Enchantra – Verrate die Liebe, rette dein Herz - Kaylie Smith - E-Book
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Enchantra – Verrate die Liebe, rette dein Herz E-Book

Kaylie Smith

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Beschreibung

In Enchantra gibt es nur eine Regel: Vertraue niemals deinem Herzen ... 

Die Suche nach ihren Wurzeln führt Genevieve auf ein verwunschenes Anwesen in Italien. Enchantra ist wunderschön, voller Magie, aber absolut tödlich. Als Genevieve eintritt, findet sie sich gefangen in einem perfiden Spiel wieder. Wenn sie hier lebend wieder rauskommen will, muss sie sich mit Rowin verbünden, einem sündhaft gut aussehenden, aber zutiefst unausstehlichen Unsterblichen. Die beiden müssen als Paar antreten und das Publikum davon überzeugen, dass sie hoffnungslos verliebt sind. Aber ist Rowin ihre Rettung – oder bedeutet er den Tod? 

Endlich gehen die Spiele gehen in eine neue Runde – und diesmal sind sie noch gefährlicher: der lang ersehnte Nachfolger nach »Phantasma« von Bestsellerautorin Kaylie Smith.


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Seitenzahl: 539

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover for EPUB

Über das Buch

»Meine Seele ist deine Seele. Mein Herz ist dein Herz. Mein Blut ist dein Blut. Auf ewiglich.«

Genevieve erhält eine Einladung, auf ein mysteriöses Anwesen namens Enchantra in Italien zu reisen, und macht sie sich heimlich auf den Weg. Sie hofft, endlich Antworten zu finden auf all die Fragen, die sie seit dem Tod ihrer Mutter quälen. In Enchantra scheint die Zeit stillzustehen: Seltsame Beeren ranken sich um das silberne Eingangstor, dahinter liegt ein verwinkeltes Labyrinth aus dornigen Hecken. Als Genevieve eintreten will, schlägt ihr jemand die Tür vor der Nase zu: Rowin – düster, unnahbar und absolut unausstehlich. Kurzerhand schleicht sie sich hinein, nur um festzustellen, dass sie in der Falle sitzt. Rowin und seine sechs Geschwister sind in einem tödlichen Spiel gefangen, das nur einer überleben kann. Und nun ist Genevieve gezwungen mitzuspielen. Ihre einzige Chance besteht darin, Rowin zu heiraten und als seine Frau anzutreten. Doch warum sollte sie ihre Hoffnung ausgerechnet in denjenigen setzen, der ihr eingeschärft hat, hier niemandem über den Weg zu trauen?

Über Kaylie Smith

Kaylie Smith (she/they) schreibt und liest über alles, was mit Magie und Fantasy zu tun hat. Sie wuchs in Louisiana auf, wo sie stets in einem Buchladen zu finden war. Wenn sie nicht gerade an einem Text sitzt, verbringt sie Zeit mit ihren Australian Shepherds oder hätschelt ihre Zimmerpflanzen.

Diana Bürgel wuchs in Hamburg, England und Indien auf. Sie studierte Linguistik und Literarisches Übersetzen in München.

Julian Müller hat in Berlin und München studiert und übersetzt seit 2010 englischsprachige Literatur. Er engagiert sich für die Sichtbarkeit von Literaturübersetzer:innen und lebt mit seiner Familie in Berlin.

Birgit Pfaffinger hat in München Literarisches Übersetzen studiert und lebt in Wien.

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Kaylie Smith

Enchantra – Verrate die Liebe, rette dein Herz

Aus dem Amerikanischen von Diana Bürgel, Julian Müller und Birgit Pfaffinger

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Zitat

Triggerwarnung

Prolog — Dunkelheit

Der Anfang

1: Omen

Am Vorabend des Frühlingsäquinoktiums

2: Die Einladung

3: Beeren

4: Herzlich willkommen

5: Schemen

6: Begleiter

7: Der Antrag

8: Düsteres Spiegelbild

9: Fataler Fehler

10: Kalte Füße

11: Braut

12: Entsetzlicher Eheschwur

Das Frühlingsäquinoktium

13: Belauscht

14: Der Ring

15: Goldene Beute

Der Abend des Frühlingsäquinoktiums

16: Maskenball

17: Skandalöse Liebschaften

Die Jagd: Runde eins

18: Taub

19: Zwei Wahrheiten

20: Gejagt

21: Kleines Spielchen

22: Brutal

23: Schlupflöcher

24: Fiktion

Die Jagd: Runde zwei

25: Scharfsinnige Beobachtung

26: Die Wiese

27: Lange Geschichte

28: Pfand

29: Schrein

30: Ziemlich überzeugend

31: Traditionen

Die Jagd: Runde drei

32: Spiegelungen

33: »Fuchs sagt«

34: Doppelgängerin

35: Etwas Reales

36: Hölle

37: Ein Geschenk

38: Tragisches Ende

Die Jagd: Runde fünf

39: Alle anderen

40: Entzündet

41: Kein Traum

Die Jagd: Runde sechs

42: Publikumsliebling

Die Jagd: Runde sieben Das Finale

43: Der Fuchs

44: Der Hase

45: Verblassen

Zurück zum Anfang

46: So richtig in der Klemme

47: Korrespondenz

Zwei Monate später

48: Ihr Ring

49: Erinnerungen

50: Wahrheit

Epilog — Licht

Danksagung

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Für die tapferen Seelen unter euch, die alle Brücken zwischen sich und ihren Dämonen niedergebrannt haben. Und für jene, die immer noch versuchen, das Feuer zu entzünden … wir warten auf euch.

Und für Deanna, Becca und Night, die mir geholfen haben, bei Sinnen zu bleiben, damit dieses Buch entstehen konnte. Danke, dass ihr immer meine Anrufe angenommen habt.

»Ich ziehe mit einer Laterne aus, auf der Suche nach mir selbst.«

Emily Dickinson

Triggerwarnung

Dieses Werk enthält explizite sexuelle Inhalte, Beschreibungen von Blut und Tod sowie leichte Gore-Elemente, außerdem Szenen, in denen Drogen- und schwerer Alkoholkonsum, selbstverletzendes Verhalten sowieso der Konsum von mit magischen Aphrodisiaka versetzten Getränken thematisiert werden. Für eine ausführliche Liste möglicher Trigger besucht bitte meine Website: www.kayliesmithbooks.com.

Prolog

Dunkelheit

Die Hölle war aus wirbelnder Dunkelheit und Geheimnissen gemacht, genau wie der Mann vor ihr.

»Ich hasse dich«, schwor sie, während sich die schwarzen Ranken der Magie aus seinen Händen schlängelten, sich um ihre Handgelenke und ihren Hals schlossen und sie gegen die Wand des Labyrinths hinter ihr drückten. Die sinnliche Energie, die stets auf ihrer Haut prickelte, wenn er ihr so nah war, ließ eine träge Wärme durch ihre Adern fließen, und sie musste die Zähne zusammenbeißen, um gegen die aufflackernde Anziehungskraft zwischen ihnen anzukämpfen. Als seine Schatten sie das letzte Mal so umschlungen hatten, waren sie beide sehr viel spärlicher bekleidet gewesen.

Er folgte seinen Schatten und kam auf sie zu, bis sich seine Brust gegen ihre drückte.

»Liebe. Hass. Verschiedene Begriffe, und doch dieselbe Leidenschaft«, sagte er. »Und wie leicht die Grenze zwischen ihnen verschwimmt, findest du nicht?«

»Nein«, zischte sie. »Ich glaube nicht, dass ich jemals auch nur den geringsten Zweifel daran haben werde, dass ich dich hasse.«

Langsam beugte er sich vor und brachte die Lippen an ihr Ohr. »Beweis es.«

Der Anfang

1

Omen

Dem ersten Schwarm begegnete Genevieve mitten in Rom.

Erst waren die Krähen nur einzeln aufgetaucht, eine nach der anderen. Ihr Krächzen hatte sie auf ihrem Morgenspaziergang zu der Pasticceria begleitet, in der sie neuerdings am liebsten frühstückte. Die Marmeladentörtchen dort gehörten zu den Dingen, die sie schmerzlich vermissen würde, wenn sie Rom hinter sich ließ, um sich ins Unbekannte zu stürzen.

Während der vergangenen Woche hatte sie jeden Morgen ihre Koffer gepackt und wieder ausgepackt, voller Sorge, sie könne die falschen Kleider mitnehmen oder ihr Lieblingsparfüm vergessen – oder irgendetwas, das sie vielleicht brauchen würde, um den bestmöglichen ersten Eindruck zu machen. Nachmittags erkundete sie die Stadt. Innerhalb weniger Tage versuchte sie, alle bedeutenden Wahrzeichen abzuklappern, damit ihre Schwester Ophelia später nicht auf den Gedanken kommen würde, Genevieve könnte von der vereinbarten Reiseroute abgewichen sein.

Oder zumindest redete sie sich ein, dies wäre der Grund dafür, dass sie ihre Abreise vor sich herschob.

In Wahrheit war es die reine Verzögerungstaktik. Obwohl es womöglich ein Fehler war, so viel Hoffnung in einen Fremden zu setzen, der nicht mal wusste, dass sie existierte. Vielleicht sollte sie auf ein eindeutiges Zeichen warten, bevor sie die sorgfältig ausgearbeiteten Pläne ihrer Schwester über den Haufen warf.

Beim Frühstück in der Pasticceria vor ein paar Tagen war ihr schließlich zum ersten Mal aufgefallen, dass sich die Krähen merkwürdig verhielten. Einer der kleinen Plagegeister hatte sie von einem rosa blühenden Oleanderbaum aus beobachtet, während sie vor der Konditorei ihre heiße Schokolade trank und in einem Buch blätterte – einem Grimoire aus Ophelias Sammlung, das sie in ihren Koffer geschmuggelt hatte. Sie hatte zu dem Vogel aufgesehen, und er hatte ihren Blick ein bisschen zu scharfsinnig erwidert. Irgendwie unnatürlich. Dass sie tatsächlich etwas Übernatürliches vor sich haben könnte, war ihr nicht in den Sinn gekommen.

Genauso wenig wie die Vorstellung, diese gefiederten Biester könnten sich zu einem ausgewachsenen Omen entwickeln.

Am nächsten Tag hatte sich jedoch eine zweite Krähe dazugesellt, und sie hatten einander zugekrächzt, während Genevieve zum Flohmarkt an der Porta Portese unterwegs gewesen war, und ebenso auf dem Rückweg zum Stadthaus, das Ophelia ihr für die Reise angemietet hatte. Am selben Abend war aus dem Duo ein Trio geworden, und die Vögel hatten bis in die frühen Morgenstunden mit ihren Schnäbeln gegen Genevieves Schlafzimmerfenster gepickt.

Obwohl es keinen Zweifel mehr daran gab, dass mit den Krähen irgendetwas nicht stimmte, war Genevieve nicht bereit, sich ihrem Verdacht zu stellen, warum die Biester sie verfolgten. Erst nach einem Besuch im Kolosseum, wo sie eigentlich nur irgendein Gesicht in einem klischeehaften Touristenmeer hätte sein sollen, wurde es unmöglich, sie zu ignorieren.

Genevieve hatte sich so unauffällig zurechtgemacht, wie sie konnte, in der Hoffnung, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ihr Kleid war aus hellrosa Chiffon, am Saum und an den Ärmeln hübsch gerüscht, und ihre goldbraunen Locken hatte sie zu einem schlichten Haarknoten zusammengesteckt. Sie machte sich nicht die Mühe, passende Handschuhe auszusuchen oder Schmuck anzulegen – genau wie sie selbst mochten Krähen solche Glitzerdinge ein bisschen zu sehr.

Ihre Anstrengungen wurden belohnt, der Spaziergang zum uralten Amphitheater verlief ereignislos. Gemessenen Schrittes schlenderte sie durch die Straßen, ohne auch nur ein Einziges der Federviecher zu Gesicht zu bekommen. Auch während sie dem Touristenführer durch das erstaunliche Bauwerk folgte, blieb sie unbehelligt.

Nein, es geschah so lange nichts, bis die Sonne schließlich hinter dem Horizont verschwand und das warme Gold ihrer Umgebung sich in kaltes Silber verwandelte. Als sie und der Rest der trubeligen Menschenschar das Kolosseum wieder verließen, erhob sich das Krächzen eines Schwarms. Auf jedem einzelnen Dach in der Nähe, auf jeder Straßenlaterne saß eine Krähe. Genevieve würde wohl niemals vergessen, wie sich auf einen Schlag Hunderte von scharfen Augenpaaren auf ihr Gesicht richteten. Ebenso wenig würde sie das Brennen in ihrer Lunge vergessen, das aufflammte, während sie durch die Kopfsteinpflasterstraßen Roms rannte – die Vögel hinter ihr, in einem Wirbel aus Schreien und Flügelschlagen.

Die Krähen taten ihr nichts, hinterließen keinen einzigen Kratzer auf ihrer Haut. Zwar stießen sie gefährlich tief herab und scheuchten die Touristengruppe unter Schreckensschreien auseinander, doch sie krümmten Genevieve kein Haar. Stattdessen flößten sie ihr das unausweichliche Gefühl ein, zu etwas gedrängt zu werden.

Sie hatte auf ein Zeichen gehofft, nun hatte sie eines bekommen.

»Ich gehe ja!«, brüllte sie die Vögel an. »Ich brauche nur noch ein bisschen mehr Zeit!«

Da kamen sie ihr doch zu nah – streiften mit ihren Schwingen Genevieves Haar, ihren Rücken, ihre Röcke – und trieben sie immer schneller Richtung Stadthaus.

Sie sprintete die letzten Meter bis zur Eingangstür und tastete hektisch nach dem vergoldeten Schlüssel in der Tasche ihres Capes, während die Vögel auf den Fenstersimsen und dem Balkon über ihr landen. Genevieve rammte den Schlüssel ins Schloss, lauschte auf das Klicken, stürzte ins Haus und wandte sich zur Treppe.

Ich musste mir ja unbedingt ein Zeichen wünschen, schalt sie sich selbst. Jetzt kann ich es nicht länger hinauszögern.

Sie stieß die Flügeltüren zur Hauptsuite auf, hievte einen ihrer Koffer aufs Bett und verzog das Gesicht, als plötzlich wild an das gegenüberliegende Fenster gepickt wurde. Krallen kratzten mit einem haarsträubend schrillen Kreischen über das Glas, tintenschwarze Federn flatterten gegen die Scheibe.

Genevieve zog Kleider, Röcke und Unterwäsche heraus. »Es muss hier doch irgendwo sein«, murmelte sie vor sich hin.

Als sie am Boden des Koffers endlich fand, wonach sie gesucht hatte, verstummte das Picken.

Es war ein schwarzer Umschlag mit kunstvoller filigraner Prägung aus glitzernden Silberwirbeln. Das dazu passende Wachssiegel zeigte einen dornigen Zweig, geschmückt mit Wildrosen und Beeren, der sich um ein großes S rankte. Darin befand sich ein Bogen samtigen Papiers, das sich luxuriöser anfühlte als jedes Papier, das sie bisher zwischen den Finger gehalten hatte. Die elegant geschwungenen Worte darauf waren mit dunkler saphirblauer Tinte gemalt.

Genevieve zog den Brief aus dem aufgerissenen Umschlag und faltete ihn auseinander, wobei sich ein Gefühl der Schwere auf ihre Schultern senkte. Ihr wurde heiß, während sie das Schreiben ein weiteres Mal las.

Als sie den Brief zum ersten Mal gelesen hatte, war ihr aufgefallen, dass bei einigen Buchstaben ein kleines bisschen mehr Tinte aufgetragen worden war, wodurch manche Wörter dicker und dunkler erschienen. So wurde zwischen den Linien ein allzu vertrauter Umriss sichtbar.

Eine Krähe.

»Verdammte Mistbiester«, brummte sie.

Jetzt war das Omen nicht mehr zu leugnen – genauso wenig wie das Gefühl, das von diesem Papier aufzusteigen schien. Während der vergangenen Monate hatte sie sich selbst antrainiert, auf dieses leise, warme Summen zu achten. Magie.

Ich weiß, das Frühlingsäquinoktium ist schon bald, und dennoch bitte ich dich, dass du uns noch vor dem Vorabend der Tagundnachtgleiche besuchst.

Genevieve hatte immer vorgehabt, Rom lange vor der Tagundnachtgleiche zu verlassen, doch dank ihrer Nervosität und den vielen Attraktionen der Stadt …

Besser spät als nie, oder?

Sie schob die Einladung zurück zwischen die Seiten ihres Tagebuchs und schloss den Koffer. Es war an der Zeit.

Hinter ihr setzte der Vogelschwarm zu einem Crescendo an. Die Krähen hackten so hart auf die Fensterscheiben ein, dass Genevieve Angst hatte, sie könnten zerspringen. Ihr Krächzen schwoll zu einem Sturmheulen an, während sie wild mit den Flügeln schlugen, im Gleichtakt mit Genevieves Herzen.

»Ich gehe ja schon«, rief sie aus und griff nach ihrem Gepäck – die Koffer waren höllisch schwer –, doch als sie sich schließlich wieder zum Fenster umdrehte, waren die Vögel verschwunden.

Am Vorabend des Frühlingsäquinoktiums

2

Die Einladung

Das Nachmittagslicht tauchte den Schlafwagen der ersten Klasse in einen bezaubernden goldenen Schein. Die toskanische Landschaft, die vor dem Fenster vorbeizog, bot den vermutlich atemberaubendsten Anblick, den Genevieve je zu Gesicht bekommen hatte, trotzdem konnte sie kaum hinsehen. Ihre Nerven schienen in Flammen zu stehen.

Gerade wurde der letzte mit Essen beladene Rollwagen an ihrem Abteil vorbeigeschoben, dann verklang das Klirren der Teller und Gläser allmählich. Genevieve tappte mit dem Fuß im immergleichen Rhythmus auf den Boden, während sie auf den nächsten Halt wartete.

Diese Zugreise durch Italien war ungemütlich, erschöpfend und – am allerschlimmsten – langweilig gewesen. Zunächst hatte sie versucht, die Bücher, die sie dabeihatte, ein zweites Mal zu lesen, doch nachdem sie darin die Bestätigung dafür gefunden hatte, dass es sich bei der Krähenplage vermutlich um eine fluchverwandte Form der Magie handelte, hatte sie schnell genug vom Lesen gehabt.

Sie hob die rechte Hand, um an dem Ring an ihrer linken zu drehen, nur um zu merken, dass sie ihn längst nicht mehr trug. Also ließ sie beide Hände wieder in den Schoß sinken und seufzte frustriert. In einem winzigen Raum gefangen zu sein, ohne einen einzigen interessanten Gesprächspartner, war Genevieves ganz persönliche Vorstellung der Hölle. Davon hatte sie wirklich schon genug gehabt, immerhin war sie in Grimm Manor aufgewachsen.

Während ihre verstorbene Mutter Tessie Grimm ihre Schwester in der Kunst der Nekromantie ausgebildet hatte, war Genevieve keine andere Gesellschaft geblieben als die ihrer Kuscheltiere und ihrer Puppen. Als ältere Schwester hatte Ophelia die Magie ihrer Mutter geerbt, und erst nach Jahren war Genevieve bewusst geworden, wie sehr die Tatsache, dass sich ihre Mutter voll und ganz auf Ophelia konzentrierte, ihr das Gefühl vermittelt hatte, ein Einzelkind zu sein. Und dass sie in ihr den beständigen Wunsch geweckt hatte, sich stets mit Menschen zu umgeben. Oder durch fremde Betten zu ziehen.

Genevieve war es gewöhnt, ihre eigene Magie zu verbergen, denn die Vorstellung, ihre Mutter könnte davon erfahren und sie folglich genauso von der Welt abschirmen wie Ophelia, hatte ihr schreckliche Angst eingeflößt. Sie hatte sich gesagt, dass sie mit Tessie Grimms obskurer Welt nichts zu tun haben wollte. Dann war ihre Mutter gestorben, erst vor ein paar Monaten, und Ophelia hatte das Vermächtnis der Familie auf sich genommen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte sich ihre Schwester entschieden, dem Erbe als Nekromantin auf eine etwas andere Weise nachzukommen. Sie wurde zu einer Art Problemlöserin für paranormale Wesen, und in den letzten Monaten waren immer mehr von ihnen – Hexen, Geister, Vampire, Teufel – auf der Schwelle von Grimm Manor erschienen. Genevieve hatte begriffen, wie naiv sie die Welt betrachtet hatte.

Dank ihrer Erfahrungen in Phantasma – dem höllischen Wettstreit, an dem Ophelia und sie im vergangenen Herbst teilgenommen hatten – wollte sie inzwischen so viel wie nur irgend möglich über Paranormales lernen. Der Wettstreit selbst hatte ihr damals keine allzu großen Sorgen gemacht, denn ihr war bewusst gewesen, dass ihre spezielle Form der Magie – die sie von ihrem Vater geerbt hatte – es ihr leicht machen würde, den Schrecken in diesem Teufelshaus zu entkommen. Allerdings war der Gedanke, dass sie ohne ihre Magie vermutlich keinen einzigen Tag in Phantasma durchgestanden hätte, höchst frustrierend.

Es hatte viele Gelegenheiten gegeben, ihrer Schwester von ihrem neu erwachten Lerneifer zu erzählen, doch jedes Mal hatte sie es einfach nicht über sich gebracht zuzugeben, wie naiv sie gewesen war. Weil sie so lange vor ihrer Familie und vor sich selbst davongelaufen war.

Genauso wenig wollte sie sich den wichtigsten Grund dafür eingestehen, dass sie Paranormales nicht länger verurteilte: Sie versuchte nicht mehr, die Zuneigung eines Mannes zu gewinnen, der sie niemals geliebt hatte …

Ein Pfeifen schnitt durch die Luft und durch ihre Gedanken. Bald würde der Zug die nächste Haltestelle erreichen – Florenz. Die Stadt, die ihrem Ziel am nächsten lag.

Genevieve sah, wie sich ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe straffte.

Sie war so nah dran. So kurz davor, eine Familie zu finden, die genauso war wie ihre eigene.

Sie tastete in der Tasche ihres Capes nach dem Foto und zog es heraus. Genevieve hatte es im Zimmer ihrer Mutter gefunden, versteckt zwischen anderen Andenken an das Leben, das Tessie Grimm vor New Orleans geführt hatte. Ein Leben, über das selbst Ophelia nichts wusste.

Das sepiafarbene Bild zeigte einen Mann, der Tessie Grimm auf eine Weise den Arm um die Schultern gelegt hatte, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie einander vertraut waren. Doch etwas anderes hatte Genevieves Aufmerksamkeit geweckt – die Tatsache, dass beide ein herzförmiges Medaillon um den Hals trugen.

Seit dem Moment, in dem sie dieses Foto gefunden hatte, stellte sich Genevieve die immer gleichen Fragen. Das Medaillon ihrer Mutter stand mit dem Vermächtnis der Familie in Verbindung und sollte nach Tessies Tod an Ophelia weitergegeben werden. War der Mann auf dem Bild ebenfalls ein Nekromant? Hatte er Kinder? Waren sie vielleicht … wie sie?

Im Laufe der Zeit war ihre Neugier immer größer geworden. Bis sie nicht länger hatte widerstehen können.

Sie drehte das Foto um und las die Namen, die in der eleganten Handschrift ihrer Mutter auf der Rückseite standen.

Barrington Silver und Tessie Grimm.

Zum zweiten Mal erklang die Dampfpfeife, und Genevieve schob das Foto tief in die Tasche ihres Capes. Das rhythmische Rattern der Räder auf den Schienen wurde langsamer, je näher sie dem Bahnhof kamen, und schließlich ließ auch das Dröhnen des Kessels nach. Sie stand auf, um ihre Sachen zusammenzusammeln.

Obwohl Mr. Silver in seiner Einladung ausdrücklich verlangt hatte, dass Tessie vor dem Vorabend der Tagundnachtgleiche nach Enchantra kam, konnte sie sich nicht vorstellen, dass er sie wegschicken würde. Erstens, weil er seinen Brief offensichtlich mit großem Eifer verfasst hatte. Seine Federstriche hatten das Papier fast zerrissen, so fest musste er beim Schreiben zugedrückt haben. Und zweitens, weil er sie mit diesem Fluch gepeinigt hatte. Falls er sich nach dieser Krähenplage weigern sollte, mit ihr zu sprechen, würde sie durchaus versucht sein, ihn umzubringen.

Was möglicherweise nicht ganz fair war. Immerhin war die Einladung an ihre Mutter gerichtet, und Genevieve hätte sie gar nicht erst öffnen dürfen. Ganz zu schweigen davon, dass sie den Briefwechsel mit Mr. Silver selbst in die Wege geleitet hatte, mehrere Monate vor Tessies Tod, in der Hoffnung, sie wieder mit Barrington Silver in Verbindung zu bringen und exakt solch eine Einladung zu erhalten. Insgesamt hatte sie ihm sechs Briefe geschrieben, die sie allesamt mit »Tessie Grimm« unterzeichnete. Als sie jedoch endlich eine Antwort erhalten hatte, war ihre Mutter bereits tot gewesen …

Ein zackiges Klopfen an der Abteiltür riss sie aus ihren Gedanken.

»Miss Grimm«, begrüßte sie der Zugbegleiter höflich und mit schwerem italienischem Akzent. Sein zobelschwarzes Haar war dicht, und sein Gesicht wirkte jugendlich. Während der Reise hatten sie mehrmals kurz miteinander geplaudert, eine nette Abwechslung in der unerträglichen Einsamkeit. »Soll ich Ihnen etwas zu essen für unterwegs einpacken?«

Genevieve schüttelte den Kopf. Sie war viel zu aufgeregt, um an Essen zu denken. »Nein, danke, Luca. Aber wenn Sie mir mit meinem Gepäck helfen könnten, wüsste ich das wirklich sehr zu schätzen.«

Luca neigte den Kopf. »Natürlich, Miss Grimm.«

Er trat vor und griff nach dem größeren der beiden Koffer, bevor er wieder in den Gang hinausging. Sie machte sich nicht die Mühe, einen letzten Blick in das stickige Abteil zu werfen, und folgte Luca den schmalen Gang entlang, erleichtert, sich endlich wieder bewegen zu können. Wobei das zu viel gesagt war – bei jedem Schritt stieß sie mit der Hüfte gegen Koffer und Zugwand, und als sie den Tragegriff fester umfassen wollte, streiften ihre Fingerknöchel schmerzhaft die Holzvertäfelung. Wenn es etwas gab, was sie an diesem Kontinent wirklich ärgerte, dann, dass einfach alles zu klein für ihre üppigen Kurven zu sein schien. Sie brauchte mehr Platz.

Mit einem raschen Blick über die Schulter überzeugte sie sich davon, dass die Luft rein war, dann ließ sie ein winziges bisschen ihrer Magie in ihren linken Arm und in den Koffer fließen, woraufhin dieser – mitsamt ihrer Faust – verschwand.

Als sie das vordere Ende des Waggons erreicht hatten, gab sie Hand und Koffer ihre feste Gestalt zurück, bevor jemand in der kleinen Schar aus Passagieren und Zugbegleitern irgendetwas bemerken konnte. Mit einem sanften Zischen glitten die Türen auf und gaben die Sicht frei auf den trubeligen Bahnhof einer charmanten Stadt. Die bunten Kleider der Passanten und der Blumenduft in der Luft ließen trotz des wolkenverhangenen Himmels keinen Zweifel daran, dass Frühling war. Und doch war die Brise, die ihr über die Haut strich, kühl. Die Jahreszeiten hier unterschieden sich so sehr von denen ihrer Heimat. Sie waren lebhafter, leuchtender.

Genevieve wartete, bis Luca auf den verwitterten Bahnsteig hinausgetreten war und ihren zweiten Koffer entgegengenommen hatte, bevor sie sich selbst von ihm aus dem Zug helfen ließ. Er verbeugte sich leicht vor ihr, woraufhin sie ein eingerolltes Bündel frischer Banknoten aus der vergoldeten Börse zog, die unter ihrem Cape an einer Chatelaine um ihre Hüfte hing.

Ein warmes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als sie ihm das Trinkgeld in die Hand drückte. »Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Miss Grimm. Ich werde Ihre farbenfrohe Gesellschaft vermissen.«

»Das tut mir wirklich furchtbar leid für Sie«, gab sie aufrichtig mitfühlend zurück und beugte sich vor, um ihre beiden Koffer hochzuheben und den Zug weit hinter sich zu lassen. »Ich werde eine gravierende Leere in Ihrem Leben hinterlassen, aber versuchen Sie trotzdem, in keine allzu tiefe Depression zu versinken.«

Er lachte, und sie wandte sich ab, drängte sich durch die Menge zu einer Reihe von Männern in blitzsauberen Uniformen am Ausgang des Bahnhofs. In gespielter Bewunderung ließ sie den Blick über jeden Einzelnen von ihnen schweifen und wartete darauf, dass einer den Köder schlucken würde.

Der Erste, der einknickte, war ein Mann mittleren Alters mit dichtem Bart und einem knorrigen Gehstock.

»Hai bisogno di un passaggio, bella ragazza?«, fragte er.

»Tut mir leid«, gab Genevieve zurück. »Ich spreche kein Italienisch. Verstehen Sie zufällig Englisch?«

»Englisch, nein.« Er schüttelte den Kopf. Dann hob er den Stock und deutete auf einen der anderen Fahrer, ein paar Kutschen weiter. »Morello.«

»Grazie«, sagte sie und wandte sich dem anderen Fahrer zu.

Er war ein schöner Mann, nur ein oder zwei Jahre älter als sie, mit dunklem zurückgekämmtem Haar und haselnussbraunen Augen, um die sich feine Fältchen bildeten, wenn er lächelte. Was er tat, als sie sich ihm näherte.

»Sind Sie Morello?«, vergewisserte sich Genevieve und schenkte ihm ein schmeichelndes Lächeln.

»Der bin ich«, bestätigte er. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Sie ließ ihm ihre Koffer vor die Füße fallen. »Ich muss zu einer Adresse ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. Ich habe eine Wegbeschreibung dabei.«

Sie zog die handgeschriebene Karte hervor, die sie ebenfalls aus den Sachen ihrer Mutter geklaut hatte, und hielt sie ihm hin. Er biss sich auf die Lippe, und kurz fragte sie sich, ob er sie wegen ihres leichten Südstaatenakzents vielleicht nicht verstanden hatte, doch dann glitt sein Blick nach rechts zu einem Mann, der seinen Sohn zum Abschied umarmte, und sie begriff, dass er sich Zeit nahm, um über ihre Anfrage nachzudenken.

Über ihnen erklang ein Kreischen.

Als Genevieve den Blick hob, kreiste ein Krähentrio am Himmel.

Ich versuche es ja!, wollte sie ihnen entgegenschreien.

Sie löste den Blick von den Biestern und räusperte sich, um Morellos Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihre nächsten Worte trieften nur so vor zuckersüßem Südstaatencharme, eine Waffe, die sie immer dann auspackte, wenn sie etwas wollte, und die stets eine geradezu hypnotische Wirkung auf ihre Opfer auszuüben schien.

»Ich gebe gutes Trinkgeld, versprochen«, versicherte sie ihm. »Die Adresse ist wahrscheinlich ein bisschen weiter weg, als Sie es gewohnt sind, aber es würde mir unglaublich viel bedeuten, dass Sie mir diesen Gefallen tun.«

Seine haselnussbraunen Augen wurden angesichts ihrer flehentlichen Miene ganz groß, und er bekam einen leicht glasigen Blick. Da wusste sie, dass sie gewonnen hatte.

Er nickte enthusiastisch und beugte sich vor, um ihre Koffer anzuheben, wobei er einen Blick auf ihre Hand warf, eindeutig, um nach einem Ehering Ausschau zu halten. »Kein Problem, Miss …«

»Grimm«, erklärte sie.

»Miss Grimm. Hier entlang, bitte.«

***

Fast drei Stunden später rollte die Kutsche schließlich über eine lange, gewundene Auffahrt, die zu Barrington Silvers Anwesen führte. Genevieve schob den Samtvorhang vor dem Kutschenfenster beiseite und spähte hinaus, um die romantische Landschaft zu betrachten, die sich vor ihnen erstreckte. Immer noch flogen die Krähen voraus und wachten über sie. Der Himmel jedoch war hier viel klarer als am Bahnhof.

Wenigstens halten sie den Schnabel, dachte sie und senkte den Blick wieder zum Horizont.

Inmitten der sanften Hügel vor ihr lag ein Weingut. Es sah aus wie auf einem Gemälde, ein Kunstwerk der Natur. Reihen um Reihen an Gerüste gebundener Reben auf sorgsam gepflegten Feldern, durchsetzt mit den bunten Farbtupfern blühender Bäume, durch deren Äste goldenes Sonnenlicht fiel. Die Kutsche fuhr weiter, bis schließlich ein riesiges Tor in Sicht kam. Die verwirbelten Details der silbernen Metallarbeit waren so ineinander verschlungen, dass der Name in ihrer Mitte fast unleserlich war.

Enchantra.

Die Kutsche hielt, und Genevieve hörte, wie Morello verwirrt ihren Namen rief. Als einen Moment später der Kutschenschlag aufschwang, las sie Sorge in seinem Blick.

»Miss Grimm, ich fürchte, Ihre Wegbeschreibung ist nicht ganz richtig.«

Sie hob eine Braue. »Warum denn das?«

Er hielt ihr die Hand hin, um ihr aus der Kutsche zu helfen, und seine Stiefel knirschten im Kies.

Einen Moment später standen sie vor dem Silbertor. Ihr Blick strich über die Dornenranken, die sich um die Metallstäbe wanden und an denen seltsame lila Beeren hingen. Einige waren zu Boden gefallen und lagen nun überall verteilt.

Ein weiteres Mal zog sie die Einladung aus ihrer Tasche, und unter Morellos wachsamem Blick stellte sie fest, dass es die gleichen Ranken und Beeren wie auf dem Wachssiegel waren.

»Wir sind hier definitiv richtig«, bestätigte sie sich selbst.

Morello blickte von dem Umschlag zum Anwesen jenseits des Tors. »Aber …«

Und er hatte recht. Es gab ein ganz gewaltiges Aber.

Hinter dem Tor lag nichts als ein weites, leeres Feld, das sich in alle Himmelsrichtungen erstreckte und reichte, soweit sie sehen konnte.

3

Beeren

Ich kann Sie wieder mit zurück in die Stadt nehmen«, versicherte Morello. »Ich berechne auch nichts zusätzlich.«

Genevieve starrte durch das Tor. Etwas an der Szenerie vor ihr kitzelte ihr Unterbewusstsein …

»Miss Grimm?«, drängte Morello.

Einen Moment lang war sie versucht, es als ein Zeichen zu sehen, sein Angebot anzunehmen und zum Bahnhof zurückzukehren. Doch dann flimmerte etwas jenseits des Tors. Wie eine Luftspiegelung.

Sie blinzelte, und schon war das Flimmern wieder verschwunden.

Über ihr erhob sich angriffslustiges Gekrächze, und Genevieve sah zum Himmel hinauf, an dem sich nun dunkle Regenwolken zusammenballten. Die drei Krähen begannen, erwartungsvoll zu kreisen.

Sie war den ganzen weiten Weg hierhergekommen, sie hatte zu viel Ärger riskiert und schon zu lange von dieser Gelegenheit geträumt, um jetzt einfach aufzugeben.

Irgendetwas gibt es hier für mich, dachte sie. Es kann gar nicht anders sein.

Sie straffte die Schultern und erklärte: »Nicht nötig, ich bleibe. Vielen Dank, dass Sie mich hergebracht haben, ich hoffe, Sie schaffen es nach Hause, bevor das Unwetter losbricht.«

»Aber ich kann Sie doch nicht einfach hier zurücklassen«, beharrte Morello. »Wenn Sie eine Unterkunft brauchen, wenn es das ist, dann kann ich …«

»Sie können und Sie werden mich hierlassen.« Genevieve machte eine ruckartige Handbewegung. »Ich komme schon zurecht.«

»Hier gibt es nichts, und das kilometerweit«, protestierte er. »Sie können doch nicht erwarten, dass ich eine junge Dame mitten im Nirgendwo aussetze.«

Genevieve seufzte. Sie hatte vergessen, wie hingerissen einige Männern von der Illusion süßer Unschuld waren, die sie ihnen so sorgsam vermittelte – doch sie hatte keine Zeit, Morello sanft auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Er musste gehen.

Sie führte sich diesen bohrenden Blick vor Augen, den sowohl ihre Mutter als auch ihre Schwester perfektioniert hatten, und setzte den furchterregendsten Gesichtsausdruck auf, den sie zustande brachte. Natürlich standen ihr all die schaurigen Merkmale einer Nekromantin nicht zur Verfügung – die eisigen Augen, der blasse Teint –, aber sie würde eben mit dem arbeiten müssen, was sie hatte.

Sie suchte in sich nach einem Funken ihrer Magie und ließ ihre körperliche Gestalt flackern. Immer wieder wechselte sie für Sekundenbruchteile in jenen unsichtbaren, immateriellen Zustand, während sie gurrte: »Wer hat behauptet, dass ich eine Dame bin?«

Morello stockte, dann stolperte er zurück, sie ließ weiter ihre Magie flackern. Der Ausdruck in seinen haselnussbraunen Augen verwandelte sich von Schrecken in Entsetzen, als er feststellte, dass der Charme, mit dem sie ihn zuvor eingewickelt hatte, vollständig zerschmolzen war.

Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Wenn du nicht enden willst wie in einer dieser geflüsterten Legenden – Legenden von Männern, die mit einer schönen Fremden ins Nichts gehen, nur um für immer spurlos zu verschwinden –, dann solltest du lieber machen, dass du wegkommst. Sofort.«

Morello schluckte schwer und stolperte rückwärts auf die Kutsche zu, und man musste ihm zugutehalten, dass er nicht rannte.

»Es ist wirklich nicht leicht, furchteinflößend zu wirken, wenn man mit einem so lieblichen Aussehen gesegnet ist«, murmelte Genevieve vor sich hin.

Ophelias eisiger Blick wurde oft als verstörend beschrieben, Genevieves Augen hingegen wiesen ein warmes einladendes Himmelblau auf, und waren umrahmt von dichten Wimpern und einem herzförmigen Gesicht – mitsamt herzallerliebsten Sommersprossen auf der Nase und rosigen Wangen. Von ihrer sinnlichen Figur ganz zu schweigen. Nicht mal ein Korsett konnte ihren weichen Linien etwas Kantiges geben. Details, über die ihre Verehrer immer wieder ins Schwärmen gerieten.

Deine Sommersprossen sind so niedlich.

Du hast wunderschöne Augen.

Du bist so süß, du könntest keiner Fliege etwas zuleide tun.

Sie würde gutes Geld darauf verwetten, dass Farrow Henry vor allem diesen letzten Kommentar bitter bereut hatte. Er hätte die Genevieve, die Morello gerade einen solchen Schrecken eingejagt hatte, wohl kaum wiedererkannt.

Und es musste ein gewaltiger Schrecken sein, denn Morello kletterte hastig auf den Fahrersitz, schnalzte mit den Zügeln und fuhr – ohne das versprochene Trinkgeld – davon, so schnell er konnte. Das Klappern der Hufe entfernte sich noch, da wurde es bereits von einem Donnergrollen ersetzt. Sie schaute auf, sah die schwarzen Wolken unablässig heranrollen und seufzte. Ihr Kleid würde ruiniert werden. Genevieve wandte sich wieder dem Tor zu und spähte ein weiteres Mal aus schmalen Augen in die Ferne dahinter, wobei sie die Silberstäbe umfasste und den Dorn ignorierte, der sich in ihre Handfläche bohrte. Sie konzentrierte sich.

Ein Herzschlag. Und … aha.

Das Flimmern von Magie.

»Ich weiß, dass du da bist«, flüsterte sie.

Als hätten ihre Worte etwas wachgerufen, prickelte ihr plötzlich das Gefühl über den Rücken, beobachtet zu werden. Sie warf einen Blick über die Schulter, doch da war nichts außer der gewundenen Auffahrt und den vielen Reihen traubenbehangener Reben.

Krächz.

Genevieve zuckte zusammen und riss den Kopf hoch, als eine der riesigen Krähen auf dem Torbogen landete. Argwöhnisch sah sie dem Vogel dabei zu, wie er nach den Beeren pickte, die den kunstvoll geformten Stahl zierten.

Außerdem werden die Dämonenbeeren um diese Zeit reif sein.

Genevieve hob die Hand, um eine der leuchtend lila Beeren zu pflücken und sich vor die Augen zu halten. Es war weder eine Traube noch eine Blaubeere. Doch obwohl die Frucht so fremdartig wirkte, lief Genevieve das Wasser im Mund zusammen.

Das war ja klar, hörte sie Farrows Stimme in ihrem Kopf. Immerhin bist du selbst eine Dämonin.

Genevieve biss die Zähne zusammen.

Sie hatte sich unter anderem auf Phantasma eingelassen, um ihm zu entkommen, aber die Korridore des Teufelshauses waren voller durchscheinender Illusionen von ihm gewesen. In jedem spinnwebenverhangenen Winkel hatten sie gelauert. Mitten in der Nacht, wenn sie nicht schlafen konnte, war ihr sein Gesicht erschienen – und wenn sie schlafen konnte, war er in ihren Alpträumen aufgetaucht. Irgendwie war es ihm gelungen, ihr auf Schritt und Tritt zu folgen, wohin sie auch ging, sogar noch, nachdem sie den blutenden Wänden des Hauses entkommen war.

Wenn sie im Café saß, sah sie ihn in ihrer heißen Schokolade. Sie sah ihn in der Hitze jedes Feuers flimmern. In den Gesichtern der wenigen Liebhaber, die sie traf, seit er ihr Herz in tausend Stücke geschlagen hatte. An einigen Tagen war der Schmerz über das, was zwischen ihnen geschehen war, so präsent, dass er alles, was sie über sich selbst zu wissen geglaubt hatte, infrage stellte. Als wäre sie die ganze Zeit der Illusion erlegen, sie würde klare Luft atmen, nur um auf einmal zu begreifen, dass der Rauch einfach eine Weile gebraucht hatte, um sie zu ersticken.

Sie hatte gehofft, diese unerwünschten Gedanken würden endlich aufhören, nachdem sie New Orleans hinter sich gelassen hatte, doch wieder geisterte diese dumpfe Erinnerung durch ihren Verstand – an meerblaue Augen, die sie durch eine Wand orangeroter Flammen anblickten, und da ahnte sie, dass die Bilder nicht verschwinden würden, egal, wie weit sie lief.

Ophelia mochte die Nekromantin von ihnen beiden sein, doch Genevieve hatte es genauso mit Geistern zu tun. Nur waren ihre noch am Leben.

Vergiss ihn, befahl sie sich selbst, schob sich die Beere in den Mund, zerbiss die Schale und genoss, wie die Süße des Safts ihren Mund flutete.

»Mmm«, summte sie zufrieden.

Sie pflückte eine weitere Beere. Und noch eine.

Sie waren so köstlich, dass ihr die Veränderung um sich herum erst gar nicht auffiel. Als sich ihr Blick wieder schärfte, fiel ihr die Beere aus den erschlafften Fingern. Der magische Schleier jenseits des Tors, den sie in der Luft hatte flimmern sehen, war endlich weggezogen worden.

Vor ihr erstreckte sich ein verwinkeltes Labyrinth über die Ländereien. Die saftgrünen Wände waren zu hoch, als dass sie ins Zentrum des Irrgartens hätte blicken können, und doch waren die gewaltigen Hecken nicht imstande, die funkelnde silberne Villa zu verdecken, die sich dahinter erhob. Zwei quadratische Bauwerke, die wie Türme aussahen, flankierten die Vorderseite des Hauses und ragten so hoch in den düsteren Himmel hinauf, dass sie fast die Wolken küssten. Die gesamte Steinfassade war mit Silberperlen überdeckt und von denselben dornigen Kletterranken überwuchert wie das Tor. Genevieve erkannte, dass die Auffahrt hinter dem verschlossenen Tor weiterverlief, sich schließlich vor dem Labyrinth gabelte und auf beiden Seiten um das Anwesen herumzuführen schien. Alles war mit einer unberührten pudrig weißen Schicht überzogen.

Schnee? Wie merkwürdig …

Sie drückte sich noch dichter an die Metallstäbe, als könne sie so klarer sehen und sichergehen, dass sie sich die Eiswirbel, die alles jenseits des Tors einhüllten, nicht nur einbildete. Soweit sie sah, verlief der Silberzaun um das gesamte Anwesen herum, doch die Ländereien waren gewaltig und ihre Augen nur die einer Sterblichen. Sie konnte nicht genau sagen, wie weit sich das Gut in die Ferne erstreckte.

»Ich schätze, ich werde es mir anschauen müssen.« Doch bevor sie ihre Magie rief, zögerte sie.

Sie fragte sich, ob sich diese Entscheidung als so unumkehrbar herausstellen würde wie einige der anderen, die sie getroffen hatte. Sie wusste: Das, was sie vorfand, wenn sie dieses Tor hinter sich ließ, würde sie vielleicht für immer verändern, und davon hatte sie im letzten Jahr schon genug gehabt. Ihr Spiegelbild zeigte keineswegs mehr das naive Mädchen, das sie früher einmal gewesen war.

Doch genau diese Veränderungen waren es gewesen, die sie hierher vor die Tore von Enchantra geführt hatten. Jenseits dieser Eisenstangen wartete mehr auf sie, die Antwort auf ein Verlangen, das sie seit langer Zeit verspürte. Eine Geschichte, die ihr hoffentlich dabei helfen würde, zu verstehen, warum ihre Mutter ihr nie das hatte geben können, was sie brauchte. Ein Gefühl von Gemeinschaft, die Gewissheit, dass sie auch außerhalb von Grimm Manor irgendwo dazugehören könnte.

Krächz.

Genevieve richtete sich auf und funkelte die Krähe an, dann ließ sie warme Magie durch ihre Adern strömen und wurde gerade lange genug körperlos, um durch die Eisenstangen zu schlüpfen. Sobald sie das Tor hinter sich gelassen und wieder ihre feste Gestalt angenommen hatte, schritt sie weiter die Auffahrt entlang. An der Gabelung bog sie nach rechts ab, um das ordentlich gestutzte Labyrinth zu umgehen.

Einen Moment später hatte sie wieder das drängende Gefühl, beobachtet zu werden. Sie hielt inne.

»Hallo?«, rief sie und spähte in die dichte Hecke.

Ein kurzes Rascheln erklang, und sie schnappte nach Luft. Dann sprang urplötzlich eine Schattengestalt aus der Blätterwand. Genevieve stieß einen überraschten kleinen Schrei aus und stolperte rückwärts. Sie fiel über ihre Röcke und konnte sich gerade noch rechtzeitig fangen, bevor sie zu Boden stürzte.

Als sie sich wieder aufrichtete, traf ihr Blick auf zwei glühende bernsteinfarbene Augen. Ein schwarzer Fuchs.

Das Wesen musterte sie mit schief gelegtem Kopf und nahm eine viel zu selbstreflektierte Haltung ein. Es legte sich mit umsichtig gekreuzten Vorderpfoten auf den Boden. Als würde es auf eine Erklärung warten, warum sie hier war.

»Ich wurde eingeladen«, erklärte Genevieve dem Fuchs, auch wenn sie sich dabei mehr als lächerlich vorkam. »Siehst du, ich habe eine Einladung …«

Das zobelschwarze Tier sprang vor und schnappte ihr das Papier aus der Hand, bevor es wieder im Labyrinth verschwand.

»Hey!«, rief Genevieve und versuchte, seine buschige Schwanzspitze zu fassen zu kriegen, doch der Fuchs entwand sich ihrem Griff. »Was soll der Mist?«

Instinktiv nahm sie ihre unsichtbare Form an und jagte dem Tier hinterher, mitten durch die Hecke. Sie fand sich in einem der vielen gewundenen Gänge des Irrgartens wieder, und sah gerade noch, wie der Fuchs nach rechts davonjagte. Genevieve raffte ihre Röcke und rannte ihm nach.

Glücklicherweise wurde das Biest langsamer, je tiefer es sie ins Labyrinth führte, vermutlich, weil es sich in Sicherheit glaubte. Und bedauerlicherweise – für den Fuchs – fiel es Genevieve in ihrer unsichtbaren Gestalt nicht weiter schwer, sich unbemerkt an seine Fersen zu heften.

Sie wurde wieder sichtbar, packte das Tier im Nacken und hob es hoch. Es wand und wehrte sich erbittert gegen ihren Griff, während sie versuchte, ihm mit der freien Hand den Brief aus dem Maul zu ziehen. Es biss nur noch fester zu.

Tadelnd schnalzte sie mit der Zunge. »Aus!«

Der Fuchs gab ein leises, kehliges Grollen von sich und fixierte sie auf eine viel zu menschliche Art mit seinen Goldaugen.

»Knurr mich nicht an! Du hast mir was weggenommen«, schimpfte sie und zog weiter an dem Brief. »Wenn du nicht sofort loslässt, dann werde ich …«

Doch bevor sie ihre Drohung aussprechen konnte, löste sich der Fuchs mitsamt dem Umschlag in dichten schwarzen Rauch auf. Genevieve blinzelte ungläubig.

Was zum Teufel ist da gerade passiert? Ihr Herz pochte wild, als sie sich langsam um die eigene Achse drehte, auf der Suche nach einer Erklärung

Krächz.

Sie riss den Kopf hoch.

»Kscht!«, fuhr sie die Krähe an, die auf sie herabstieß. Sie hatte die Nase voll. »Ich bin hier! Ich habe getan, was ihr wolltet! Und jetzt verpisst euch, ihr …«

Sie kam nicht dazu, den Fluch zu beenden, denn da landete der Vogel mit einem leblosen Plumps vor ihr auf der Erde. Einen angespannten Moment lang starrte sie ihn verständnislos an, dann fiel ihr sein stark aufgeblähter Bauch auf.

Die Beeren …?

»Das ist nicht gut«, murmelte sie, und schon verschwamm ihre Sicht. Sie wollte einen Schritt zurückweichen, das verwirrende Labyrinth verlassen, aber jetzt drehte sich alles um sie herum, und ihre Füße verweigerten ihr den Dienst.

Einen Moment später entglitt ihr die Welt vollkommen.

***

Etwas Kühles, Nasses stupste Genevieve ins Gesicht, und ganz langsam krochen die Schatten zurück an den Rand ihres Bewusstseins. Schnelle, schnüffelnde Atemzüge strichen über ihre Wange, dann wurde sie hochgehoben und gegen etwas Hartes, Warmes gedrückt.

»Farrow?«, murmelte sie und versuchte, die Augen zu öffnen, sich zu befreien. Aber sie war zu schwach, um sich zu wehren, und wer auch immer sie da hielt, fühlte sich sowieso kräftiger an als Farrow. Und dieser Geruch … scharfe Minze, unterlegt von etwas Süßem … war ganz anders als der Moschusduft, mit dem sich Farrow immer übergossen hatte.

»Apuell abon, Umbra«, murmelte eine tiefe, fremde Stimme.

Und aus irgendeinem Grund wusste sie genau, was die Stimme sagte. Braves Mädchen, Umbra.

Mehr verstand Genevieve nicht, weil die Schatten wieder ihr Bewusstsein fluteten und die Geräusche miteinander verschwammen. Ein letztes Mal versuchte sie, die Augen zu öffnen, um zu sehen, wen sie vor sich hatte, doch es gelang ihr nur, ein kurzes Aufblitzen von Gold zu erhaschen, bevor die Dunkelheit sie verschluckte.

***

Der Alptraum war immer derselbe.

Er stand mit einem brennenden Streichholz über ihr, während sie verzweifelt versuchte, zu verschwinden.

»Du bist eine verdammte Dämonin. Ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet. Und jetzt wirst du brennen.«

Als Genevieve schließlich erwachte, fand sie sich vor den Toren von Enchantra neben ihren Koffern wieder, ohne Erinnerung daran, wie sie hergekommen war. Ein bitterer Geschmack lag ihr auf der Zunge.

4

Herzlich willkommen

Ächzend setzte sich Genevieve auf. Die Kälte war ihr tief in die Knochen gedrungen, und sie verzog das Gesicht wegen des widerlichen Geschmacks in ihrem Mund.

»Was zum Teufel …«, flüsterte sie und rieb sich die pochenden Schläfen.

Jenseits des Tors war nichts zu sehen, dennoch sagte ihr irgendwas in ihrem Hinterkopf, dass etwas nicht stimmte. Sie kämpfte sich auf die Knie und beugte sich vor. Misstrauisch musterte sie die seltsamen Beeren, die zwischen den Gitterstäben hingen.

Eine Erinnerung blitzte in ihrem Kopf auf. Daran, wie sie eine Beere gepflückt und sich auf die Zunge gelegt hatte …

Dann fiel ihr noch etwas ein. Wie sie durch die Gitterstäbe geschritten und die funkelnde Villa vor ihren Augen aufgetaucht war, mit dem weitläufigen Labyrinth aus Hecken davor. Die tote Krähe. Der Fuchs.

Bin ich verrückt geworden?

Sie holte tief Luft, fasste an die Gitterstäbe, um sich auf die Füße zu ziehen …

… und keuchte vor Schmerz auf.

Sie riss die Hände zurück und drückte sie an die Brust, stieß ein wütendes Zischen aus. Sengende Magie zischelte ihr über die Haut. Und auf einmal klarten ihre Gedanken auf. Sie war kein bisschen verrückt geworden. Da war eine Krähe gewesen. Und ein Fuchs. Eine geheimnisvolle Gestalt … die sie getragen hatte …

Sie kämpfte sich auf die Füße, sah an sich hinunter, um sich das Kleid abzuklopfen – und verschluckte sich fast, als sie erkannte, wie schmutzig und zerknittert es war. Mit einem Schnauben packte sie die Tragegriffe ihrer beiden Koffer, wandte sich mit eiserner Entschlossenheit wieder dem Tor zu, rief ihre Magie und schritt ein weiteres Mal durch die Silberstäbe. Sobald sie auf der anderen Seite stand, war es, als wäre ein dicker Nebelschleier von ihren Sinnen gezogen worden. Vor ihr erhob sich das verborgene Anwesen in seiner vollen Pracht. Sie fragte sich, ob es wohl die Wirkung der magischen Beeren gewesen war, die sie alles hatten vergessen lassen, sobald sie sich wieder auf der anderen Seite des Tors befunden hatte.

»Magie ist so lästig«, brummte sie und behielt ihren körperlosen Zustand bei, als sie mitten durch die erste Heckenwand des Labyrinths schritt. Sie ging einfach durch die Büsche hindurch, überquerte die leeren Korridore dazwischen, und fand sich schließlich auf der gegenüberliegenden Seite wieder, nur ein paar Meter vor der Veranda der riesigen Villa. Als sie sich den weißen Marmorstufen näherte, bemerkte sie, dass in die Doppeltür ein verschlungenes S eingraviert war.

Sie nahm wieder feste Gestalt an, ließ die Koffer auf die Veranda fallen und stellte sich auf die Zehenspitzen, um nach dem Silberklopfer zu greifen. Es war ein kunstvoll geschmiedeter Ring aus dornigen Ranken, deren Spitzen ihr in die Handfläche stachen, als sie ihn gegen die Metallplatte schlug. Mit einem schweren Klirren verkündete er ihre Ankunft.

Eine lange Minute geschah nichts. Die Stille war unheimlich und die allgemeine Leblosigkeit um sie herum alarmierend. Bevor sie jedoch die Nerven verlieren konnte, wurde der rechte Türflügel aufgezogen. Genevieve schnappte nach Luft, als eine seltsame Kraft in der Luft zu knistern begann. Eine Gestalt trat auf die Schwelle, lehnte sich mit einer Schulter gegen den Türrahmen und musterte sie mit gerissenem Blick. Irgendwie kam ihr der Bernsteinton dieses Blicks seltsam vertraut vor.

Der goldäugige Fremde ragte fast einen Kopf über ihren – sehr respektablen – ein Meter fünfundsechzig auf. Sein zerzaustes schwarzes Haar war etwas länger, als es die Männer in New Orleans trugen, unordentlich nach hinten gekämmt und lockte sich leicht an den Spitzen. Sein Gesicht war auf klassische Weise gut aussehend – kräftiges Kinn, ausgeprägte Wangenknochen, perfekt gerade Nase –, bei jedem anderen Mann hätte es fast schon langweilig gewirkt. Der Goldring in seiner vollen Unterlippe und sein hypnotisierend goldener Blick jedoch entfalteten eine fast schon sündig verführerische Wirkung auf sie.

Er trug ein maßgeschneidertes schwarzes Hemd, das einen starken Kontrast zu seinem Elfenbeinteint bildete. Auch die Weste darüber war perfekt seiner muskulösen Figur angepasst. Die schwarze Anzughose schmiegte sich schmeichelnd um seine Hüfte und wurde von einem mit Onyxen verzierten Ledergürtel gehalten. Mehrere Obsidianringe schmückten seine Finger, und trotz der markanten, unübersehbaren Aura von Finsternis in der Luft um ihn herum hatte seine Erscheinung etwas Bedachtes, ja geradezu Kultiviertes. Er war ganz anders als die faden Junggesellen von New Orleans, die aus irgendeinem Grund glaubten, man könne ihre mangelnde Sorgfalt mit Stilgefühl verwechseln. Und kein Vergleich zu dem Mann mit dem goldenen Haar und den blauen Augen, den sie in ihren Alpträumen sah.

Wie Tag und Nacht.

Genevieve schüttelte den Gedanken an Farrow ab und schalt sich dafür, dass sie ihn schon wieder in ihrem Kopf hatte Amok laufen lassen. Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Fremden vor ihr. Sie räusperte sich.

»Hallo«, begrüßte sie ihn mit einem strahlenden Lächeln.

Er sagte nichts und musterte sie nur ebenso sorgfältig wie sie ihn. Es kostete sie Mühe, sich unter seinem durchdringenden Blick nicht zu winden.

Sie hob das Kinn. »Mein Name ist Genevieve Grimm.«

»Und?«, gab er gedehnt zurück. »Was zum Teufel willst du hier?«

Sie hatte nicht unbedingt ein herzliches Willkommen erwartet, da sie unangekündigt und außerdem nach dem in der Einladung ausdrücklich gewünschten Datum erschienen war, doch die Boshaftigkeit seiner Worte verwirrte sie.

»Darf ich reinkommen?«, fragte sie.

»Nein.« Er sagte es nicht mal besonders laut, aber mit unumstößlicher Endgültigkeit. »Sonst noch was?«

»Ja. Ich will mit Barrington Silver sprechen, zum Teufel, und ich werde nicht gehen, bis ich das getan habe«, erklärte sie.

Für den Bruchteil einer Sekunde hätte sie schwören können, ein Zucken um seine Mundwinkel zu sehen, doch dann wurde seine Miene noch finsterer.

»Du musst dich verlaufen haben.« Hinter seinen Worten lauerte eine Drohung. »Verschwinde dahin zurück, wo zur Hölle du hergekommen bist. Du bist nicht befugt, hier zu sein.«

Und damit schlug er ihr die Tür vor der Nase zu.

Einen Moment lang konnte sie nur ungläubig vor sich hinstarren.

Nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, drang ein ärgerliches Knurren aus ihrer Kehle, dann packte sie den Silberklopfer ein weiteres Mal. Seine Manieren waren scheußlich, aber sie hatte nicht den weiten Weg hierher hinter sich gebracht, um sich von so einem Rüpel aufhalten zu lassen. Wahrscheinlich gehörte er zum Personal und hatte die Anweisung, jeden abzuschrecken, der versehentlich über das Anwesen stolperte.

Auch wenn er durchaus aussah, als könnte er ein Nekromant sein.

Sie ließ den schweren Klopfer einmal, zweimal, dreimal gegen das Metall krachen. Dieses Mal wurden beide Türflügel aufgerissen, und sie erhaschte einen Blick auf einen unheilvollen Schattenwirbel, der hinter dem Fremden tanzte und eine Art Heiligenschein um seine breite Gestalt bildete. Als die Schatten zu den Türen hinauswaberten, lehnte sich Genevieve unwillkürlich nach hinten. Ihr Atem ging flach, während sich die tintenschwarzen Wirbel um sie wanden. Eine Gänsehaut überlief ihre Arme angesichts dieser unbekannten Macht, die von ihm ausging. Trotzdem blieb sie stehen, weigerte sich, auch nur einen Zentimeter zurückzuweichen, obwohl alles in ihr schrie, sie solle weglaufen.

Wenn Ophelia mir nicht so einige ihrer Fähigkeiten vorenthalten hat, kann ich wohl mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass er doch kein Nekromant ist.

»Merkst du nicht, dass du hier unerwünscht bist?«, knurrte er.

»Weißt du nicht, wie man einen Gast behandelt?«, schoss sie zurück, wobei ihre Stimme etwas atemloser klang, als ihr lieb gewesen wäre. »Wie ich gerade sagte, ich habe einen Brief von dem Besitzer dieses Anwesens erhalten, der mich nach Enchantra eingeladen hat. Und versuch erst gar nicht, so zu tun, als wäre ich hier falsch. Auf dem Eingangstor steht der Name.«

»So ist es«, bestätigte er und verschränkte die Arme. Die Schatten wanden sich um ihn wie angriffslustige Schlangen. »Dann zeig mir diese angebliche Einladung doch mal.«

Sie griff in ihre Tasche, doch da war kein Briefumschlag, und plötzlich fiel es ihr wieder ein. Der Fuchs.

Sie sah dem Fremden ins Gesicht und erkannte, dass seine finstere Miene einem spöttischen Ausdruck gewichen war.

»Du weißt genau, wo meine Einladung ist«, warf sie ihm vor und stieß ihm den Zeigefinger fast ins Gesicht.

Er schwieg, und als sie ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden tippte, folgte sein Blick der Bewegung. Genevieve glaubte, fast so etwas wie Belustigung darin zu lesen. Obwohl seine deutlich hervortretenden Kiefermuskeln etwas anderes sagten.

»Also, wie läuft das hier?« Sie stemmte eine Hand in die Hüfte. »Der Fuchs. Ist das irgendeine magische Illusion? Ein abgerichtetes Haustier? Oder warst du der Fuchs? Hast du irgendwelche gestaltwandlerischen Fähigkeiten? Was genau bist du?«

Denn, Nekromant hin oder her, irgendetwas war er, daran bestand kein Zweifel. Er konnte höchstens fünf oder sechs Jahre älter sein als sie, doch die schiere Kraft seiner Präsenz weckte in ihr den Verdacht, dass seine jugendliche Erscheinung täuschte.

»Was bist du?«, gab er zurück. »Außer einer Plage, meine ich. Wie zum Teufel bist du ein zweites Mal an den Barrieren am Tor vorbeigekommen?«

»Aha!«, rief sie zufrieden. »Also hast du mich rausgebracht, nachdem ich ohnmächtig geworden bin. Wolltest du denn nicht wenigstens abwarten, ob ich wieder aufwache? Ich hätte tot sein können.«

»Wäre nicht mein Problem gewesen«, erklärte er mit entschieden gelangweiltem Ausdruck in den Goldaugen.

»Schuft«, kommentierte sie und rümpfte die Nase. »Deine Manieren sind unter aller Sau.«

Das Lächeln, das bei dieser Beleidigung seine Lippen kräuselte, war gefährlich.

Er beugte sich vor, bis sie auf Augenhöhe waren und sich ihre Nasen fast berührten. »Willst du mich und meine Manieren loswerden? Dann geh.«

Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Nein. Ich habe es dir doch schon gesagt – ich gehe nicht, bevor ich nicht mit Mr. Silver gesprochen habe. Und vor allem nicht, bevor ich sicher bin, dass ich diesen Fluch los bin, mit dem ich belegt wurde. Hast du eine Ahnung, wie es ist, wenn man auf Schritt und Tritt von Hunderten kreischenden Vögeln verfolgt wird?«

Seine Miene wurde spöttisch. »Vermutlich genauso erbaulich wie diese Unterhaltung.«

»Ich wurde eingeladen, und das weißt du genau«, beharrte sie, als hätte er nichts gesagt.

»Soweit ich weiß, wurde jemand namens Tessie eingeladen«, konterte er. »Und sie wurde explizit darum gebeten, vor dem Vorabend der Tagundnachtgleiche zu kommen. Dieser Termin ist verstrichen, und hast du nicht gesagt, dein Name ist Juniper …«

»Genevieve«, korrigierte sie ihn.

»Weshalb besagte Einladung ganz eindeutig nicht dir gilt. Ich warne dich ein letztes Mal – verschwinde.«

Dieses Mal kam die Tür, die ihr vor der Nase zugeknallt wurde, nicht ganz so überraschend.

Einen langen Moment stand sie einfach nur da und versuchte zu entscheiden, ob sie es riskieren sollte, das Anwesen ohne die Bestätigung zu verlassen, dass ihr kleines Vogelproblem gelöst war. Nur hatte der Fremde leider den Fehler begangen, ihre Neugier zu wecken – und ihre Sturheit –, und nun musste sie unbedingt herausfinden, was er so dringend vor ihr verbergen wollte. Ganz zu schweigen davon, dass sie nicht sicher war, wie sie mit der Vorstellung, ihn gewinnen zu lassen, weiterleben sollte.

Ich habe es verdient, andere wie mich zu treffen, rief sie sich in Erinnerung. Ich muss Barrington finden und ihm das Foto zeigen, er wird sicher dasselbe für mich wollen.

Außerdem, was war schlimmer? So nah an das heranzukommen, wonach sie sich schon seit ewigen Zeiten sehnte, nur um dann wie ein Feigling davonzulaufen – oder es mit einem weiteren unerträglichen Kerl aufzunehmen?

Die gibt es schließlich wie Sand am Meer, dachte sie.

Sie schnappte sich ihre Koffer und wechselte in ihre körperlose Form, um durch die Flügeltür zu gehen, bevor sie zu genau darüber nachdenken konnte, was sie da tat. Als sie sich auf der anderen Seite wieder materialisierte und ihr Gepäck auf den schwarz-weiß gekachelten Boden der Eingangshalle fallen ließ, erwartete sie, den feindseligen Fremden vorzufinden. Doch da war nichts außer unheilvoller Stille.

5

Schemen

Das Foyer war luxuriös auf eine Art, auf die nur Leute etwas gestalten würden, die mehr Geld besaßen, als sie ausgeben konnten. An der Decke war ein Mosaik, das den Nachthimmel zeigte, und dessen funkelnde Sterne aus Diamanten zu sein schienen. Die obere Hälfte jeder Wand war mit Wandbildern toskanischer Landschaften in Edelsteinfarben geschmückt. Glänzende Goldfolienakzente unterlegten die Pinselstriche der wirbelnden Wolken und blühenden Bäume. Der untere Teil der Wände war auf so kunstvolle Weise vertäfelt, wie sie es noch nie gesehen hatte, und die Zierleisten waren von einem tiefen Mitternachtsblau.

Der Star dieser Szenerie war jedoch ohne Frage der Kronleuchter. Sechs Reihen birnenförmiger Kristalle warfen regenbogenbunte Lichtfunken durch die Halle. In den opulenten Kerzenhaltern, die im Abstand von zwei, drei Metern an den Wänden hingen, steckten Stabkerzen. Das alles war bis auf den letzten Zentimeter mit einer dicken Staubschicht überzogen.

Vergehende Opulenz. Was für eine Verschwendung.

Auf der anderen Seite der Eingangshalle entdeckte sie eine gewaltige, hölzerne Flügeltür zwischen zwei Marmorsäulen. Links davon lag ein Korridor, der in den Hauptteil der Villa zu führen schien. Eine von schweren pflaumenfarbenen Vorhängen gerahmte Fensterfront, die sich über die komplette Vorderseite erstreckte, ließ Tageslicht herein – oder in diesem Fall das düstere Zwielicht des Unwetters. An den Wänden hingen große viereckige Rahmen, die mit taubengrauen Stoffen verhüllt worden waren, und Genevieve konnte nicht anders, als sich einem von ihnen zu nähern. Warum sollte jemand Kunst verhängen? Als sie den dicken Stoff beiseiteschob, erkannte sie jedoch, dass es sich nicht um ein Kunstwerk handelte – sondern um einen versilberten Spiegel.

Wie seltsam …

Rechts von ihr ging ein Korridor von der Halle ab, in dem sich linker Hand Türen reihten. An der Wand gegenüber entdeckte sie einige riesige Ölporträts, alle in verzierten Silberrahmen. Genevieve betrat den Korridor und fragte sich, ob sie in den angrenzenden Zimmern wohl irgendjemanden finden würde, doch da fiel ihr Blick auf das erste Porträt, und es war so sonderbar, dass sie abrupt stehen blieb.

Das Mädchen darauf war nicht viel älter als sie selbst. Ihr auffällig weißes Haar fiel ihr bis zur Taille, die fedrigen Ponyfransen teilten sich in der Mitte und rahmten ihr Gesicht ein. Ihre Augen unter den dichten Wimpern waren pechschwarz, ein krasser Kontrast zu ihrem hellen Teint. Dasselbe galt für ihre weinroten Lippen, deren Ausdruck vermittelte, das Mädchen wüsste ein Geheimnis, das dem Betrachter vorenthalten blieb. Sie saß auf einem silbernen Samtsessel, in einem eisblauen Kleid, und zu ihren Füßen ruhte ein ausgewachsener Schneeleopard.

Genevieve blinzelte zweimal angesichts der großen gefleckten Raubkatze.

Das kann doch kein Haustier sein, dachte sie, während sie zum nächsten Porträt ging.

Es zeigte einen Mann, dessen Züge auffällig an die des Mädchens erinnerten. Anstelle der weißen Haare hatte er jedoch einen unbändigen Schopf in der Farbe dunkler Tinte. Nein, es war fast schon ein Marineblau. Er hatte sich das Haar hinter die Ohren gesteckt, die von großen Saphiranhängern geschmückt wurden. Und seine Augen … sie waren nicht dunkel, sondern so hellgrau, dass sie fast weiß wirkten.

Genevieve überlief ein Schauer. Und ich dachte, Ophies Augen wären gruselig …

Der Mann saß auf dem gleichen silbernen Sessel, und zwar lag zu seinen Füßen kein Leopard, dafür hockte aber eine schwarze Eule auf seiner Schulter. Ihr Blick schien Genevieve zu folgen.

Bevor sie zum nächsten Gemälde weitergehen konnte, erklang irgendwo über ihr ein Poltern. Sie fuhr herum und eilte zurück in die Eingangshalle, in der Hoffnung, eine Treppe zu finden, die sie zu demjenigen brachte, der den Lärm veranstaltet hatte. Hoffentlich war es der Besitzer des Anwesens höchstpersönlich. Oder wenigstens irgendjemand anderes als der goldäugige Fremde.

Jetzt sah sie, dass die Flügeltür an der hinteren Wand einen Spalt offen stand. Sie hielt darauf zu und zog eine Seite auf. Als sie den Raum dahinter erblickte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Es war ein atemberaubender Ballsaal. Die Art, die sie sich oft als Kulisse für ihre Tagträume ausgemalt hatte.

Die Decke hoch über ihrem Kopf war mit lebensechten Fresken geschmückt, die Schlachten zwischen verschiedenen paranormalen und halbkörperlichen Wesen zeigten – Teufel mit roten Krallen, die Gestaltwandler inmitten der Transformation zerfetzten. Phantasiewesen, die ihr opalisierendes Blut direkt in die aufgerissenen Münder von Vampiren spritzten. Engel, die sich gegenseitig die Flügel ausrissen. Die goldenen Vorhänge vor den großen Bogenfenstern waren zurückgebunden, so dass silbernes Licht über den marmornen Tanzboden fiel und weitere verhüllte Spiegel an der Wand gegenüber anstrahlte. Zwischen zweien dieser Fenster stand eine riesige goldene Uhr. Die römischen Ziffern der Stundenanzeige waren von zwölf großen Kreisen umrahmt, allesamt schwarz bis auf den Kreis der derzeitigen Stunde – vier –, der ebenso golden schimmerte wie das Zifferblatt. In der gegenüberliegenden Ecke des Ballsaals schließlich entdeckte Genevieve, wonach sie gesucht hatte – eine prunkvolle Treppe. Ihre Stufen führten hinauf zu einem Balkon im ersten Stock, der an drei Seiten über die Tanzfläche ragte.

Genevieve ging auf die teppichbezogenen Stufen zu und strich über das vergoldete Treppengeländer, wobei ihre Finger eine Spur im Staub hinterließen. Sie stieg hinauf und suchte dabei in den Schatten nach irgendetwas Lebendigem. Als sie schließlich den oberen Treppenabsatz erreichte, erhaschte sie im Augenwinkel eine Bewegung – wie sich ausbreitender Rauch.

Sie fuhr herum und entdeckte den Fuchs. »Du.«

Er peitschte einmal aufreizend mit dem Schwanz, dann machte er kehrt und huschte davon. Genevieve jagte ihm nach, um eine scharfe Linkskurve, die sie in einen breiten Korridor voller geschlossener Türen führte. Blinzelnd spähte sie in die Dunkelheit, aber entweder verschmolz der Fuchs perfekt mit den Schatten, oder er war verschwunden.

»Hallo?«, rief sie und verlangsamte ihre Schritte. »Ist hier jemand?«

Sie näherte sich der ersten Tür rechts, drehte am Knauf und stellte überrascht fest, dass nicht abgeschlossen war. Sie zog daran, und der Raum dahinter war … leer. Kein Bett, keine Möbel, nur eine schlichte weiße Kiste. Sie schloss die Tür wieder und sah im nächsten Zimmer nach. Leer.

Was für eine sonderbare Platzverschwendung …

»Wer zum Teufel bist du?«, zischte da jemand hinter ihr.

Genevieve, die auf der Schwelle des leeren Raums stand, fuhr zusammen. Jemand war am Eingang des Korridors. Die Person hatte in einer Sprache gesprochen, die Genevieve nicht kannte und definitiv nicht hätte verstehen dürfen, trotzdem war jedes Wort glasklar gewesen.

Als die Gestalt näher kam, erkannte Genevieve in ihr das Mädchen von dem Gemälde. Nur war ihr geisterweißes Haar zu einem glatten Bob geschnitten, dessen Spitzen ihr über die Schultern fegten, als sie rasch auf Genevieve zuschritt.

»Wie bist du hier reingekommen?«, verlangte das Mädchen zu wissen, in derselben Sprache wie zuvor, während ihr Blick über Genevieves übel zugerichtetes Kleid glitt.

»Durch die Eingangstür«, antwortete Genevieve und strich sich mit beiden Händen über die Korsage. Sie musste furchtbar verwahrlost aussehen. Eindeutig nicht ihre Vorstellung eines guten ersten Eindrucks.

Das Mädchen schnaubte. »Du hast ja Nerven. Falls du zu Knox’ Gästen gehörst – du bist zu früh. Und so was von im Arsch. Die Jagd beginnt erst morgen.«

Die Jagd?