Endlosschleifentage - Fabian Neidhardt - E-Book

Endlosschleifentage E-Book

Fabian Neidhardt

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Beschreibung

Von Trauer und Freundschaft, Verlust und Tabus, von Neuanfängen und Abschied David und Katha kennen sich schon immer, sind gemeinsam erwachsen geworden und haben jung geheiratet. Doch dann kommt Katha bei einem Autounfall ums Leben, und Davids Welt steht still. Sie war jedes seiner ersten Male, sie ist jede Erinnerung. Kinga, Kathas beste Freundin, die den Unfall mit- und überlebt hat, versucht zu helfen, sich zu kümmern – während sie eigentlich mit ihrem eigenen Trauma klarkommen muss. David kämpft sich Tag für Tag auf den Friedhof – zu Katha – und fragt sich, wie Trauern geht. Am Friedhof lernt er Marie kennen. Was bedeutet loslassen? Marie ist die Tochter des Totengräbers, die ihre eigene Vergangenheit aufarbeiten muss und von Konventionen nichts hält. Der Friedhof ist ihr Leben, und sie weiß, dass niemand hier zu viel Zeit verbringen sollte. Kinga hingegen denkt, dass David erst einmal trauern muss. Aber David kann weder das eine noch das andere. Jeder Schritt in eine Richtung ist ein Schritt weg von Katha. Der Halt von Marie fühlt sich wie Verrat an. Die Enttäuschung von Kinga lähmt ihn. Nur die Musik, die er macht, klingt richtig. Die zutiefst menschlichen Momente  Wie fühlt es sich an, die eigene Frau, die beste Freundin viel zu früh zu verlieren? Wie trauert man richtig? Wie findet man zurück in einen Alltag, ins Leben? David findet Antworten: in den Menschen, die ihm Halt geben, in den Augenblicken, die ihn hoffen lassen, und in den neuen – ganz eigenen – Wegen, die sich hinter der Trauer auftun. Fabian Neidhardt schreibt wie im Film, erzählt mitreißend und intensiv von den dunkelsten und den wunderbarsten Gefühlen – da sind Schmerz und Angst, aber vor allem: Wärme und Hoffnung. Ein Roman, der zum Weinen und zum Lächeln bringt.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41.1

Kapitel 41.2

Kapitel 41.3

Kapitel 42

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Impressum

Über den Autor

Menschen glauben, dass Trauer mit der Zeit kleiner

wird. Tatsächlich bleibt die Trauer gleich groß.

Aber das Leben beginnt, um sie herum langsam

größer zu werden.

Lois Tonkin („Growing around grief“)

Und was ist sonst noch so passiert?

Als ich in die Küche ging,

um drei Minuten vor halb acht,

hab’ ich kurz nicht an dich gedacht.

Von Wegen Lisbeth („Bitch“)

Just let me cry a little bit longer

I ain’t gon’ smile if I don’t want to.

Paramore („Rose-Colored Boy“)

 

 

Für Opa Wojciech. Für das Leben nach dem Tod.

 

 

Alles in diesem Buch ist Fiktion. Aber sie existiert nur, weil Menschen ihre Geschichten mit mir geteilt haben.

1

Ein Schweißtropfen läuft an seiner linken Schläfe herunter, David will die Hand heben und ihn wegwischen, aber das Hemd klebt an seinen Armen, und das Jackett sitzt ein wenig zu eng, weil er Kathas Schlafshirt drunter trägt. Ihr letztes.

Seit sieben Nächten schläft er mit diesem Shirt, eigentlich ein altes von ihm. Das Logo vom Jugendmusikverein ist längst verwaschen, unter den Achseln sind Löcher, an mehreren Stellen lösen sich Fäden. Er hätte es längst weggeworfen, aber Katha sagt immer, zum Schlafen ist es gut genug. Hat gesagt, denkt er. Vergangenheit.

David atmet zitternd ein, und Kinga hebt den Kopf. Sie steht im Schatten neben Martha, einen Arm eingehakt, falls die ältere Dame umkippt. Dabei steht Kinga selbst auf Krücken. Nur David ist in der prallen Sonne, schon so lange, dass er morgen einen Sonnenbrand haben wird, aber er kann nicht weg, muss vor diesem Loch stehen bleiben, mit gebührendem Abstand, wie bei einem Bahngleis. Obwohl er eigentlich weiß, dass dieser Zug schon lange abgefahren ist.

In den letzten Tagen ist es überall grün geworden, die zerzausten Bäume treiben Blätter, und der Schnee ist so schnell geschmolzen, dass David es nicht fassen kann, dass noch vor einer Woche die Straßen glatt waren. Er spürt den Druck in seiner Lunge und realisiert, dass er die Luft anhält. Ein stoßhaftes Ausatmen, und wieder schaut Kinga zu ihm. Sie senkt den Kopf, flüstert Martha etwas zu und schleppt sich auf den Krücken rüber. David wischt sich mit dem Handrücken jetzt doch den Schweiß von der Schläfe und greift sich an den Kragen, denkt gar nicht drüber nach, zieht das Shirt zur Nase. Aber was soll da noch sein, außer sein eigener Geruch, sein Deo, seine Tränen? Er stopft es zurück, drückt es unter das Hemd und wirft Kinga einen verschämten Blick zu. Sie legt ihre Hand auf seinen Arm, noch mehr Wärme, wie kann es nur so warm sein, und wieso war es letzte Woche noch kalt?

Am liebsten würde er sich an Kinga anschmiegen, in sie reinkriechen, sich ganz klein machen, wenn schon nicht Katha, dann wenigstens Kinga. Er lehnt sich in ihre Richtung, als ob diese Hand all den Schmerz und die Trauer und das Nicht-begreifen-Können halten kann. Kinga drückt seinen Arm.

„Ich weiß, es ist nichts in Ordnung und alles scheiße. Aber geht’s noch? Oder sollen wir? Willst du weg?“

David guckt hoch, sieht ihre roten Augen und die glänzenden Wangen, blickt in ihre wunde Seele und versteht, dass dort nicht die Stärke ist, die er von ihr kennt, und dass sich dort nicht sein Schmerz spiegelt, sondern sie ihren eigenen unter Kontrolle hält. Gerade so. Vielleicht kann sie ihn nur halten, weil sie sich gleichzeitig an ihm abstützt.

Er wischt sich übers Gesicht, das Jackett spannt, er zieht den Rotz nach oben, bis er auf der Zunge liegt, eine schleimige Mischung aus salzigen Tränen und etwas Süßlichem, fast schon Vergorenem. Er unterdrückt den Impuls, den Kopf zur Seite zu drehen und das Ding auszuspucken, weil Friedhof. Weil man das nicht macht. Also schluckt er es hinunter, vorbei am Kloß in seinem Hals, vorbei an der engen Brust und in den flauen Magen. Seit Tagen hat er keinen Hunger. Sein rechter Daumen streicht über die Linien seiner linken Handinnenfläche, er schüttelt den Kopf.

„Nein, ich will hierbleiben.“

Sollte er nicht als Letzter gehen? Sollte nicht er am stärksten trauern? Kinga presst ihre Lippen zusammen, und als sie ihre Hand von seinem Arm löst, schwankt er, während sie zurück in den Schatten humpelt, zu Martha und zu seinen Eltern, zu den anderen. Manche sind schon gegangen, aber sie waren alle da, auch wenn sie Katha schon jahrelang nicht mehr gesehen haben. Die Nachbarn, die Verwandten aus Polen, die Leute von ihrer und seiner Arbeit und aus ihrer alten Klasse, zumindest die, die auch noch in der Nähe wohnen. Als David August gesehen hat, war da plötzlich Wut, weil sie seit der Abifeier nichts mehr miteinander zu tun hatten und auch in der Schule nie miteinander geredet. Mit welchem Recht taucht der hier auf? Sie war ihm nie ein Gespräch wert, aber jetzt, da muss er sich blicken lassen?

Kleine Gruppen von Verwandten und Bekannten stehen im Schatten der alten Bäume, unterhalten sich leise, bestärken sich in ihrer Trauer. Alle dunkel gekleidet, er genauso. Katha hätte sich mehr Farben gewünscht, aber das hat er sich nicht getraut. Er sieht an den Leuten vorbei, über die langen Reihen unterschiedlicher Grabsteine. Ein älteres Paar schleppt Wasser zu einem gepflegten Grab, sie tragen die Gießkanne gemeinsam, und David spürt den Drang, ihnen zu helfen. Auf einer Bank im Schatten sitzt ein komplett in Schwarz gekleideter Mann, den Blick gesenkt, auf seinem Schoß ein Buch, die dunklen Haare hängen ihm ins Gesicht. Eine Frau kniet vor einem frischen Hügel, der mit Blumen und Kränzen bedeckt ist, das Holzkreuz ganz neu. Die Männer, die den Sarg aus der Aussegnungshalle hierhergefahren haben, sitzen ein paar Reihen weiter im Schatten. Neben ihnen eine Frau in dunkler Kleidung, aufrecht, die Hände im Schoß gefaltet. Er hat vorher nicht ganz zugehört, als Kinga ihm ins Ohr geflüstert hat. Er glaubt, dass er ihr die Hand gegeben hat, dann müsste das die Bestatterin sein. Und neben ihr eine junge Frau mit derben Schuhen und dreckiger Latzhose, die dunkelblonden Haare in einem unsauberen Zopf. Gärtnerin, denkt David. Alle wegen Katha da.

Aus der Aussegnungshalle kommt immer noch Musik. Der Mann hinter der Orgel hat schon vorher viel zu fröhlich gespielt, während David neben Kinga in der ersten Reihe saß, den Blick fest auf den wippenden Fuß des Organisten gerichtet und seine Fingernägel in das Holz der Bank gedrückt. Kinga hat ihm ihre Hand angeboten, aber er hatte Angst, ihr wehzutun.

Wenn David sich nicht täuscht, spielt der Typ jetzt die Melodie der Gummibärenbande. Für einen kurzen Moment muss David grinsen, weil das genauso absurd ist wie diese ganze Veranstaltung, die doch gar nicht sein kann. Aber wann wacht er endlich auf? Seine Augen sind nass, und er fragt sich, wie da immer noch Tränen sein können.

Er schüttelt sich, damit die Gänsehaut vergeht, und weicht dem Blick seiner Eltern aus, die ihn besorgt beobachten. Er dreht den Kopf, nimmt im Hintergrund eine Bewegung wahr und ist froh über die Ablenkung. Die Gärtnerin ist aufgestanden und geht über das Gras auf ihn zu, macht einen großen Schritt über die Ecke eines Grabes. Sie zögert einen Moment, dann tritt sie auf die Lichtung, auf der das Loch ist, ein abgedeckter Haufen Erde daneben und David davor. Er verdrängt den Gedanken daran, was in dem Loch liegt. Sie hebt den Kopf und sieht ihn an, ist das ein verhaltenes Lächeln? Sie streckt die Hand aus. Dort, wo bei David der Ehering sitzt, hat sie ein Pflaster um den Finger. Die Nägel sind kurz geschnitten, die Ränder dunkel. Erde, denkt David. Und zwischen den Fingern steckt ein Zettel.

„Hi, ich bin Marie. Ich mach das normalerweise nicht, aber falls du mal reden willst. Hier ist meine Nummer.“

David greift nach dem Zettel, vielleicht aus Reflex, vielleicht aber auch, weil es mindestens fünfzehn Jahre her ist, dass ihm jemand eine Nummer gegeben hat. Er schiebt den Zettel mit drei Fingern auf. Dünnes Papier, fast durchsichtig, als ob sie es aus einem Gesangbuch gerissen hat, darauf eine gekritzelte Handynummer. Der Bleistift hat sich mehrmals durch das Papier gedrückt. Er blinzelt ein paar Mal, aber alles bleibt. Der Sarg, die Leute, der Schmerz, die Gärtnerin. Er zeigt mit dem Zettel auf das Loch vor ihnen.

„Das ist meine Frau.“

Und irgendwas in ihm bekommt Risse. Weil er seit dem Anruf der Polizei vor einer Woche die Realität angehalten und die Wahrheit nicht an sich rangelassen hat. Weggetreten, nur mit Hilfe von Kinga Entscheidungen getroffen, genickt oder den Kopf geschüttelt und viel zu oft mit den Schultern gezuckt. Und nichts ausgesprochen. Weil was sich reimt, vielleicht gut ist, aber was man ausspricht, wahr.

Unter seiner Haut knistert es, als ziehe sich sein Inneres zusammen und löse sich von seiner Hülle. Er holt Luft, um das Vakuum zu füllen, und zwischen all dem Schmerz und der Trauer sitzt jetzt Schuld, weil David das Gefühl hat, in diesem Moment seine Frau selbst getötet zu haben.

Die Gärtnerin, er hat den Namen schon vergessen, verzieht den Mund, fast entschuldigend, und zuckt mit den Schultern.

„Ich meine, bis dass der Tod euch scheidet, oder?“

Und dann reißt Kinga ihm den Zettel aus der Hand, David hat gar nicht bemerkt, dass sie neben ihm steht.

„Spinnst du? Lass ihn in Ruhe! Hau ab!“

Sie schlägt der Gärtnerin die Hand mit dem Zettel vor die Brust, so hart, dass diese zurücktaumelt. Der Zettel fällt auf den Boden. Erstaunlich schnell für so ein leichtes Stück Papier. Die Gärtnerin sieht Kinga an, runzelt die Stirn.

„Ganz ruhig. Ich wollte nur helfen. Du bist nicht seine Mum. Und seine Frau auch nicht, ganz offensichtlich.“

Sie schaut nochmal zu David, hebt den Zettel auf, dreht sich um und schlendert davon.

2

Marie sitzt neben der offenen Tür der Aussegnungshalle auf dem Boden, den Kopf gegen die Wand gelehnt, die Augen geschlossen, und hört Franz zu. Früher saßen sie gemeinsam hier und haben ihrem Vater zugehört. Die Leute waren zwar nie wegen ihm da, aber er spielte, als wären sie es, und Marie hat es geliebt. Damals hat Eckstein noch ab und zu mit ihnen geredet, irgendwas von Respekt gesagt und ob sie nicht woanders sitzen könnten, vielleicht irgendwo, wo man sie nicht sieht. Seit Jahren aber sagt er nichts mehr, und manchmal wirft er ihr einen verschwörerischen Blick zu, wenn er vorbeikommt. Fühlt sich wie ein gemeinsames Geheimnis an.

Der Boden neben ihr knarzt, und die Jungs rollen den Sarg auf dem kleinen Wagen raus. Marco, Wojciech, Peter und Mohammed sind alle über siebzig und in Rente. Sie rollen den Wagen, seit Marie ein Kind war, und sie strahlen dabei immer noch die Würde aus, mit der der Wagen geschoben werden sollte. Selbst wenn das Rad hinten links bei jeder Umdrehung quietscht. Für einen Moment passt das Quietschen zum Rhythmus der Musik, dann nicht mehr, und Marie muss grinsen. Weil sich nie jemand traut, etwas zu sagen.

Hinter dem Wagen schreiten Pfarrer Eckstein und der Kerl, der seine Frau verloren hat. Wahrscheinlich ist er zum letzten Mal bei seiner Hochzeit so andächtig gelaufen. Autounfall, hat Eckstein gesagt, und sie hätte es sich denken können, aber sie ist trotzdem überrascht, wie jung er ist. Kaum älter als sie. Sein dunkler Blick starr auf das quietschende Rad gerichtet, die braunen Haare ein wenig zu lang, das Gesicht schockgefroren. Noch hat er die Wahrheit nicht an sich rangelassen, noch könnte das alles nur ein Traum sein. Sie kennt das Gefühl. Der Arme. Aber bevor er hinter der Frau mit den Krücken verschwindet, die mit einer älteren Dame knapp hinter ihm geht, sieht Marie noch etwas anderes. Da liegt was unter all der Dunkelheit, in seiner Haltung, in dem Blick, in der Art, wie er nach dem Kragen tastet. Irgendetwas an ihm lässt sie nicht los. Sie richtet sich auf und sieht ihm nach, bis die ganze Gruppe die Halle verlassen hat.

Als Letztes tritt Anjuli in die Sonne, wie immer im dunklen Hosenanzug, wie immer mit ernstem Gesicht, wie immer die Hände gefaltet. Sie sind gleich alt, aber Anjuli strahlt die gleiche Würde aus wie die Jungs. Sie lächelt leicht, als sie Marie sieht. Marie steht auf und hält ihr die Faust hin. Sie wirft einen Blick über Maries Schulter, dann schlägt sie ihre Faust dagegen und grinst breit.

„Alles gut? Eckstein hat gesagt, Autounfall.“

„Sie hat die Kontrolle verloren. Vereiste Straße.“

„Scheiße. War deshalb der Deckel drauf?“

„Nee, Anna hat sie eigentlich ziemlich gut hinbekommen. Aber der Witwer wollte sie auf keinen Fall sehen.“

„Keine Verabschiedung?“

„Doch, aber nur die Mutter und die beste Freundin. Sie saß mit im Auto.“

„Die mit den Krücken?“

„Jep. Sie hat auch alles organisiert. Ihm muss es richtig schlimm gehen. Seh ihn heute auch zum ersten Mal.“ Anjuli nickt in Richtung der Leute, setzt sich in Bewegung. „Ich geh mal zu den Jungs. Wir sehen uns bald, ja?“

Marie streckt die Hände aus, zeigt auf den Friedhof.

„Du weißt ja, ich bin hier.“

Beide lachen, weil, wo sollte sie sonst sein? Marie hebt die Gräber aus und lebt im Haus auf dem Friedhof, natürlich ist sie hier. Aber jedes Mal, wenn sie diesen Witz macht, hat sie ein schales Gefühl in der Brust. Wie eine Wahrheit, die festgetreten wird und sich immer schwerer ändern lässt.

Franz spielt wuchtig und setzt seinen ganzen Körper ein, besonders am Ende muss die ganze Halle vibrieren. Als er den Finger von der letzten Taste löst und nur noch das elektrische Summen der E-Orgel zu hören ist, klatscht Marie und wohoot, imitiert eine jubelnde Menge.

„Sehr schön. Pippi Langstrumpf?“

Franz setzt sich aufrecht hin, zieht das Hemd glatt und rückt die Fliege gerade.

„Ecki sagte, sie war Erzieherin. Ist nicht originell, aber ich fand’s passend.“

„Ist es.“ Sie lehnt sich an die Lehne der ersten Bankreihe, verschränkt die Arme und sieht nach draußen, desinteressiert. „Sag mal, der Witwer.“

Franz klatscht in die Hände und zeigt auf Marie.

„Ich wusste es! Ich hab ihn da sitzen sehen und wusste, der wird dich interessieren.“

Marie schüttelt abschätzig den Kopf, hofft, dass sie nicht rot wird, und spürt diesen leichten Ärger. Wie kann es sein, dass ihr Bruder sie so gut kennt?

„Der ist doch gar nicht mein Typ.“

Franz tappt suchend neben der Orgel gegen den Boden, bis er den Schalter erwischt, und das Summen verstummt.

„Ne, aber du hast ein großes dunkles Herz für eingerissene Seelen, die am Abgrund stehen.“

Marie spürt den Stich, wie jedes Mal, wenn er recht hat, und zuckt mit den Schultern.

„Arsch.“

Er kichert und schiebt sich zwischen Schemel und Orgel hervor. Sein Kichern ist so hell und klar, Marie stellt sich ein kleines Mädchen vor, das irgendwo in ihrem Bruder lebt und dessen Stimme sie lachen hört.

Manchmal kann Marie nicht glauben, dass sie aus den gleichen Genen entstanden sind. Sie würde dreimal in ihren großen Bruder passen. Vielleicht ist sie deshalb immer einsam und rastlos und auf der Suche nach mehr. Und er sich selbst genug.

„Ich fand ihn tatsächlich süß. Aber er steht ja offensichtlich auf Frauen.“

„Vielleicht auch auf beides. Und normalerweise hält dich das doch auch nicht ab.“

Franz legt seinen Arm um ihre Schulter und zieht sie an sich, während sie zum Ausgang laufen.

„Schwesterherz, ich finde, wir haben in unserem Leben schon viel zu oft um Dinge gekämpft. Und ich kann es nicht sehen, wenn du enttäuscht bist, weil du verlierst.“

Sie schlägt mit der Faust gegen seine Schulter, und obwohl er flink ist, schafft er es nicht, ihr auszuweichen. Er schreit kurz auf, aber er schmunzelt, während er sich die Stelle reibt, und auch sie muss lächeln. Für einen Moment müssen sich ihre Augen an die Helligkeit außerhalb der Halle gewöhnen, dann schaut sie in die Richtung, in der sie gestern das Grab ausgehoben hat. Eckstein redet noch, der Witwer steht alleine in der prallen Sonne. Franz lehnt seine Schulter gegen ihren Rücken und schiebt sie sanft nach vorne.

„Na los. Geh schon.“

Marie tippt sich mit dem Zeigefinger gegen den Kopf, ohne Franz anzusehen.

„Das kann ich auch später machen. Oder wenn er wieder mal da ist. Der beerdigt gerade seine Frau.“

„Na ja, bis dass der Tod sie scheidet, oder?“

Sie kichern beide, bis Marie den Kopf schüttelt.

„Du spinnst.“

„Schau uns an. Wir beide.“

Marie wirft einen Blick zum Haus in der Mitte des Friedhofs und in den dunklen Teil dahinter, der unter den jahrzehntealten Birken und Eichen im Schatten liegt.

„Glaubst du, sie wäre enttäuscht von uns?“

Franz macht ein verächtliches Geräusch und sieht sie mit diesem ungläubigen Blick an, der fragt, wie sie überhaupt auf die Idee kommen kann. Trotzdem weiß Marie, dass er sie ernst nimmt. Wie er sie schon immer ernst genommen hat.

\

Nach dem Abi und kurz vor ihrem Studium ist sie für ein halbes Jahr nach Amerika gegangen. Ist dort per Work and Travel durch das Land gereist, hat Nick und Norah kennengelernt und wusste, dass das nicht das letzte Mal war, dass sie mit ihrer Gitarre unterwegs sein würde. Als sie ging, umarmte Franz sie nur kurz und schob sie aus der Tür, fast, als hätte er Besseres zu tun. In der Tür blieb sie stehen und wartete, bis er sie ansah.

„Ich hab ehrlich gesagt ein bisschen Angst.“

Und dann schaute er sie mit genau diesem ungläubigen Blick an, der ihr erstmal ziemlich wehtat, weil sie sich nicht gesehen fühlte. Nicht ernst genommen. Er schüttelte den Kopf, sagte stumm: ‚Du brauchst keine Angst haben, und jetzt geh schon.‘ Und schloss die Tür hinter ihr. Auf halbem Weg über den Friedhof fiel ihr ein, dass sie die Regenjacke an der Garderobe vergessen hatte. Aber kurz bevor sie die Tür erreichte, sah sie durch das Fenster neben der Tür Franz, er saß auf dem kleinen Absatz direkt hinter der Tür, hatte den Kopf in die Hände gelegt, und Tränen liefen über seine Wangen. Sie beobachtete ihn so lange, dass sie fast ihre Bahn zum Flughafen verpasste, und kaufte sich dann in Amerika eine neue Jacke. Sie schrieben sich fast jeden Tag, schickten sich Bilder und Memes, und welche schönere Art gab es, sich Sorgen um sie zu machen, als ihr nicht zu sagen, dass er sich Sorgen machte?

\

Sie sagt es ihm nie, aber sie liebt ihren Bruder. Und sei es nur dafür, dass er so viel von ihr weiß und trotzdem noch mit ihr redet. Franz schüttelt den Kopf.

„Sie war immer stolz auf uns. Von Anfang an und bis zum Ende. Sie war selbst am Ende Paps nicht böse. Ich glaube, ihre Liebe für uns war so groß, wir hätten sie nie enttäuschen können. Und wenn sie jetzt hier wäre, würde sie dir auch in den Arsch treten, damit du endlich da rübergehst.“

Marie muss auflachen und schüttelt sich die Tränen aus den Augen.

„Ich setz mich mal zu den Jungs.“

„Frag bloß nicht Marco, der sagt No No. Aber der ist ja auch katholisch. Ich spiel noch ein bisschen weiter.“

Marie schnaubt grinsend, zeigt Franz den Vogel und geht zu den Jungs in den Schatten.

3

„Ich fand’s irgendwie mutig.“

Kinga dreht sich um, was auf den Krücken gar nicht so einfach ist, und sieht in eine ganze Gruppe aufgeschreckter Gesichter, starrt sie genervt und ungläubig an, die Kiefer zusammengepresst, die Augenbrauen gehoben. Männer, die sie nicht kennt. Die mit Katha auf der Schule gewesen sind, aber nie eine Rolle in ihrem Leben gespielt haben. Sie weiß nicht, wer das gesagt hat, aber sie haben alle verstanden, dass sie lieber ruhig sein sollten. Kinga schnaubt und dreht sich wieder zurück, und es ärgert sie, dass sie so wütend ist. Dass sie dieser Frau so viel Raum gibt. Warum hat David den Zettel angenommen? Sie tritt auf den Gips, der Schmerz explodiert im ganzen Bein und drückt ihr Wasser in die Augen. Für einen Moment verschwimmt ihre Sicht, ein Echo von Kathas Stimme hallt durch ihren Kopf. Für eine kurze Unendlichkeit sitzt sie wieder im Auto, alles voller Blut und Scherben und Schmerz, und Katha, die irgendwas sagt, aber Kinga versteht nichts.

Zwei Hände greifen nach ihrem Kopf und ziehen ihn nach unten, ihre Sicht klart auf, Marthas Gesicht ist ganz nah an ihrem. Ihre Stimme war schon immer der von Katha ähnlich. Als sie als Jugendliche in der Zeit vor Handy und Smartphone immer wieder bei Katha zuhause angerufen hat, haben Katha und Martha sie regelmäßig auf den Arm genommen, bis Kinga von ihrem ersten Mal erzählt hat, einfach direkt nach dem Hallo damit rausgeplatzt ist und dann verwirrt war von der Stille. Bis Martha sich geräuspert hat.

„Ich weiß nicht, ob ich mich für dich freuen sollte, Kinga. Aber du hörst dich sehr aufgeregt an, also gratuliere dir. Habt ihr verhütet?“

Katha hatte sich an diesem Abend mal wieder den Monolog über Sex und Verantwortung und Kinder und Ehe anhören müssen, aber sie fand immer, das war es wert gewesen, weil sie neben ihrer Mum gestanden hatte und ihren Gesichtsausdruck nie vergessen würde. Und nach ein paar Jahren, nach der Hochzeit von Katha und David, konnte auch Martha darüber lachen. Jetzt sieht sie Kinga besorgt an.

„Kannst du noch, Kinga? Wir sind gleich da.“

Ein mehrfach gebrochenes Bein, eigentlich sollte sie noch gar nicht wieder laufen, zwei gebrochene Rippen, ihr ältester Freund hat seine Frau verloren und sie ihre beste Freundin, und während David eine Woche lang katatonisch nur den Kopf geschüttelt oder genickt hat, hat sie alles organisiert und schon so lange nicht mehr richtig geschlafen, dass sie sich am liebsten einfach hier in die Sonne legen würde, bis dieser Traum zu Ende ist und Katha wieder am Leben.

Aber das wird nicht passieren, und diese Gewissheit frisst sich in den wenigen ruhigen Momenten in ihr Herz. Das bedeutet, dass sie den Rest dieses viel zu langen Lebens ohne Katha verbringen muss. Ohne die eine Person, die alles wusste und die sie so sehr kannte, dass Kinga einfach sie selbst sein konnte. Wie soll sie all das alleine hinkriegen?

Sie nickt und versucht ein Lächeln, das hoffentlich beruhigend wirkt.

„Klar. Bin nur falsch aufgekommen. Gehen wir weiter.“

Martha sieht erleichtert aus und greift nach ihrem Arm.

„Katarzyna hat immer gesagt, wir sind nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben. Wir schaffen das, Kinga.“

Kinga hat das immer gesagt, und Katha hat dann gelacht und scheinbar den Spruch übernommen. Aber muss sie das jetzt Martha sagen? Muss sie das Bild einer starken Tochter abschwächen?

Die Gaststätte hat nur drei Sterne auf Google, und als Kinga nach irgendwas Vegetarischem gefragt hat, hat die Chefin hörbar genervt ausgeatmet.

„Wir machen gutbürgerliche Küche. Da gehört Fleisch einfach dazu. Pommes kann ich Ihnen anbieten. Und Salat. Und Kässpätzle. Und Fisch natürlich.“

Aber es gibt im Umkreis keine andere Möglichkeit, die große Gruppe unterzubringen. Also hat Kinga ihre Krücken angestarrt und genickt, obwohl die Frau das nicht sehen konnte, und die ganze Gaststätte reserviert. Geschlossene Gesellschaft. Jetzt kommt sie mit Martha als Letzte an und schleppt sich auf die Terrasse. Die Stimmung ist immer noch gedämpft, aber hier und da hört sie ein Lachen, ein paar Flaschen klirren aneinander, und die Menschen stehen zusammen. Vielleicht sind drei Sterne genug für die Dankbarkeit, am Leben zu sein. Sie schreckt auf, weil jemand seine Flasche gegen ihr Glas stößt und sich zu ihr an den Tisch setzt.

Einer der Typen aus der Gruppe, zu der sie sich vorher umgedreht hat. Seine dunklen Haare sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und er hat keine Ähnlichkeit mit John Lennon, aber die gleiche runde Nickelbrille, deshalb muss sie sofort an ihn denken. Er hebt seine Flasche, eine Fritz-Limo, und irgendwo im Hintergrund ihrer Gedanken ist sie überrascht, dass sie das dahaben, in dieser gutbürgerlichen Gaststätte in Süddeutschland.

„Cheers. Hoffe, du wirst bald wieder gesund. Du bist die beste Freundin, oder?“

Kinga nickt und nickt. Danke und ja. Obwohl sie seit fünfzehn Jahren raus ist aus der Schule, der Flurfunk existiert immer noch. Sie ist die Frau, die mit im Auto saß. Und wenigstens für die Leute hier eine Berühmtheit.

„Ich bin Kinga, hi.“

Jetzt nickt er.

„Ich weiß. Katharina hat ein paar Mal von dir erzählt.“ Er hebt seine Hände, malt Anführungszeichen in die Luft. „‚Der Mensch, der mein Zuhause ist‘, hat sie gesagt.“

Kinga sieht ihn irritiert an und sackt gegen die Lehne ihres Stuhls, die Erinnerung an Kathas Stimme dröhnt in ihren Ohren.

\

Kinga war gerade sechzehn geworden und mit Hilfe des Jugendamtes von zuhause ausgezogen, in diese Einzimmerwohnung im Stuttgarter Norden, direkt neben die S-Bahn-Gleise. Sie hatten den ganzen Tag gestrichen und die drei Kisten mit ihrem Zeug in die Schränke geräumt, dann hatte sie Katha den Rasierer in die Hand gedrückt und sich auf den Stuhl mitten im Bad gesetzt, während Katha sie zweifelnd, aber auch irgendwie aufgeregt angesehen hat.

„Bist du sicher?“

Kinga hatte genickt, selbstbewusster, als sie sich gefühlt hatte. Aber da war genug Wut, um das durchzuziehen.

„Alles, was ich aus meinem alten Leben mitnehmen will, sind diese drei Kisten, David und dich. Der Rest kann weg. Also mach zwölf Millimeter, und los geht’s.“

Katha hatte die Brauen hochgehoben und mit einem klackenden Geräusch zwölf Millimeter eingestellt, aber dann den Kopf geschüttelt.

„Boah, das ist echt kurz. Einigen wir uns auf zweiundzwanzig?“

„Von mir aus. Aber fang schon an.“

Es klackte nochmal, dann hörte Kinga die Maschine nah an ihrem rechten Ohr.

„Aber pass bitte auf!“

Katha kicherte.

„Natürlich, ich liebe doch diesen Kopf.“

Und Kinga, die diese Worte viel zu selten gehört hatte und sie nicht einfach so annehmen konnte, schaute zu Katha.

„Wirklich?“

Katha sah sie direkt an, und da war kein Zögern, keine Überwindung.

„Natürlich, er gehört zu dem Menschen, der mein Zuhause ist. Und jetzt halt bitte still, sonst musst du dein Ohr als Kette um den Hals tragen.“

Kinga sah aus den Augenwinkeln die knapp dreißig Zentimeter langen Haare, die auf ihren Schoß und um sie herum auf den Boden fielen, musste lachen, als Katha den Rasierer genervt zur Seite legte und erstmal zur Schere griff, und ließ dann ihren Tränen freien Lauf. Katha hatte leise gesprochen, Kinga wusste, dass David das drüben in der Küche besser nicht hören sollte. Sein Herz war auf andere Weise, aber ebenso unsicher wie ihres, und er könnte das vielleicht logisch auseinanderhalten, aber es würde ihm trotzdem wehtun. Egal, wie leise Katha sprach, Kinga wusste, dass sie es ernst meinte, und sie schwor sich damals, dieses Zuhause für immer zu bleiben.

\

Kinga setzt sich wieder auf und sieht den Mann an, der mehr von ihr weiß, als sie gedacht hat.

„Und wer bist du, dass sie dir das erzählt hat?“

Er muss schmunzeln und betrachtet seine Flasche, dreht sie langsam in der Hand, der Daumen sucht eine Stelle des Etiketts, an der es sich ablösen lässt.

„Wir waren in der gleichen Klasse.“ Er nickt in die Richtung, wo die Terrasse in den Garten übergeht. Dort steht der Rest der Gruppe, die hinter ihr gelaufen ist. „Zusammen mit denen. Und mit David. Wir hatten in der Schule gar nicht so viel miteinander zu tun. Aber kurz bevor ich nach Freiburg gezogen bin, haben wir uns auf einer Party im Max Kade getroffen, du weißt schon, diesem Wohnheim für Studis. Wir saßen die ganze Nacht auf dem Balkon und haben uns unterhalten.“ Er zieht an der losen Ecke, reißt ein immer dünner werdendes Stück aus dem Etikett. „Und dann haben wir uns immer mal wieder getroffen, wenn ich meine alte Heimat besucht hab.“

Er zuckt mit den Schultern, sein Blick liegt in der Vergangenheit. Kinga spürt den Drang, ihm die Flasche aus der Hand zu nehmen und den Rest des Etiketts abzuziehen.

„Kennst du das, dass du Leuten auf einer Party ziemlich intime Dinge erzählst, gerade weil sie dich nicht wirklich kennen? Weil du weißt, dass du sie nicht direkt am nächsten Tag wiedersiehst?“

Kinga nickt und versucht, das nagende Gefühl des schlechten Gewissens zu ignorieren.

„Du meinst, so Leute, denen man auf einer Beerdigung viel zu intime Dinge erzählt, obwohl man sie noch nie gesehen hat und obwohl sie immer noch nicht deinen Namen wissen?“

Er lacht laut auf, nickt heftig und schiebt die Brille wieder nach oben.

„Entschuldige. Ich bin Hyun-Seung.“

„Hyun-Seung.“

Sie hört ein Ü und ein O und ein anderes Ü, sie trennt die Silben wie er und versucht, es genauso auszusprechen. Hyun-Seung lacht, wie er es wahrscheinlich oft macht, wenn Menschen versuchen, seinen Namen auszusprechen.

„Nicht ganz. Hyun-Seung.“

„Hyun-Seung.“

Er zuckt mit den Schultern.

„Besser als die meisten. Aber wahrscheinlich werden wir uns eh nie wieder sehen, deshalb ist es auch egal. Danke, dass du es versuchst.“

Kinga sieht ihm an, dass es nicht egal ist, sieht aber auch die Resignation, und gerade ist sie selbst zu erschöpft, um dieses Gespräch aufrechtzuhalten. Aber in der schmerzenden Monotonie der kommenden Tage wird sie immer wieder an diesen Moment denken und das Gespräch, das sie hätten führen sollen.

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Katha hatte sehr schnell Deutsch gelernt, fast niemand hörte mehr, dass sie nicht hier geboren war. Und nach der Hochzeit hat auch niemand mehr nachgefragt, wenn er oder sie ihren polnischen Nachnamen gelesen hat. Aber immer wieder gab es diese Momente, wenn sie in einem Laden standen und Katha ein Namensschild auffiel, oder wie jemand gewisse Worte aussprach. ‚Jesteś z Polski?‘1, fragte sie dann, und meist lag sie richtig, was eine kleine Insel der alten Heimat schuf, ein leuchtendes Gefühl der Zugehörigkeit. Das Wissen, nicht allein zu sein. Es folgten oft nicht mehr als vier oder fünf Sätze, aber Katha ging danach ein bisschen aufrechter, strahlte eine Zufriedenheit aus, die Kinga liebte. Wenn David dabei war und die Leute dann ihn ansprachen, sagte er ‚Przepraszam, nie rozumiem po polsku. Jestem z Niemiec, ale fajny facet‘2, was das Gegenüber mindestens zum Lächeln brachte, bevor es weiter mit Katha und Kinga redete. Kinga hatte ihm das beigebracht, damit er es zu Katha sagen konnte, damals.

Und ein kleiner Teil in Kinga glaubt immer noch, dass dieser Satz ein Grund dafür war, dass sie zusammengekommen sind.

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Hyun-Seung beugt sich verschwörerisch nach vorne, wirft nochmal einen Blick zu seiner Gruppe.

„In der Grundschule gabs diesen einen Lehrer, der war schon echt zu alt für kleine Kinder. Der hat es einfach nicht hingekriegt, meinen Namen richtig auszusprechen, und nach ein paar Mal wurde es ihm zu anstrengend. Also hat er mich August genannt.“

„Das klingt doch komplett anders.“

Hyun-Seung zuckt mit den Schultern und sieht sie abgeklärt an.

„Es ist der Monat, in dem ich Geburtstag habe.“

Er muss lachen, weil Kingas Mund offen steht.

„Ich hab nur genickt, als er mich zum ersten Mal so genannt hat. Wie man das halt so macht, wenn einem die Eltern einbläuen, dass wir nur zu Gast sind in diesem Land und bloß nicht auffallen dürfen.“ Er zieht das nächste Stück Papier von der Flasche. Die Fetzen werden immer kleiner. „Danach haben das dann irgendwie alle übernommen. Und als ich aufs Gymnasium gekommen bin, hab ich mich einfach als August vorgestellt. Die Jungs wissen gar nicht mehr wirklich, dass ich anders heiße.“

Er wirft Kinga den Blick eines gemeinsamen Geheimnisses zu, lehnt sich zurück und nimmt einen Schluck.

„Aber Katharina.“ Er hebt seine Flasche. „Sie hat bei einer Gruppenarbeit irgendwann mal meinen Namen auf einem Blatt gesehen und mich drauf angesprochen, eine Weile mit mir geübt und mich als Einzige immer richtig angesprochen. Wegen ihr hab ich mich im Studium getraut, mich wieder als Hyun-Seung vorzustellen.“

Kinga hebt ihr Glas, stößt mit ihm an. Diesmal aktiv und bewusst.

„Sie war die Beste.“

Er macht große Augen und nickt langsam.

„Ich vermisse sie.“

„Und ich erst.“ Sie nimmt einen Schluck, stellt das Glas ab und sieht ihn an. „Hyun-Seung.“

Er hält ihren Blick, dann schüttelt er entschuldigend den Kopf, und sie müssen gemeinsam lachen.

1 Kommst du aus Polen?

2 Entschuldigung, ich verstehe kein Polnisch. Ich bin aus Deutschland, aber ich bin ein feiner Kerl.

4

In manchen Momenten horcht David auf, wenn jemand etwas über Katha erzählt. Oft genug Geschichten, bei denen er selbst dabei gewesen ist, manchmal aber auch Sachen, die er zum ersten Mal hört. Puzzlestücke ihres Lebens, von denen er nichts gewusst hat, die aber zu Katha passen. Wie sie in Frankreich einen Mann so lange bequatscht hat, bis er sechs Leute in seinem zu kleinen Auto mitgenommen hat, dabei konnte sie gar kein Französisch. Oder wie sie zufällig diese Kinderbuchautorin in einer Buchhandlung getroffen hat und spontan eine Lesung im Kindergarten organisiert hat, am nächsten Tag. Und wie sie zu früh bei Freunden in Krakau angekommen ist und dann über den Balkon in die Wohnung geklettert, weil noch niemand da war, im dritten Stock.

Dann muss auch er schmunzeln, einmal sogar laut mitlachen. Bis er von der Wucht der Erkenntnis niedergeschlagen wird und er sich erinnert, weshalb sie alle hier sitzen und gemeinsam essen. Leichenschmaus. Er bekommt nichts runter und kann nicht fassen, wie die anderen das Essen in sich hineinstopfen. Wenn Katha dabei gewesen wäre, hätte sie ihm Pommes geholt und einfach vor ihn hingestellt, weil Pommes gehen immer. Das war ihr Ding, und sie hätten dann gemeinsam gegrinst wie die Zwölfjährigen, als die sie sich kennengelernt haben. Aber Katha ist nicht da. Wird nie wieder da sein. Und neben diesem Gedanken hat nichts anderes Platz. Keine Erinnerung, keine Gefühle, kein Hunger, keine Pommes. Bis Kinga neben ihm steht und ihn sanft anstupst. Sie sieht erschöpft aus.

„Komm, wir gehen nach Hause.“

David dreht sich um, immer noch sitzen überall Leute.

„Müssen wir nicht die Letzten sein?“

Kinga zeigt in die Ecke des Raumes.

„Martha und deine Eltern machen das. Ich hab das mit ihnen abgesprochen.“

Also steht David auf und geht mit Kinga durch die Tür, ohne jemandem Tschüss zu sagen. Und wenn Kathas Geist da ist, dann wird er eine Weile brauchen, bis er hinterherkommt. Sie hat sich immer ewig verabschiedet.

Die Gaststätte liegt direkt am Friedhof, und von dort ist David normalerweise locker in zwölf Minuten nach Hause spaziert, aber mit Kinga auf Krücken brauchen sie ewig. Er hat angeboten, das Auto zu holen, aus Respekt und Freundlichkeit, und zu spät kapiert, dass Kinga gerade auf keinen Fall und vielleicht nie wieder in ein Auto steigen will. Also Schritt, Atemzug, Krücke nachziehen. Er sieht ihren Schweiß, ihre zusammengebissenen Zähne, den roten Kopf und die weißen Knöchel, er hört ihr Keuchen und das Stöhnen, wenn sie falsch aufkommt, und in ihm krampft sich alles zusammen, sein Bein schmerzt nur beim Zusehen.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

Kinga schließt die Augen, und David weiß, wie sie mit sich ringt. Weil ihr Stolz Nein sagen will und durchziehen, sie aber schon lange genug in Therapie ist, um zu wissen, dass sie nach Hilfe fragen darf. Sie macht die Augen auf und sieht ihn an, verzweifelt.

„Ich brauch ’ne Pause.“

David nickt, zeigt nach links.

„Ein Stück da runter ist eine Bushaltestelle. Da können wir uns setzen.“

Kinga schüttelt den Kopf, keucht.

„Ich mach doch keinen Umweg. Dann gehen wir eben weiter.“

Sie legt den Oberkörper nach vorne und schreit direkt auf, das gesunde Bein knickt ein.

David greift nach ihr, aber sie schüttelt ihn ab.

„Ich kann nicht mehr. Ich setz mich jetzt hier hin.“

David denkt Boden und Dreck und Anzughose und was denken die Leute, die uns vielleicht sehen, aber Kinga hat ihr schwarzes Kleid hochgerafft und setzt sich auf den Asphalt, das kaputte Bein von sich gestreckt, und tippt hinter sich.

„Setz dich. Stütz mich.“

David sieht die Straße runter und zögert einen Moment zu lang. Kinga klopft nochmal auf den Boden.

„David! Mach schon!“

Also geht er in die Knie und setzt sich, und Kinga lehnt sich an seinen Rücken, sie seufzt erleichtert auf. Ihr Kopf lehnt kurz an seinem, eine vertraute Geste, obwohl sie das vor Jahren zum letzten Mal gemacht haben. Dann rutscht ihrer an seinem Kopf vorbei und landet auf seiner Schulter.

Der Asphalt ist wärmer, als David erwartet hat. Er spürt ein paar Steinchen durch den dünnen Stoff der Anzughose, hoffentlich reißt er nicht. Aber ist das nicht eigentlich auch egal? Als ob es noch schlimmer kommen könnte. Kinga schnaubt grinsend, ihre Nase ganz nah an seinem Ohr, und für einen kosmischen Augenblick ist David sich sicher, dass sie seine Gedanken gelesen hat. Er dreht seinen Kopf, aber sieht sie nur am verschwommenen Rand seines Sichtfeldes.

„Was ist los?“

„Stütz mich. Das waren die ersten Worte, die ich jemals zu dir gesagt hab.“

David nickt und sieht sie vor sich, damals auf dem Spielplatz, sie beide sechs, und Kinga balanciert auf der Brüstung des linken Turms, versucht angestrengt, auf das Dach zu greifen. Stütz mich, hat sie gesagt, und er kannte sie nicht, wusste nicht, was das sollte und ob er das durfte und was die Leute denken würden, bis sie schwankte und er sie hielt, ganz automatisch, damit sie nicht fiel. Dann kam sie wieder runter, mit einem breiten Grinsen und der Mütze in der Hand, die die älteren Jungs da hochgeworfen hatten. Nicht ihre, aber der Mützenbesitzer war nochmal jünger als sie und hätte sie nie wieder bekommen.

„War auch eine ähnlich komische Sache wie das hier.“

Kinga schüttelt den Kopf, und Davids ganzer Oberkörper wackelt.

„Das hier ist nur komisch, weil wir es nicht jeden Tag machen. Dabei finde ich es eigentlich ganz gemütlich.“

Eine Mutter mit ihrem Kind geht an ihnen vorbei, als David im richtigen Moment nach oben sieht, nickt sie ihm zu. Er hebt die Hand, und die Kleine sagt „Hallo“.

Kinga winkt ihr nach, obwohl die Kleine schon längst nicht mehr guckt.

„Siehst du? Niemand findet uns komisch.“

„Aber bald wirft uns jemand fünfzig Cent hin.“

Ein Auto kommt neben ihnen zum Stehen, ein Mann, vielleicht Mitte sechzig, steckt den Kopf raus.

„Alles in Ordnung?“

David sieht verschwommen, wie Kinga den Daumen nach oben streckt.

„Alles super, danke. Muss mich nur ausruhen.“

Der Mann betrachtet die beiden und bleibt an Kingas Bein hängen.

„Soll ich euch irgendwo hinfahren?“

Kinga schüttelt vehement den Kopf.

„Nie wieder Autos.“

Er sieht sie irritiert an, und dann lacht David auf, kann gar nicht anders. Es bricht aus ihm heraus. Vor acht Tagen hätte er das nicht lustig gefunden. Aber wenn nach müde blöd kommt, kommt vielleicht nach dem Tod schwarzer Humor.

David öffnet die Tür und stößt sie auf, dann lässt er Kinga zuerst eintreten. Sie humpelt durch den Flur bis nach hinten rechts, dreht auf dem gesunden Fuß eine Pirouette und lässt sich auf die ausgezogene Schlafcouch fallen. Sie hat die Augen geschlossen.

„Ich werde eine Woche lang nicht aufstehen.“

David steht im Türrahmen und kennt das Gefühl. Nie wieder aufstehen. Nur im Bett bleiben, das ihm jetzt alleine gehört, in dem er aber immer noch nur auf seiner Seite liegt.

Kathas Schlafshirt in der Hand, hat er stundenlang an die Decke gestarrt und die Welt ignoriert, nach dem Anruf. Vielleicht wäre er dort einfach verhungert, und vielleicht wäre das in Ordnung gewesen, weil es ihn wieder zu Katha gebracht hätte. Aber dann hat es irgendwann so lange an der Tür geklopft, dass David sich aus dem Bett kämpfen musste.

Kinga stand vor ihm, sie lehnte an der Wand, ihr Bein im Gips, ein Pflaster über der linken Augenbraue, und er sah ihr die Anstrengung der letzten Tage an. Aber sie lebte noch, und sie schaute ihn mit der gleichen Traurigkeit an, die in ihm tobte. Dann hob sie stumm den linken Arm, David ließ sich in die Umarmung fallen und konnte nur noch weinen. Er schluchzte so laut, dass es ihm peinlich war, weil was würden die Nachbarn denken? Aber er hatte nicht die Kraft aufzuhören, und er wollte Kinga nicht loslassen, wollte für den Rest seines Lebens gehalten werden. Aber Kinga keuchte irgendwann auf.

„Tut mir leid, ich kann nicht mehr stehen.“

David wich erschrocken zurück, brachte sie ins Wohnzimmer. Kinga sank aufs Sofa und atmete langsam aus, eine Mischung aus Schmerz und Erleichterung.

„Ich bin richtig froh, dass ihr im Erdgeschoss wohnt.“

David ignorierte den Schmerz, den das ‚ihr‘ auslöste, und sah ihre Wohnung vor sich, im Stuttgarter Westen, keine halbe Stunde entfernt, aber im Dachgeschoss. Vier Stockwerke und ein hundertzwanzig Jahre altes und schmales Treppenhaus aus Holz. Er runzelte die Stirn.

„Wie machst du das gerade bei dir?“

Kinga schüttelte den Kopf.

„Da war ich noch nicht. Allein die Idee, dort hochzumüssen, löst Schmerzen aus.“

David dachte nicht drüber nach.

„Dann bleibst du hier, solange du möchtest.“

Kinga wollte protestieren, aber David kam ihr zuvor.

„Guck mal, wir ziehen das Sofa aus. Katha hat das damals extra für dich geholt. Ihr hätte das gefallen, wenn du jetzt hierbleibst. Und du fühlst dich einfach wie zuhause. Wie früher, weißt du?“

Ganz früher, als Kinga so selbstverständlich Teil seines Lebens gewesen war, dass es sich komisch angefühlt hatte, wenn sie mal nicht da war. Bevor Katha in ihr Leben trat und fast unmerklich zwischen sie rutschte. Kinga schüttelte immer noch den Kopf, aber dann seufzte sie.

„Danke. Ich werde dir keine Umstände machen.“

Jetzt lässt sie die Krücke fallen und versucht, mit dem Gipsbein den Stiefel abzustreifen, was sie vor Schmerzen aufjaulen lässt. David setzt sich neben sie und öffnet den Reißverschluss, zieht ihr den Stiefel und den Orthopädieschuh aus. Sanft und so langsam wie möglich.

„Danke. Sorry, könnte stinken. War anstrengend und heiß.“

David senkt automatisch den Kopf Richtung Achsel. Auch er ist komplett verschwitzt.

„Kann ich dir irgendwas bringen?“

„Die stärkste Spezi, die du hast.“