse an den Papieren nun alles ver­loren. Doch sie war nicht bereit zu bitten und zu betteln. Sie wollte ihm auch nicht ihre Furcht zeigen, sondern lieber einen hochmütigen Abgang inszenieren.

»Wie kommen Sie darauf?«, antwortete Erik ihr mit einem gewinnenden Lächeln und ignorierte dabei, dass sie die Aktenmappe bereits unter den Arm klemmte.

Ein skeptischer Blick. Sie traute ihm nicht. Erik fühlte sich durch diesen Ausdruck geschmeichelt. Es gefiel ihm, in den Augen anderer eine Art Raubtier zu sein. Gefährlich. Gnadenlos. Gefürchtet.

»Wie ich darauf komme? Die Terminfrist ist abgelaufen. Jamp Electronics kann die Zahlungen nicht leisten. Der Vertrag sieht daraufhin eine Übernahme vor, soweit ich informiert bin. Der ehemals gut laufende Betrieb, Arbeits­stätte vieler hundert Menschen und Lebenswerk eines Man­nes, wird vom gierigen Finanzhai geschluckt. Ist es nicht so?«

Sie war wirklich mutig.

»Ich tue nichts Ungesetzliches«, erwiderte Erik. »Ich bie­te in Schwierigkeiten geratenen Firmen Kredite, wo andere Geldgeber nur noch abwinken. Was ist daran verwerflich?«

Die Brauen ihm gegenüber bogen sich zu zwei feinen Halbmonden über den braunen Augen.

»Herr Kröger.« Ihre Art, ihn förmlich anzusprechen wirkte wie ein Peitschenhieb. Erik hätte gern wohlig geseufzt. »Ihre freundlichen Kredite mit den hohen Zinssät­zen bewirken nur, dass diese … in Schwierigkeiten gerate­nen Firmen sich immer tiefer verstricken und schließlich aufgeben müssen. Woraufhin Sie den kompletten Betrieb … wie nennen Sie es? Sanieren? Um anschließend das auszu­schlachten, was noch zu holen ist, oder die Firma, erleich­tert um etliche Arbeitsplätze und den Betriebsrat, weiterzu­reichen an große Gesellschaften, die sich über eine weitere Möglichkeit des Reingewinns freuen.«

Erik schüttelte langsam den Kopf.

»Sie haben keine gute Meinung von unserer Arbeit, Frau Jamp. Glauben Sie nicht, dass da ein paar filmreife Vorur­teile im Spiel sind?«

»Ich fälle niemals ein Urteil, ohne dass man mich nicht auch durch gute Argumente vom Gegenteil überzeugen könnte«, erwiderte Jamps Tochter hölzern.

Erik wusste, dass dies der richtige Moment war.

Ihre sichtbare Zurückhaltung war wunderbarer Nährbo­den für seinen großen Köder.

»Vielleicht kann ich Sie ein Stück weit vom Gegenteil überzeugen, wenn ich Ihnen jetzt mitteile, dass mein Kompagnon und ich beschlossen haben, den Vertrag mit Jamp Electronics zu verlängern?«

Obwohl sie sich, wie fortwährend in diesem Gespräch, bemühte, ihn ihre wirklichen Regungen nicht erkennen zu las­sen, war nur zu deutlich, dass dies eine Neuigkeit für sie war.

Ihre Pupillen weiteten sich schockartig. Darüber schlu­gen die Lider ein paarmal. Ihre Mundwinkel zuckten, wäh­rend ihr Körper von den Füßen bis zu den Schultern stock­steif wurde. Sie schob ihre Brille zurück, obwohl die gar nicht heruntergerutscht war.

»Was …«, begann sie und musste sich räuspern. »Was bedeutet das?«

Erik trank sein Glas leer und betrachtete die Auswahl der Kekse auf dem Silberteller. »Das, Frau Jamp, bedeutet, dass der gierige Finanzhai nicht vorhat, den ehemals gut laufenden Betrieb zu schlucken, auf Kosten der vielen Arbeitnehmer. Vielmehr wird ein erneuter Zeitrahmen aus­gehandelt, in dem es Jamp Electronics durchaus möglich sein dürfte, wieder auf die Beine zu kommen.«

Letzteres war ins Blaue hineingesprochen. Denn tatsäch­lich hatte Erik keinen blassen Schimmer, welchen Inhalts der neue, von Gerd anvisierte Vertrag mit Jamp sein würde.

Jamps Tochter schluckte mehrmals.

»Darf ich fragen, wie es zu dieser Entscheidung gekom­men ist? Ich meine, was haben Sie davon, auf die Übernahme zu verzichten?«

»Braucht es noch einen anderen wirtschaftlichen Grund außer den der, wie ich zugebe, hohen Zinsen?«, antwortete Erik ruhig. Er war sich nicht sicher, ob sie ihm glauben würde. Doch jedes weitere klare Wort würde ihn gefährden, als nichtwis­send entlarvt zu werden. »Wissen Sie, Frau Jamp«, er entschied sich für einen mit Schokolade satt überzogenen Vollkornkeks, nahm ihn und biss genüsslich hinein. »Es ist überhaupt keine Frage, dass wir finanziell einen größeren Gewinn erwarten könn­ten, würden wir auf Einhaltung des Vertrages bestehen. Aber womöglich ist der Finanzhai doch nicht immer so blutgierig.«

Würde sie nun nach Details fragen, könnte er sich diskret auf die Tatsache zurückziehen, dass sie selbst nicht Ver­tragspartner war.

Doch sie fragte nicht nach Details.

Jamps Tochter war offenbar ziemlich runter mit den Ner­ven.

Die Erleichterung strömte ihr aus allen Poren, während sie sich bemühte, einen kläglichen Rest von kühler Überheblich­keit der Unterlegenen aufrechtzuerhalten.

»Wenn das so ist, dann habe ich Ihre Zeit vollkommen umsonst in Anspruch genommen. Ich hoffe, Sie entschuldi­gen das.«

»Aber ich bitte Sie!«, erwiderte Erik. »Ich bin froh, dass wir das Missverständnis aus der Welt geräumt haben. Denn auch wenn es vielleicht etwas paradox klingt«, er lächelte sie schelmisch an. »Auch Finanzhaie tragen mitunter ihr Herz am rechten Fleck.«

Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Verblüffung ab.

War das zu dick aufgetragen gewesen?

Aber nein. Jetzt lächelte sie. Es war genau richtig gewe­sen, so etwas zu sagen.

Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas und atme­te tief aus.

»Herr Kröger, ich bin natürlich geschäftlich hier und weiß, dass es geradezu eine Frechheit ist, Sie um einen per­sönlichen Gefallen zu bitten …«

Sie schlug die Lider nieder und sah dann wieder zu ihm auf.

Es sah nicht einstudiert und bewusst eingesetzt aus. Und so wirkte es tatsächlich charmant auf ihn. So was!

»Ich werde tun, was in meiner Macht steht!«, versprach er.

»Bitte sagen Sie meinem Vater nichts von meinem Besuch bei Ihnen«, bat sie, bemüht, ihn nicht merken zu lassen, dass es ihr unangenehm war, so offen vor jemandem zu reden, dem sie gerade noch allergrößtes Misstrauen entgegengebracht hatte.

Eine Frau, die Haltung bewahren konnte.

Erik rieb sich im Geiste die Hände.

Alles lief wie geschmiert.

Sie hatte ihm seine Version der Geschichte einfach so abgenommen.

Sie war sogar so weit gegangen, eine persönliche Bitte auszusprechen.

Jetzt galt es nur noch, sie davon abzubringen, diese erschreckend guten Pläne einer befreundeten Börsenmarklerin weiterzureichen. Er musste sie irgendwie davon abbringen.

»Wie Sie möchten. Aber an der Stelle Ihres Vaters wäre ich unglaublich stolz auf eine Tochter, die einen derartigen Alleingang unternimmt, um mir zu helfen«, beteuerte er. »Und sei es auch mit noch so geringen Mitteln.« Eriks Blick streifte kurz die Blätter auf dem Tisch.

Jamps Tochter sammelte sie ohne ersichtliche Ordnung rasch ein und schloss über ihnen die Aktenmappe.

Tatsächlich war auf ihrem Gesicht ein erstes echtes Lächeln zu sehen.

»Und über diese Papiere würde ich mich als Ihr Vater ganz besonders freuen. Sie sprechen von sehr viel Vertrauen und … Optimismus.« Erik erwiderte ihr Lächeln. Deut­licher konnte er unmöglich werden.

Sie waren am Ende des geschäftlichen Teils angekommen. Aber würde das ausreichen, um Jamps Tochter davon zu überzeugen, dass sie diese Blätter am besten verfeuern soll­te? Vernichten, ohne dass noch irgendjemand, der Ahnung von der Sache hatte, sie zu Gesicht bekam.

»Wie, sagten Sie noch, war ihr Vorname?«

Sie lächelte.

»Mein Vater ist ein Mondsüchtiger«, sagte sie sanft. Ihre Stim­me klang ein bisschen kratzig. Vielleicht machte ihr das Ozon zu schaffen. »Ich glaube, niemand außer ihm hat so viele Nächte damit verbracht, den Mond zu studieren und sich über ihn zu wundern. Und dann wurde ich als sein einziges Kind auch noch geboren im Jahr der ersten Mondlandung. Ist es da ein Wunder, dass er mich Luna nannte?!«

Einen Augenblick war es still im Raum. Diesmal war es eine vollkommen andere Stille als noch vor zehn Minuten.

»Luna«, wiederholte Erik, auf seine Hände blickend. »Ihr Vater muss Sie sehr lieben.«

Luna blinzelte kurz.

»Ich hänge auch sehr an ihm.« Dann hob sie den Arm und sah auf ihre Uhr. »Tja … ich muss los. Haben Sie vielen Dank, dass Sie mich so spontan empfangen haben. Ich hätte es einfacher haben können, wenn ich gleich meinen Vater gefragt hätte …« Sie lachten beide. »Aber manchmal muss man eben Umwege gehen, um anzukommen.«

Sie schien von ihren eigenen Worten irritiert, sah Erik kurz an und stand dann eilig auf.

»Ich begleite Sie noch hinaus! Ich kann auch ein paar Schritte vertragen.«

Durch die Halle hindurch folgten den beiden etliche Blicke.

Fast beim Ausgang angelangt, hielt eine helle Stimme sie zurück.

»Herr Kröger, einen Augenblick, bitte!«

Eine junge Frau. Fünfundzwanzig. Sorgfältig gekleidet. Katzen­­sanftgrüne Augen zu schwarzem Haar, das sich über ihre Schultern legte. Ihre Wangen standen in Flammen.

»Gehen Sie für länger weg, Herr Kröger? Ich frage wegen der Vorbereitungen für die Konferenz heute Mittag.«

Der Blick zu diesen formellen Sätzen war derart privater Natur, dass Luna Jamp sich diskret abwandte. Sie studierte das Arrangement von Grünpflanzen im Eingangsbereich.

»Bin in ein paar Minuten zurück.« Die knappe Antwort sagte mehr als nur das.

Doch die junge Frau setze noch einmal nach: »Ich dachte nur, ich frag lieber nach. Weil ich doch Ihre Termine nicht im Kopf habe. Und Sie wollten doch dringend noch das Briefing für heute Mittag sehen.«

»Ist in Ordnung, Frau Seewald. Wir werden unsere Besprechung schon nicht verpassen«, lachte Erik nun, berührte mit der Hand Lunas Ellenbogen und führte sie weiter Richtung Ausgang.

Luna musste sich wirklich wundern.

Ihr Vater hatte von Erik Kröger immer in einer Art und Weise gesprochen, die ein eher unsympathisches Bild von ihm malten. Da war davon die Rede, dass Erik sich nur durch unlautere Geschäfte seine Anteile an der Firma hatte ergaunern können. Geschäfte, die hart an der Grenze der Legalität entlangschrappten und die Grenzen von Moral und Menschlichkeit längt überschritten hatten. Solche Aussagen hatten Lunas Bild von Erik geprägt und sie hatte daher nicht vermutet, dass er so sei.

So?

Nun ja, sie fand ihn durchaus ansprechend. Zum Beispiel die Art, wie er jetzt eine offensichtliche Bewunderin unter seinen Angestellten in ihre Schranken gewiesen hatte. Bestimmt, aber freundlich. Nicht erniedrigend oder abwertend, sondern sogar noch mit einem kleinen Scherz.

Nicht jeder Chef würde so gelassen mit einer derart pikanten Situation umgehen.

Und auch jetzt machte er nicht die geringste Anspielung auf diesen kleinen Zwischenfall. Er ging darüber hinweg, als sei nichts geschehen.

»Zur Hölle!«, entfuhr es ihm, als die Eingangstür sich vor ihnen öffnete und eine Übermacht an heißer Luft sie sogleich umwirbelte.

Luna lachte auf. »Das ist genau das richtige Wort!«

Erik Kröger schüttelte sich. »Für eine kurze Weile kann man hier drinnen vergessen, was für Temperaturen da draußen herrschen. Eine Sekunde.« Er tat ein paar Schritte zurück in die Halle und erschien rasch erneut, mit einem großen Regenschirm in der einen Hand. »Nur für den Fall, dass der Regen, auf den wir die ganze Zeit warten, ausgerechnet in den nächsten zehn Minuten runterkommt.«

Luna sehnte sich so sehr nach Erfrischung, nach Erlösung von den vergangenen Wochen in diesem Brutkasten von Stadt, in dem die Sorgen und Aufregungen rund um die Firma und dieses gerade geführte Gespräch schwer gelastet hatten. Gerne hätte sie sich ohne Schirm in einen heftigen Sommerregen gestellt. Reingewaschen von allen Befürchtungen.

»Frau Jamp«, sagte Erik Kröger jetzt, als sie draußen nebeneinander über den Vorplatz schlenderten. »Entschuldigen Sie, dass ich erst jetzt frage, wo wir quasi schon in der Verabschiedung sind. Aber irgendwie kam es mir im Büro so unangebracht vor. Ich kann da drinnen so selten Privatmensch sein, verstehen Sie?«

Ein kurzer Blick zur Seite. Luna war plötzlich ergriffen von einer nervösen Anspannung. Nach dieser Vorrede konnte sie sich denken, was folgen würde. Und sie war sich nicht sicher, ob sie es wollte. Nein, anders, sie war sich plötzlich nicht mehr sicher, dass sie es nicht wollte.

Sie war aus rein geschäftlichen Gründen hierhergekommen. Als Bittstellerin. Und zudem auch noch in einer Position, die ihrem Vater die Schamesröte ins Gesicht treiben würde, wüsste er davon. Aber sie hatte einfach alles versuchen wollen. Auch das Letzte, das ihr einfiel.

Doch sie hatte sich in diesem Gespräch immer Gerd Beck gegenüber gesehen. Seinen grauen Schläfen, seinen munteren Augen mit dem oft väterlichen Ausdruck, denen sie trotz allem Vertrauen zu schenken bereit war.

Dass sie plötzlich seinen Juniorpartner gegenüberstand. Und dass er sie so ansah. Luna war das durchaus aufgefallen. Auch wenn sie wirklich nicht der Typ war, dem die Männer auf der Straße scharenweise hinterherschauten. Trotzdem sah Erik Kröger sie auf eine besondere Weise an. Die ihr nicht unbekannt war. Die ihr plötzlich auch nicht mehr unangenehm war.

Er räusperte sich. »Die Sache ist die, dass ich mich frage, ob Sie sich vorstellen könnten …«

In dieser Sekunde bogen sie um die Ecke des Nachbargebäudes und Erik prallte mit einer jungen Frau zusammen.

Die beiden sahen sich einen Augenblick an, gleicherma­ßen verblüfft.

»Uff!«, machte die junge Frau.

Und aus Erik schoss es heraus: »Was machst du denn hier?«

»Ich wollte zu dir«, antwortete die junge Frau fröhlich und schlug Erik noch einmal kumpelhaft gegen den Arm.

»Zu mir?«

»Ja, zu dir. Ich wollte dich bitten, ob du mir …«

»Oh. Wäre das nicht besser unter vier Augen zu besprechen?«, unterbrach Erik die Frau rasch, als ahne er bereits, um was es gehe und wolle nicht, dass dies auf offener Straße erörtert würde.

»Ja … ähm … sicher.«

Erik hatte sich offenbar bereits von der Überraschung erholt und wandte sich an Luna: »Frau Jamp, das ist meine Schwester. Martje Kröger.«

»Martje?«, wiederholte Luna und reichte der hellblonden Frau mit der frechen Frisur die Hand.

»So steht es in meiner Geburtsurkunde«, bestätigte diese, lächelte und wandte sich wieder Erik zu. Sie zappelte dabei herum wie eine ungeduldige Siebenjährige.

»Das Wetter macht mich noch irre!«, knurrte sie und warf einen Blick hinauf, zu den schwarz drohenden Wol­ken, aus denen sich die ersten Tropfen zu lösen begannen.

Sie schlugen neben ihnen auf den Asphalt wie vom Himmel geschleuderte Miniwasserbomben. In nicht mehr allzu großer Entfernung ein lautes Donnergrollen.

Erik spannte den Schirm auf und hielt ihn über Luna und sich selbst.

Seine Schwester starrte sie beide für einen kurzen Moment an. Dann fragte sie: »Du bist dann wohl jetzt unterwegs, wie? Wann kann ich dich denn erreichen, um mit dir über … du weißt schon …«, sie zwinkerte zu Luna hinüber, die verblüfft zurückblickte, »zu reden?«

Erik lächelte charmant. »Ich wollte Frau Jamp zu ihrem Wagen begleiten. Schließlich schläft die Konkurrenz nicht. Heutzutage muss man Einsatz zeigen, um zukünftige Kun­den auf den rechten Weg zu bringen.« Auch er zwinkerte Luna zu.

»Ich vermute mal, mit dem rechten Weg meinst du den Weg in deine Firma?«, entgegnete Martje und grinste breit.

Luna musste ein Lachen unterdrücken.

Diese Martje war irgendwie niedlich. Wie ein frisch erwachsen gewordenes Mädchen aus einem Astrid-Lind­gren-Buch, gerade herausspaziert aus Bullerbü. Ihre hell­blonden Haare hatte sie in kurze Zöpfe geflochten, die jetzt nass wurden unter dem immer stärker werdenden Beschuss vom Himmel.

»Was soll ich da sagen?« Erik zuckte die Achseln und legte schelmisch den Kopf schief. »Die Familie meint immer, den Sohn oder Bruder besser zu kennen als er sich selbst. Da werden einem die ehrenhaftesten Züge ins Gegenteil gekehrt.«

Martje tat so, als müsste sie husten und schob sich ein wenig näher heran, um unter dem großen Schirm auch noch etwas Platz zu finden.

Ein Blitz zischte weit über die schwarze Wolkendecke und ließ die Welt um sie herum grellweiß aufleuchten.

Martje quietschte erschrocken auf, während Luna zu­sammen­zuckte. Dem Blitz folgte in kurzem Abstand ein ohrenbetäubendes Krachen.

»Das ist aber schnell rangekommen!«, bemerkte Erik lediglich und drückte die Schultern durch.

Die anderen Menschen auf der Straße begannen zu rennen und zu hetzen, um sich vor dem einsetzenden Platzregen in Sicherheit zu bringen.

Martje, nun beinahe gänzlich zu ihnen unter den Schirm gerückt, sah auf ihre mit leichten Sandalen bekleideten Füße hi­nunter.

»Ich fürchte, ich bin nicht richtig angezogen«, murmelte sie, während scheinbar direkt neben ihnen ein weiterer Blitz den Weg zum Boden suchte und sie diesmal alle drei merk­lich zusammenfuhren.

Luna konnte Eriks Schwester nicht wirklich ansehen. Das ver­bot sich geradezu von selbst, wenn man so nah voreinan­der stand, wie drei Menschen es unter einem Schirm nun einmal müssen.